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Es ist eine sehr schöne Leiche, die in einem stylischen Haus in Binz gefunden wird. Sie trägt ihre besten Kleider, ist auf unzähligen Rosen gebettet und stellt die Mordkommission vor eine schwierige Aufgabe. Das Opfer hat in einer esoterischen Welt gelebt, die den nüchtern denkenden Ermittlern fremd ist. Die Beamten treffen auf Seelenberater, die das tiefste Innere ihrer Mitmenschen besser kennen als diese selbst. Mehr noch, sie behaupten, mit Verstorbenen sprechen zu können. Kontakt zu den Toten hätten die Polizisten auch gern, denn dann würden sie deren Mörder schneller finden. So spötteln sie und suchen weiter nach traditionellen Mordmotiven: Geldgier, Hass, Eifersucht … Das zwiespältige Verhältnis der Hauptkommissare Katja Sommer und Sven Widahn erschwert die Ermittlungen zusätzlich: Sie fühlen sich zueinander hingezogen und konkurrieren doch um die Leitung des Falls. Und so erkennen sie zu spät die Gefahr, die von einem dieser erleuchteten Paradiesvögel ausgeht.
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Seitenzahl: 326
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Birgit C.Wolgarten und Marie Claire Frey
Der Zorn des schwarzen Engels
Rügen Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren entspringen der Fantasie. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
MEMENTO MORI
Bedenke, dass du sterben wirst.
Prolog
1980. Ein weiteres Jahr ohne Freunde. Wer einsam ist, empfindet die Sommerhitze viel stärker. Ich suche die Menge. Im Schwimmbad. Kaum ein freier Platz auf dem Rasen. Ich will mich im Schwimmbecken erfrischen, aber selbst das ist überfüllt. Kinder johlen, Jugendliche brüllen sich zotige Sprüche zu, Eltern rufen nach ihren Sprösslingen. Ich werde geschubst, ein Mädchen rammt ihren Ellenbogen in meine Rippen, es tut höllisch weh. Ich steige aus dem Wasser, um zu meiner Decke zurückzugehen, als mitten durch das Stimmengewirr ein klägliches Weinen zu mir dringt.
Ich blicke mich um. Da ist die Frau, die sich darum bemüht, eine hartnäckige Wespe vom Nudelsalat fernzuhalten, daneben ein Pärchen, sie rücklings auf ihrer Decke, die Beine angewinkelt und in einem Romanheft schmökernd, während er in einem Campingklappstuhl sitzt und eine Zigarette raucht. Hören sie das Weinen nicht? Ich beschließe, es zu ignorieren, und gehe weiter. Mir ist kalt, ich will mich abtrocknen. Jetzt drängt sich das Weinen regelrecht in mein Ohr. Links von mir gibt es eine kleine Baumgruppe, unter ihnen kann man nicht liegen, denn knorrige Wurzeln ragen aus der Erde heraus. Aber das Weinen kommt von dort. »Hallo?« Ich nähere mich den Bäumen, das Weinen wird lauter. Alle anderen Geräusche treten in den Hintergrund. Bewegt sich da etwas? Nun leiser und sanfter rufe ich erneut »Hallo?«
»Ich suche meine Mama.« Ein klägliches Stimmchen. Ich gehe um einen Baumstamm herum. Da hockt ein kleines Mädchen mit hellblonden Haaren und hält ihre Knie fest umschlungen. Sie trägt einen weißen Badeanzug mit roten Punkten. Ich schätze sie auf sechs Jahre. Später erfahre ich, sie ist acht. Sie wirkt nur sehr schmächtig. Und verloren. Sie ist tropfnass. Warum friert sie nicht? Hier im Schatten?
Ich hocke mich zu ihr. »Wo ist denn deine Mama?«
Sie blickt mich an. »Ich weiß es ja nicht. Eben war sie noch da und jetzt ist sie weg.«
»Na, dann suchen wir beide sie gemeinsam, was meinst du?« Ich stehe auf und reiche ihr meine Hand.
Sie nimmt sie, doch vorher wischt sie ihre Tränen aus dem Gesicht und zieht die Nase hoch.
