Wie kann eine neue Weltordnung aussehen? - Harald Müller - E-Book

Wie kann eine neue Weltordnung aussehen? E-Book

Harald Müller

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Beschreibung

Noch immer bestimmen nur einige wenige Länder das weltpolitische Geschehen. Statt globaler Interessen und internationalem Recht herrschen kurzfristige Interessen der großen Wirtschaftsmächte vor. Dieser Band zeigt, dass in einer internationalen Poklitik, die den Kriterien der Nachhaltigkeit Genüge tut, die westliche Dominanz zu unterbinden ist und dass Recht Priorität vor Macht haben muss.

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Harald Müller

Wie kann eine neue Weltordnung aussehen?

Wege in eine nachhaltige Politik

Sachbuch

Fischer e-books

Herausgegeben von Klaus Wiegandt

Unsere Adressen im Internet: www.fischerverlage.de www.hochschule.fischerverlage.de www.forum-fuer-verantwortung.de

Für Piwi

Vorwort des Herausgebers

Handeln – aus Einsicht und Verantwortung

»Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte.«

Dieser mahnende Satz des Psychoanalytikers und Sozialphilosophen Erich Fromm findet sich in Haben oder Sein – die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft (1976). Das Zitat drückt treffend aus, in welches Dilemma wir durch unsere wissenschaftlich-technische Orientierung geraten sind.

Aus dem ursprünglichen Vorhaben, sich der Natur zu unterwerfen, um sie nutzen zu können (»Wissen ist Macht«), erwuchs die Möglichkeit, die Natur zu unterwerfen, um sie auszubeuten. Wir sind vom frühen Weg des Erfolges mit vielen Fortschritten abgekommen und befinden uns auf einem Irrweg der Gefährdung mit unübersehbaren Risiken. Die größte Gefahr geht dabei von dem unerschütterlichen Glauben der überwiegenden Mehrheit der Politiker und Wirtschaftsführer an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum aus, das im Zusammenspiel mit grenzenlosen technologischen Innovationen Antworten auf alle Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft geben werde.

Schon seit Jahrzehnten werden die Menschen aus Kreisen der Wissenschaft vor diesem Kollisionskurs mit der Natur gewarnt. Bereits 1983 gründeten die Vereinten Nationen eine Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, die sich 1987 mit dem so genannten Brundtland-Bericht zu Wort meldete. Unter dem Titel »Our Common Future« wurde ein Konzept vorgestellt, das die Menschen vor Katastrophen bewahren will und zu einem verantwortbaren Leben zurückfinden lassen soll. Gemeint ist das Konzept einer »langfristig umweltverträglichen Ressourcennutzung« – in der deutschen Sprache als Nachhaltigkeit bezeichnet. Nachhaltigkeit meint – im Sinne des Brundtland-Berichts – »eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstandard zu wählen«.

Leider ist dieses Leitbild für ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltiges Handeln trotz zahlreicher Bemühungen noch nicht zu der Realität geworden, zu der es werden kann, ja werden muss. Dies liegt meines Erachtens darin begründet, dass die Zivilgesellschaften bisher nicht ausreichend informiert und mobilisiert wurden.

Forum für Verantwortung

Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf zunehmend warnende Stimmen und wissenschaftliche Ergebnisse habe ich mich entschlossen, mit meiner Stiftung gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Ich möchte zur Verbreitung und Vertiefung des öffentlichen Diskurses über die unabdingbar notwendige nachhaltige Entwicklung beitragen. Mein Anliegen ist es, mit dieser Initiative einer großen Zahl von Menschen Sach- und Orientierungswissen zum Thema Nachhaltigkeit zu vermitteln sowie alternative Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Denn das Leitbild »nachhaltige Entwicklung« allein reicht nicht aus, um die derzeitigen Lebens- und Wirtschaftsweisen zu verändern. Es bietet zwar eine Orientierungshilfe, muss jedoch in der Gesellschaft konkret ausgehandelt und dann in Handlungsmuster umgesetzt werden. Eine demokratische Gesellschaft, die sich ernsthaft in Richtung Zukunftsfähigkeit umorientieren will, ist auf kritische, kreative, diskussionsund handlungsfähige Individuen als gesellschaftliche Akteure angewiesen. Daher ist lebenslanges Lernen, vom Kindesalter bis ins hohe Alter, an unterschiedlichen Lernorten und unter Einbezug verschiedener Lernformen (formelles und informelles Lernen), eine unerlässliche Voraussetzung für die Realisierung einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung. Die praktische Umsetzung ökologischer, ökonomischer und sozialer Ziele einer wirtschaftspolitischen Nachhaltigkeitsstrategie verlangt nach reflexions- und innovationsfähigen Menschen, die in der Lage sind, im Strukturwandel Potenziale zu erkennen und diese für die Gesellschaft nutzen zu lernen.

Es reicht für den Einzelnen nicht aus, lediglich »betroffen« zu sein. Vielmehr ist es notwendig, die wissenschaftlichen Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen, um sie für sich verfügbar zu machen und mit anderen in einer zielführenden Diskussion vertiefen zu können. Nur so entsteht Urteilsfähigkeit, und Urteilsfähigkeit ist die Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln.

Die unablässige Bedingung hierfür ist eine zugleich sachgerechte und verständliche Aufbereitung sowohl der Fakten als auch der Denkmodelle, in deren Rahmen sich mögliche Handlungsalternativen aufzeigen lassen und an denen sich jeder orientieren und sein persönliches Verhalten ausrichten kann.

Um diesem Ziel näher zu kommen, habe ich ausgewiesene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebeten, in der Reihe »Forum für Verantwortung« zu zwölf wichtigen Themen aus dem Bereich der nachhaltigen Entwicklung den Stand der Forschung und die möglichen Optionen allgemeinverständlich darzustellen.

 

Innerhalb eines Jahres ist nun unserer Reihe mit Erscheinen der letzten vier Bände im Januar 2008 komplettiert:

Was verträgt unsere Erde noch? Wege in die Nachhaltigkeit (Jill Jäger)

Kann unsere Erde die Menschen noch ernähren? Bevölkerungsexplosion, Umwelt, Gentechnik (Klaus Hahlbrock)

Nutzen wir die Erde richtig? Die Leistungen der Natur und die Arbeit des Menschen (Friedrich Schmidt-Bleek)

Bringen wir das Klima aus dem Takt? Hintergründe und Prognosen (Mojib Latif)

Wie schnell wächst die Zahl der Menschen? Weltbevölkerung und weltweite Migration (Rainer Münz / Albert F. Reiterer)

Wie lange reicht die Ressource Wasser? Der Umgang mit dem blauen Gold (Wolfram Mauser)

Was sind die Energien des 21. Jahrhunderts? Der Wettlauf um die Lagerstätten (Hermann-Josef Wagner)

Wie bedroht sind die Ozeane? Biologische und physikalische Aspekte (Stefan Rahmstorf / Katherine Richardson)

Wächst die Seuchengefahr? Globale Epidemien und Armut: Strategien zur Seucheneindämmung in einer vernetzten Welt (Stefan E. Kaufmann)

Wie muss die Wirtschaft umgebaut werden? Perspektiven einer nachhaltigeren Entwicklung (Bernd Meyer)

Wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Wege in eine nachhaltige Politik (Harald Müller)

Ende der Artenvielfalt? Gefährdung und Vernichtung von Biodiversität (Josef H. Reichholf)

 

 

Zwölf Bände – es wird niemanden überraschen, wenn im Hinblick auf die Bedeutung von wissenschaftlichen Methoden oder die Interpretationsbreite aktueller Messdaten unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Unabhängig davon sind sich aber alle an diesem Projekt Beteiligten darüber einig, dass es keine Alternative zu einem Weg aller Gesellschaften in die Nachhaltigkeit gibt.

