Der zweite Urknall - Harald Müller - E-Book

Der zweite Urknall E-Book

Harald Müller

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Beschreibung

Das Buch vertieft und beschreibt auf breiter Front mögliche Wege in die Zukunft. Vieles wird anders sein, im Guten und im Bösen. Die menschliche, biologische Intelligenz kann nicht unendlich wachsen. Folgt ihr die rasend steigende künstliche Intelligenz? Was ist diese überhaupt? Wohin steuert die Verflechtung Menschheit + KI? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Der Blick in die Zukunft muss so viel wie möglich erfassen von dem, was der Inhalt unseres Lebens und Denkens ist: Bewusstsein, Wahrnehmung und Realität, die quälenden Entitäten-Probleme der modernen Physik, Krieg und Frieden, Freiheit und freier Wille, Recht und Unrecht, Leben und Tod, künstliche Evolution und vieles mehr. Entlang solcher Fragen bewegen sich auch vorher veröffentlichte Bücher desselben Autors: Analiza si sinteza modulara (rumänisch); Wohin Musik? (deutsch).

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INHALT

Vorwort

ERSTER TEIL

A. Wie real ist meine Wirklichkeit? Der Teufelskreis

B. Glauben und Wissen

B.1 Wurzeln der modernen Physik: Das Doppelspalt-Experiment

B.2 Wurzeln der modernen Physik: Lichtgeschwindigkeit und Teilchenverschränkung

B.3 Axiome, Postulate, Gesetze

B3.1 Der axiomatische Baum – Die Glaubwürdigkeitsordnung

B3.2 Mein Alltag – eine Nische im axiomatischen Baum

C. Invarianz ~ Symmetrie, Grenzen

C.1 Gewässer und Farben

C.2 Skalentrennung, Skaleninvarianz

C.3 Ein, zwei oder halbe Haufen, Kühe oder Frikadellen

C.4 Vom Zählen zur Mathematik. Der Sinn der Unendlichkeit

D. Modelle

D.1 Was ist Wahrheit?

D.1.1 Nachrichten und Fake News

E. Morphing – Kontinuität/Diskontinuität

E.1 Kontinuität, Diskontinuität

E.2 Schmetterlingseffekt und Emergenz

F. Identität, Ununterscheidbarkeit, Ähnlichkeit

F.1 Reversibilität/Irreversibilität

F.1.1 Personal-Identität

G. Entitäten und Entitäten-Fluktuation

G.1 Intelligenz – Stufen der Abbildung der Realität

G.2 Entitäten und Begriffe

G.3 Das Entitätenproblem der Quantenphysik

H. Ordnung, Unordnung

H.1 Bohnen, Wärme und Entropie

H1.1 Maxwells Dämon

H.2 Entropie und Leben

H.2.1 Offene und geschlossene Systeme

I. Determinismus und Zufall

I.1 Kausalität und Zufall

I.2 Impulsverbreitung und Unteilbarkeit

J. Intuition des Raums und der Wirklichkeit

J.1 Raumdimensionen

J.2 Intuition und Autosuggestion

J.3 Intuition der Wirklichkeit

ZWEITER TEIL

K. Gruppenstrukturen und Gesellschaft

K.1 Machtordnung

K.2 Rangordnung und Gruppendistanz

K.3 Privatsphäre und Gruppendistanz

K.4 Schwarmintelligenz – die homogene, einfache Form der Gruppe

K.5 Gruppenformen und Rassen bei Tier und Mensch

K.6 Natürliche Selektion und gerichtete Selektion bei Tier und Mensch

K.7 Menschenrassen und Rassismus

K.7.1 Diskriminierung – das Alter-Ego des Rassismus

K.7.2 Antisemitismus – Vertauschte Perspektiven

L. Zivile Reife

L.1 Urformen des Altruismus

L.2 Der Menschenteppich

L.3 Die zivile Reife

L.3.1 Wege zur Angleichung der zivilen Reife

L.3.2 Ideale und soziale Realität

L.4 Vertrauen, Misstrauen und Vorurteile

L.4.1 Zusammenkunft der Kulturen – Ein Gedankenexperiment

M. Recht und Unrecht

M.1 Das Unrecht wird Recht: Raub, Schutzgelderpressung, Zwangsabgaben, Steuern

M.2 Rache und Justiz

M.3 Verhältnismäßigkeit der Strafe

M.4 Belohnungsgerechtigkeit, Ausgleichsgerechtigkeit

M.5 Gerechtigkeit und Ethik

M.5.1 Egalité

M.6 Besitz und Reichtum

M.6.1 Was ist Besitz?

M.6.2 Proletarier und Millionär

M.7 „Links“ und „Rechts“

M.7.1 Privatisierung oder Verstaatlichung?

M.8 Zwischen Gerechtigkeitsbestreben und dem Sog der Ranghöhe

M.8.1 Diskriminierung und Machthunger

M.9 Rechtsprechung und Gerechtigkeit

N. Soziale Ideale und Träume

N.1 Freiheit des Einzelnen

N.2 Freiheit der Gruppe

N.3 Bewusstsein, Unterbewusstsein und freier Wille

N.3.1 Ziel und Zweck

N.4 Krieg und Frieden

N.5 Die Guten und die Bösen

DRITTER TEIL

O. Leben und Tod

O.1 Individuation, Erneuerung und Unsterblichkeit

O.2 Unsterblichkeit?

O.3 Die Macht der Redundanz

O.3.1 Redundanz des Gehirns

O.4 Das „Ziel“ der Selektion: Die Wahrung des genetischen Bauplans

O.5 Epigenetik – Pfade von den Genen zu den Verhaltensmustern

O.5.1 Das entzifferte Genom

P. Die biogenetische Evolution des Menschen

P.1 Involution und künstliche Evolution

P.2 Der Knick in der Evolution

P.3 Die Umweltherausforderung

VIERTER TEIL

Q. Die Singularität

Q.1 Ein Gedankenexperiment – Die Apokalypse und der zweite Urknall

Q.1.1 Auswirkungen auf die Menschen

Q.1.2 Auswirkungen auf die IT-Intelligenz:

Q.2 Formen der Intelligenz

Q.2.1 Emotionale Intelligenz

Q.2.2 Digitale Intelligenz

Q.2.3 Neuronale Intelligenz

Q.3 Gezähmte Überdigitalisierung – Künstliche Neuronale Netze (KNN)

Q.3.1 Der Durchbruch der KNN

Q.4 Autarkie

R. Künstliche Intelligenz (KI) und die künstliche Evolution

R.1 Wo stehen wir beim Übergang zur kommenden IT-Singularität?

R.2 Träume und Richtungen der künstlichen Evolution

R.3 Wo bleiben wir, wenn uns die autarke Superintelligenz nicht mehr braucht?

Personenindex

Sachindex

VORWORT

Wann kommt die posthumane oder transhumane Intelligenz? Und wie? Wenn alles läuft, wie die Astrophysiker es erwarten, wird in einigen Milliarden Jahren unser Planet in der Strahlung einer sich aufblähenden Sonne verglühen. Viel zu weit in der Zukunft, um uns davon beunruhigen zu lassen. Wir haben andere Sorgen, andere Bedrohungen könnten in einer viel näheren Zukunft aktiv werden oder sind es teilweise schon geworden. Zum Beispiel Auswirkungen des Bevölkerungswachstums, gravierende Klimaveränderungen, außer Kontrolle geratene Wirkungen der Industrie, Genetik, Medizin. Oder unglücklich gelagerte Meteoritenbahnen, die unsere Erde unbewohnbar machen könnten, u. a. m. Solche Sachen stehen zunehmend in unserem Fokus.

Die Umsiedlung der Menschheit zu einem Exoplaneten ist das wohl spektakulärste Projekt zur Vermeidung solcher Bedrohungen. Es wurde sogar eine Station gebaut, in der Freiwillige eine Zeit lang isoliert leben, um zu erfahren, wie es sich denn auf dem Raumschiff anfühlt, das auf dem Weg zu einem anderen Planeten ist. Tausende Exoplaneten sind entdeckt worden, unser höchstes Interesse gilt ihrer Bewohnbarkeit. Manche Prognosen sprechen sogar von möglichen „superhabitablen“ Exoplaneten, mit besseren Lebensbedingungen als auf unserer Erde. Diese Hypothese ist nicht ganz ernst zu nehmen, weil die Biosphäre sich nicht notdürftig an unseren Planeten anpassen musste, sondern sich in Einheit mit ihm in völlig verschiedenen Klimazonen entwickelt hat.

