Der Zweifel - Klaus Erfmeyer - E-Book

Der Zweifel E-Book

Klaus Erfmeyer

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Beschreibung

Vor zwei Jahren hat Ivelina Kubilski ihre Tochter Emilia von Dortmund nach Bulgarien entführt. In Deutschland ist sie dafür rechtskräftig wegen Kindesentziehung verurteilt worden. Emilias Vater Pavel beauftragt Rechtsanwalt Stephan Knobel, auf juristischem Weg für die Rückführung des Kindes nach Deutschland zu sorgen, nachdem er seine Tochter zuvor erfolglos in Sofia gesucht hat. Pavel setzt wie Stephan Knobel sein volles Vertrauen in Justiz und Behörden. Der Kampf eines Vaters um sein Kind - welcher Anwalt und Mandanten an ihre Grenzen bringt.

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Klaus Erfmeyer

Der Zweifel

Kriminalroman

Zum Buch

Vaterliebe Vor zwei Jahren hat Ivelina Kubilski ihre heute fünfjährige Tochter Emilia von Dortmund nach Sofia in Bulgarien entführt. In Deutschland ist sie dafür rechtskräftig wegen Kindesentziehung verurteilt worden. Emilias Vater Pavel beauftragt Rechtsanwalt Stephan Knobel, auf juristischem Weg für die Rückführung des Kindes nach Deutschland zu sorgen, nachdem er seine Tochter zuvor erfolglos in Sofia gesucht hat. Pavel setzt wie Stephan Knobel sein volles Vertrauen in Justiz und Behörden. Einzig ein geheimnisvoller Italiener namens Luca della Rovere prophezeit das Scheitern des legalen Weges. Unverhohlen bietet er an, das Kind aus Bulgarien zu entführen und zu Pavel zurückzubringen. Zu spät erkennt Knobel, dass della Rovere mit seinem Angebot eigene kriminelle Ziele verfolgt, während sich in dem Rückführungsverfahren dessen Prophezeiung zu bewahrheiten droht. Ein ganz und gar ungewöhnlicher Fall, welcher Anwalt und Mandanten an ihre Grenzen bringt und der zugleich einen verstörenden Blick auf die Wirklichkeit so genannter Kindesrückführungsverfahren gewährt.

 

Klaus Erfmeyer wurde 1964 in Dortmund geboren. Nach Jurastudium und Promotion an der Ruhr-Universität in Bochum begann er 1993 seine Tätigkeit als Rechtsanwalt in Essen. Er ist zugleich Fachanwalt für Familien- sowie Verwaltungsrecht und referiert zudem häufig über Fachthemen bei Unternehmen und Verbänden. Seit 2002 ist er Seniorpartner der Kanzlei Erfmeyer & Wassermeyer in Essen. Neben Romanen veröffentlicht der Autor auch zahlreiche Fachbeiträge. „Der Zweifel“ ist sein zehnter Kriminalroman rund um den Rechtsanwalt Stephan Knobel. Erfmeyer wohnt mit seiner Familie in Dorsten.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Gutachterland (2015)

Rasterfrau (2014)

Drahtzieher (2012)

Irrliebe (2011)

Endstadium (2010)

Tribunal (2010)

Geldmarie (2008)

Todeserklärung (2007)

Karrieresprung (2006)

Impressum

Die Entführung der kleinen Emilia durch ihre Mutter von Deutschland nach Sofia in Bulgarien beruht auf einer wahren Geschichte. Auch die in diesem Roman ganz oder teilweise wiedergegebenen gerichtlichen Entscheidungen, behördlichen Schreiben und Gutachten entsprechen in ihrem Wortlaut – wie der Ausgang des Falles – den Tatsachen. Die Namen, die sonstigen persönlichen Daten der Beteiligten und die übrige Handlung sind hingegen frei erfunden. Insoweit sind Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Begebenheiten zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Anja Greiner Adam/Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5770-8

Widmung

Für meine Tochter Liona Merita und meine Frau Anja

1

Als Stephan Knobel das Dortmunder Landgericht betrat, war es 8.34 Uhr. Wie einem Reflex folgend, sah er immer auf die Uhr seines Handys, wenn er ein Gerichtsgebäude betrat, um abzuschätzen, ob er es rechtzeitig in den Sitzungssaal schaffte, doch als er dieses Mal auf die Uhr sah, wurde ihm bewusst, dass dieses Ritual heute für ihn nicht die übliche Bedeutung hatte.

Es war ein regnerischer Montagmorgen im Februar 2018, an dem die schmale Kaiserstraße vor dem alten dreigeschossigen Justizgebäude mit Autos verstopft war, weil zu dieser Zeit bereits alle Parkplätze belegt waren und der Verkehr unter seiner Dichte zu ersticken drohte.

Im Eingangsbereich des Gerichts standen ungewöhnlich viele Besucher in der Warteschlange, um die Personenschleuse passieren zu können, deren Technik ähnlich der Kontrolleinrichtung auf einem Flughafen unsichtbar in der Kleidung mitgeführte Waffen und andere gefährliche Gegenstände aufzuspüren suchte. Die hier tätigen Justizbeamten fertigten alle Personen mit jener stoischen Ruhe ab, mit der sie tagein, tagaus aus demselben Grund Handtaschen durchleuchteten, Handys in Verwahrung nahmen und in einer für die Betroffenen zermürbenden Prozedur verlangten, Gürtel mit Metallschnallen aus den Hosenschlaufen heraus- und Schuhe auszuziehen, bis die Detektoren keine metallischen Gegenstände mehr registrierten.