Öffentlicher Diskurs

Was verleiht mir den Mut zu diesem Projekt und was die Zuversicht, mit ihm die deutschsprachigen Zivilgesellschaften zu erreichen und vielleicht einen Anstoß zu bewirken?

Zum einen sehe ich, dass die Menschen durch die Häufung und das Ausmaß der Naturkatastrophen der letzten Jahre sensibler für Fragen unseres Umgangs mit der Erde geworden sind. Zum anderen gibt es im deutschsprachigen Raum bisher nur wenige allgemeinverständliche Veröffentlichungen wie Die neuen Grenzen des Wachstums (Donella und Dennis Meadows), Erdpolitik (Ernst-Ulrich von Weizsäcker), Zukunftsfähiges Deutschland (Wuppertal Institut), Balance oder Zerstörung (Franz Josef Radermacher), Fair Future (Wuppertal Institut) und Kollaps (Jared Diamond). Insbesondere liegen keine Schriften vor, die zusammenhängend das breite Spektrum einer umfassend nachhaltigen Entwicklung abdecken.

Das vierte Kolloquium meiner Stiftung, das im März 2005 in der Europäischen Akademie Otzenhausen (Saarland) zu dem Thema »Die Zukunft der Erde – was verträgt unser Planet noch?« stattfand, zeigte deutlich, wie nachdenklich eine sachgerechte und allgemeinverständliche Darstellung der Thematik die große Mehrheit der Teilnehmer machte.

Darüber hinaus stimmt mich persönlich zuversichtlich, dass die mir eng verbundene ASKO EUROPA-STIFTUNG alle zwölf Bände vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie didaktisieren lässt, um qualifizierten Lehrstoff für langfristige Bildungsprogramme zum Thema Nachhaltigkeit sowohl im Rahmen der Stiftungsarbeit als auch im Rahmen der Bildungsangebote der Europäischen Akademie Otzenhausen zu erhalten. Inzwischen haben wir daraus die Initiative »Mut zur Nachhaltigkeit« entwickelt, deren beide Säulen »Zwölf Bücher zur Zukunft der Erde« und »Vom Wissen zum Handeln« die Grundlage für unsere umfassenden geplanten Bildungsaktivitäten der nächsten Jahre darstellen. »Mut zur Nachhaltigkeit« wurde Anfang 2007 als offizielles Projekt der UN-Dekade »Bildung für Nachhaltigkeit« 2007/2008 ausgezeichnet. Auch die Resonanz in den deutschen Medien ist überaus positiv.

 

Als ich vor gut zwei Jahren begann, meine Vorstellungen und die Voraussetzungen zu einem öffentlichen Diskurs über Nachhaltigkeit zu strukturieren, konnte ich nicht voraussehen, dass bis zum Erscheinen der ersten Bücher dieser Reihe zumindest der Klimawandel und die Energieproblematik von einer breiten Öffentlichkeit mit großer Sorge wahrgenommen würden. Dies ist meines Erachtens insbesondere auf folgende Ereignisse zurückzuführen:

Zunächst erlebte die USA die fast vollständige Zerstörung von New Orleans im August 2005 durch den Hurrikan Katrina, und dieser Katastrophe folgte tagelange Anarchie.

Im Jahre 2006 startete Al Gore seine Aufklärungskampagne zum Klimawandel und zum Thema Energieverschwendung. Sie gipfelte in seinem Film »Eine unbequeme Wahrheit«, der weltweit große Teile in allen Altersgruppen der Bevölkerung erreicht und beeindruckt.

Der 2007 publizierte 700-seitige Stern-Report, den der Ökonom und frühere Chefvolkswirt der Weltbank, NICHO-LAS STERN, im Auftrag der britischen Regierung mit anderen Wirtschaftswissenschaftlern erstellt hat, schreckte Politiker wie auch Wirtschaftsführer gleichermaßen auf. Dieser Bericht macht deutlich, wie hoch weltweit der wirtschaftliche Schaden sein wird, wenn wir »business as usual« betreiben und nicht energische Maßnahmen dem Klimawandel entgegensetzen. Gleichzeitig wird in diesem Bericht dargelegt, dass wir mit nur einem Zehntel des wahrscheinlichen Schadens Gegenmaßnahmen finanzieren und die durchschnittliche Erderwärmung auf 2 ° C beschränken könnten – wenn wir denn handeln würden.

Besonders große Aufmerksamkeit in den Medien und damit in der öffentlichen Wahrnehmung fand der jüngste ICPP-Bericht, der Anfang 2007 deutlich wie nie zuvor den Ernst der Lage offenlegte und drastische Maßnahmen gegen den Klimawandel einforderte.

Zu guter Letzt sei erwähnt, dass auch das außergewöhnliche Engagement einiger Milliardäre wie Bill Gates, Warren Buffet, George Soros und Richard Branson sowie das Engagement von Bill Clinton zur »Rettung unserer Welt« die Menschen auf der ganzen Erde beeindruckt.

 

 

Eine wesentliche Aufgabe unserer auf zwölf Bände angelegten Reihe bestand für die Autorinnen und Autoren darin, in dem jeweils beschriebenen Bereich die geeigneten Schritte zu benennen, die in eine nachhaltige Entwicklung führen können. Dabei müssen wir uns immer vergegenwärtigen, dass der erfolgreiche Übergang zu einer derartigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Entwicklung auf unserem Planeten nicht sofort gelingen kann, sondern viele Jahrzehnte dauern wird. Es gibt heute noch keine Patentrezepte für den langfristig erfolgreichsten Weg. Sehr viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und noch mehr innovationsfreudige Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Managerinnen und Manager werden weltweit ihre Kreativität und Dynamik zur Lösung der großen Herausforderungen aufbieten müssen. Dennoch sind bereits heute erste klare Ziele erkennbar, die wir erreichen müssen, um eine sich abzeichnende Katastrophe abzuwenden. Dabei können weltweit Milliarden Konsumenten mit ihren täglichen Entscheidungen beim Einkauf helfen, der Wirtschaft den Übergang in eine nachhaltige Entwicklung zu erleichtern und ganz erheblich zu beschleunigen – wenn die politischen Rahmenbedingungen dafür geschaffen sind. Global gesehen haben zudem Milliarden von Bürgern die Möglichkeit, in demokratischer Art und Weise über ihre Parlamente die politischen »Leitplanken« zu setzen.

Die wichtigste Erkenntnis, die von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gegenwärtig geteilt wird, lautet, dass unser ressourcenschweres westliches Wohlstandsmodell (heute gültig für eine Milliarde Menschen) nicht auf weitere fünf oder bis zum Jahr 2050 sogar auf acht Milliarden Menschen übertragbar ist. Das würde alle biophysikalischen Grenzen unseres Systems Erde sprengen. Diese Erkenntnis ist unbestritten. Strittig sind jedoch die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind.