Das Szenario eines bewohnbaren Planeten als Auswanderungsziel hat nüchtern betrachtet die geringsten Chancen, in Betracht gezogen zu werden. Es verlangt einen für die Menschheit enormen, nicht überwindbaren Energie- und Zeitaufwand. Darüber hinaus lässt die rasante Beschleunigung der menschlichen Entwicklung die Auswanderung als eher sinnlos erscheinen: Einerseits vervielfacht sich das Wissen in immer kürzeren Abständen. Andererseits wird der Mensch nicht mehr warten, bis die natürliche Selektion und Evolution ihn weiter bringen. Er selbst wird an sich Hand anlegen und zu einem Wesen werden, was wir heute nicht näher bestimmen können. Ansatzmäßig hat er eigentlich schon damit begonnen. Ob sich dann nach seiner rasant beschleunigten Evolution das Projekt Umsiedlung noch so wie heute darstellt, muss bezweifelt werden.

Ganz allgemein dürfte aus der heutigen Kurve der Entwicklung gemutmaßt werden, dass die transhumane Intelligenz noch vor der nächsten Jahrtausendwende Realität sein könnte. In allen Bereichen wurden und werden Szenarien unserer Zukunft gezeichnet. Einige recht plausibel, andere eher für Science-Fiction-Produkte gedacht. Unsere Szenarien müssen sich auf möglichst glaubwürdige, aus Erfahrungen und Wissen entstandene Voraussetzungen stützen. Es ist unmöglich, alles zu berücksichtigen. Auch sorgfältig erdachte Zukunftsszenarien können nicht allzu weit vorpreschen, weil der Mensch nicht in alle Ewigkeit das bleiben kann, was er jetzt ist. Er wird sich ändern, schneller und tiefgreifender, als wir es vermuten.

Eine oft feststellbare Ursache von fragwürdigen bis unreifen Projektionen in die Zukunft ist deren Reduktionismus. Ihre Autoren berücksichtigen zu wenige und zu wenig gesicherte Erkenntnisse, so wie sie eben zur Verfügung standen. So zum Beispiel stellte sich eine Voraussage aus den 1950er Jahren den Zukunftsmensch so vor: zierlich (weil die Muskelmasse mangels Beanspruchung geschrumpft ist), mit einem großen, birnenförmigen Schädel (in den viel Gehirn hineinpasst) und mit einer ganz kleinen Mundöffnung (weil er nicht mehr feste Nahrung zerkauen muss, sondern nur Pillen und Flüssigkeiten zu sich nimmt). Heute lächeln wir über solche Voraussagen. Aber bitte nicht zu hämisch; unsere Enkel werden über unsere Voraussagen lächeln.

Eine glaubwürdige Beschreibung einer transhumanen Intelligenz kann nicht als einfache Fortführung einzelner Mechanismen, Kausalketten, Eigenschaften oder Fähigkeiten ausgelegt werden, so wie sie uns heute erscheinen. Möglichst viele Facetten, Sichtweisen, Erkenntnisse und Fakten müssen einbezogen werden. Aus diesem Grund wird im Buch auch ein Bild des allgemeinen Wissensstands und des Status der Menschengesellschaft vorgestellt. Die vier Teile des Buches sind:

I. Natur und Wissen – Wie wir denken (Wahrnehmung und Physik)

II. Gesellschaft und Wissen – Wie wir leben (Soziale Strukturen)

III. Evolution – Wie wir werden (Genetische Richtungen)

IV. Transhumane Intelligenz – Wohin Mensch?

Wunschdenken und ungehemmte Fantasieflüge werden nach bestem Willen ausgelassen. Inwiefern das wirklich gelingt, kann erst im Ferndialog mit dem Leser entschieden werden. Kein Mensch kann restlos aus seiner Haut schlüpfen.

ERSTER TEIL

NATUR UND WISSEN – WIE WIR DENKEN

A. WIE REAL IST MEINE WIRKLICHKEIT? DER TEUFELSKREIS

Ich sehe durchs Fenster einen Baum. „Ich sehe“ heißt:

Das vom Baum reflektierte Licht trifft auf meine Retina.

Die Sehzellen feuern über den Sehnerv Impulse zum Gehirn.

Das Gehirn sortiert die Impulse, erstellt aus ihnen ein Modell und entscheidet dessen Zugehörigkeit zum Begriff „Baum“.

Ein bisschen komplizierter ist das schon, denn ich sehe nicht irgendeinen Baum, sondern ein Unikat – das Gewächs vor meinem Fenster. Genauer: Nicht den Baum sehe ich, sondern die elektromagnetischen Wellen, die auf meine Retina prasseln. Mein Gehirn „sieht“ nur die Impulse, die von der Retina kommen. Und ich „sehe“ ja nur das Bild, das mir mein Gehirn liefert. Wobei „Ich“ eine Funktion dieses Gehirns ist. Das heißt auch: Wenn jemand meine Sehzellen in der gleichen Art und Weise künstlich reizt, wie es die Lichtstrahlen getan haben, werde ich – also meine Retina, also mein Gehirn – meinen Baum „sehen“, obwohl er gar nicht existiert. So etwas wie eine neuronal gesteuerte Virtual Reality. Eine beunruhigende Erkenntnis.

Andere Sinne funktionieren ähnlich: Ich höre z. B. das Bellen eines Hundes. Genauer, ich höre die Vibrationen meines Trommelfells, oder nein, mein Gehirn „hört“ die vom Trommelfell ausgelösten Impulse. Erst mein Gehirn ordnet die Impulse zum „Bellen“, weil es die Wahrnehmungen meiner Sinne bei der Begegnung mit einem Hund gespeichert hat. Auch hier finde ich hinter dem Begriff „Gebell“ eine Wahrnehmungskette.

Welche Phase in solchen Verkettungen kann „Wirklichkeit“ oder „Realität“ genannt werden? Wo kann ich über jeden Zweifel erhaben meine Erkenntnisse verankern? Wissen kann ich es nicht, weil alles, was dazu gehört, Baum oder Gebell usw. von meinem Gehirn gestaltet wurde, und zwar nicht direkt, sondern aus physikalischen Kanälen und Nervenimpulsen – mit bestem Wissen und Gewissen, aber immer aus zweiter oder dritter Hand. Vielleicht verankere ich meinen Glauben an die Wirklichkeit eher in meine Retina, in mein Trommelfell, in meine taktilen Sensoren. Oder dann schon gleich in mein Gehirn? Nein, natürlich nicht, denn das, was ich „mein Gehirn“ nenne, ist ein Modell einer kleinen Parzelle des von mir erschaffenen Weltbilds, das ich Realität nenne. Es ist ein Organ, das Signale von Sensoren verarbeitet, daraus Modelle erstellt und Befehle emittiert, die ihm und seinen Sensoren die Existenz sichern sollen. Das ist sein Job. Dieses „mein Gehirn“ kann ich nicht unmittelbar, sondern ausschließlich als Modell zu Gesicht bekommen, als Zeichnung, Hologramm, Röntgen- oder MRT-Bild. Und selbst wenn ich es in der Hand hätte und alles sehen und nachvollziehen könnte, was in ihm vorgeht, ginge alles von vorne los: Was „sehe“ oder „verstehe“ ich denn? Wieso läuft alles so und nicht anders? Wer bin ich? Besser: Was bin ich eigentlich? Die Katze beißt sich in den Schwanz. Ein Teufelskreis.

Irgendwo muss ich aber mein Denken verankern, von irgendeinem Grundstein muss ich ausgehen, auf dem ich bauen kann, sonst hänge ich in einem mentalen Vakuum, mein Gehirn kann nicht kommunizieren. Ich entscheide mich für die Arbeitshypothese „Realität“ als mein tiefstes, allumfassendes Postulat (ich wage nicht, „Wirklichkeit“ zu sagen). Also für eine Realität, die aus Wellen, Impulsen, Synapsen und wer weiß noch was zustande gekommen ist.