Stephan Knobel indes passierte wie alle anderen Anwälte den danebenliegenden separaten Durchlass, der all jenen vorbehalten war, die mit Sonder- oder Dienstausweis das Privileg genossen, allein mit dem Vorzeigen dieses Ausweises ohne weitere Kontrolle das Gebäude betreten zu dürfen. Über die Jahre hatte Stephan die Erkenntnis gewonnen, das sich die Bedeutung seines Anwaltsausweises darin erschöpfte, beschleunigten Zugang zu Gerichtsgebäuden zu bekommen und er in jenen Momenten, in denen er die Plastikkarte in der Größe einer Kreditkarte zückte und ihn ein Justizbeamter mit einer beifälligen Kopfbewegung durchwinkte, in den Augen der Wartenden eine geheimnisvolle und ansonsten belanglose Wichtigkeit erlangte.

Er steckte den Ausweis wieder in sein Portmonee und strebte über die Treppe ins erste Obergeschoss. Aus seinem Büro – besser gesagt: aus seinem Arbeitszimmer in der Wohnung, das seit einigen Jahren seine Kanzlei war –, hatte er eine beliebige Akte mitgenommen und zur Vervollkommnung der Kulisse auch noch seine Robe über seinen linken Arm geworfen, die vom Regen nass geworden war und nun unangenehm muffig roch.

Es war das erste Mal in seiner rund zwölfjährigen Anwaltstätigkeit, dass er ein Gerichtsgebäude nur scheinbar in dem Willen betrat, zu einer Gerichtsverhandlung zu kommen. Er tat nur so, als sei er auf dem Weg zu einem Sitzungssaal. Sein eigentliches Ziel war der Flur vor Saal 136, wo er wie zufällig auf einen Mitarbeiter des Dortmunder Jugendamtes, Ralf Deitmer, treffen würde, mit dem er all dies abgesprochen und von dem er erfahren hatte, dass ein Klient namens Pavel Kubilski dringend anwaltliche Hilfe brauchte. Deitmer nannte alle, die er in seiner amtlichen Funktion betreute oder beriet, Klienten, obwohl sie es im Wortsinne nicht waren. Doch Deitmer benutzte diese Bezeichnung gern, weil er der Ansicht war, dass dieser Begriff am besten signalisierte, dass sich Deitmer wie ein Anwalt für diejenigen einsetzte, die sich ihm anvertrauten. Und tatsächlich schaffte es Deitmer mit dem im Laufe seines Berufslebens erworbenen Wissen, seine Klienten dazu zu bewegen, ihre Interessen auch auf dem Rechtsweg zu verfolgen, wenn es nicht anders ging. Deitmer half bei der Formulierung von Anträgen an das Gericht und begleitete viele seiner Klienten im Hintergrund durch die Verfahren, ohne dass sie auf anwaltliche Hilfe zurückgreifen mussten. Deitmer ging dabei über die Grenzen seiner amtlichen Pflichten und Aufgaben hinaus, ohne dass dies jemanden wirklich störte. Er blieb stets im Hintergrund und ließ sich hierfür auch nie bezahlen. Er erkannte, wenn ein Fall rechtlich zu knifflig wurde. Dann empfahl er seinem Klienten, sich in anwaltliche Beratung zu begeben, und Stephan Knobel gehörte zu den von ihm favorisierten Anwälten, dem er seine Klienten anvertrauen konnte.

Als Stephan vorgestern Abend den überraschenden Anruf von Ralf Deitmer erhielt, ging es in erster Linie darum, warum der Kontakt zwischen Stephan und Pavel Kubilski entgegen sonstiger Gewohnheit scheinbar zufällig zustande kommen sollte. Er erfuhr, dass Pavel Kubilski aus Polen und seine Frau Ivelina aus Bulgarien stammten. Er war Eisenbahningenieur und sie Ärztin in einem Dortmunder Krankenhaus. Sie hatten eine Tochter. Nur um sie würde es gehen, wenn Stephan die Vertretung von Pavel Kubilski übernehmen würde: die heute fünfjährige Emilia.

Deitmer hatte berichtet, dass die Eheleute Kubilski schon seit rund zwei Jahren getrennt lebten. Seinerzeit war Frau Kubilski mit Emilia ausgezogen und hatte im Dortmunder Osten eine Wohnung angemietet, die sie aber offenbar nie bezogen hatte. Lediglich das Türschild deutete darauf hin, dass Ivelina hier wohnte. In Wahrheit waren die Räume leer, was ein auf Deitmers Drängen von Kubilski beauftragter Privatdetektiv herausgefunden hatte. Kubilski hatte sich an das Jugendamt und dort an Ralf Deitmer gewandt, nachdem mit dem Wegzug seiner Frau auch Emilia verschwunden blieb. Seit nun zwei Jahren hatte Kubilski seine Tochter nicht mehr gesehen.