Wenn wir ernsthafte Konflikte zwischen den Völkern vermeiden wollen, müssen die Industrieländer ihren Ressourcenverbrauch stärker reduzieren, als die Entwicklungs- und Schwellenländer ihren Verbrauch erhöhen. In Zukunft müssen sich alle Länder auf gleichem Ressourcenverbrauchsniveau treffen. Nur so lässt sich der notwendige ökologische Spielraum schaffen, um den Entwicklungs- und Schwellenländern einen angemessenen Wohlstand zu sichern.

Um in diesem langfristigen Anpassungsprozess einen dramatischen Wohlstandsverlust des Westens zu vermeiden, muss der Übergang von einer ressourcenschweren zu einer ressourcenleichten und ökologischen Marktwirtschaft zügig in Angriff genommen werden.

Die Europäische Union als stärkste Wirtschaftskraft der Welt bringt alle Voraussetzungen mit, in diesem Innovationsprozess die Führungsrolle zu übernehmen. Sie kann einen entscheidenden Beitrag leisten, Entwicklungsspielräume für die Schwellen- und Entwicklungsländer im Sinn der Nachhaltigkeit zu schaffen. Gleichzeitig bieten sich der europäischen Wirtschaft auf Jahrzehnte Felder für qualitatives Wachstum mit zusätzlichen Arbeitsplätzen. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang auch die Rückgewinnung von Tausenden von begabten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Europa nicht nur aus materiellen Gründen, sondern oft auch wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten oder unsicheren -bedingungen verlassen haben.

Auf der anderen Seite müssen die Schwellen- und Entwicklungsländer sich verpflichten, ihre Bevölkerungsentwicklung in überschaubarer Zeit in den Griff zu bekommen. Mit stärkerer Unterstützung der Industrienationen muss das von der Weltbevölkerungskonferenz der UNO1994 in Kairo verabschiedete 20-Jahres-Aktionsprogramm umgesetzt werden.

Wenn es der Menschheit nicht gelingt, die Ressourcen- und Energieeffizienz drastisch zu steigern und die Bevölkerungsentwicklung nachhaltig einzudämmen – man denke nur an die Prognose der UNO, nach der die Bevölkerungsentwicklung erst bei elf bis zwölf Milliarden Menschen am Ende dieses Jahrhunderts zum Stillstand kommt –, dann laufen wir ganz konkret Gefahr, Ökodiktaturen auszubilden. In den Worten von Ernst Ulrich von Weizsäcker: »Die Versuchung für den Staat wird groß sein, die begrenzten Ressourcen zu rationieren, das Wirtschaftsgeschehen im Detail zu lenken und von oben festzulegen, was Bürger um der Umwelt willen tun und lassen müssen. Experten für ›Lebensqualität‹ könnten von oben definieren, was für Bedürfnisse befriedigt werden dürften« (Erdpolitik, 1989).

Es ist an der Zeit

Es ist an der Zeit, dass wir zu einer grundsätzlichen, kritischen Bestandsaufnahme in unseren Köpfen bereit sind. Wir – die Zivilgesellschaften – müssen entscheiden, welche Zukunft wir wollen. Fortschritt und Lebensqualität sind nicht allein abhängig vom jährlichen Zuwachs des Prokopfeinkommens. Zur Befriedigung unserer Bedürfnisse brauchen wir auch keineswegs unaufhaltsam wachsende Gütermengen. Die kurzfristigen Zielsetzungen in unserer Wirtschaft wie Gewinnmaximierung und Kapitalakkumulierung sind eines der Haupthindernisse für eine nachhaltige Entwicklung. Wir sollten unsere Wirtschaft wieder stärker dezentralisieren und den Welthandel im Hinblick auf die mit ihm verbundene Energieverschwendung gezielt zurückfahren. Wenn Ressourcen und Energie die »wahren« Preise widerspiegeln, wird der weltweite Prozess der Rationalisierung und Freisetzung von Arbeitskräften sich umkehren, weil der Kostendruck sich auf die Bereiche Material und Energie verlagert.

Der Weg in die Nachhaltigkeit erfordert gewaltige technologische Innovationen. Aber nicht alles, was technologisch machbar ist, muss auch verwirklicht werden. Die totale Ökonomisierung unserer gesamten Lebensbereiche ist nicht erstrebenswert. Die Verwirklichung von Gerechtigkeit und Fairness für alle Menschen auf unserer Erde ist nicht nur aus moralisch-ethischen Prinzipien erforderlich, sondern auch der wichtigste Beitrag zur langfristigen Friedenssicherung. Daher ist es auch unvermeidlich, das politische Verhältnis zwischen Staaten und Völkern der Erde auf eine neue Basis zu stellen, in der sich alle, nicht nur die Mächtigsten, wiederfinden können. Ohne einvernehmliche Grundsätze »globalen Regierens« lässt sich Nachhaltigkeit in keinem einzigen der in dieser Reihe diskutierten Themenbereiche verwirklichen.

Und letztendlich müssen wir die Frage stellen, ob wir Menschen das Recht haben, uns so stark zu vermehren, dass wir zum Ende dieses Jahrhunderts womöglich eine Bevölkerung von elf bis zwölf Milliarden Menschen erreichen, jeden Quadratzentimeter unserer Erde in Beschlag nehmen und den Lebensraum und die Lebensmöglichkeiten aller übrigen Arten immer mehr einengen und zerstören.

Unsere Zukunft ist nicht determiniert. Wir selbst gestalten sie durch unser Handeln und Tun: Wir können so weitermachen wie bisher, doch dann begeben wir uns schon Mitte dieses Jahrhunderts in die biophysikalische Zwangsjacke der Natur mit möglicherweise katastrophalen politischen Verwicklungen. Wir haben aber auch die Chance, eine gerechtere und lebenswerte Zukunft für uns und die zukünftigen Generationen zu gestalten. Dies erfordert das Engagement aller Menschen auf unserem Planeten.

Danksagung

Mein ganz besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren dieser zwölfbändigen Reihe, die sich neben ihrer hauptberuflichen Tätigkeit der Mühe unterzogen haben, nicht für wissenschaftliche Kreise, sondern für eine interessierte Zivilgesellschaft das Thema Nachhaltigkeit allgemeinverständlich aufzubereiten. Für meine Hartnäckigkeit, an dieser Vorgabe weitestgehend festzuhalten, bitte ich an dieser Stelle nochmals um Nachsicht. Dankbar bin ich für die vielfältigen und anregenden Diskussionen über Wege in die Nachhaltigkeit. Mich hat sehr beeindruckt, mit welcher Disziplin die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Zeitplan exakt eingehalten haben, innerhalb von zwölf Monaten alle zwölf Bücher fertigzustellen.

Bei der umfangreichen Koordinationsarbeit hat mich von Anfang an ganz maßgeblich Ernst Peter Fischer unterstützt – dafür meinen ganz herzlichen Dank, ebenso Wolfram Huncke, der mich in Sachen Öffentlichkeitsarbeit beraten hat. Für die umfangreichen organisatorischen Arbeiten möchte ich mich ganz herzlich bei Annette Maas bedanken, ebenso bei Ulrike Holler und Eva Köster vom S. Fischer Verlag für die nicht einfache Lektoratsarbeit.

Auch den finanziellen Förderern dieses Großprojektes gebührt mein Dank: allen voran der ASKO EUROPA-STIFTUNG (Saarbrücken) und meiner Familie sowie der Stiftung Europrofession (Saarbrücken), Erwin V. Conradi, Wolfgang Hirsch, Wolf-Dietrich und Sabine Loose.