Ein starkes Argument für diese Entscheidung ist die Wahrnehmung der Zeit:

Ein Geschehen in der Realität braucht seine Zeit, an der ich nicht rütteln kann. Um das Zeitgeschehen in der Realität zu erleben, muss ich mich manchmal mächtig gedulden. Oder ich kann das Geschehen gar nicht erleben, weil es der Vergangenheit angehört, oder einer Zukunft, die zu weit vor mir liegt. Die Realität folgt einem gerichteten Zeitpfeil, seine Richtung kann ich nicht ändern.

In vielen mentalen Modellen ist die Zeit eingebunden, doch anders, in einer abstrahierten Form. Etwa so wie das Symbol „t“ in einer Formel, das z. B. für die dreieinhalb Milliarden Jahre des Lebens auf unserem Planeten steht, für die fünfzehn Minuten Unterrichtspause oder für die unermesslich kurze Planck-Zeit. Eine quantitative Korrespondenz zur realen Zeit, die von diesem „t“ symbolisiert wird, gibt es nicht. Es handelt sich ja nur um ein Zeichen, ein Symbol. Jetzt aber „Heureka!“ ausrufen, „Der Zeitpfeil ist der Schlüssel, die Zeit ist der absolute Ankerplatz, sie ist die Wirklichkeit!“ wäre voreilig. Denn die Zeit, wie auch das Geschehen, auf dessen Dauer ich keinen Einfluss habe und ein Teil meiner Realität ist, sind letztendlich auch mentale Modelle.

Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Ich muss die mir erscheinende Realität als Ausgangspunkt für die Annahme einer Wirklichkeit postulieren. Etwas Vertrauenswürdigeres habe ich nicht. Nur „postulieren“? Wozu sollte unterschieden werden zwischen „Das ist die Wahrheit, der absolute Ankerplatz“ und seinem vorsichtigeren Zwilling „Ich gehe davon aus, dass …“? Weil die Verankerung an einen erhofften absolut sicheren Referenzpunkt – Wirklichkeit, Subjekt, Objekt, Geist, Kausalität, Wahrheit oder was auch immer – seit Menschengedenken immer wieder zu Widersprüchen geführt hat. Die Geschichte der Erkenntnis ist eine endlose Folge von Widersprüchen. Immanuel Kants „Ding an sich“ ist in der Philosophie der mächtige Name einer nie greifbaren Wirklichkeit. Bleibt noch die Frage, ob diese real ist oder ein mentales Konstrukt. Und dann: Was ist „real“? Was ist ein „mentales Konstrukt“? Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Es kann nicht gewusst werden.

Spätestens die quälenden Fragezeichen der Quantenphysik zwingen uns, Hoffnungen auf einen absoluten Referenzpunkt aufzugeben. Dieser Zweig der Wissenschaft ist gnadenlos, in ihm verläuft die strengste Front der Erkenntnis. Mit der Unbestimmtheitsrelation und der Postulierung von Wahrscheinlichkeit statt Kausalität hat sie auf einen absoluten Referenzpunkt verzichtet. Die Observierung der Realität über Geräte hat diesen Verzicht erzwungen.

All das hindert uns nicht, weiter zu suchen. Der Weg ist das Ziel.

B. GLAUBEN UND WISSEN

Das Wort „Glaube“ wird eher mit Bekenntnissen zu Mystischem, Übernatürlichem sowie zu religiösen Dogmen in Verbindung gebracht. Objektiv betrachtet steht der Begriff jedoch nur für eine subjektive Einstellung, für Überzeugungen, deren Wahrheitsgehalt nicht oder nicht gründlich hinterfragt wurden, oder auch wenn der Gläubige etwas anderes nicht wahrhaben will.

In diesem Sinne muss unterschieden werden zwischen mystischem Glauben, der widerspruchslos angenommen wird, und wissenschaftlichen Überzeugungen. Diese können auch falsch sein. Doch sie können und werden hinterfragt, unter Umständen auch fallen gelassen – das unterscheidet sie von der Mystik.

Der Sinn des Zweifelns wurde uns schon in der Schule im Mathematikunterricht geliefert. Ein Axiom ist eine Aussage, die nicht bewiesen werden kann, die dennoch als wahr angenommen wird und zusammen mit anderen Axiomen als Ausgangspunkt für Herleitungen dient. Dadurch wird das Beobachtete verstanden und neue Erkenntnisse werden erworben. Axiome sind unerlässlich. Man muss eben von irgendetwas ausgehen, woran man glaubt. An diesem Glauben hält man fest, solange sich kein Widerspruch zeigt.

Schon immer haben sich Wissenschaftler die Frage gestellt, wieso ein Axiom als wahr und richtig deklariert werden darf, obwohl es dafür keine Beweise gibt. Die Antwort ist einfach: weil wir dazu keine Alternativen haben. Axiome sind streng genommen reine Glaubensbekenntnisse. Hier einige Definitionen von Axiomen:

Axiom ist ein als absolut richtig erkannter Grundsatz;

gültige Wahrheit, die keines Beweises bedarf

Axiome gelten als unmittelbar einsichtig

Ein Axiom ist eine als wahr angenommene primäre Aussage

Wir stützen uns auf Erfahrungen, die bestätigt haben, dass anerkannte Axiome die wahrgenommene Realität abbilden. Nur die Annahmen, die unwidersprochen zur Realität passen, dürfen „Axiome“ genannt werden. Unbeantwortet bleibt, ob und in welchem Maße ein Axiom oder auch irgendeine andere Aussage absolut zweifelsfrei zur Realität passt oder nicht. Es ist eine Frage der Modellierung der Realität, die wir später erörtern werden.1

Wenden wir uns zunächst den Axiomen der Mathematik zu. 1899 hat David Hilbert (1862–1943) auf den Glauben an die unmittelbare Evidenz verzichtet: Wie Alexander der Große durchtrennt er den gordischen Knoten und postuliert die Forderung auf Widerspruchsfreiheit und Konsistenz des Axiome-Systems als Ankerplatz der Mathematik. Dadurch hat er die schwammigen Überzeugungen durch ein formal unangreifbares Konstrukt ersetzt:

Widerspruchsfreiheit besteht dann, wenn nur logische Folgerungen abgeleitet und damit nur logische Wahrheiten bewiesen werden. Konsistenz eines Systems besteht dann, wenn seine Aussagen sich nicht widersprechen.

Einerseits befreit eine solche Sichtweise die Definition der Axiome von der Erwähnung des Glaubensbekenntnisses. Andererseits stiehlt sie sich irgendwie aus der Verantwortung, weil die Frage der Fragen nicht einmal erwähnt wird, wo sie denn sei, die absolute, fundamentale Wahrheit, in der wir alle unsere Gedanken, Überzeugungen und Sehnsüchte verankern könnten.

Hilberts Auffassung ermöglicht die Anwendung der Axiomatik auf alle Wissenschaften. Es geht nicht mehr um fundamentale Wahrheiten ganz unten, wo das Wissen beginnt, sondern um Systeme, deren axiomatische Ausgangspunkte (Prämissen oder Annahmen) innerhalb einer bestimmten Wissenschaft oder einer definierten Wissensklasse nicht bewiesen werden müssen oder können. Sie werden aufgestellt und bleiben gültig, solange sie sich als konsistent erweisen. Hilbert muss sich bewusst gewesen sein, dass er mit seiner Definition die Frage des Ursprungs der tiefst möglichen axiomatischen Ebene umgangen hat: 1900 stellte er an einem Mathematikkongress seine Liste von 23 ungelösten mathematischen Problemen vor, darunter die Forderung nach dem Beweis für die Widerspruchsfreiheit der Axiome der Arithmetik.

1930 bewies Kurt Gödel (1906–1978), dass die Widerspruchsfreiheit der Axiome der Arithmetik nicht bewiesen werden kann. Einige Zeit danach glaubten noch manche Wissenschaftler, Gödels Demonstration sei nur eine formale Spielerei. Heute werden ihr Wahrheitsgehalt und ihre ungeheure Reichweite akzeptiert. Für unsere Sehnsucht nach dem absoluten Ankerplatz des Wissens heißt das:

Es gibt keine tiefste axiomatische Ebene, in der alle unsere Erkenntnisse und Überzeugungen an absolut sicherer Stelle verankert werden können.