Nach Deitmers telefonischem Bericht hatte Stephan schon im Vorfeld des heutigen scheinbar zufälligen Treffens rechtliche Prüfungen angestellt, um wie aus dem Stegreif Kubilski Empfehlungen geben zu können. Kubilski hatte sich bis jetzt allein mit Deitmers Hilfe und auf dessen Drängen durch die Sache geschlagen und hegte naiv die trügerische Hoffnung, dass sich auch ohne eigene weitere rechtliche Initiative alles zum Guten wenden werde. Pavel Kubilski war nach Deitmers Befund das Musterbeispiel eines unbescholtenen Bürgers, zu dessen Weltanschauung gehörte, Konflikte möglichst nicht vor Gericht auszutragen und den Gang zu einem Anwalt selbst dann noch zu scheuen, wenn er aus vernünftiger Sicht unausweichlich war. Es war allein Deitmers Verdienst, Kubilski dazu gebracht zu haben, überhaupt mit juristischen Mitteln um seine Tochter zu kämpfen, und es war nur der Erfahrung Deitmers und seinem unerschütterlichen Engagement zu verdanken, dass er dies mit dessen fachlicher Unterstützung bisher ohne anwaltliche Hilfe geschafft hatte.

Stephan ging langsam den Flur auf der ersten Etage des Landgerichts entlang. Die bauliche Anlage im Justizgebäude war so wie in vielen anderen Gerichtsgebäuden: Jeder Flur öffnete sich zu beiden Seiten zu einem Treppenhaus, und ungeachtet aller baupolizeilichen Erwägungen, die diese Bauweise notwendig machte, erschien sie gerade hier sinnvoll, weil sie nach dem Ende eines Prozesses den streitenden Parteien gestattete, auf getrennten Wegen zu gehen. Stephan hatte sich von dem Ideal verabschiedet, dass Gerichtsprozesse die Parteien befriedeten.

Schon von Weitem erkannte Stephan den breitschultrigen großen Mann mit den grauen Stoppelhaaren, der von seiner Statur eher an einen grobklotzigen Kampfsportler erinnerte und von seinem Aussehen her nicht auf den Menschen schließen ließ, der er wirklich war: ein feinfühliger Mann, der manchmal wortlos verstand, worum es ging, und sich mit einer Akribie seinen Aufgaben widmete, die man gemeinhin einer Behörde nicht zutraute.

Vor etlichen Jahren waren sich Stephan und Ralf Deitmer zufällig erstmals in einer Kindschaftssache begegnet, und Stephan wusste nur zu gut, dass er seinen anwaltlichen Erfolg in dieser Sache maßgeblich dem Umstand verdankte, dass Deitmer mit Umsicht und großem Sachverstand intervenierte und die zerstrittenen Eltern an einen Tisch bringen konnte, um für ihr Kind wichtige Entscheidungen zu treffen.

Seither waren sich Stephan und Ralf Deitmer immer wieder in verschiedenen Verfahren begegnet, in denen alle Beteiligten davon profitierten, dass der Vertreter des Jugendamtes wie ein Löwe für die Kinder kämpfte und selbst noch da vermittelnde Wege fand, wo alle anderen keinen Ausweg mehr sahen. Doch im Fall Kubilski, so hatte Deitmer Stephan in dem Telefonat erklärt, müsse nun mit anderen Bandagen gekämpft werden.

Scheinbar gedankenverloren ging Stephan an Deitmer vorbei, und als er ihn passiert hatte, hörte er dessen erwartete dröhnende Stimme: »Hallo, Herr Knobel!« Er lachte polternd auf. »Kaum habe ich drei Kilogramm abgenommen, und die Menschen übersehen mich. Ich sollte wieder zu meinen alten Essgewohnheiten zurückkehren.« Es waren auch diese Kalauer, die darüber hinwegtäuschten, dass Deitmer ein sensibler und tiefsinniger Mensch war.

Stephan wandte sich wie überrascht um, und Deitmer löste sich zeitgleich von der Wand, an die er sich gelehnt und mit seiner fülligen Statur einen schmächtigen Mann fast verdeckt hatte, der mit blassem Gesicht ins Leere sah. Deitmer ging einen Schritt auf Stephan zu.

»Sie hier?« Deitmer streckte Stephan lächelnd seine große Hand entgegen, die unvermutet sanft die von Stephan drückte. »Was treibt Sie in diese heiligen Hallen?« Deitmer röchelte dabei, als hätte ihn schon diese kleine Bewegung übermäßig angestrengt.

»Das hier ist Herr Kubilski, ein Klient von mir«, fuhr er etwas ungelenk fort und trat zur Seite. Stephans erster Eindruck hatte nicht getäuscht: Pavel Kubilski wirkte nicht nur im Vergleich zu der imposanten Statur Deitmers schmächtig; der etwa 40-jährige Mann war ungewöhnlich zierlich und mit geschätzt 1,70 Metern Größe auch kleiner als Stephan und Deitmer. Kubilskis Gesicht war schmal, und sein Blick unruhig und scheu.

»Es ist ein Drama, das sich hier abspielt«, sagte Deitmer. »Ich darf das doch erzählen, Herr Kubilski?« Und ohne die Antwort abzuwarten begann er das Unfassbare zu schildern, das er Stephan bereits am Telefon mitgeteilt hatte, nun aber noch einmal so darbot, als hörte Stephan die Geschichte zum ersten Mal.

»Wir befinden uns hier vor einem Saal, in dem gleich eine Strafverhandlung stattfinden wird«, erklärte Deitmer und wies mit einer flüchtigen Kopfbewegung auf den gläsernen Schaukasten, der neben der Tür zum Sitzungssaal hing. »Genau genommen ist es schon das zweite Verfahren in dieser Sache, denn es geht um eine Berufung gegen ein Urteil des Amtsgerichts. – Schauen Sie mal, Herr Knobel!«, forderte er.

Stephan sah folgsam auf den dort befindlichen Terminzettel: »Strafsache gegen Kubilski, Ivelina, Aktenzeichen 27 Ns 78/17, Verteidiger Rechtsanwalt Jürgen Schmitz«, las er und sah sich dann wie nach einer Drehbuchvorlage fragend zu den beiden anderen um.