»Wo hast du deine Mutter denn zuletzt gesehen?«, will ich von ihr wissen. Ich schaue, ob ich irgendwo eine suchende Mutter entdecken kann. Seltsam, die Frau, die vorhin mit der Wespe gekämpft hat, ist weg, der Plastiktopf ist umgefallen, der Nudelsalat hat sich über die Decke verteilt, und die Wespe scheint noch zwei Freunde dazugeholt zu haben. Daneben der Campingstuhl ist umgekippt und die Seiten des Romanheftes flattern leise im Sommerwind. Es ist seltsam still geworden.
Mein Blick wandert weiter zum Schwimmbecken. Am Rand hat sich ein Menschenauflauf gebildet, in der Ferne ertönt ein Martinshorn. »Da scheint etwas passiert zu sein, bestimmt ist deine Mutter dorthin gelaufen«, sage ich zu der Kleinen und drücke zuversichtlich ihre Hand. Ich lächle sie an. Ihre Haut schimmert perlmuttartig weiß in der Sonne. Sie lächelt zurück, ihre Tränen sind verschwunden.
Wie soll ich in der Menschenmenge ihre Mutter finden? Ich sehe einen Bademeister hin und her gehen, eine Frau schreit und weint, aber ich kann sie nicht sehen.
Genau wie die anderen, bin ich neugierig geworden. »Hör zu«, sage ich zu der Kleinen, »rühr dich nicht von der Stelle, ich schau mal nach, was da passiert ist, und ich komme gleich zu dir zurück.«
Die Kleine lächelt und nickt wortlos.
Ich wühle mich durch die Menschenmenge, folge dem Schluchzen. Dann sehe ich in ein tränenverschmiertes Gesicht, ich erkenne, es ist die Frau, die eben noch mit der Wespe gekämpft hat. Sie hockt auf den Knien, in ihren Armen hält sie ein Kind. Ein Mädchen ... aber … Ich bin verwirrt. Die hellblonden Haare, der gepunktete Badeanzug. Sanitäter kommen hinzu, bitten die Badegäste, sich zurückzuziehen. Auch ich mache Platz. Verstört blicke ich zurück zu der Wiese, die Kleine steht immer noch da. Aber es scheint, als leuchte sie in der Sonne mehr und mehr. Sie hebt die Hand, winkt mir zu, ihre Augen strahlen, sie lächelt und wirft mir eine Kusshand zu. Und obwohl sie ein ganzes Stück von mir entfernt ist, höre ich ihre Stimme glasklar: »Sag meiner Mama, dass ich sie sehr lieb habe und dass es mir gutgeht.«
»Nein!«, schreie ich. »Nicht! Bleib hier!« Dann begreife ich und schaue mich um zu der Mutter. Der Sanitäter sieht sie traurig an und schüttelt den Kopf.
1
»Stell doch mal einer die Musik ab, so kann kein Mensch arbeiten, verdammt noch mal!« Dr. Ulrich Majonika stand vor der Toten, die auf dem terrakottafarbenen Steinboden lag.
Hauptkommissarin Katja Sommer zog die Augenbrauen hoch. So barsch kannte sie den Rechtsmediziner gar nicht. Sie blinzelte, die Mittagssonne blendete sie.
»Gott, was für ein Szenario. Wer denkt sich so etwas nur aus?«
»Wenn ich das wüsste, säße ich mit demjenigen bereits im Büro und könnte gleich meinen Urlaub antreten.« Während Majonika die Halswirbel des vor ihm liegenden Opfers untersuchte, blickte Katja missmutig zum Leiter der KTU, Konrad Vohwinkel, der sich vor die Stereoanlage gehockt hatte. Was kümmerte der sich jetzt darum, die Musik auszustellen? Hatte der nichts Besseres zu tun? »Seid ihr jetzt bald so weit?«, blaffte sie ihn an.
Vohwinkel zog die Gummihandschuhe ab. »Sag mal, wieso hast du eigentlich so schlechte Laune? Deine Mutter bringt dir heute deinen Sohn, das ist doch ein Grund zur Freude. Du aber machst ein Gesicht, als würde man dich zur Folter schicken. Was ist los?«
Katja winkte nur ab. Ihre private Situation gehörte nicht hierher. Sie hatten wahrlich andere Probleme, angesichts dieses Szenarios, wie Majonika es genannt hatte.
