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Was passiert, wenn die Dinge, die wir erschaffen, uns gar nicht mehr brauchen? Vincent ist siebzehn und eine Doppel-C-Seele. Sein Sozialpunktestand ist so niedrig, dass an ein Studium nicht zu denken ist. Stattdessen repariert er heimlich die mechanischen Haustiere der Firma Copypet. Eines Tages bringt eine alte Frau eine Katze zur Reparatur. Und die führt Vincent geradewegs in die Simulation – eine virtuelle Welt, in der alle unsere Gegenstände ihr digitales Leben führen. Verborgen in dieser Zwillingswelt aber liegt ein Code. Vincent muss ihn finden, denn davon hängt die Zukunft der Menschheit ab. Margit Ruile erzählt vom Internet der Dinge, einer Welt, in der die digitalen Zwillinge unserer Maschinen und Alltagsgegenstände miteinander vernetzt sind zu einer gigantischen K.I. Ein Thriller mit einem außergewöhnlichen Zukunftsszenario im Stil von Black Mirror.
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Seitenzahl: 350
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INHALT
Widmung
TEIL EINS Doppel B
Kapitel 1 – Der Tag begann …
Kapitel 2 – Als Vincent die …
Kapitel 3 – Während sein Vater …
Kapitel 4 – Die Reparatur der …
Kapitel 5 – Die alte Villa …
Kapitel 6 – Vincent schloss die …
Kapitel 7 – Ungefähr eine halbe …
Kapitel 8 – Die nächsten Tage …
Kapitel 9 – Die Tür zum …
Kapitel 10 – Die chinesische Trickbox …
TEIL ZWEI Ouroboros
Kapitel 11 – Die Zweigstelle des …
Kapitel 12 – »Dich schickte der …
Kapitel 13 – Vincent setzte mit …
Kapitel 14 – Es dauerte lange, …
Kapitel 15 – Es regnete in …
Kapitel 16 – »Du?«, fragte Vincent. …
Kapitel 17 – Wenig später saßen …
Kapitel 18 – Ein unterdrücktes Flüstern …
Kapitel 19 – Ein scharfer Schmerz …
Kapitel 20 – Die Katze sprang …
Kapitel 21 – Vincent spürte einen …
Kapitel 22 – Der Wolf jaulte …
Kapitel 23 – Die Tür fiel …
Kapitel 24 – Vincent war, als …
Kapitel 25 – Als Vincent aus …
Kapitel 26 – »Alles in Ordnung …
TEIL DREI Orrery
Kapitel 27 – Stephens E-Shop lag …
Kapitel 28 – »Du meinst die …
Kapitel 29 – »Du hast sie …
Kapitel 30 – Der 3-D-Scanner hatte …
Kapitel 31 – Als er die …
Kapitel 32 – Sie betraten ein …
Kapitel 33 – »Was ist, Vincent?«, …
Kapitel 34 – Vincent starrte ihn …
Kapitel 35 – Ein schrecklicher Schrei …
Kapitel 36 – Es gab einen …
Kapitel 37 – Die Tür sah …
Kapitel 38 – Schwarz. Es war …
Kapitel 39 – Es war Morgen, …
Bisher von Margit Ruile im Loewe Verlag erschienen
Über die Autorin
Weitere Infos
Impressum
TEIL EINS
Doppel B
1
Der Tag begann mit einem Klopfen. Drei kurze Schläge an der Haustür, gefolgt von einer kurzen Pause und dann wieder drei Schlägen, die diesmal schon ungeduldiger klangen. Vincent wachte davon auf, zog sich die Bettdecke über den Kopf, blieb noch eine Weile still liegen und hoffte, dass das Geräusch einfach von selbst verschwinden würde oder dass zumindest sein Vater aufstehen und die Tür öffnen würde, wobei Letzteres eigentlich ziemlich unwahrscheinlich war.