»Es geht nicht um meinen Klienten«, stellte Deitmer wie vorgegeben klar, »sondern um seine Frau Ivelina.«

Stephan nickte, während er noch auf den Aushang blickte.

»Heute werden wir diese Frau als Angeklagte vor dem Dortmunder Landgericht erleben – angeklagt wegen Kindesentziehung. Das Amtsgericht hatte sie zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Ohne Bewährung! Das heißt schon was«, wusste Deitmer. »Ivelina hatte keine Vorstrafe. Aber das Gericht sah bei ihr keine günstige Sozialprognose. Mit anderen Worten: Es ging davon aus, dass sich Ivelina durch das Urteil nicht beeindrucken lässt und die Tochter weiter versteckt hält. Deshalb musste sie sofort wieder in den Knast. Seither sitzt sie ein. Bis heute sind es knapp sieben Monate zuzüglich zwei Monate Untersuchungshaft. Also rund neun Monate insgesamt. Sie hat Berufung gegen das Urteil eingelegt. Darum geht es heute.«

Stephan schaute Pavel Kubilski ungläubig an, und indem er dies tat, forderte er geradezu dessen sichtbares Unbehagen heraus, das darin gründete, mit seiner auf Deitmers Drängen gestellten Strafanzeige gegen Ivelina eine Maschinerie in Gang gesetzt zu haben, die er so gar nicht gewollt zu haben schien, obwohl Ivelina ihm sein Kind genommen und nach Deitmers Worten verdient hatte, bis in alle Ewigkeit nach Sibirien verbannt zu werden. Auf Deitmers Drängen hatte der von Kubilski beauftragte Privatdetektiv Ivelina bei einem ihrer Besuche in Dortmund im Mai 2017 ausfindig gemacht und so ermöglicht, dass der gegen Ivelina erlassene Haftbefehl vollstreckt werden und sie bis zur Hauptverhandlung vor Gericht in Untersuchungshaft genommen werden konnte. Der Detektiv hatte auch herausgefunden, dass Ivelina ihre Stelle als Ärztin in einem Dortmunder Krankenhaus aufgegeben hatte, ohne dass bisher geklärt werden konnte, wo sie nun wohnte und welcher Tätigkeit sie nachging.

»Sie soll nur sagen, wo sich das Kind genau befindet, damit ich es zurückholen kann«, sagte Kubilski. »Sie wird es sagen, wenn sie das Gericht im Gefängnis lässt. Weitere neun Monate wird sie nicht aushalten. Sie soll nur sagen, wo ich Emilia finde. Ich selber will Ivelina nichts Böses.«

Deitmer verdrehte die Augen. »Vielleicht jagen Sie noch eine Fürbitte für Ivelina zum Herrgott, Kubilski«, schnalzte er und schüttelte verärgert den Kopf. »Ivelina hat Emilia nach Bulgarien entführt«, erklärte er für den wie benommen wirkenden Pavel Kubilski. »Das Kind befindet sich wahrscheinlich in Sofia bei der Mutter von Ivelina, also Emilias Großmutter. Als Ivelina und Pavel heirateten, wohnte sie dort. Aber die alte Adresse ist wohl nicht mehr gültig, und eine aktuelle kennen wir nicht. Ivelina hat die Adresse ihrer Mutter nicht genannt, die deutschen Behörden kennen die Adresse nicht und erfahren sie auch nicht von den bulgarischen. Die dortigen Behörden sperren jede Auskunft, weil man sagt, dass dies zum Schutz des Kindes – und auch zum Schutz von Ivelina – erforderlich sei.«

Stephan schwieg. All das hatte ihm Deitmer schon am Telefon erzählt. Was ihn irritierte, war, dass Kubilski gegen seine frühere Frau keine offen ausbrechende Wut hegte, obwohl sie ihm dies angetan hatte.

»Sie müssen sich vorstellen«, setzte Deitmer wieder an, »Pavel hatte inzwischen vom Dortmunder Familiengericht im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig das alleinige Sorgerecht für Emilia zugesprochen bekommen, nachdem das Gericht zu der Überzeugung gelangt war, dass Ivelina in boshafter Absicht versucht hatte, Pavel das Kind zu entziehen und alle Register zu ziehen, um jeden Kontakt zwischen Pavel und Emilia zu unterbinden. Das Gericht hatte auch entschieden, dass Ivelina das Kind an Pavel herauszugeben habe. Das war schon im Juni 2016, also vier Monate nach ihrem Wegzug und der Entführung Emilias. – All diese Verfahren hat Herr Kubilski gewonnen, nachdem ich darauf gedrängt hatte, dass er die entsprechenden Anträge beim Familiengericht stellte. – Ich habe lediglich bei der Formulierung der Anträge etwas geholfen«, setzte er augenzwinkernd hinzu. »Bereits unmittelbar nach der Trennung hatte Ivelina Besuche der Tochter bei Pavel verweigert. Pavel hatte sich damals an mich, also das Jugendamt, gewandt, und ich habe erst mit Ivelina vermittelnde Gespräche zu führen versucht, aber sie hat mit perfider Dreistigkeit alle Termine ignoriert, gerichtliche Termine platzen lassen, weil sie nicht erschien. Ebenso erschien sie nicht zu den später anberaumten Gerichtsterminen. Sie äußerte sich lediglich per E-Mail in den Verfahren. Die Entscheidungen des Familiengerichts konnten ihr immerhin unter der Anschrift zugestellt werden, unter der sie melderechtlich und ausweislich des Türschildes im Dortmunder Ortsteil Wambel wohnte, obwohl sie sich nicht tatsächlich dort aufhielt. Pavel hatte bis zur Entführung der Kleinen auch ordentlich Kindesunterhalt für Emilia bezahlt. Als die Mutter Emilia entführt hatte, habe ich ihm geraten, nichts mehr zu bezahlen. In solchen Fällen hilft es meist, wenn man den Geldhahn zudreht.«