»Hast du etwas Vergleichbares schon einmal gesehen?«, wollte er nun wissen.
»Nein«, brummte sie und fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzgeschnittenes feuerrotes Haar. Vor ihr lag rücklings eine Frau mit langen braunen Locken in einem Kleid aus Taft, das Oberteil war weiß und enganliegend, der Rock, weit und bis zu den Fußknöcheln reichend, hatte die Farbe Weinrot. Ihre Füße steckten in weißen High Heels. Um sie herum waren unzählige langstielige Baccara-Rosen drapiert. »Das alles hier, das hat schon fast etwas von einem Märchen.«
»Das passt«, antwortete Majonika, während er vorsichtig mit einem feinen Skalpell unter die gepflegten Fingernägel glitt. »Aber welches Märchenwesen könnte sie darstellen? Schneewittchen oder Dornröschen?«
»Wie war das noch«, sagte Konrad Vohwinkel, der zu ihnen getreten war, »so rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz und weiß wie Schnee. Ganz klar, Schneewittchen!«
Majonika wickelte die Hand der Toten in eine Folie ein. »Das Rot des Kleides ist zu dunkel für Blut, ihr Haar hat eher die Farbe einer Maus statt der von Ebenholz, und ihr Gesicht ist durch die Strangulierung blau statt weiß. Nicht zu vergessen, dass Schneewittchen in einem Glaskasten lag, aber um diesen Leichnam sind langstielige, stachelige Rosen drapiert. Also doch Dornröschen.«
Katja sah, dass Vohwinkel zu einem Gegenargument ansetzen wollte, und unterbrach die beiden Kollegen. »Wenn man die Inszenierung nicht eindeutig einer Märchenfigur zuordnen kann, ist sie entweder nicht gelungen, oder es war gar nicht die Absicht des Mörders, uns ein Märchen zu erzählen. Daran glaube ich eher.« Sie sah Vohwinkel an. »Kannst du mir schon etwas zu der Toten sagen?«
»Sie heißt Vera Koch, ist einundvierzig Jahre alt und bewohnt mit ihrem Mann das Haus hier.« Er reichte ihr zwei Ausweise. »Sein Name ist Arnold Koch, und er ist Rechtsanwalt in einer Kanzlei in Putbus.«
Katja warf einen Blick hinein. »Und wo ist ihr Mann jetzt?«
»Keine Ahnung.« Vohwinkel zuckte mit den Schultern. »Der Augenzeuge hat gesagt, die Tür habe offen gestanden, aber es sei kein Mensch im Haus gewesen … bis auf die Tote natürlich.«
»Das Opfer«, Majonika stieg über den Leichnam, um sich die andere Hand vorzunehmen, »hat an den Seiten der beiden Handgelenke Abriebspuren.«
»Das heißt, jemand hat sie entweder festgehalten oder festgebunden?«, fragte Katja.
»Ich vermute letzteres. Der Abrieb ist zu fein für ein gewaltsames Festhalten.« Dann deutete er auf den toten Körper. »Ansonsten: Wie ihr selbst sehen könnt, wurde sie erdrosselt. Die Leichenstarre befindet sich noch im Ausprägungsstadium. Wir haben augenblicklich eine Raumtemperatur von vierundzwanzig Grad, sie wiegt etwa fünfzig Kilo. Dann haben wir Leichenflecken«, er deutete auf den Körper, »hier an der Brust, am Bauch, und am Rücken sowieso. Die Flecken lassen sich teilweise noch vollständig wegdrücken. Alles in allem würde ich sagen, der Mord liegt nicht länger als drei Stunden zurück.«
Ein Blick auf das Smartphone verriet Katja die Uhrzeit: 13.10 Uhr. »Heute Morgen so gegen zehn also«, stellte sie fest.
»Katja, bist du schon im oberen Stockwerk gewesen?« Michael Heinrichsen stand im Türrahmen, vom Erkerfenster fiel ein Sonnenstrahl direkt auf sein Gesicht. Er zog eine Grimasse und legte eine Hand schützend vor die Augen.