Der Traum, irgendwann den Weg zur absoluten Wahrheit gefunden zu haben, bleibt ebenso gegenstandslos, wie Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts die Hoffnung vieler Physiker, eine Weltformel zu finden, die grundsätzlich alle Tore zum Verständnis des Universums öffnen soll. Jahre mussten noch verstreichen, bis die meisten Wissenschaftler akzeptiert hatten, dass es eine solche Formel nicht geben kann. Der Traum von einer Weltformel war wohl einer der letzten Ausläufer der vor 1900 weit verbreiteten Meinung, dass die Grundprinzipien der Physik schon entdeckt wären, und dass nur noch Fleißarbeit nötig ist, um die Realität zu entziffern.

Hilberts radikale Abtrennung der Axiome vom unbeweisbaren Wurzelwerk des allgemeinen Daseins stellt für uns das Verhältnis zwischen Glaube und Wissen in ein schonungsloses Licht: Alles was wir wissen und denken, begründet sich auf Wahrnehmungsergebnisse und Aussagen, an die wir glauben. Axiome sind zwar widerspruchsfrei, doch aus anderen Aussagen hergeleitet werden können sie nicht: Erst dadurch dürfen sie so genannt werden. Gültig sind sie nur für ein begrenztes Aussagensystem. Ihr tiefster Ursprung ist ein Erfahrungs- und Glaubensakt, irgendwo im Teufelskreis der Erkenntnis. Mit irgendeiner Form von dualem Glauben an „Geist“ und „Materie“ hat das nichts zu tun.

Die Widerspruchsfreiheit von Axiomen ist nicht beweisbar, oder konnte nicht bewiesen werden (siehe Gödel). Wir müssen an sie glauben, sonst ist Denken nicht denkbar. Und wir sollten sie überprüfen, wann immer es möglich und sinnvoll ist.

Für Immanuel Kant (1724–1804) „… bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns bloß auf Glauben annehmen zu müssen, und, wenn es jemand einfällt, es zu bezweifeln, ihm keine genugtuenden Beweise entgegenstellen zu können“.

Worauf Martin Heidegger (1889–1976) entgegenhält: „Der ‚Skandal der Philosophie‘ besteht nicht darin, dass dieser Beweis noch aussteht, sondern darin, dass solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden. Nicht die Beweise sind unzureichend, sondern die Seinsart des beweisenden und beweisheischenden Seienden ist unterbestimmt“.

Heideggers Einwurf ist nicht überzeugend. Dass die „Seinsart des Seienden“ irgendwann abschließend bestimmt werden könnte, ist auch nur ein nicht überprüfbarer Glaubensakt. Die Beweise sind und bleiben unzureichend. Die Anstrengungen der Philosophie, das Verhältnis zwischen Vernunft und Glauben zu klären, sind sehr alt. Wenn die Vernunft keinen absoluten Ankerplatz haben kann, bleibt nur noch die Möglichkeit zu postulieren, dass die Vernunft überprüfter Glaube ist – so weit wie für unsere Fähigkeiten irgend möglich. Das beharrliche Überprüfen unterscheidet die Vernunft von Religionen.

Weniger rigorose Axiome werden in den Naturwissenschaften „Postulate“ genannt. Der Begriff „Postulat“ wird oft für Aussagen eingesetzt, die bis auf weiteres wie Axiome behandelt werden. Hier zwei Beispiele von geschichtlich vergänglichen Postulaten der Naturwissenschaften:

Die Erde ist das Zentrum des Universums. Die Gestirne kreisen um die Erde (Ptolemäus, um 150 n. Chr.). Der unbeugsame Pantheist Giordano Bruno (1548–1600) hat widersprochen und wurde auch dafür auf dem Scheiterhaufen hingerichtet.

Das Universum wird von Newtons Gesetzen regiert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wähnten sich viele Wissenschaftler auf der Zielgeraden in Richtung endgültiger Erkennung der Naturgesetze angekommen zu sein. Um 1900 verkündete der Physiker William Thomson (Lord Kelvin), das Ende der Physik an. Die Naturgesetze müssten nur noch nach und nach entschlüsselt werden.

Es sollte aber ganz anders kommen. Mindestens zwei Experimente störten diese idyllische Auffassung: die verwirrenden Ergebnisse des Doppelspalt-Experiments und die verstörenden Messungen der Lichtgeschwindigkeit.

B.1 WURZELN DER MODERNEN PHYSIK: DAS DOPPELSPALTEXPERIMENT

Nach Isaac Newton (1642–1726) beschäftigte eine Frage die Wissenschaftler: Besteht das Licht aus Partikeln oder aus Wellen? 1802 hat Thomas Young (1773–1829) ein Experiment ersonnen, das die klärende Antwort geben sollte: Die Versuchsanordnung besteht aus einer Lichtquelle, deren Strahl auf eine Blende fällt, die durch zwei eng beieinander liegenden parallelen Spalten durchbrochen ist. Monochromatisches Licht passiert die Spalten und beleuchtet einen dahinter stehenden Schirm – mit dem Ergebnis, dass auf dem Schirm nicht wie erwartet, ein heller, zu den Rändern allmählich verblassender Lichtfleck erscheint, sondern mehrere parallele Lichtstreifen zu sehen sind. Es ist das für Wellen typische Interferenzmuster. Wird eine der Spalten abgedeckt, verschwindet das Interferenzmuster. Die Antwort schien – zumindest für die nächsten hundert Jahre – geklärt: Licht ist demnach ein Wellenphänomen.

1900 machte Max Planck (1858–1947) die Ergebnisse seiner Experimente bekannt, die zeigten, dass die Energie nicht kontinuierlich, sondern in winzigen, festgelegten Paketen übertragen wird, in „Quanten“. Planck hat zwei Jahre lang gezögert, bevor er dieses Ergebnis veröffentlichte, an das er selbst kaum glauben konnte.

Zurück zum Doppelspaltexperiment: Was geschieht, wenn das Licht durch nur eine Spalte geschickt wird, während die andere offenbleibt? Unglaublich: Auf dem Schirm erscheint das Interferenzmuster, als ob das Licht beide Spalten gleichzeitig passiert hätte. Wie und woher „weiß“ das Licht, das durch die eine Spalte geschickt wurde, dass die andere Spalte offen ist? Als ob das nicht genug wäre: Wenn nur einzelne Teilchen durch eine der Spalten geschickt werden, etwa im Abstand einer Sekunde hintereinander, wenn also keine Wechselwirkung zwischen den einzelnen Teilchen entstehen kann, erscheinen auf dem Schirm wieder die Interferenzstreifen. Sie bauen sich zwar langsamer auf, aber sie sind unverkennbar. Was kann das bedeuten, läuft ein Teilchen gleichzeitig durch beide Spalten? Hat das Teilchen mit sich selbst interferiert? Entsteht das Teilchen erst durch die Messung? Ist da ein Quantenobjekt am Werk, für das unser Gehirn einfach kein Modell gefunden hat und nicht in der Lage ist, eins zu finden? Oder, mit Heidegger: Ist das Quantenobjekt ein für uns „unterbestimmtes Seiendes“? Die Ergebnisse des Experiments widersprechen jeglichem gesunden Menschenverstand. Solche unbeantworteten Fragen prägen den Kern der Quantenphysik.

Allmählich wurde deutlich, dass die Entscheidung Wellen- oder Teilchennatur des Lichts nicht greift, denn Licht ist beides, Welle und Teilchen. Schlimmer noch: Es gibt weder Wellen noch Teilchen; es gibt nur Gleichungen, von denen postuliert wird, dass sie etwas beschreiben, das „Wellen“ und „Teilchen“ genannt werden kann.2

Die hier angeführten Aussagen schildern die undankbare Wahrheitssuche in der Physik der letzten 120 Jahre. Ein intuitives, in sich geschlossenes Bild der Realität, so wie es Isaac Newton vor 300 Jahren nachvollziehbar gezeigt hatte, ist auch heute immer noch nicht erkennbar. Niels Bohr (1885–1962) soll gesagt haben „Wer behauptet, über die Quantenmechanik nachdenken zu können, ohne verrückt zu werden, zeigt damit bloß, dass er nicht das Geringste davon verstanden hat.“ Richard Feynman (1918–1988), Nobelpreisträger der Physik, schrieb einmal: „Ich versuche, meinen Studenten die Quantenmechanik zu erklären … sie verstehen sie nicht … weil ich sie nicht verstehe …“. Und auch: „Ich glaube, mit Sicherheit behaupten zu können, dass heutzutage niemand die Quantenmechanik versteht“.