Seeheim-Jugenheim

Stiftung Forum für Verantwortung

Sommer 2007

Klaus Wiegandt

Vorwort

Über »global governance« oder »Weltregieren« wächst ein unaufhaltsamer Strom von Publikationen an. Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, selbst einen eigenen Beitrag zu dieser Debatte zu leisten. Die Herausforderung, eben dies aus der Perspektive der »Nachhaltigkeit« im Rahmen des ehrgeizigen Projekts des Forums Verantwortung zu tun, war indes unwiderstehlich. Dabei kam ich nicht umhin, manches aus der – vorwiegend »westlichen« – Debatte gegen den Strich zu bürsten. Das bedarf der Erklärung.

 

Ein wichtiger Strang dieser Debatte zielt auf die Demokratisierung des Weltregierens. Er ist normativ orientiert, möchte die Werte und Normen der westlichen Aufklärung zur Leitlinie des Weltregierens machen und vernachlässigt die Reibungen, die ein solcher Versuch hervorrufen würde. Mein Ansatz startet von einem anderen Punkt aus: Von den schwerwiegenden Risiken für Mensch und Natur, die meine Kollegen in den anderen Büchern dieser Reihe so eindrucksvoll und bedrückend dargestellt haben, und von der unausweichlichen Notwendigkeit, weltweite Maßnahmen zustande zu bringen, um diese Risiken zu bewältigen. Das ist für mich – und damit für diesen Band – die vorrangige Frage: Wie lassen sich die Rahmenbedingungen herstellen, innerhalb deren die Lösung dieser drängenden Probleme möglich wird – in der Welt, wie sie heute ist und in absehbarer Zeit werden wird? Die erste Feststellung, die dabei zu treffen ist: In dieser Welt gibt es nichtdemokatische Staaten wie China, die Teil der Lösung sein müssen. Wenn sie sich im Verlauf dieses Prozesses demokratisieren, fein. Wenn nicht, muss es auch gehen.

 

Ein weiterer wichtiger Diskussionsstrang hält den Staat für abnehmend wichtig, sieht eine »Entstaatlichung«, eine »Denationalisierung« des Weltregierens. Ich bin in meinen Überlegungen konservativer. Ich traue dem Staat im Guten und im Bösen noch eine Menge zu und glaube, dass man ohne eine zentrale Rolle der Staaten ein nachhaltiges Weltregieren nicht zustande bringen wird. Auch fürchte ich, dass das staatliche Störpotenzial, Regelungen für die Weltprobleme zu behindern, unvermindert groß bleiben wird. Weltregieren ist daher vor allem staatliches Regieren, mit angemessenen Beiträgen anderer Akteure, gewiss, aber mit den Staaten und ihren Organisationen im Mittelpunkt.

 

Die Hoffnung, dass die Menschheit die vor ihr liegenden Herausforderungen am Ende bewältigen kann, erfordert ein gewisses Maß an optimistischer Utopie. Die habe ich aufgebracht, aber stets in dem Bemühen, die Bodenhaftung zur politischen Wirklichkeit nicht zu verlieren. Ich versuche, Weltregieren zu entwerfen, indem ich an den vielversprechendsten Modellen anknüpfe, die wir hier und jetzt vorfinden und die einigermaßen funktionieren. Von da aus versuche ich weiterzudenken, nicht jedoch von Bedingungen aus, die womöglich nur in phantasiereichen Köpfen existieren, aber nirgendwo sonst. Wie weit diese Mixtur aus Realismus und Utopie gelungen ist, müssen meine Leserinnen und Leser entscheiden. Ich würde mich freuen, wenn sie Unzulänglichkeiten dieses Bandes zum Anlass nehmen, um weiter zu denken und ihre eigenen Modelle gelingenden Weltregierens zu entwickeln. Denn letztlich hängt dessen Gelingen vom Engagement der Vielen ab, nicht von der Weisheit einiger weniger Staatslenker – obwohl auch diese Weisheit, ein seltenes Gut, dringend benötigt wird.

 

Das Format der Reihe schließt den Verzicht auf ausführliche Quellenangaben zugunsten einer knappgehaltenen Literaturliste ein. Ich bin daher nicht in der Lage, diejenigen, deren Arbeiten mir in meinen eigenen Gedankengängen nachgeholfen haben, wie auch diejenigen, mit deren Positionen ich mich kritisch auseinandersetze, angemessen zu würdigen. Ich bitte dafür pauschal um Nachsicht.

 

Viele kluge Menschen haben mir geholfen, meine Gedanken für dieses Buch zu ordnen. Philip Liste und Ulrike Müller haben das sechste Kapitel, Nicole Deitelhoff, Melanie Zimmer und Thomas Gebauer Teile des sechsten und siebten, Kerstin Martens das gesamte siebte Kapitel konstruktiv kommentiert. Carmen Wunderlich hat das Glossar erstellt und Fahnenkorrektur gelesen. Dafür gilt ihnen großer Dank. Mein Freund und Kollege Jonas Wolff hat es auf sich genommen, den Erstentwurf jedes einzelnen Kapitels durchzugehen und dann nochmals das gesamte Endmanuskript mit mir zu diskutieren. Ohne die Gespräche mit ihm hätte ich viele Denkfehler gemacht, ich kann ihm gar nicht genug dafür danken, wie konstruktiv er sich in meine eigenen Überlegungen hinein- und darüber hinausgedacht hat.

 

Das Buch eigne ich meinem Freund Piwi zu, bürgerlich Heinz-Georg Frey. Seit unseren gemeinsamen Tagen als Achtundsechziger hat mich diese unverbrüchliche Freundschaft durch mein Leben begleitet. Piwi hat die schönste literaturwissenschaftliche Arbeit geschrieben, die ich gelesen habe – über die Frauen in Goethes Wilhelm Meister –, und dennoch den im Vergleich zu meinem schwierigeren beruflichen Weg gewählt, als er sich für den Lehrerberuf entschied. Er füllt ihn seither mit unvermindertem Engagement und Elan aus. An ihm liegt »Pisa« wahrlich nicht. Ohne seine Treue, seine brillante Intelligenz und seinen unvergleichlichen Humor wäre mein Leben so viel ärmer. Deshalb, und weil sein (und Magdalenas) Interesse an Nachhaltigkeit der drei prächtigen Söhne wegen womöglich noch größer ist als meines, widme ich ihm dieses Buch.

 

Frankfurt am Main, im Juli 2007

1Was heißt »nachhaltiges Weltregieren«?

Die übrigen Bücher dieser Reihe haben sich Stück für Stück mit den einzelnen Themen eines nachhaltigen Umgangs mit der Welt beschäftigt. Sie haben einen kritischen Blick auf die Art und Weise geworfen, wie wir Menschen mit den Angeboten umgehen, die uns eine eigentlich weitgehend freundliche Umwelt macht. Sie haben bittere Prognosen darüber gestellt, was mit Luft, Wasser, Klima und so weiter geschieht, wenn wir die bisherige Praxis ohne einschneidende Korrekturen weiterbetreiben. Und sie haben Wege gezeigt, diese Praxis zu verändern und zu einem Leben in und auf der Welt zu finden, das nicht zwangsläufig in ein oder zwei Generationen in die Katastrophe, wenn nicht in den allgemeinen Untergang führt.