»Nein, ich gehe hoch, wenn ich hier unten fertig bin. Sprich du doch bitte einmal mit den Nachbarn, ja?«
Heinrichsen nickte ernst und ging. Was für ein Tag. Heute hatte sie Bereitschaftsdienst bis achtzehn Uhr, danach sollte ihr Urlaub beginnen, den sie mit ihrem Sohn verbringen wollte. Ihre Mutter war mit ihm auf dem Weg zu ihr. Doch dann war vorhin der Anruf gekommen, und das Mordopfer war nun ihr Fall. Sie hatte ihn zu bearbeiten, bis er gelöst war. Sie seufzte. Konrad Vohwinkel hatte Recht. Ihre Laune war in der Tat nicht die beste. Und das schon eine ganze Zeit lang.
Seit etwa vier Wochen war Sven Widahn nun ihr Vorgesetzter. Sie beide hatten sich um den Posten beworben, er hatte die Stelle bekommen. Auf ihre Frage, warum er ausgewählt worden war, hatte sie eine Antwort erhalten, mit der sie nicht einverstanden war, auch wenn sie es nicht laut aussprach: Mehr Berufserfahrung. Er war schon länger im Dienst, das konnte sie nicht leugnen. Schließlich hatte sie erst ein Psychologiestudium abgeschlossen. Trotzdem war sie mindestens genauso gut wie er. Die Entscheidung war einfach unfair.
Vohwinkel unterbrach ihre Gedanken und zeigte auf die kleine Stereoanlage, die mit einer Vorrichtung an der Wand befestigt war. »Das Gerät war auf Repeat gestellt, somit lief immer und immer wieder nur ein und dasselbe Stück.« Er reichte Katja die CD. »Es war das vierte Lied.«
Sie schaute auf das Cover. »Sieht nach einer Gothic-Band aus: Umbra et Imago. Und das Stück, das vierte, sagtest du?«
Er nickte, und sie suchte den Titel aus der Liste: »Memento Mori. Warum gerade das?«, murmelte sie. Welche Bedeutung hatte das für die Inszenierung? Oder hatte der Täter irgendeine CD aus dem Musikregal gegriffen. Aber entsprach sie dem Musikgeschmack der Hausherren?
Hinter sich hörte sie Majonika weiter fluchen. Seine Füße steckten wie die aller Ermittler hier vor Ort in Überziehschuhen. Nun hatte er eine unbedachte Bewegung auf dem glatten Steinboden gemacht und war ins Rutschen gekommen.
Otto Knipp, der älteste uniformierte Beamte auf der Wache, stand unweit von ihr und unterhielt sich mit einem vollschlanken Mann mittleren Alters, der sich mit einem Taschentuch über das schweißnasse Gesicht fuhr.
Vohwinkel war ihrem Blick gefolgt. »Das ist Holger Biedenkopf, er ist Verleger für esoterische Literatur oder so. Er hat die Tote gefunden und die Polizei alarmiert. Vera Koch hat in seinem Verlag als Lektorin gearbeitet.«
Katja rollte die Ärmel ihrer Hemdbluse hoch. Sie schwitzte. »Und was wollte er heute hier, an einem Samstag?«
Vohwinkel grinste sie an, sein rötlicher Spitzbart vibrierte dabei. »Ist das nicht dein Job, das rauszukriegen?« Katja winkte ab und ging auf Knipp und den Verleger zu. Der Mann bemühte sich verzweifelt, nicht in Richtung der Toten zu sehen, aber eine morbide Lust auf das Entsetzliche schien ihn im Griff zu haben. Katja warf einen Blick hinter sich. Dort untersuchte Dr. Majonika weiter das Opfer. Arme und Beine der Frau waren jetzt wieder gerade ausgestreckt, ihre Hände steckten in Plastiktüten. Aber das Schlimmste war ihr Gesicht: aufgedunsen und bläulich verfärbt. Die Augen waren durch die flächenhaften Unterblutungen der Bindehaut ganz dunkel und starrten an die weiße Zimmerdecke. Auf der Stirn und den Wangen waren punktförmige Blutungen zu sehen, die an Flohstiche erinnerten. Die Zunge, ebenfalls blau und angeschwollen, kam seitlich aus dem Mundwinkel hervor. Katja konnte das Entsetzen des Zeugen gut verstehen.