Umso erstaunlicher ist, dass die von unseren Gehirnen erdachten Gleichungen anhand der gemessenen Ergebnisse die Vorgänge in der Quantenmechanik sehr genau beschreiben, genauer als jede andere wissenschaftliche Beschreibung der Realität. Als ob die Mathematik eine eigenständige, von unserem Denken quasi unabhängige Existenz führen würde. Viele Wissenschaftler, darunter keine Geringeren als Albert Einstein (1879–1955) und Kurt Gödel glaubten das jedenfalls, ein Glaube, der heute noch weit verbreitet ist. Zahlen wären „eigenständige Einheiten“ mit exakten Werten3 …“. Klingt fast wie das Postulat einer eigenständigen Realität. Dabei sind Zahlen nur Modelle.

B.2 WURZELN DER MODERNEN PHYSIK: LICHTGESCHWINDIGKEIT UND TEILCHENVERSCHRÄNKUNG

Die real resultierende Geschwindigkeit dieses Aufeinandertreffens von (mit) Lichtstrahlen wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts gemessen. Das Ergebnis war inakzeptabel für einen Beobachter, der meint, bei Sinnen zu sein: immer 300.000 km/sec. Wie soll man das begreifen? Aus Messungen und Experimenten hat Albert Einstein 1905 gefolgert, dass die Lichtgeschwindigkeit die Obergrenze jeder Art von Bewegung in unserem Universum ist. Begreifen kann man den Vorgang immer noch nicht. Wir müssen es akzeptieren und damit arbeiten, wenn wir unser Universum verstehen wollen.

Ein Schweißfuß kommt bekanntlich selten allein. Es sollte noch schlimmer kommen: Erwin Schrödinger (1887–1961) hat in den 1930er-Jahren die „Verschränkung der Elementarteilchen“ aus der Taufe gehoben. Sie zeigt etwas anderes, etwas ganz merkwürdiges, was dem Gesetz der maximalen Geschwindigkeit vielleicht widerspricht, auf jeden Fall aber die Suche nach intuitiven Entitäten in der Quantenphysik mächtig durcheinanderbringt. Hier die Versuchsanordnung:

1. Im Labor werden komplementär polarisierte Teilchenpaare (A, B) erzeugt. Die Polarisierung jedes einzelnen Partikels des Paares ist unbekannt. Wir wissen nur, dass, wenn ein Teilchen eine bestimmte Polarisation hat – A hat zum Beispiel „Spin up“ – der Partner B mit Gewissheit „Spin down“ haben muss.

2. Das Teilchen (A) eines Paares wird zu einem Empfänger geschickt. Sein Zwilling (B) wird von einem anderen, weit entfernten Empfänger registriert.

3. Die Messung der Polarisation des Teilchens (A) sagt uns sofort auch die Polarisation des anderen Teilchens (B). „Sofort“ heißt, dass gemessen wird, wie schnell das Teilchen B nach der Polarisationsmessung von A seine eigene Polarisation offenbart. Errechnet und immer wieder experimentell bestätigt wurden Geschwindigkeiten, die mindestens das Zehntausendfache der Lichtgeschwindigkeit betragen.

Einstein nannte das eine „spukhafte“ Fernwirkung (an die er übrigens nicht glaubte). In der Physik musste sie akzeptiert werden, auch weil sie im Laufe der Jahrzehnte unzählige Male unter Beweis gestellt wurde. Eine kausal untermauerte Erklärung dafür gibt es vorerst nicht – wenn man von nicht überprüften Hypothesen absieht, wie zum Beispiel die für die SF-Szenarien so ergiebigen extremen Krümmungen der Raumzeit, die „Wurmlöcher“.

Diese vor wenigen Jahrzehnten so berechnete, enorme Geschwindigkeit kann übrigens nicht zum Senden von Nachrichten genutzt werden. Das, was wir „Realität“ nennen, bleibt nach wie vor von der Lichtgeschwindigkeit begrenzt – ganz im Sinne der Relativitätstheorie (Einstein bevorzugte den Ausdruck „Invariantentheorie“4). Heute wagen einige Autoren schon die Vermutung, dass die „spukhafte Fernwirkung“ sogar instantan sein könnte. Sehr mutig, denn das würde unser gesamtes Weltbild durcheinanderbringen. Nach der Archimedes-Galilei-Newton-Physik und der Planck-Einstein-Heisenberg-Physik wäre das der Ursprung einer dritten Physik, die ohne Kausalität auskommt, denn bei fehlendem Zeitpfeil macht das Begriffspaar Ursache und Wirkung keinen Sinn.

Und wieder steht unser Verstand vor einer Mauer. Was passiert in dieser Versuchsanordnung? Was auch immer dort wirkt, mit unseren gefestigten Begriffen können wir das Geschehen schlecht fassen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als der Mathematik und ihrem unerbittlichen Wenn-Dann zu vertrauen. Als ob die formale Logik unser absoluter Ankerplatz wäre.

Von solchen aus Experimenten resultierenden Angriffen auf das Vertrauen in den gesunden Menschenverstand sind die Quantenphysik und die Relativitätstheorie entstanden. Der Glaube an den kognitiven Wert der Intuition beginnt zu bröckeln, dafür verlagert sich das Vertrauen immer mehr zum formalisierten Verstand der Mathematik. Der Begriff „Intuition“ bezeichnet hier nicht die im Alltag gemeinte Ahnung eines Verstehens, sondern vielmehr den Wunsch nach einer schlüssigen Repräsentation eines Phänomens. Schon Einstein musste die Hilfe eines befreundeten Mathematikers, Marcel Grossman (1878-1936), heranziehen, um sich in der Differenzialgeometrie zurechtzufinden und damit seine allgemeine Relativitätstheorie zu formulieren.

Newtons Gesetze sind heute noch praktisch unentbehrliche Näherungen, aber eben nur Näherungen.

B.3 AXIOME, POSTULATE, GESETZE

Eines der ersten Axiome, die wir in der Schule gelernt haben, lautet: Durch einen Punkt kann auf einer Ebene zu einer Geraden nur eine einzige Parallele verlaufen. Das hatte schon in der Antike Euklid gesagt, und bis heute hat es niemand geschafft, dieses Axiom zu beweisen oder ihm zu widersprechen.

An dieser Stelle ist zu unterscheiden zwischen den Axiomen der Mathematik, mit ihren scharf definierten Begriffen, und den Postulaten der physikalischen Realität, etwa auf dem Gebiet der Physik, Astronomie, Chemie, Biologie. Bei diesen sieht es nämlich anders aus: Die Postulate der Naturwissenschaften sind nicht ewig, nicht fundamental, und auch ihr Wirkungsradius ist nicht unendlich. Ihre Grenzen sind unscharf,5 sie werden früher oder später korrigiert oder gar widerlegt. Oft waren den Wissenschaftlern Fakten bekannt, die den akzeptierten Postulaten eigentlich widersprachen. Sie wurden aber nicht richtig wahrgenommen oder sogar unter den Teppich gekehrt, weil sie lieb gewonnene Konstrukte in Zweifel ziehen könnten. Max Planck meinte scherzhaft: „Die Wahrheit triumphiert nie. Nur ihre Feinde sterben aus“. Ganz so schlimm ist es um die neuen Erkenntnisse nicht bestellt, aber die Trägheit der Überzeugungen kann gewaltig sein. Das stellt die Wissenschaft nicht infrage, es zeigt nur das Menschliche in uns, und so wird es auch in Zukunft bleiben – insofern die Definition „Mensch“ zu uns passt.

Wir könnten die Postulate der Naturwissenschaften einfach „Hypothesen“ nennen. Warum nicht? Denn das sind sie ja eigentlich. Allerdings würde der unangenehme Beigeschmack des Provisoriums stören. Üblicherweise werden Herleitungen in den Wissenschaften „Gesetze“ genannt, denen die Natur „gehorcht“. Das sind nur Wortspiele, denn sie wurden von uns Menschen „gesetzt“. Die Natur gehorcht niemandem. Bestimmte, in der Natur erkannte Vorgänge werden von bestimmten Mustern ausreichend genau beschrieben. Wenn diese Muster (Modelle) lange genug und oft genug richtig liegen, nennt man sie „Gesetze“.