 

So weit, so gut. Aber wer ist »wir«? Die Menschheit als Ganzes, so will es scheinen. Aber die Menschheit ist kein Akteur. Sie ist kein reales Kollektiv, so wie Ihre Familie, Ihr Sportverein, Ihre Firma eine handlungsfähige Gruppierung ist. Die größten handlungsfähigen Kollektive, die augenblicklich auf der Welt existieren, sind Staaten und einige besonders große Unternehmen, dazu gutausgestattete internationale Organisationen (obgleich die im Allgemeinen die Staaten zum wirksamen Handeln brauchen!), die Kirchen, Nichtregierungsorganisationen wie z.B. Greenpeace, Human Rights Watch, amnesty international oder Transparency International sowie weniger erfreuliche Erscheinungen wie die Mafia oder al-Qaida. Das sind im Großen und Ganzen die kollektiven »Leute«, mit denen »wir« anfangen müssen, nachhaltige Weltpolitik zu betreiben.

 

Aber was soll das heißen: »nachhaltige Weltpolitik«? Ist Nachhaltigkeit und Politik nicht ein Widerspruch in sich? Haben Politiker gerade in den mächtigsten und erfolgreichsten Ländern – immer noch die westlichen Demokratien (also die transatlantische Welt plus Australien, Neuseeland und Japan) – nicht einen Horizont, der nicht weiter als bis zur nächsten Wahl reicht? Und hat sich nicht die ängstliche Illusion, totalitäre Staaten wie die Sowjetunion könnten viel besser als wir langfristige Pläne verfolgen, in Luft aufgelöst, weil die Sowjets noch viel unfähiger waren, eine stetige Zukunft vorzubereiten als der scheinbar so fragmentierte Westen? Sehen wir nicht heute, dass ein nichtdemokratisches Land wie China noch größere Probleme hat, trotz erkannter Probleme eine verträgliche Umweltpolitik zu betreiben? Hat nicht die chinesische Bevölkerungspolitik, so weitblickend sie erst zu sein schien, in Verbindung mit der traditionellen Bevorzugung von Söhnen zu einem Ungleichgewicht der Geschlechter in der jungen Generation geführt, die mittelfristig einen Überhang an alten Menschen produzieren wird, gemessen an dem unsere eigenen Probleme mit den Systemen der Altersversorgung luxuriös erscheinen?

Abgesehen von dem scheinbar natürlichen Widerspruch von Politik und Nachhaltigkeit, was bedeutet die Kombination beider Begriffe überhaupt? Beim Umgang mit der Natur ist das ja einleuchtend: Er soll so beschaffen sein, dass die natürliche Grundlage, mit der man umgeht – die Atmosphäre, Fischbestände etc. –, auf Dauer erhalten bleibt. Aber eine solch selbstverständliche Definition fällt einem für »nachhaltige Politik« nicht auf Anhieb ein. Und schließlich »Weltpolitik« – bei diesem Begriff kommt einem zunächst einmal Kaiser Wilhelm II. in den Sinn, eine der am wenigsten »nachhaltigen« Figuren der deutschen Geschichte. Mit anderen Worten: »Weltpolitik« ist besetzt mit dem ewigen heroischen Kampf der großen Mächte, mit ihrem Auf- und Absteigen, dauerhaften Rivalitäten und den immer wiederkehrenden Konfrontationen im großen Krieg. Das kann es offensichtlich nicht sein! Nun ist hier nicht von »Weltpolitik« die Rede, sondern von »Weltregieren«. Aber dieses Wort provoziert noch mehr Fragezeichen und Misstrauen. Bürgerinnen und Bürger haben die Unzufriedenheit mit dem weit entfernten politischen Entscheiden gelernt. Man hängt zwischen Skylla und Charybdis: Entweder die fernen »Regierer« sind ineffizient, wie die Vereinten Nationen, so will es scheinen, oder übereffizient wie die Brüsseler Bürokratie. Beide Alternativen erwecken erst einmal weder Vertrauen noch Sympathie. »Weltregieren« klingt verdächtig nach »Weltregierung«, und eine solche Konstruktion hatte schon Immanuel Kant verworfen: Er befürchtete, das werde auf Tyrannei hinauslaufen, ohne dass Freiheit und Widerstand noch irgendwo eine Heimstätte hätten. Um es vorwegzunehmen – zur Beruhigung: Weltregieren heißt nicht Weltstaat, obgleich heute manche ernstzunehmenden Menschen dies als einzigen Ausweg aus unserer Misere ins Auge fassen. Aber erst einmal der Reihe nach. Die Weltprobleme, die das Nachhaltigkeits-Projekt bearbeitet hat, betreffen alle Menschen, Völker und Staaten, wenn auch in unterschiedlicher Schärfe. Sie lassen sich nur erfolgreich bearbeiten, wenn alle »Problemproduzenten« und alle, die sonst zu einer Lösung beitragen können, gemeinsam daran arbeiten, und wenn andere, die (noch) unbeteiligt sind, mit großer Aufmerksamkeit darauf achten, nicht selbst zu »Problemproduzenten« zu werden. Als Erstes brauchen wir also Übereinstimmung über die Probleme. Das ist weniger selbstverständlich, als man meinen könnte, wie die Haltung der amerikanischen Regierung zur Klimaerwärmung oder die der südafrikanischen zu AIDS gezeigt haben: Beide (demokratischen!) Staatsführungen haben sich erst einmal gegen die mehrheitlich geteilte Problemdefinition gesperrt, und wir sind bei beiden immer noch nicht völlig über den Berg.

Was ist also »Weltregieren«? »Weltregieren oder ›global governance‹ ist eine Spezies des Regierens, und Regieren bedeutet nichts anderes, als aussichtsreiche Vorgehensweisen zur Lösung gemeinschaftlicher Probleme zu identifizieren, sie in verbindliche Verhaltensregeln umzuschreiben, die Einhaltung dieser Regeln zu überwachen und sie, falls notwendig, geänderten Rahmenbedingungen anzupassen. Weltregieren liegt dann vor, wenn sowohl die Probleme als auch die Regeln, mit deren Hilfe sie gelöst werden sollen, nicht auf den Rahmen einer politischen Gemeinschaft beschränkt bleiben, sondern einen tendenziell weltumspannenden Charakter haben« (Volker Rittberger).

Damit globales Regieren funktioniert, braucht es als nächsten Schritt Übereinstimmung über die Ziele. Auch die wird nicht einfach zu erreichen sein. Auch vernünftige Leute können sich über das streiten, was sie wollen; oder was sie wollen sollen. Wer die Bücher unserer Reihe liest, mag gelegentlich Schwierigkeiten haben, die schiere Möglichkeit zum Streit zu verstehen – so klar scheinen die Tatbestände und die Handlungsnotwendigkeiten zu sein. Aber wenn man daran denkt, dass China – wenigstens bis vor kurzem – die maximale Steigerung des eigenen Bruttosozialprodukts gegenüber der Schonung selbst der Atemluft in chinesischen Städten für vorrangig hielt, wenn man in Rechnung stellt, dass eine große deutsche Volkspartei bis vor kurzem glaubte, unser mit Immigranten bestücktes Land sei kein Einwanderungsland, wenn man staunend zur Kenntnis nimmt, dass die gegenwärtige amerikanische Regierung lange gegen die preiswerte Abgabe von AIDS-Medikamenten gekämpft hat – dann kann man sich vorstellen, dass schon die Einigung auf das, »was Sache ist« und »wo es hingehen soll«, viel Schweiß der Edlen kosten wird; denn hier geht es um Ideologie und Interessen, und das sind hohe Hürden.