Nach einer Weile verließ er fluchend die warme Höhle seiner Bettdecke und ging barfuß die Treppe hinunter. Als er die Haustür öffnete, stand eine alte Frau vor ihm. Sie musste irgendwas zwischen sechzig und achtzig sein, so genau konnte er das nicht schätzen. Jedenfalls hatte sie weiße Haare, die zu einem komischen Turm hochgesteckt waren, und trug einen lila Mantel, der sich grell von den grauen Häusern im Hintergrund abhob. Um sie herum schwirrten kleine Schneeflocken. Es war zwar bereits Mitte März, aber es schneite immer noch, wenn auch hinter den Häusern eine kalte Sonne hervorblitzte.
»Bist du Vincent?«, fragte sie. Ihre Stimme war tief und ein bisschen kratzig.
Vincent nickte. Seine Zehen zogen sich über dem kalten Steinboden zusammen. Die Frau umgab etwas Geheimnisvolles, als käme sie aus einer anderen Welt. Nun, wahrscheinlich war sie nur aus einem anderen Stadtviertel. Aus einem, wo die Menschen wohlhabender waren als hier. Sie sah aus wie jemand mit einem A-Punktestand. Ihr langer pinkfarbener Seidenschal flatterte im kalten Wind und vor sich hielt sie ein großes Paket, als würde sie es umarmen. Vincent bemerkte den irritierten Ausdruck in ihrem Gesicht und ihm wurde schlagartig bewusst, dass er nur in Shorts und einem schlabbrigen T-Shirt vor ihr stand.
»Delia schickt mich«, sagte sie förmlich.
Vincent beschloss, sich zusammenzureißen. »Sie haben einen Auftrag?«, fragte er und richtete sich auf. Warum mussten die Leute auch am Samstag in aller Herrgottsfrühe aufkreuzen?
Die Frau deutete mit dem Kopf auf das Paket vor sich.
»Ich hoffe, du arbeitest auch samstags.«
»Ich arbeite immer.«
»Keine Schule?«
Vincent konnte nicht verhindern, dass er rot wurde. »Dafür ist mein Punktestand zu schlecht.«
»Verstehe«, sagte die Frau und musterte ihn lange.
Vincent vermied es, sie anzusehen, und starrte stattdessen auf das Paket. Es war eigentlich mehr eine quadratische Schachtel, mit einem Deckel, der sie oben schloss. Die Schachtel sah teuer aus. Reflektierendes Papier und so. Wie ein teures Geschenk. Wenn die Frau deswegen hier war, dann konnte er einiges dafür verlangen.
»Mir ist übrigens kalt.«
»Oh. Ja. Entschuldigung!« Er kratzte sich am Kopf. »Kommen Sie rein!«
Die alte Frau brachte Kälte und ein paar verirrte Schneeflocken in die Diele und Vincent war froh, endlich die Tür hinter ihr schließen zu können. Er wollte ihr das Paket abnehmen, damit sie den Mantel ausziehen konnte, doch sie schüttelte nur den Kopf und legte es behutsam auf einen Hocker im Flur. Vincent stellte sich hinter sie, nahm ihr den Mantel ab – oh, er hatte Erfahrung mit Kunden! – und fand noch einen winzigen freien Haken an der mit Mänteln und Jacken zugehängten Garderobe. Sie standen beide im Halbdunkeln und Vincent bedauerte plötzlich, dass er vergessen hatte, die kaputten Birnen in den Lampen über ihm auszutauschen. Es sah so … unprofessionell aus. Eigentlich sah alles hier verdammt unprofessionell aus. Er räusperte sich. »Wenn Sie einen Moment warten würden …« Dann lief er schnell nach oben, schlüpfte in seine Jeans und ein halbwegs sauberes Sweatshirt und zog Socken über seine eiskalten Füße. Die Frau musterte ihn, als er die Treppenstufen wieder herunterkam. Sie hatte ihr Paket wieder in der Hand und drückte es an sich, als ob sie es vor ihm schützen müsste.