Stephan hörte deutlich Deitmers Stolz heraus, dass es ihm gelungen war, unter seiner Regie Kubilski zu Maßnahmen veranlasst zu haben, die zwar das Kind bisher nicht zu Kubilski zurückgebracht hatten, aber richtige rechtliche und strategische Schritte markierten.

»Warum hat Ivelina das gemacht?«, fragte Stephan und wollte eher von Kubilski eine Antwort haben, doch statt seiner antwortete Deitmer mit der bereits in dem Telefonat erteilten Information.

»Sie hält an ihrem Vorwurf gegen Pavel fest. Wann und von wo auch immer sie sich per Mail meldet: Stets wiederholt sie dasselbe …«

»Welchen Vorwurf?«, fragte Stephan.

»Sexueller Missbrauch«, sagte Deitmer gedehnt, als sei von vornherein klar, dass dieser Vorwurf jeder Grundlage entbehrte. Doch er spürte, dass Pavel nicht wollte, dass hierüber schnell hinweggegangen wurde, und besserte sofort nach: »Natürlich ist es so, dass jedes Gericht einem solchen Vorwurf nachgehen muss, schon deshalb, um der eigenen Verantwortung gerecht zu werden. Doch wir alle wissen, dass es die schändlichste, aber auch erfolgreichste Karte ist, die in solchen Verfahren von Müttern gespielt werden kann, wenn es nicht darum geht, einen stattgefundenen Missbrauch anzuprangern, sondern darum, die Gelegenheit zu nutzen, mit einem auf einer Lüge gründenden Vorwurf ein Stigma zu begründen, welches im schlimmsten Fall geeignet ist, mit gerichtlicher Segnung die Kontakte zwischen Vater und Tochter zu unterbinden. – Ich darf Ihnen versichern, Herr Knobel, dass Ivelina in dieser Hinsicht mit allen Wassern gewaschen ist, und es ist eine große Genugtuung, dass die Justiz keine Mühen gescheut hat, der Sache auf den Grund zu gehen. Ivelina hatte Pavel wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt, insbesondere deshalb, um ihr geplantes Verschwinden mit dem Kind zu legitimieren. Grundlage war eine Äußerung Emilias beim Kinderarzt, wonach Pavel beim Baden des Kindes in seiner Wohnung ›an der Pipi‹ gestreichelt hatte. Wegen dieser Behauptung hatte Ivelina dann auch Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft wegen sexuellen Missbrauchs gestellt. Das war etwa ein Monat, bevor sie mit der kleinen Emilia verschwand.«

»Und?«, fragte Stephan, während sein Blick auf Pavel Kubilski ruhte.

»Ein von der Staatsanwaltschaft eingeholtes aussagepsychologisches Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass die Schilderungen der damals rund dreijährigen Tochter nicht auf eigenem Erleben beruhten. Kurz und gut: Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen Pavel wurde eingestellt, und das Familiengericht übertrug danach Pavel – wie gesagt – im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig die alleinige elterliche Sorge für Emilia und ordnete die Herausgabe der Tochter an Pavel an. Aber da war Ivelina schon mit dem Kind über alle Berge, nachdem sie sich ausrechnen konnte, dass sie keine Chance mehr hatte, Pavel das Kind mit dem erfundenen Missbrauch vorzuenthalten.«

»Und in Bulgarien hatte Ivelina ebenfalls Strafanzeige gegen Pavel Kubilski wegen sexuellen Missbrauchs der Tochter gestellt«, vermutete Stephan, »denn sonst wäre es ja nicht zu der Auskunftssperre der bulgarischen Behörden über den Aufenthaltsort des Kindes gekommen«, sagte er und tat, als folgere er dies aus Deitmers Erzählung, der dieses Detail soeben entgegen seiner Schilderung am Telefon vergessen hatte.

»Genau!«, stimmte Deitmer zu. »Ich sehe mit großer Freude, dass Sie sich mit den Details vertraut machen.« Er schaute prüfend auf seine Armbanduhr. »Wann ist Ihr Termin, Herr Knobel?«

»Um neun. Genau wie Ihrer.«

Deitmer überlegte. »Wird Ihr Termin lange dauern?«, fragte er.

»Vielleicht zehn Minuten«, antwortete Stephan wie zuvor verabredet.

»Pavel und ich sind hier nur Zuschauer«, erklärte Deitmer, »Wir wollen sehen, wie es ausgeht.«

»Sie wird heute endlich sagen, wo Emilia ist und sie zurückbringen«, gab sich Pavel plötzlich zuversichtlich. »Sie hatte im Gefängnis neun Monate Zeit zum Überlegen. Ivelina hat Berufung gegen das erste Urteil eingelegt. Es wird die Richter heute gnädig stimmen, wenn sie Emilia freigibt.«

»Aber sicher, Herr Kubilski.« Deitmer verzog die Mundwinkel. Er beugte sich mit hörbarem Seufzen, griff in seine lederne braune Aktentasche und zog einen Hefter heraus, hielt kurz inne und richtete sich nach der körperlichen Anstrengung mit hochrotem Kopf auf. Dann reichte er Stephan die Akte.