Das Opfer wirkte grotesk in diesem geschmackvoll und nicht eben billig eingerichteten Wohnzimmer. An den Wänden hingen Gemälde, alles Originale, wahrscheinlich Auftragsarbeiten, denn sie waren farblich auf die lachsfarbenen Seidentapeten abgestimmt. Es gab ein blaues Sofa aus Alcantara, davor einen Glastisch mit geschmiedetem Gestell. Die Wand gegenüber dem Sofa wurde von einem überdimensionalen Fernseher bedeckt. In dem offenen Kamin lagen akkurat gestapelte Holzscheite bereit, um an einem kühlen Sommerabend angezündet zu werden. Die Essgruppe aus Eichenholz befand sich in einem runden Erker, der in den Garten hineingebaut war. Wer hat hier mit dir gegessen? Wo ist dein Ehemann? Hast du Kinder? Wenn ja, sind sie klein oder schon groß? Hatte es hier einen Familienstreit gegeben, der blutig beendet worden war? Katja sah durch das große Fenster einen Schmetterling auf der Wiese tanzen. In der Antike war dieses Insekt das Sinnbild der Seele. Sie warf einen schnellen Blick auf die Tote.
Katja trat zu Otto Knipp, der sich immer noch mit dem Zeugen unterhielt. »Lassen wir die Kollegen in Ruhe ihre Arbeit verrichten und gehen wir hinaus auf die Terrasse«, sagte sie, wobei sie hauptsächlich an den armen Mann dachte, der kalkweiß im Gesicht war und ihr Angebot dankbar annahm. Katja sog die frische Sommerluft ein. Erst in der Nacht und dann noch einmal heute früh hatte es ein Gewitter gegeben, aber jetzt roch der Sommer wieder süß und frisch und hier auf Rügen auch ein wenig salzig. Sie tat so, als müsse sie sich ein wenig recken, sich der Sommersonne entgegenstrecken, und betrachtete dabei so unauffällig wie möglich den Zeugen. Sein dunkles Haar war schütter, er trug eine Brille mit schwarzer Fassung und hatte einen Vollbart, der graumeliert war. Er schwitzte stark, was ihm offensichtlich unangenehm war, immer wieder fuhr er mit dem Taschentuch über sein Gesicht.
»Ich bin Hauptkommissarin Sommer von der Kripo Stralsund, ich leite hier die Ermittlungen. Sie haben die Tote gefunden?«
Der Mann nickte heftig, was ihm erneut den Schweiß auf die Stirn trieb. »Biedenkopf mein Name«, er machte tatsächlich eine angedeutete Verbeugung. »Ja, ich habe sie gefunden. Die Tür stand offen. Und da lag sie. Es war schrecklich ... Ich, ich dachte sofort, mein Gott, sie ist tot!, und habe umgehend die Polizei gerufen.«
»Wann war das?«
»Wie? Ja, wann war das?« Er war nervös und durcheinander. »Ach ja, das war so vor etwa einer Stunde, also so gegen zwölf. Wir waren ja um diese Uhrzeit verabredet.«
»Wen genau meinen Sie mit wir?«
»Frau Koch und ich. Ich bin, ich war ihr Vorgesetzter. Sie hat bei mir gearbeitet.«
»Auch samstags? Auch bei ihr zu Hause?«
»Wir hatten etwas … etwas Dringendes zu besprechen. Da, da habe ich sie … angerufen. Gestern Abend, ja gestern Abend war das. Und wir haben diesen Termin heute ausgemacht. Ja.« Erneut wischte er sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
»Und welche Aufgaben gehörten zu ihrem Tätigkeitsfeld?« Dass sie schon so einiges wusste, ließ sie sich nicht anmerken. Sie hörte lieber alles von den Beteiligten selbst und machte sich dann ein eigenes Bild.
»Nun, ich habe einen Verlag, den Biedenkopf Verlag hier in Bergen ... Wir haben uns auf spirituelle und esoterische Literatur spezialisiert. Frau Koch ist, sie war meine Lektorin.«
»Für esoterische Literatur?« Katja konnte sich nur schwer etwas darunter vorstellen. Sie dachte an Gläserrücken, Pendeln oder Karten legen, aber konnte man damit ganze Bücher füllen?