B3.1 DER AXIOMATISCHE BAUM – DIE GLAUBWÜRDIGKEITSORDNUNG

Stellen wir uns unser gesamtes Wissen metaphorisch vor, als Bild eines Baums, von seiner tiefsten Ebene, von den Wurzeln, über immer höher aufgetürmte Schichten von abgehobenen Ebenen, die sich bis zu den Spitzen verzweigen und weiter wachsen – eine gigantische, virtuelle Pinnwand für unsere Gedanken. Unzählige Zettel mit allen möglichen Aussagen hängen an seinen Zweigen wie der Schmuck am Weihnachtsbaum. Das ist der Baum der axiomatischen Ebenen.

In seiner tiefsten Ebene sind die fundamentalen Aussagen angesiedelt, die Axiome der Mathematik, von denen man sicher sein darf, dass sie voraussichtlich weder bewiesen noch falsifiziert oder geändert werden können, etwa Euklids Axiome. Diese sind nur für das in Betracht kommende Gebiet fundamental, nicht für die grundsätzlichen Fragen der Wirklichkeit und der Erkenntnis – das wissen wir von David Hilbert.

In der nächsthöheren Ebene über den Axiomen der Mathematik finden wir die Postulate der Naturwissenschaften. Ihre Aussagen sind erfahrungs- und vereinbarungsabhängig. Wir wissen, dass die Aussagen dieser Ebene zeitlich begrenzt gültig sind.

Je abgehobener die Ebene ist, auf der wir uns gedanklich befinden, desto skeptischer darf man die Aussagen betrachten. Mit der Höhe wächst ihre Unzuverlässigkeit. David Hilberts sechste Frage in seiner Liste der ungelösten mathematischen Probleme lautet: Wie kann die Physik axiomatisiert werden? Wenn der Unterschied zwischen Axiomen und Postulaten konsequent beachtet wird, muss die Antwort lauten: gar nicht.

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Nicht alle Gesetze der Physik haben den gleichen axiomatischen Status, die gleiche Position im axiomatischen Baum. Die Gesetze der Thermodynamik beispielsweise sind statistische Modelle. Deshalb liegen sie auf einer höher gelagerten axiomatischen Ebene als die vorhin besprochenen, von Newton und Einstein formulierten Gesetze. Das heißt, sie sind mit Vorsicht zu genießen, weil sie weniger scharf und nicht universell sind, und zuweilen Korrekturen brauchen. Sie stützen sich auf Aussagen tieferer Ebenen, die vorerst nicht angezweifelt werden – was sich aber ändern kann. Das Wissen darum, dass die Gesetze der Thermodynamik nur einen statistischen Wert haben, befreit keinen Physiker oder Ingenieur von der Pflicht, sie so exakt wie möglich zu beachten.

Eine Stufe höher (also noch ungenauer) liegen die Gesetze der Biologie, deutlich abgehobener noch die der Soziologie, irgendwo darüber die der Politik, insofern sie überhaupt noch „Gesetze“ genannt werden können.

Weit abgehoben in diesem axiomatischen Baum sind zum Beispiel unüberprüfbare Alltagsüberzeugungen, Aberglaube und Religionen angesiedelt, deren widersprüchliche axiomatische Wurzeln von nicht hinterfragendem, festem Glauben gestützt sind. Ebenso auch die oberflächlich begründeten Prämissen, von denen ausgehend wir durch Wenn-Dann-Herleitungen unsere Überzeugungen bauen und unsere Entscheidungen treffen. Hier beginnt die Welt der Verschwörungstheorien. „Schon meine dritte Katze ist frühzeitig verstorben. Mein Nachbar muss sie vergiftet haben!“.

Hier sei noch einmal daran erinnert, dass alle Aussagen des axiomatischen Baums, sowohl die Axiome der Mathematik und die Postulate der Naturwissenschaften, als auch die hochgehaltenen Wahrheiten der Religionen grundsätzlich Glaubensbekenntnisse sind.

Unsere tiefsten Postulate und Axiome sind Verallgemeinerungen von Erfahrungen. Wissen ist das gespeicherte Ergebnis von Herleitungen. Die Unterschiede zwischen Glaubensakten liegen im Umgang mit Widersprüchen: Naturwissenschaften nehmen sie wahr und reagieren früher oder später darauf, Aberglaube und Religionen nicht. Und die üblichen, etwa persönlichen oder sozialen Wahrheiten dazwischen? Denen steht das unbegrenzte Feld der Alltagserfahrungen und der Meinungsunterschiede zur Verfügung.

Auch heutzutage werden fundamentale Glaubensbekenntnisse in allen Ebenen des axiomatischen Baums gepflegt. Götter, der Satan, Engel, das Gute und das Böse, die Geister der Verstorbenen, die Macht der Sternzeichen und viele andere Überzeugungen werden als absolute Bausteine des Seins angesehen und manchmal angebetet. Die Macht des Glaubens hängt davon ab, inwiefern der Glaubende fähig ist, allen Widersprüchen zu trotzen. Oder im Gegenteil, die Widersprüche seines Glaubens oder Aberglaubens zu erkennen und seine Zweifel nicht zu verdrängen, sondern zu durchleuchten. Und wenn er einen Widerspruch erkannt und den alten Glauben verworfen hat, folgt der nächste. Das gilt für die Jäger und Sammler im Urwald und für alle Einsteins dieser Welt.

Solange es Kleinkinder gibt, wird es auch den Weihnachtsmann und den Osterhasen geben. Solange es Menschen gibt, wird es auch Götter geben. Manche Erkenntnismodelle mögen unerschütterlich, respekteinflößend, tragisch, skurril, rührend oder lachhaft erscheinen. Sie alle haben etwas gemeinsam mit den am wenigsten anfechtbaren Axiomen des Wissens: Wie auch diese sind und bleiben sie Glaubensbekenntnisse.

Die Positionierung der Religionen in die zum Teil argumentativ haltlosen, höheren Ebenen des axiomatischen Baums ist keinesfalls als Herabwürdigung verstanden. Religionen sind Phasen in der Gestaltannahme der Erkenntnis, deren Beitrag zur Entwicklung der Menschheit immens ist. Sie sind die ersten umfassenden Formen des Nachdenkens über Bewusstsein und den Sinn des Lebens. Es gibt keine Gesellschaften im tiefsten Urwald oder in den Glas- und Betonschluchten der Metropolen, die nicht in ihren Anfängen auch von Religion getragen worden wären. Das von Karl Marx (1818–1883) und W. I. Lenin (1870–1924) stammende „Religionen sind Opium für das Volk“ ist ein viel zu einfacher, ideologisch und politisch motivierter Slogan. Zwar haben Religionen in der Geschichte grausame Vorgänge eingeleitet und sich oft gegen den Fortschritt gestellt und es zuweilen immer noch tun. Gleichermaßen haben sie die Ausgrenzung von andersglaubenden Menschengruppen toleriert oder befürwortet. All das entkräftet weder ihre Rolle als Ursprung der menschlichen Selbsterkenntnis, noch ihre heute für viele Menschen unverzichtbare Kraft als sozialer Kitt, moralische Instanz und Hoffnungsstifter.

Die Postulate der Naturwissenschaften und teilweise der Philosophie gehören zu den mächtigsten überhaupt, doch, wie gesagt, nicht einmal diese sind fundamental – aber sie sind glaubwürdig, insofern zumindest im Zeitpunkt ihrer analytischen Betrachtung nicht erkennbar ist, dass mit dem einen oder anderen etwas nicht stimmt.

Alles, was wir denken, glauben, meinen oder hoffen, ob nun falsch oder wahr, findet seine Begründung in verschiedenen Ebenen des axiomatischen Baums, und bewegt sich auf vielfältigen Pfaden bis zu unserem Bewusstsein. Damit treffen wir unsere Entscheidungen.