»Nehmen Sie sie«, sagte er kurzatmig, »lesen Sie die Akte an einem stillen Ort und kommen Sie nach Ihrem Termin hier in die Sitzung. Ich schätze, dass die Berufungsverhandlung etwa eine Stunde dauern wird. Sie sind doch einverstanden, Herr Kubilski?«

Deitmers Frage überrumpelte Kubilski, aber Stephan verstand, dass nur so eine Chance bestand, dass er einen Schritt nach vorn wagte.

Pavel Kubilski trug einen dunkelgrauen Anzug, darunter ein weißes Hemd und eine rote Krawatte. Seine schwarzen Lederschuhe waren sorgfältig gewachst.

Stephan erinnerte sich an Deitmers Worte in dem Telefonat: »Ich fürchte, dass die Berufungsverhandlung nicht lange dauern und für uns zur Niederlage wird. Und wenn es so kommt, wie ich befürchte, brauche ich Sie jetzt ganz schnell! Denn dann kann nur noch ein Anwalt was machen!«

Stephan nahm den Hefter, den Deitmer ›die Akte‹ nannte. Darin befand sich nur ein Schriftstück: das fünfseitige erstinstanzliche Strafurteil des Amtsgerichts Dortmund gegen Ivelina Kubilski.

»Lesen Sie es!«, hatte Deitmer bereits am Telefon eindringlich gefordert. »Das Urteil fasst den Sachverhalt gut zusammen. Pavel wird Sie jetzt brauchen!«

2

Stephan versprach, so schnell wie möglich von seinem vorgeblichen Termin zurückkehren zu wollen. Dann legte er Deitmers Hefter in seine mitgebrachte Akte und eilte über den Flur davon.

Stephan hatte zunächst überlegt, sich in die Gerichtskantine im Erdgeschoss zurückzuziehen und dort in Ruhe bei einer Tasse Kaffee das Urteil gegen Ivelina Kubilski zu lesen, doch die Kantine war wegen Renovierungsarbeiten geschlossen.

Also wich er auf die Vorhalle vor dem großen Schwurgerichtssaal aus, in der es reichlich Sitzgelegenheiten gab, doch als Stephan dort ankam, tauchte er unversehens in eine aufgeregt schnatternde Menschenmenge ein, die sich vor den noch geschlossenen Türen des Saales drängte. Als Stephan darunter auch viele Medienvertreter erkannte, die durch ihre Kameras, Mikrofone und anderes technisches Gerät auffielen, fiel ihm ein, dass am heutigen Tage der spektakuläre Prozess gegen den von der Presse so bezeichneten ›Schlächter von Dortmund‹ beginnen würde, einen 34-jährigen Versicherungsvertreter, der seine von ihm schwangere Freundin zunächst mit einem Fleischermesser erstochen und ihr dann das zu diesem Zeitpunkt bereits tote Baby aus dem Leib geschnitten hatte. Jetzt war Stephan klar, warum an der Schleuse im Eingangsbereich großer Andrang herrschte. Die Zuschauerränge im Schwurgerichtssaal würden wie bei allen spektakulären Prozessen bis auf den letzten Platz gefüllt sein und die weitaus meisten Besucher deshalb in der Vorhalle bleiben müssen. Die lokalen Zeitungen hatten über Wochen immer wieder über Täter und Opfer und über den heute beginnenden Prozess berichtet und in Leserbriefen den Ruf nach der Todesstrafe laut werden lassen. Stephan ahnte, dass unter den vielen, die nach Öffnung des Gerichtsgebäudes heute Morgen vor die Pforten des Schwurgerichtssaales gestürmt waren, um einen der Zuschauerplätze zu ergattern, etliche Vertreter einer sonst im Verborgenen bleibenden Volksseele waren. Es waren jene, die das deutsche Strafrecht als zu milde empfanden und allein durch ihre Anwesenheit einen Beitrag dazu zu leisten glaubten, das Gericht wenigstens auf die Verhängung der nach unserem Recht härtesteten Strafe einschwören zu können, während sie im Übrigen ihre Anwesenheit im Gerichtssaal als ergötzlichen Zeitvertreib empfanden.

Das erregte Stimmengewirr in der überfüllten Vorhalle ließ Stephan nicht daran denken, hier aufmerksam das Urteil gegen Ivelina Kubilski lesen zu können, zumal ihm die wegen der regennassen Kleidungen schwüle und abgestandene Luft Schweißperlen auf die Stirn trieb.

Stephan wusste, dass wegen des Gedränges um diesen Prozess ein stiller Ort auch in den Nebenfluren kaum zu finden sein würde. Gleichzeitig trieb ihn die fortschreitende Zeit – es war schon 9.10 Uhr – zur Eile, und im Gedanken an einen stillen Ort fiel ihm ein, dass es im dritten Stock des Gebäudes, wo sich keine Sitzungssäle und deshalb keine Wartebänke auf den Fluren, sondern nur Ausbildungsräume und Dienstzimmer der Richter befanden, eine Toilette gab, die kaum frequentiert wurde und Gelegenheit bot, sich ungestört zurückziehen zu können. Stephan kannte die Anlage aus der Zeit seiner eigenen Ausbildung, als er mit anderen Referendaren dort auf das Zweite Juristische Staatsexamen vorbereitet wurde.