Biedenkopf nickte. »Genau. Und seit einiger Zeit ist Vera, also Frau Koch, meine ich, nicht nur meine Lektorin gewesen, sondern auch meine Autorin. Sie hat einen Bestseller geschrieben, wie ich nicht ohne Stolz anmerken darf. In nur drei Wochen haben wir eine zweite Auflage erzielen können.« Jetzt, da er von seinem Verlag sprechen konnte, hatte er sich wieder gefangen. »Das Licht im Jenseits. So lautet der Titel. Die Seele des Menschen ist unsterblich, und Frau Koch gibt in dem Buch Botschaften von Verstorbenen wieder. So erfahren wir, was uns alle eines Tages erwartet. Vielleicht haben Sie schon einmal davon gehört?«
Hatte sie nicht und sie verspürte auch nicht die geringste Lust, darauf weiter einzugehen. »Und wegen dieses Buches sind Sie heute hier?«
Wieder nickte er eifrig. Nun war er in seinem Element. »Ihr erstes Buch, Tränen des Pendels, hatte schon Erfolg, aber er war viel bescheidener als der des zweiten. Dabei hat sie sich richtig schwergetan, es zu schreiben. Ich weiß nicht, warum. Ich habe sie immer wieder ermuntert, ihr zugeredet. Und ich hatte Recht. Es ist noch besser, hat sofort die Bestsellerlisten erobert. Jetzt kommt auch das erste dahin. Ist ja oft so, dass die Leser, wenn ihnen ein Buch gefallen hat, nach den bereits erschienenen Werken fragen. Und nun sind einige andere, große Verlage auf uns zugekommen und wollen eine Nebenlizenz erwerben. Wir mussten uns besprechen, welchen Verlag wir optimal finden. Dazu bedarf es Fingerspitzengefühls. Der Buchmarkt ist ein schnelllebiges Geschäft. Was heute noch in ist, danach fragt morgen vielleicht schon kein Mensch mehr. Da muss man rausholen, was rauszuholen ist.«
»Und das konnte nicht bis Montag warten?«
»Frau Koch wollte nächste Woche Urlaub nehmen. Gestern Abend, als sie schon Feierabend hatte, kam per Fax noch ein Angebot eines renommierten Verlags rein. Und man soll das Eisen doch schmieden, solange es heiß ist, nicht wahr?«
Konsterniert sah sie ihn an. So schwierig hatte sie sich das Büchermachen nicht vorgestellt. »Seid ihr hier draußen fertig?«, fragte sie Konrad Vohwinkel durch die geöffnete Terrassentür. Der nickte nur, in der Sonne hatte sein rötlicher Spitzbart einen goldfarbenen Glanz. Sein Blick war gestresst. Er trug Schutzkleidung, den Mundschutz hatte er kurzzeitig unter das Kinn gezogen. Seine Kollegen und er würden hier nicht eher weggehen, bis sie alles untersucht hatten, vom Dach bis zum Keller. Sie hörte, wie Majonika den Leichenbestatter begrüßte. Dessen Aufgabe würde es sein, das Mordopfer in die Rechtsmedizin nach Greifswald zu fahren.
Katja ließ sich auf einen der hölzernen Gartenstühle nieder und bedeutete dem blassen, großen Mann, sich ebenfalls zu setzen. Otto Knipp wollte von ihr wissen, ob sie einverstanden sei, wenn er zurück auf die Wache führe. Der Papierkram müsse schließlich auch erledigt werden. Katja gab ihm ihr Okay. Knipp war im letzten Berufsjahr, warum sollte sie ihn unnötig lange an solch einem Tatort belassen?
Holger Biedenkopf war unschlüssig stehen geblieben. »Nun kommen Sie, setzen Sie sich«, Katja deutete auf einen der freien Gartenstühle, die um einen großen runden Holztisch herumstanden. Ihr Blick wanderte durch den außergewöhnlich gestalteten Garten. Ein architektonisches Meisterwerk. Zu unterschiedlichen Mustern und Gebilden zusammengesetzte Marmorplatten statt Rasen, dazwischen Rabatten mit überwiegend gelb- und orangeblühenden Blumen und ein plätschernder Bach, der als Fontäne in einem kleinen Teich endete. Alles war sehr gepflegt, nur am Fuß eines roten Zierahorns lagen Glockenblumen trostlos darnieder, wie niedergetrampelt und inzwischen verwelkt. An der ein oder anderen Stelle auf den Steinen verdampfte noch das Wasser, das dort nach dem morgendlichen Gewitterschauer länger stehen geblieben war. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, wie sich Biedenkopf immer wieder mit dem Taschentuch über die Stirn fuhr. Was ging ihm wohl durch den Kopf? Entstanden ihm durch den Tod seiner Lektorin und Autorin Verluste?