B3.2 MEIN ALLTAG – EINE NISCHE IM AXIOMATISCHEN BAUM

Ich muss zur Arbeit fahren. Um 8:20 Uhr kommt der Bus zur Haltestelle – ich werde pünktlich da sein. Zunächst aber mach ich mir einen Kaffee. Das geht ganz schnell: Tasse unter den Auslauf, Kapsel in die Maschine, Start-Knopf drücken … Mann, ist das ein Kaffee! Was mach ich aber, wenn die Maschine meinen Befehlen nicht gehorcht? Oder wenn nichts Vernünftiges rauskommt, weil das Wasser kalt bleibt? Oder etwas später, richtig dumm, wenn am Bürgersteig die Ankündigung „Haltestelle abgeschafft“ zu lesen ist? Ich bewältige meinen Alltag, indem ich mich auf Aussagen stütze, die auf verschiedenen, mehr oder weniger abgehobenen axiomatischen Ebenen angesiedelt sind. Also auf praktischen, aber eher lockeren Prämissen und Annahmen, deren Wahrheitsgehalt nicht sehr streng gemessen ist. Und ich werde mir nicht das Leben kaputtmachen mit besessenem Zweifel, ob all diese Aussagen immer stimmen und was denn so alles passieren könnte, wenn sie nicht stimmen. Kontrollfreaks haben es schwer im Leben, wenn sie ihren Hang nicht zügeln.

Wenn ich den Knopf der Kaffeemaschine drücke, Dann fließt der Kaffee in die Tasse. Oder auch nicht – in diesem Fall werde ich nach dem Wenn-Dann-Prinzip die Ursache suchen. Wenn ich sie nicht finde, schicke ich die Maschine zum Hersteller.

Wenn-Dann ist ein allgemein logischer Ausdruck eines Prinzips.Wenn die reale Zeit dabei ist, wird das Prinzip Kausalität genannt.

Wenn-Dann ist Logik, beim Menschen ist das eine klare Sache. Aber: Wann ist im Laufe der Evolution die Logik erschienen? Ein so komplizierter Mechanismus kann nicht durch plötzliche Mutationen entstanden sein. Welchen Namen geben wir den mentalen Reaktionen unserer Vorfahren, nicht nur in der Steinzeit, sondern viel früher, vor einer Million Jahren? Oder vor zwanzig Millionen Jahren, als wir nur Primaten waren? Welcher mentale Mechanismus kann über den gesamten Evolutionsstrang hinunter nachverfolgt werden? Logik ist ein vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung in ganz kleinen Schritten, die bis hinunter zu den frühesten Lebewesen der Erdgeschichte reicht. Von der Logik einer Zecke zu sprechen, die auf einem Grashalm lauert, klingt bestenfalls befremdlich. Dabei folgt die Zecke dem gleichen Mechanismus wie der Mensch beim Lösen eines Problems: „Wenn der saftige Warmblüter vorbeirauscht, dann krall ich ihn mir“. Nur bedient sie sich dabei nicht einer Sprache. Sie verfügt über viel einfachere und direktere Reaktionswege.

Kausal

: Im Kaffee-Beispiel weiter oben drücke ich

zuerst

den Knopf (Ursache),

danach

fließt der Kaffee (Wirkung). Der Zeitpfeil eines kausalen Verhältnisses zeigt die Richtung; er kann nicht umgekehrt werden.

Logik

:

Wenn

A größer als B, und B größer als C,

dann

A größer als C. Diese Aussage ist eine logische Schlussfolgerung. Die reale Zeit spielt hier keine Rolle. Kausalität bleibt in diesem Fall gegenstandslos. Logisch ist nicht gleich kausal.

Die Tatsache, dass ich Zeit brauche, um zu einem logischen Ergebnis zu kommen, ist wiederum ein kausales Geschehen: Erst muss ich die Aussage wahrnehmen, danach muss ich grübeln und die Lösung finden. Meine mentale Anstrengung braucht Zeit, das ist Teil der physikalischen Realität.

Der Wissenschaftler bewältigt seine Aufgaben, indem er sich in seinem Gebiet auf Aussagen stützt, die in tieferen axiomatischen Ebenen angesiedelt sind, bis hinunter zu einer für ihn fundamentalen Ebene. Er baut auf die glaubwürdigsten Aussagen, die ihm zur Verfügung stehen (wenn …), um eine neue Aussage zu erreichen (dann …).

Ähnlich räsonieren wir alle: Wir knüpfen uns einige Voraussetzungen, Überzeugungen, Informationen und Erfahrungen vor – oder sie bieten sich uns gerade an – und basteln daraus neue Erkenntnisse, Vorhaben etc. Verschiedene Personen ziehen oft andere Schlüsse und fällen andere Entscheidungen aus auf den ersten Blick gleichen Prämissen – weil unsere Denkmechanismen nicht identisch sind. Bedeutsam ist, dass unsere individuellen Denkmechanismen auch gleiche Prämissen unterschiedlich gewichten. Für den einen ist es normal, das Essen aus dem Teller mit den Fingern zu greifen, für den anderen ist das inakzeptabel. Für den einen ist die Krankheit COVID-19 nur ein Grippchen, das schnell verschwindet, für den anderen ist sie Auslöser einer schweren Pandemie. Für den einen ist eine kritische Bemerkung Anlass zu Verbesserungen, für den anderen ist sie eine schwere Beleidigung. Alle Auseinandersetzungen beruhen zum Teil auf Gewichtungsunterschieden. Die Erfolge der künstlichen Intelligenz im 21. Jahrhundert sind der Arbeitsweise der neuronalen Netze zu verdanken. Für diese ist die Gewichtung der Parameter ein Schlüssel für die Ergebnisse.7

Allen unseren Erkenntnissen und Aussagen liegen Denkmuster, Modelle zugrunde. Einige scheinen ewig und unantastbar zu sein, andere sind zwar zuverlässig, aber auf bestimmte Bereiche beschränkt. Dann gibt es die Denkmuster, die sich in Aussagen niederschlagen, denen nur unter Vorbehalt geglaubt werden kann. Hinzu kommen auch zweifelhafte oder gar unsinnige Denkmuster und Aussagen.

Das folgende Diagramm, ein möglicher Ausschnitt eines axiomatischen Baums, zeigt Aussagen mit sehr unterschiedlichem Wahrheitsgehalt. Der rote Faden dieser Beispiele ist die Glaubwürdigkeitsordnung – die Ordnung, mit der wir persönlich allen Aussagen begegnen, die uns in einer oder anderen Art mitgeteilt wurden.

EIN STRANG AUS DEM AXIOMATISCHEN BAUM

Aussagen aus höheren Ebenen sind richtige oder falsche Denk-Ergebnisse aus tiefer liegenden Ebenen. Zwar können abgehobene Aussagen aus unserem Baummodell nicht „Postulate“ oder „Axiome“ genannt werden, doch der Begriff „axiomatische Ebenen“ ist dennoch kein Wortmissbrauch, sondern die einheitliche Darstellung einer Progression von den fundamentalen Axiomen und glaubwürdigen Prämissen, Aussagen, Hypothesen, über zweifelhafte Vermutungen und vage Verdachtsmomente bis hin zu völligem Quatsch.

Wir werden dieses Werkzeug, „axiomatische Ebenen“, brauchen, um unterschiedliche Weltanschauungen und Denkweisen einordnen zu können, und um den erhofften Wahrheitsgehalt unserer Weltanschauung zu überprüfen.

1 vgl. Kap. D - Modelle

2 vgl. Kap. F - Zitat Hossenfelder

3 „Trends in Cognitive Sciences“, 1917 – zitiert in „Spektrum der Wissenschaft“ 42/2021

4 vgl. Kap. C. Invarianz ~ Symmetrie, Grenzen)

5 vgl. Kap. B3.1, Kap. C5

6 vgl. Kap. B3

7 vgl. Kap. Q3 – Künstliche Neuronale Netze

C. INVARIANZ ~ SYMMETRIE, GRENZEN

C.1 GEWÄSSER UND FARBEN

Kaum etwas ist so entspannend wie das Betrachten eines Bachs, der in einer naturbelassenen Umgebung verspielt seinen Weg ins Tal sucht. Es ist kein Rinnsal, kein Fluss, kein Strom und kein Meer, es ist ein Bach. Und mehrere, auch ganz viele Schritte talabwärts ist es immer noch ein Bach.