Er fand die Toilettenanlage im dritten Stock unverändert vor. Die rechte der beiden Kabinen war wie damals dauerhaft versperrt, weil sie entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung der Aufbewahrung von Putzutensilien diente. Die linke war geöffnet, und Stephan war es nur recht, dass ein handgeschriebenes Pappschild mit der Aufschrift ›Wasserspülung defekt, bitte Toilette im 2. OG benutzen‹ Besucher fernhalten sollte.

Stephan betrat die Kabine, versperrte sie von innen, nahm Deitmers Hefter aus der Akte und legte diese und seine Robe auf den Boden. Dann setzte er sich auf den geschlossenen Toilettendeckel und las das Urteil des Amtsgerichts Dortmund:

 

IM NAMEN DES VOLKES

Urteil

In der Strafsache

gegen Ivelina Kubilski, geborene Sudova,

geboren am 1. Oktober 1983 in Sofia/Bulgarien,

zurzeit in dieser Sache in Untersuchungshaft in der JVA Dortmund,

getrennt lebend

wegen Entziehung Minderjähriger

hat das Amtsgericht Dortmund

aufgrund der Hauptverhandlung vom 17.07.2017,

an der teilgenommen haben:

Richter am Amtsgericht Schürmann

als Richter

Staatsanwältin Glockner

als Vertreterin der Staatsanwaltschaft Dortmund

Rechtsanwalt Schmitz aus Düsseldorf als Verteidiger der Angeklagten Ivelina Kubilski

Justizsekretärin Holzmeier und Justizbeschäftigte Freesen

als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle

für Recht erkannt:

Die Angeklagte wird wegen Entziehung Minderjähriger zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 6 Monaten kostenpflichtig verurteilt.

Angewendete Vorschriften: §§ 235 Abs. 2 Nr. 1, 51 StGB –

Gründe:

Die Angeklagte wuchs mit zwei Geschwistern bei ihren Eltern in Bulgarien auf, die als Lehrerin und als Schreiner berufstätig waren. Die Schulausbildung absolvierte die Angeklagte nach eigenen Angaben überwiegend in Bulgarien, aber auch zum Teil in Deutschland und in Russland. Bereits im Jahr 1999 habe sie mit knapp 16 Jahren das Abitur gemacht, weil es ihr aufgrund besonderer schulischer Leistungen gelungen sei, mehrere Klassen zu überspringen. Von 2000-2007 habe sie dann in Stettin Medizin studiert. Seitdem sei sie Ärztin. Inzwischen sei sie auch Fachärztin für Augenheilkunde. An einem Krankenhaus in Solingen habe sie bis November 2015 als Oberärztin gearbeitet.

Seit 2010 lebt die Angeklagte nach eigenen Angaben in Deutschland. Seit dem Jahr 2011 ist sie verheiratet. Zusammen mit ihrem Ehemann habe sie zunächst in Bochum und später dann in Dortmund gelebt. Nach der Geburt der Tochter Emilia sei sie vorübergehend in Lauscha als Ärztin tätig gewesen, während ihr Ehemann in Dortmund geblieben sei. 2014 sei sie dann ins Ruhrgebiet zurückgekehrt.

Die Angeklagte und ihr getrennt von ihr lebender Ehemann Pavel Kubilski, wohnhaft in Dortmund, Melanchthonstraße 73, sind die Eltern der am 5.1.2013 geborenen Emilia. Beide hatten das gemeinsame Sorgerecht für die Tochter, bis das Familiengericht Dortmund die elterliche Sorge im April 2016 vorläufig dem Ehemann übertrug.

Bereits kurz nach der im Januar 2016 erfolgten Trennung stritten die Angeklagte und ihr Ehemann über das Umgangsrecht bezüglich der Tochter. Die Angeklagte behauptet insoweit, dass es zum sexuellen Missbrauch der Tochter durch den Kindesvater gekommen sei. Sie erstattete Strafanzeige gegen den Kindesvater. Im Rahmen der Ermittlungen kam die Staatsanwaltschaft Dortmund – auch aufgrund eines von ihr eingeholten Gutachtens – zu dem Ergebnis, dass die von der Angeklagten erhobenen Vorwürfe gegen ihren Ehemann bezüglich des behaupteten sexuellen Missbrauchs der Tochter haltlos seien. Vielmehr wurde festgestellt, dass die Behauptung des damals etwa dreijährigen Kindes, der Vater habe es ›an der Pipi‹ gestreichelt, von der Angeklagten der Tochter durch gezielte Beeinflussung ›eingepflanzt‹ wurde. Die Staatsanwaltschaft Dortmund stellte das Ermittlungsverfahren gegen den Kindesvater ein.

Nach Einstellung des gegen den Kindesvater geführten Ermittlungsverfahrens verdichteten sich die Anzeichen, dass die Angeklagte beabsichtigte, gegen den Willen des Kindesvaters mit dem Kind nach Bulgarien zu verschwinden. Auf Antrag des Kindesvaters übertrug das Familiengericht Dortmund dem Kindesvater im Wege einer einstweiligen Anordnung die alleinige elterliche Sorge für Emilia. Obwohl das Familiengericht im Weiteren anordnete, dass die Angeklagte die Tochter an den Kindesvater herauszugeben habe, war sie spätestens seit Mitte Februar 2016 unbekannten Aufenthaltes. Weder dem Kindesvater noch dem Gericht teilte sie die Anschrift des Kindes mit. Sie war mit der Tochter untergetaucht. Postsendungen des Familiengerichts konnten ihr zwar formal unter der von ihr nach außen innegehaltenen Dortmunder Wohnanschrift zugestellt werden, sie wohnte dort jedoch nicht und suchte diese Adresse nur gelegentlich und jeweils zu unklarem Zweck für jeweils kurze Zeitspannen auf. Ihren Arbeitsplatz als Oberärztin hatte sie gekündigt.