Holger Biedenkopf schaute Katja nicht an, sondern blickte starr nach vorne, als würde er den Garten bewundern, aber sie war sicher, dass er gar nichts davon wahrnahm. Aus dem Haus hörte sie ein Scheppern, gefolgt von einem Fluchen. Plötzlich begann er zu sprechen. »Wissen Sie, Vera Koch war eine außergewöhnliche oder besser gesagt, ungewöhnliche Frau.«
»Wie darf ich das verstehen?«
Das Taschentuch hatte ausgedient, er steckte es in die Brusttasche seiner Anzugjacke. Er schien sich gefangen zu haben. »Nun ja, als sie sich vor knapp zwei Jahren bei mir bewarb, dachte ich: Ob das was gibt? Sie hatte Germanistik für das Lehramt studiert, wollte aber nicht als Lehrerin arbeiten. Sie interessierte die Literatur, und Esoterik faszinierte sie förmlich. Wenn Sie ihr Buch lesen, werden Sie ein wenig von dieser Leidenschaft zu spüren bekommen. Damals jedenfalls dachte ich, sie sei langweilig, eine graue Maus eben. Aber sie belehrte mich eines Besseren.« Er spielte mit einem Blütenblatt, das der Wind auf den Gartentisch geweht hatte. »Sie ist äußerst ...«, er unterbrach sich und biss sich auf die Lippe.
Katja zog eine Augenbraue hoch. Warum zögerte er?
»Äußerst ...?«
»… gewitzt!«
Katja vermutete, dass er eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen. Gewieft vielleicht? Sie ließ ihn aber weiterreden. Er zuckte mit den Schultern, sein Gesicht hatte jetzt einen förmlichen, fast schon gleichmütigen Ausdruck angenommen. »Ihr Vertrag zu ihrem zweiten Buch zum Beispiel. Sie wollte bei allem und jedem Mitspracherecht haben.«
»Und das ist so ungewöhnlich?«
Er sah sie jetzt direkt an. »Der Autor schreibt das Werk, der Lektor bringt es in eine vernünftige, lesbare Fassung, und der Verleger sorgt dafür, dass es gewinnbringend vermarktet wird, Frau Sommer.« Mit einem selbstgefälligen Lächeln lehnte er sich auf dem Gartenstuhl zurück. »Der Verlag kauft die Veröffentlichungsrechte an dem Werk eines Autors, und somit hat er das Sagen, er trägt ja auch das alleinige finanzielle Risiko. Aber im Prinzip ist in diesem Geschäft jeder auf den anderen angewiesen, und Vertrauen ist wohl das wertvollste Gut.«
Katja nickte stumm. Was er sagte, konnte sie nachvollziehen. War vielleicht etwas passiert, das Vera Koch veranlasst hatte, ihm nicht mehr zu vertrauen?