Die Festlegung der Ziele ist nur der erste Schritt. Wenn man ein Haus bauen will, genügt der Schattenriss nicht. Ein Bauplan muss her, die Statik muss durchgerechnet sein, eine Arbeitsteilung zwischen den Handwerkern ist zu vereinbaren, ein Ablaufplan zu erstellen, Bestellungen und Beschaffungen sind zu tätigen und vieles mehr. So auch hier: Was jeder Akteur – die oben genannten Beteiligten an der Weltpolitik, mit den Staaten im Mittelpunkt – zu tun hat, ist festzulegen. Das ist noch schwieriger als die Ziele: Hier kommen Fragen der Verantwortung (für die bestehenden Zustände), der ungleichen Möglichkeiten (zwischen Reich und Arm), der Verteilung von Gütern und Werten und der Gerechtigkeit ins Spiel. Diese Kombination von Moral und Nutzen ist hochbrisant, weil konflikttreibend. Die meisten Kriege der Weltgeschichte haben diese beiden Elemente in unterschiedlichen Mixturen als Ausgangspunkt.

Nachhaltigkeit zweiter Ordnung

Damit bin ich am »harten Kern« meines eigenen Beitrags zum Nachhaltigkeits-Projekt angekommen. Es geht mir nämlich nicht darum, einzelne Regelsysteme zu entwerfen, die auf Dauer die Probleme erfolgreich, das heißt nachhaltig, regeln und verwalten, die meine Kollegen analysiert haben, das heißt, es geht nicht um »nachhaltiges Weltregieren erster Ordnung«. Wie das gemacht werden sollte, dazu steht in den anderen Büchern das Wesentliche. Vielmehr geht es mir um »nachhaltiges Weltregieren zweiter Ordnung«: um die grundsätzliche Überlegung, wie überhaupt die Voraussetzungen dafür geschaffen werden können, dass solche Regeln zustande kommen. Dieser Gedanke bedarf der Erläuterung, bevor wir uns damit beschäftigen können, worum es dabei eigentlich geht. Es leuchtet auf den ersten Blick schwer ein, dass man die offensichtlichen Probleme nicht einfach angehen kann. Geht es nicht nur darum, die richtigen Experten und Expertinnen zu finden, die Lösungen entwerfen? Der vernünftigste Weg, auf den sich diese Expertinnengruppe einigen kann oder für die sich wenigstens eine Mehrheit bildet, wird dann umgesetzt – warum kann man es nicht einfach so machen?

Die hinter dieser Frage stehende Philosophie heißt »Sozialtechnologie« oder »social engineering«. Sie wäre gut und schön, wenn es nur um technische Fragen ginge. Aber, wie ich versucht habe darzulegen, verlieren auch Fragen der Naturwissenschaft – der Ökologie, der Meteorologie – ihre Unschuld, wenn sie mit dem Sozialen und dem Politischen in Berührung kommen. Dann geht es um Interessen und Glauben, um Moral und Leidenschaft, um Mehr und Weniger, um Gut und Böse. Wo sich die »reine Wissenschaft« und ihre breite, gesellschaftlich und politisch wirkungsmächtige Anwendung treffen, spaltet sich meistens auch die Wissenschaftlergemeinde in Pole, Gruppen, Parteien und Sekten. Die »ExpertInnen« helfen nichts mehr, wenn sie sich streiten. Ihr Streit ist bereits – oft nur unbewusst – mit Wertvorstellungen, kulturellen Prägungen, Ideologien versetzt. Umgekehrt wählen sich Öffentlichkeit und Politik aus den wissenschaftlichen Streitpositionen das heraus, was in ihre Wertvorstellungen, kulturellen Prägungen und Ideologien passt.

 

Das klingt nach Resignation, ist aber nicht so gemeint. Wir schaffen es ja trotz dieser Tatsache immer wieder, zu Entscheidungen zu gelangen. Oft sind diese Entscheidungen auch ganz vernünftig und führen weiter. Das Wichtige ist nicht, dass ein Weg stets eindeutig vorgezeichnet ist und alle Beteiligten sich automatisch auf diesen Weg einigen (die Welt wäre ein langweiliger Platz, wenn dies so wäre). Wichtig ist vielmehr, die Vorkehrungen dafür getroffen zu haben, mit Konflikten dauerhaft so umgehen zu können, dass Entscheidungen möglich werden und alle Streitparteien sich dem auch fügen. Verlässliche Verfahren, die allen Beteiligten so fair erscheinen, dass sie sich auf deren Ergebnisse auch dann verlassen, wenn diese von ihren Präferenzen abweichen, sind die Grundvoraussetzung für nachhaltiges Regieren. Dann kann man sich nämlich einigermaßen darauf verlassen, dass die Regeln hinreichende Gefolgschaft finden, und zwar auch unter denen, die andere Regeln für (noch) besser halten und / oder bei ihrem Zustandekommen dagegen votiert haben. Es ist das Geheimnis unserer demokratischen Verfassungen, dass dies trotz lautstarkem Streit immer wieder gelingt. Nachhaltiges Weltregieren verlangt, vergleichbare Rahmenbedingungen auch auf globaler Ebene zu schaffen.

 

Die Qualitäten, die Regeln dazu verhelfen, dass die Menschen sie in diesem Sinne nachhaltig befolgen, lassen sich in vier Gruppen einteilen:

Erstens: Wenn die Regeln angewandt werden, muss sich die Lage verbessern, die Menschen müssen spüren können, dass das Problem, für dessen Bearbeitung man die Regel zuallererst gesetzt hat, einer Lösung näher gerückt ist, dass ihr eigener Wohlstand sich mehrt oder Missstände schwinden (»Output-Legitimität«).

Zweitens: Die Regel muss annehmbar zustande gekommen sein. Die Leute müssen sich darin wiederfinden können. »Ownership« ist das Schlüsselwort, das anzeigt, dass eine vereinbarte Problemlösung nicht einigen wenigen gehört, sondern möglichst vielen. Dieses Gefühl der »Ownership« kommt normalerweise dadurch zustande, dass man irgendwie – direkt, durch Beteiligung von Repräsentanten, durch Befragungen oder Bürgerforen – an der Regelsetzung beteiligt war (»Input-Legitimität«).

Drittens: Die Regel muss änderbar sein. Es könnte sich ja herausstellen, dass sie das Problem nicht optimal löst oder dass sich das Problem verändert. Oder dass sie Kosten und Nutzen sehr ungleich verteilt. Für diese Fälle müssen sich die Betroffenen darauf verlassen können, dass die Vorschriften nicht in Zement gegossen sind, sondern sich in einem annehmbaren Zeithorizont verbessern lassen.

Viertens: Die Betroffenen müssen die »Regelgemeinschaft« als angemessen akzeptieren. Sie müssen bereit sein, mit den Partnern zusammenzuarbeiten. Es darf keine Feindschaft geben, die die Regelgemeinschaft zersprengt. Dies ist keine Eigenschaft der Regel selbst, sondern der Gruppen(n) von Menschen, die von dem zu lösenden Problem betroffen sind. Ist die Feindschaft stärker als der problembedingte Leidensdruck, so hilft die beste Regel der Welt nicht zu einer nachhaltigen Problemlösung.