Die Tochter Emilia befindet sich mit großer Wahrscheinlichkeit in Bulgarien und wird dort mutmaßlich von der Großmutter, der Mutter der Angeklagten, betreut. Der genaue Aufenthaltsort des Kindes ist unbekannt und kann derzeit nicht ermittelt werden.

Die Angeklagte hat nach eigenen Angaben in Bulgarien ein Sorgerechtsverfahren angestrengt mit der Absicht, alleinige Sorgerechtsinhaberin für ihre Tochter zu werden. Soweit in Bulgarien dieses Verfahren tatsächlich betrieben wird, hat die Angeklagte jedoch die bulgarischen Behörden offensichtlich nicht über das Tätigwerden des Dortmunder Familiengerichts und der Dortmunder Staatsanwaltschaft informiert. Nach Darlegung der Angeklagten dürfe die Tochter Bulgarien derzeit nicht verlassen, weil das Kind für das von ihr angestrengte dortige Verfahren unentbehrlich sei.

Bereits im Juni 2016 erhielt die Tochter der Angeklagten neben der deutschen auch die bulgarische Staatsangehörigkeit. Dies hatte die Angeklagte entsprechend veranlasst. Sie behauptet insoweit, ihr Ehemann habe die Erteilung der bulgarischen Staatsangehörigkeit für Emilia schriftlich beantragt. Der Ehemann bestreitet dies – durchaus glaubhaft – vehement. Insoweit mag gegebenenfalls noch zu überprüfen sein, ob es diesbezüglich zu Urkundsdelikten gekommen ist.

Der vorgenannte Sachverhalt konnte durch die eigene Einlassung der Angeklagten festgestellt werden.

Die Angeklagte ist nicht vorbestraft.

Der Verteidiger der Angeklagten hat bekundet, die Angeklagte erkenne nunmehr, dass sie sich in eine Sackgasse manövriert habe und das Kind der Angeklagten nach Deutschland zurückkehren müsse. Die Angeklagte selbst stimmt dem vordergründig zu, gibt aber zu bedenken, dass die Tochter aufgrund der in Bulgarien betriebenen Verfahren dort unbedingt noch verbleiben müsse. Das Gericht hat in der Hauptverhandlung den Eindruck gewonnen, dass die Angeklagte für die Zukunft die Tochter alleine für sich haben möchte und deshalb wünsche, dass Emilia zunächst in Bulgarien verbleibe.

Das Verhalten der Angeklagten stellt die Entziehung eines Minderjährigen (Vergehen nach § 235 Abs. 2 Nr. 1 StGB) dar.

Bei der Strafzumessung konnte zugunsten der Angeklagten berücksichtigt werden, dass sie nicht vorbestraft ist und sich geständig eingelassen hat. Zulasten der Angeklagten ist zu berücksichtigen, dass sich das Kind schon lange in Bulgarien befindet und entgegen der Weisung des Familiengerichts aus seinem hiesigen Kulturkreis schon lange herausgerissen ist. Zulasten der Angeklagten ist auch zu sehen, dass sie ihr Fehlverhalten von langer Hand vorbereitet und mit erheblicher krimineller Energie durchgeführt hat.

Vor diesem Hintergrund ist zur Einwirkung auf die Angeklagte die Verhängung einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten geboten.

Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe konnte nicht zur Bewährung (§ 56 StGB) ausgesetzt werden. Der Angeklagten kann die erforderliche positive Prognose für die straffreie Führung in der Zukunft nicht gestellt werden.

Die Angeklagte ist ganz offensichtlich bemüht, ihre Tochter für die Zukunft ausschließlich für sich zu haben. Die Angeklagte verfügt über besondere berufliche Fähigkeiten und spricht angeblich auch viele Sprachen. Vor diesem Hintergrund könnte sie sich im Falle der Haftentlassung mit der Tochter auch aus dem EU-Raum entfernen und damit die Rückführung des Kindes weiter vereiteln. Vor diesem Hintergrund ist es geboten, dass die Angeklagte die verhängte Strafe auch verbüßt.

Die Untersuchungshaft ist anzurechnen (§ 51 StGB).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 StPO.

Schürmann

Es folgten der Name des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle sowie das Dienstsiegel des Gerichts.

Stephan wollte gerade die Kopie des Urteils wieder in seine Akte legen, als er hinter sich ein kurzes Brummen hörte. Er fuhr erschreckt herum, konnte aber nicht feststellen, woher das Geräusch kam, das fast ein Dröhnen war, als stamme es aus einem leeren Raum, der das Brummen wie in einem Resonanzkörper deutlich verstärkte. Stephan stand auf und betrachtete den Wasserkasten, der hinter dem Toilettentopf an die Wand montiert war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Deckel nur lose aufgelegt war. Er nahm den Deckel ab und entdeckte ein Handy, das sich mittels einer eingeklebten Vorrichtung unter dem Deckel des ansonsten leeren Spülkastens befand, dessen Wasserzulauf – wie er jetzt feststellte – oberhalb des Kastens von dem aus der Wand kommenden Rohr an einer Verbindungsmuffe abgetrennt und diese mit einer Schraubkappe verschlossen worden war.