»Nun«, sprach er weiter, »wir wollen ja auch nicht vergessen, dass Veras Mann Anwalt ist. Nachdem das erste Werk keinen überragenden Erfolg gefunden hatte, wollte er bestimmt für seine Frau beim zweiten Buch alles herausholen, was möglich war. Es war ganz einfach, entweder ich befürwortete den Vertrag mit all den Klauseln oder sie suchte sich für ihr Werk einen anderen Verlag. Unter normalen Umständen hätte ich gesagt, sie könne mit ihrem Manuskript hingehen, wo der Pfeffer wächst. Als ich jedoch Das Licht im Jenseits gelesen habe, war mir sofort klar, dass ich einen Bestseller auf dem Schreibtisch liegen hatte, und ich unterschrieb den Vertrag. Die vorgeschlagenen Konditionen waren zwar etwas erhöht, fielen aber nicht aus dem Rahmen. Und ihr allgemeines Mitspracherecht ...«, er lächelte süffisant. »Sie hatte letztendlich von der Vermarktung keine Ahnung, war ja auch nicht ihr Ressort. Ich sagte ihr, was ich vorhatte, und sie stimmte zu. Wir haben uns arrangiert. Es gab keine Probleme zwischen uns.«
Das musste sie erst einmal so stehen lassen. Katja überlegte, ob sie noch dringende Fragen an ihn hatte, entschied sich aber dafür, das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt fortzuführen und stattdessen lieber den oberen Teil des Hauses zu inspizieren. Sie erhob sich und konnte in Holger Biedenkopfs Gesicht die Erleichterung sehen, als sie ihm ihre Visitenkarte reichte und sagte: »Kommen Sie bitte morgen in unser Büro. Wir müssen Ihre Aussage noch schriftlich festhalten.«
»Aber morgen ist Sonntag!«
Sie lächelte unverbindlich. »Mord kennt keinen Wochentag, Herr Biedenkopf.«
Erleichtert verabschiedete er sich und ging auf das geöffnete Gartentor zu, er hatte einen etwas watschelnden Gang. Sie sah ihm hinterher, bis er draußen auf der Straße angelangt war, und blieb noch einen Moment im Garten. Tief atmete sie ein und wieder aus. Hier war es einfach nur schön. Sie beobachtete einen Zitronenfalter, der wohl von dem reich blühenden Sommerflieder vor dem Holzzaun angelockt worden war. Ein zweiter Schmetterling gesellte sich dazu, sie umtanzten einander, wie selbstvergessen. Das laute Summen von Hummeln zog ihren Blick zu einer beeindruckenden Gruppe von Rittersporn. In das Geräusch mischte sich das Plätschern des Baches, der sich zwischen den Marmorplatten hindurchschlängelte. Alles schien perfekt. Nun hatte der Tod diese Idylle zerstört. Die Leiche der Hausherrin lag im Wohnzimmer. Und der Hausherr? Wohin war ihr Mann verschwunden? War er ihr Mörder? Welcher Teufel war hier am Werk gewesen? Apropos Teufel, dachte Katja. Wo steckte eigentlich Sven?
»Soweit wie ich weiß, ist Sven beim Pfarrer der Sankt Bonifatius Gemeinde.« Konrad Vohwinkel packte die beiden benutzten kristallenen Champagnergläser ein, die auf dem Glastisch im Wohnzimmer gestanden hatten.
Katja hob die fein geschwungenen Augenbrauen. »Wie? Sven geht zur Kirche?« Sie hätte geschworen, dass er niemals seinen Fuß in ein Gotteshaus setzen würde. Allerdings hatten sie sich über dieses Thema noch nie unterhalten. Sie wusste noch nicht einmal, ob er katholisch oder evangelisch war.
2
Nein, Hauptkommissar Sven Widahn war kein Kirchgänger. Hungrig saß er auf der Mauer vor dem Pfarrhaus der Sankt Bonifatius Kirche und wartete auf seinen Freund Jörg Hagedorn. Der Pfarrer hielt gerade im Seitenschiff der Kirche eine Gemeindeversammlung, während es nebenan aus dem Pfarrhaus nach geschmortem Fleisch duftete. Der Geruch war verlockend, aber er musste noch hier ausharren. Wie gern wäre er dann doch lieber in Göhren in einem der vielen Strandcafés. Mit ein paar Snacks, einem Drink und, nicht zu vergessen, der Aussicht auf schlanke Frauenbeine, die über die Strandpromenade flanierten. Dann den Blick lässig über den Sandstrand wandern lassen, auf die eisblaue, je nach Lichteinfall türkisfarbene Ostsee. Kleine Schaumkronen, die sich träge an das Ufer tragen ließen, das war göttlich. Göttlich und lebendig. Aber er hatte seinem Freund versprochen zu kommen. Angeblich habe er etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen. Und nun musste er hier auf ihn warten. Seine Gedanken schweiften wieder ab. Er träumte von honigfarbenen Brüsten, flachen Bäuchen, festen Pobacken in neonfarbenen Tangas, knappen Bikinis in leuchtenden Farben und langen blonden, braunen, roten, schwarzen Mähnen.
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