 

Die Vorkehrungen, die vonnöten sind, um diese vier Bedingungen einzulösen, müssen mit drei miteinander verketteten Stolpersteinen fertigwerden, die nachhaltigem Weltregieren im Wege stehen (außer Ignoranz, Dummheit, Gier und Bösartigkeit). Es geht nicht um individuelle Unzulänglichkeiten, sondern um strukturelle Grundprobleme weltpolitischen Handelns. Diese Stolpersteine sind der Umgang mit Verschiedenheit; der Streit um Gerechtigkeit; und Krieg.

Der Umgang mit Verschiedenheit

Die Welt ist fragmentiert. Sie besteht aus 192 Staaten und mehr als 6000 Ethnien. In diesen Staaten und Ethnien konkurrieren Weltreligionen wie das Christentum (in seinen zahllosen Ausprägungen, die wiederum untereinander im Clinch liegen), der Islam (mit seinem Schisma zwischen Sunna und Schia, mit jeweils unterschiedlichen Schulen und Sekten wie den Alawiten, Drusen oder Ismaeliten, die von »Strenggläubigen« als Häretiker angesehen werden), das Judentum, der Hinduismus, der Buddhismus, der Konfuzianismus, der Taoismus, der Shintoismus sowie Naturreligionen. Ganz zu schweigen von Millionen Menschen, die areligiös sind. Und natürlich gibt es auch unterschiedliche politische Ideologien. Den Liberalismus mit seinen konservativen, sozialdemokratischen und sozialistischen Ausprägungen; den Marxismus, der immer noch seine Anhänger hat und mit Hugo Chavez eine unorthodoxe, muntere »Neo«-Form entwickelt; diverse Formen von Staatsautoritarismus, die das »Gute Regieren« von starken, autoritären Führungen abhängig sehen, so in China, Singapur oder Malaysia; diverse Kreuzungen von Religion und Politik wie in der Islamischen Republik Iran oder in der wahabitischen Monarchie in Saudi-Arabien. Nachhaltiges Weltregieren muss Wege finden, diese Vielfalt so unter einen Hut zu bringen, dass Entscheidungen möglich werden, die auf Akzeptanz stoßen. Das ist alles andere als leicht. In einem späteren Kapitel will ich mit Behutsamkeit und Vorsicht Vorschläge entwickeln, wie aus der Vielfalt wenigstens in großen Fragen Einheit erwachsen kann.

 

Im Westen herrscht eine ziemlich einhellige Meinung über das »Weltregieren«, in dem sich von den solidarischen Idealisten des Kosmopolitismus bis zu den neokonservativen Promotoren der amerikanischen Hegemonie alle einig zu sein scheinen: Es soll nach unserer Nase gehen. Wir sind im Besitz des Patentrezeptes. Die Verbindung von Marktwirtschaft und Demokratie ist das Ideal. Alle Probleme sind so zu lösen, und eine Menge Freiheit und Menschenrechte gibt es obendrein. In diesem Geiste hat Francis Fukuyama 1992 das »Ende der Geschichte« verkündet (und damit seine tiefe Unkenntnis des Geschichtlichen dokumentiert). Damit wäre die Rezeptur für die Art und Weise, wie weltweit Entscheidungen zu treffen und umzusetzen sind, bereits auf dem Tisch und weitere Diskussionen wären überflüssig. Außer vielleicht über die Feinsteuerung des »Wie«: Ob es über eine kosmopolitische Demokratie, das heißt mit einer demokratisierten UNO, erreicht werden soll oder durch eine gemeinsame Entscheidungsfindung der Demokratien, die dann auch für die anderen gleich mit entscheiden, deren Befugnis durch ihren nichtdemokratischen Charakter ausgeschlossen wird, ist umstritten. Aber der Grundsatz steht fest.

Nun bin ich als Kind des demokratischen Nachkriegsdeutschland ein ebenso überzeugter Demokrat wie die Verfechter der Weltdemokratie und glaube an unsere Werte nicht weniger als sie. Was mich von ihnen unterscheidet, ist die Bereitschaft zu größerer Demut und zum Respekt auch vor denjenigen Werten, die wir nicht so sehr mögen. Unsere Werte sind auf einem ganz bestimmten geschichtlichen Pfad gewachsen. Dass dieser Pfad mit ideologischem Unsinn verklärt wird, wie etwa dem, dass die liberalen Menschenrechte dass natürliche Produkt der »christlich-jüdischen« Tradition seien, verstärkt die gefährliche Arroganz des Westens noch. Wer auch nur rudimentäre Kenntnisse der Geschichte des christlichen Abendlandes besitzt, dem ist klar, dass die Christen buchstäblich durch Blut gewatet sind, dass die Trennung von Staat und Kirche (so weit sie reicht!) dem glücklichen Umstand eines ungefähren Machtgleichgewichts zwischen beiden in Mittelalter und früher Neuzeit entsprang (und wo ein solches Gleichgewicht nicht gegeben war, unheilvolle Allianzen entstanden, wie im Spanien der Nach-Reconquista, dem christlichen Äquivalent des Taliban-Staates). Der Kenner westlicher Geschichte weiß auch, dass sich die demokratische Gewaltenteilung ohne Zutun der Religion aus dem frühneuzeitlichen Gleichgewicht zwischen Monarchen, Adel und Bürgertum entwickelt hat. Und er ist sich dessen bewusst, dass von der Aufklärung an bis in unsere Tage hinein die Menschenrechte gegen den Widerstand der Kirche(n) erkämpft werden mussten. Diese Historie gibt wahrlich keinen guten Grund für ein kulturhistorisches Überlegenheitsgefühl. Für das Weltregieren ist aber etwas anderes entscheidend: Es hat weder Sinn, anderen die eigenen Vorstellungen für die geeignete Entscheidungsform aufzwingen zu wollen, wenn man die Kooperation der anderen braucht. Noch führt es irgendwohin, wenn man glaubt, die »Guten« könnten den »Bösen« ihre eigenen Entscheidungen aufzwingen. Beide Ansätze provozieren Widerstand und Verweigerung. Genau das kann man aber für eine nachhaltige Weltpolitik nicht brauchen. Widerstand und Verweigerung stehen einer effektiven Problemlösung im Wege. Und noch schlimmer: Beide sind der Ausgangspunkt für Gewaltspiralen. Sie öffnen das Tor des Krieges. Der übergeordnete Grundsatz für den Umgang mit der Verschiedenheit heißt daher Teilhabe. Alle wesentlichen Stimmen haben ein Anrecht, mitzureden, gleich ob sie demokratischen oder nichtdemokratischen Regierungen (oder auch Nichtregierungsorganisationen!) gehören. Übrigens fällt uns gar nicht auf, dass wir in einer Reihe von politischen Fragen einer erzundemokratischen Institution ständig Gehör schenken, oft sogar mit erheblichem Gewinn: nämlich der katholischen Kirche, deren mittelalterliches Hierarchieprinzip nun wirklich jedem überzeugten Demokraten das Herz bluten lassen muss. Wir tun das mit gutem Grund: der besteht im Respekt vor Millionen Gläubigen, die sich willig von den nicht gewählten, sondern von oben ernannten Würdenträgern der Kirche in bestimmten Fragen repräsentieren lassen. Der gleiche Respekt muss in übertragenem Sinne anderen, nichtdemokratischen Ländern gelten, solange dort Bürgerinnen und Bürger nicht in großer Zahl durch offene Rebellion bekunden, dass sie die Herrschenden nicht mehr tolerieren. Also noch einmal: Unsere Kultur ist nur eine von vielen, wenn auch aus unserer Sicht die beste und wichtigste. Politische Grundsätze, die aus dieser historisch gewachsenen Kultur entspringen, sind nicht dann universal gültig, wenn unsere klugen, lebenden Philosophen dies aus den Werken ebenso kluger, toter Philosophen logisch lückenlos ableiten. Denn auch die toten Philosophen und die Regeln der Ableitung sind auf unserem eigenen kulturellen Mist gewachsen – wir bewegen uns also immer noch im eigenen, beschränkten Kreise und nicht in der weiten Welt. Universale Gültigkeit gewinnen nur solche Prinzipien, Normen und Regeln, die tatsächlich von den Repräsentanten aller Kulturen der Welt anerkannt werden. Universalismus ist also nicht das, was wir von uns aus behaupten, aber er ist auch nicht unmöglich, wie manche philosophischen Gegenwartsströmungen wie der Kommunitarismus oder der Postmodernismus meinen. Er ist vielmehr eine Frage möglichst breiter Zustimmung. Nicht »Ableiten«, sondern Debattieren ist daher die Devise. Gerade deshalb ist die UNO so wichtig und nicht, wie manche wahrhaftig glauben, durch die NATO oder eine durch alle Demokratien erweiterte »Globale NATO« zu ersetzen oder (wenn sie nicht so entscheidet, wie wir das wünschen) auszuhebeln. Denn nur in der UNO sind wirklich alle Länder, Regionen und Kulturkreise präsent – wenn auch leider nicht überall mit gewählten Führern.