Dieses Gewässer bleibt ein Bach so weit, wie der Geltungsbereich seiner Bezeichnung reicht, sein Invarianz-Bereich. Oder anders: So weit, wie der Beobachter ihm den Begriff „Bach“ zuordnet, vielleicht noch 5-6 km weiter flussabwärts. Und dann, einige Kilometer weiter, wenn das Gewässer wasserreicher und ruhiger wird, nennt es der Beobachter „Fluss“. Der neue Begriff bezeichnet einen neuen Invarianz-Bereich.

Invariant sind die Eigenschaften oder Parameter eines Objekts, die trotz Änderungen anderer Eigenschaften oder Parameter desselben Objekts für den Beobachter gleich bleiben. Im obigen Beispiel ist für einen bestimmten Abschnitt des Gewässers die Bezeichnung „Bach“ invariant, mit allen Eigenschaften, die ihr der Beobachter zuordnet. Das reale Objekt Bach ist extrem variabel (Wasserstrudel, Steine, Wurzeln etc.), doch das ändert nicht die Bezeichnung „Bach“.

Die als „invariant“ bezeichneten realen Bereiche des fließenden Gewässers sind nicht scharf abgegrenzt, ihre Ausdehnungen sind subjektiv, vom Beobachter als solche wahrgenommen. Zwischen den Invarianz-Bereichen liegen Grauzonen, Grenzzonen oder Übergangszonen (in der Physik gerne „Phasenübergänge“ genannt, wie etwa die Veränderung des Aggregatzustands des Wassers fest/flüssig bei 00 C).

Die Grenzzone zwischen Invarianz-Bereichen (in der abgetrennten Zeile weiter unten mit kleinen Fragezeichen gekennzeichnet) kann Bach oder Fluss benannt werden, abhängig von der Auffassung des Beobachters. Die Bezeichnungen können sich auch überlappen. Etwa in der mittigen, mehr oder weniger eindeutigen Zone eines Invarianz-Bereichs kann der Kern des Invarianz-Bereichs ausgemacht werden (weiter unten „BACH“ oder „FLUSS“ mit Majuskeln), wo sich der Beobachter sicher ist, dass die Bezeichnungen sowohl für ihn als vermutlich für die meisten anderen Beobachter als zutreffend akzeptiert sind.

Wer gewillt ist, eine ganz lange Wanderung talabwärts zu machen, der wird folgenden Verlauf vermerken können:

…bach…BACH...bach… ??? …fluss…FLUSS…fluss… ??? …strom… STROM…

Für den Wanderer wäre es unpraktisch, den Grenzzonen (hier die kleinen Fragezeichen) neue Begriffe zuzuordnen. Das würden wegen der extremen Variabilität der Gewässerformen Verständnis und Kommunikation unnötig erschweren.

Invarianz-Bereiche werden in allen anderen Erscheinungen der Realität wahrgenommen und definiert. Auch zwischenmenschliche Vereinbarungen bestimmen Invarianz-Bereiche.

Alles, was wahrgenommen, erdacht und von unserem Gehirn in ein Abbild, Begriff, Bezeichnung oder Symbol verpackt wird, kann als Invarianz-Gebiet definiert werden.

Begriffe oder Symbole bezeichnen Invarianz-Zonen mit all ihren mehr oder weniger subjektiven Grenzen und Kernbereichen. Sie vereinfachen und systematisieren die Erkenntnis der wahrgenommenen Realität – dadurch wird sie kommunizierbar. Auch Übergangszonen können abgetrennt und in eigene Begriffe verpackt werden, die natürlich ihre eigenen Übergangszonen zu den Nachbarbegriffen haben. Als Beispiel diene das grob dargestellte Farbspektrum: ROT – GELB – BLAU. Mit Zwischentönen erweitert: ROT – orange – GELB – grün – BLAU. Oder, noch feiner: pink – purpur – feuerrot – orange – eigelb – citron – grün – türkis – marineblau – königsblau – violett – indigo.

Auch die subtilsten Farbabstimmungen im obigen Beispiel haben ihre Grenzzonen oder Übergangszonen. Wie weit man mit diesen Verfeinerungen geht, hängt von den Wahrnehmungsfähigkeiten, Kommunikationsabsichten oder Beruf ab. Maler, Designer und Textilfärber brauchen mehr Nuancen, also mehr kommunizierbare Invarianz-Bereiche. Autolackierer assoziieren Farben mit Zahlen, weil sie sehr exakt sein müssen: Optisch kleinste Unterschiede bei Karosseriereparaturen sehen unprofessionell aus.

Im Falle von Gewässern und Farben haben wir das Gefühl, die genauen Ausdehnungen der Begriffe, ihrer Kernbereiche und Übergangszonen willkürlich bestimmen zu können. Das stimmt nicht ganz. Letztendlich handelt es sich um ein Verhältnis zwischen der Realitätsparzelle und den Wahrnehmungseigenarten des Beobachters.

Die Substanz H2O zeigt sich uns im Alltag als Eis oder Wasser. Bei Farben oder Gewässern sind die Invarianz-Gebiete eindeutig subjektiv, von unserer Sichtweise abhängig. Im Falle des Wassers sind die Invarianz-Gebiete schroff abgegrenzt. Sind sie deshalb objektiv, unabhängig von unserer Wahrnehmung? Zunächst sei vermerkt, dass alle Invarianz-Gebiete der physikalischen Welt unscharfe Grenzen haben, weil sie subjektiv bestimmt werden. Sie sind Übergangszonen. Zwischen Eis und Wasser gilt das Gleiche, nur ist die Grenzzone (für uns) sehr schmal; das ist es, was sie von Farben oder Gewässern unterscheidet.

Invarianz-Zonen sind nicht absolut, das heißt, sie bezeichnen Realitätsparzellen, die sicherlich nicht vollkommen gleichmäßig, also invariant zu irgendwelchen Veränderungen sind. Das Beispiel des Gewässers Bach-Fluss-Strom zeigt das deutlich. „Eis“ ist ein Invarianz-Gebiet; der Name für kaltes, festes Wasser. Doch ganz so invariant ist es nicht. Bei nur wenigen Grad unter null ist das Eis weicher als bei strengem Frost. Kleinere Abweichungen von einem grob gesehen invarianten Begriff können vom Betrachter auch ignoriert werden. Beim Kommunizieren sollten sie das auch, sonst würden sich die Menschen schlecht verstehen und unablässig über Begrifflichkeiten streiten.

Invarianzen sind demnach unweigerlich Vereinfachungen, Reduktionen. Wer denkt, tut das automatisch reduktionistisch. Wenn wissenschaftliche Theorien kritisch als „reduktionistisch“ bezeichnet werden, ist damit gemeint, dass sie zu weit gegangen sind mit dem Weglassen von Varianten oder kleinen Unterschieden, dass sie Fakten ignoriert haben, die sie eigentlich hätten berücksichtigen müssen – zumindest aus der Sicht dessen, der die gegebene Theorie als „reduktionistisch“ abgestempelt hat.

Aus ähnlicher Sicht strebt der „Holismus“ eine ganzheitliche Betrachtung einer Realitätsparzelle an, mit dem Ziel, möglichst viele und nach Möglichkeit wesentliche Aspekte einzubeziehen. Holismus strebt die Überwindung des Reduktionismus an, doch schnell stößt er an die Grenzen unserer Analysefähigkeiten und kann in großspurigen, besserwisserischen und auch bedenklichen Urteilen landen. Holismus ist letztendlich auch eine Form von Reduktionismus, aber in die andere Richtung.

Anmerkung: „Realitätsparzellen“ ist ein etwas intuitiverer Ausdruck für „Invarianz-Gebiete“. Eine solche Parzelle könnte ein konkretes oder abstraktes Objekt sein, ein Baustein, ein Begriff, eine definierte Menge von konkreten oder abstrakten Objekten usw. Die Mengenlehre könnte so gesehen als „Lehre von mathematisch definierten Invarianz-Gebieten“ heißen.

C.2 SKALENTRENNUNG, SKALENINVARIANZ

Skaleninvariant sind die Eigenschaften eines Objekts, die unverändert bleiben, obwohl sich die Betrachtungsgröße (Skalierung) ändert.

Als Beispiel kann die Fläche eines Kreises dienen. Die Formel

πr

2

bleibt identisch mit sich selbst, unabhängig von der Größe des Radius. Dieses abstrakte Objekt, ein geometrisches Modell mit Grenzlinienstärke null,

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