Der Streit um Gerechtigkeit

Kaum ein Wert genießt so hohes Ansehen wie die Gerechtigkeit, und um kaum eines anderen willen ist so viel Blut vergossen worden. Der Umgang mit ihm verdient daher ebenso viel Respekt wie Vorsicht. Über die Gerechtigkeit gibt es in allen Kulturen ausführliche ethische Debatten, die sich um das gute Leben und die gerechte Ordnung drehen, in die es eingebettet ist. Sehr viel weniger hat man über Gerechtigkeit im Raum jenseits von Gesellschaft und Staat nachgedacht, mit einer bestürzenden Ausnahme, der des »gerechten Krieges«. Erst in jüngerer Zeit ist der Gedanke an die Verteilungsgerechtigkeit im globalen Rahmen behandelt worden, vorerst – nicht unerwartet – ausgesprochen kontrovers.

Der »gerechte Krieg« verbindet zwei unserer drei Schlüsselprobleme des globalen Regierens. Ich will diesen Begriff einer Fundamentalkritik unterziehen. Mit dem Attribut »gerecht« verwandelt sich der Krieg von etwas Schrecklichem in etwas Gutes. Dass gerecht und gut zwei Seiten einer Medaille sind, ist seit der Antike Bestandteil westlichen Denkens; diese Überlappung ist auch dem Denken anderer Kulturen nicht fremd. Das Begriffspaar erweckt daher den Eindruck, dass es Kriege gibt, die intrinsisch gute Eigenschaften haben. Das bestreite ich. Der »gerechte Krieg« zeichnet sich dadurch aus, dass er für einen gerechtfertigten Grund geführt wird, dass er von der angemessenen Autorität (den Staatsführungen oder heute dem Sicherheitsrat der UNO) beschlossen wird, dass das Ius in Bello, das humanitäre Völkerrecht, beachtet wird, die Trennung zwischen Zivilisten und Kombattanten. Andere Möglichkeiten zur Behebung der Ungerechtigkeit, gegen die der Krieg geführt wird, müssen ausgeschöpft und die Anwendung von Gewalt proportional zu Zielen und Notwendigkeiten sein. All das sind Prinzipien, gegen die sich nichts sagen lässt. Sie rechtfertigen aber das Attribut »gerecht« nicht. Es gibt wenige völlige Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Kulturen der Welt, aber dass Gerechtigkeit »Jedem das Seine« bedeutet (übrigens auch »Jeder das Ihre«), halten sie in der einen oder anderen Form alle fest. Was das »Seine« oder »Ihre« ist, darüber wird gestritten. Aber Einigkeit besteht darin, was es nicht ist: Der gewaltsame Tod eines oder einer Unschuldigen ist immer ungerecht. Nun bringt der Krieg aber den Tod von Unschuldigen zwangsläufig mit sich. Der Kollateralschaden ist nicht ein vermeidbarer Zufall, sondern wohnt der Kriegshandlung inne. Er kommt in jedem Krieg als dessen unvermeidbarer Begleitumstand vor (das gilt übrigens auch für den Tod von zum Dienst gepressten Soldaten, die keine Chance der Verweigerung haben). Wenn der Krieg aber notwendigerweise den Tod von Unschuldigen, also eine gravierende Ungerechtigkeit, hervorruft, so kann er nicht intrinsisch gerecht sein. Der »gerechte Krieg« ist eine begriffliche Unvereinbarkeit. Damit ist nicht gesagt, dass es keine Kriege gibt, die nicht zu vermeiden sind. Die Verteidigung gegen einen Angriff oder die Hilfe für von einem wirklichen Genozid (und nicht nur dessen Behauptung) Bedrohte sind gerechtfertigt. Aber Rechtfertigung ist nicht gleich Gerechtigkeit. Auch solche Kriege sind im Kern ungerecht, weil unschuldiges Leben verlorengeht. Sie können das kleinere Übel sein, aber ein Übel sind auch sie – und ein schönfärberischer Begriff wie »gerechter Krieg« ist der psychologische oder, schlimmer, propagandistische Versuch, diese tragische Tatsache zu verschleiern. Die Diskussion des Krieges unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit hat also die Devise, die im folgenden Abschnitt vertieft wird, noch dringlicher gemacht: den Krieg, wenn es nur irgend geht, zu vermeiden.

Der zweite Aspekt von Gerechtigkeit betrifft die Verteilung von Gütern. Wir leben in einer Welt horrender Ungleichheit. Der geringste Teil davon ist individuell selbst verschuldet. Menschen werden in Lebenslagen hineingeboren, die dem Aufstieg zu einem guten Leben hohe Barrieren in den Weg stellen. Sie sind nicht unüberwindlich, aber sich aus einer solchen Lage herauszuarbeiten verlangt so viel Kraft, um die Hindernisse zu überwinden und die (teils bösartigen) aktiven Widerstände hinter sich zu lassen, dass nicht jeder und jede den Erfolg schaffen kann. Unendlich leichter hat es das Akademikerkind, das eine Bildung erhält, welche seine Karrierechancen enorm erhöht, die Anwaltstochter, die schon in der Schule weiß, dass sie einmal in die gutgehende Kanzlei einsteigen kann, oder der missratene Sohn aus dem Fürstenhaus, der es auch bei gröbstem Eigenversagen schlechterdings nicht fertigbringt, in ein materiell elendes Leben abzusinken. Ein gewisses Maß an Ausgleich für diese profunde Chancenungleichheit erscheint nicht unbillig.