»Man sagte mir, du wärst so was wie ein Experte.«
»Ja. Äh, das stimmt.«
»Du siehst so jung aus.«
»Ich werde bald achtzehn.«
»Aha.« Sie schwieg und sah auf ihr Paket. »Und – du machst das schon lange?«
»Seit ich denken kann«, antwortete Vincent. Nun, das stimmte nicht ganz, aber es klang ganz gut. Er nahm ihr behutsam das Paket ab. »Sie können mir jetzt in meine Werkstatt folgen!«, fügte er hinzu. Also das klang doch nun halbwegs professionell und es machte sicher den miesen Auftritt an der Tür vorhin wieder wett! Sie gingen durch den langen engen Flur, wobei Vincent mit einem Bein schnell die Tür zur unaufgeräumten Küche zukickte, und betraten schließlich einen abgedunkelten Raum rechts am Ende des Ganges. Vincent balancierte das Paket in einer Hand und warf mit der anderen ein paar Kabel von einem Stuhl, der neben dem Eingang stand, um ihn der Frau anzubieten. Dann ging er zum Fenster und zog die Jalousien hoch. Es wurde furchtbar hell, Staubteilchen schwebten durch die sonnendurchwebte Luft und ließen sich dann auf den Schrauben und Hämmern, den Ersatzteilen, Tierhaaren und Gelenken nieder. Die Frau blickte sich beeindruckt um, während Vincent mit einer schnellen Bewegung eine geöffnete Vogeldrohne zur Seite wischte. Unter ihr kam eine zerkratzte Arbeitsplatte zum Vorschein, auf die er das Paket stellte.
Die alte Frau setzte sich, sah von der Schachtel zu Vincent und wieder zurück.
»Und du wirst nichts hiervon weitererzählen?«
»Ich unterhalte mich nie über meine Arbeit«, erklärte Vincent. Stimmte nun auch nicht ganz, aber was soll’s.
»Ich will vor allem, dass Copypet nichts davon erfährt.«
»Darauf können Sie sich verlassen«, sagte Vincent. Natürlich konnte sie das.
Schließlich machte er hier günstig eine Arbeit, die dort ein paar Hundert Ether kosten würde. Mindestens. »Wenn Sie mich nicht bei Copypet verraten, werde ich auch nichts über Sie erzählen.«
Die Frau lehnte sich zurück. »Gut.«
Sie schwiegen beide und Vincent spürte ein Kribbeln an seinen Schläfen. Er hatte schon alle möglichen Leute hier gehabt, aber noch nie jemanden, der seine Verschwiegenheit eingefordert hatte. Bislang war es immer er gewesen, der seine Sozialpunkte aufs Spiel gesetzt hatte. Was auch immer in dieser Schachtel war, es musste etwas sehr Besonderes sein. Ein Sondermodell? Ausschussware? Eine Betaversion?
Nach einer schweigenden Ewigkeit hob die alte Frau den Deckel der Schachtel und zog aus dem Inneren einen länglichen Gegenstand, der in blau schillerndes Seidenpapier gewickelt war, das sie nun mit einem leisen Rascheln entfernte. Vincent hielt den Atem an. Es war eigentlich das, was er gedacht hatte. Nein, es war sogar besser. Es war eine Katze. Genauer eine Angorakatze, rotbraun-weiß gestreift. Ein unglaubliches Exemplar mit perfekten Schnurrhaaren und fein modellierten spitzen Ohren. Unglaublich echt.
»Das ist eine 303«, flüsterte er.
Die alte Frau warf ihm einen kurzen Blick zu. Vincent streckte unwillkürlich seine Hand aus. »Darf ich?«
»Nur zu!«
Er strich der Katze über das Fell. Es war sehr weich, lang. Man munkelte, dass sie nachgezüchtete Katzenhaare dafür nahmen und dass jedes Haar einzeln eingesetzt wurde.
»Hast du so eine schon einmal gesehen?«
Vincent schüttelte den Kopf. »Nein, so eine noch nicht.«
Die Frau stellte die Katze auf den Tisch und drückte lange auf einen Knopf hinter den Ohren. Die Katze zuckte und dann erhob sie sich. Sie drehte ihren Kopf zu Vincent und starrte ihn an, ihre Pupillen wurden kleiner und er spiegelte sich in ihren Bernsteinaugen. Die Schnurrhaare zitterten leicht und ihr Fell hob und senkte sich, als würde sie atmen. Er legte ihr die Hand auf den Rücken. Sie hatte sogar Körpertemperatur. Die Katze starrte ihn an und miaute, dann entzog sie sich ihm und lief zu der Frau, die ihr langsam und zärtlich über das Fell fuhr.
»Sie ist unglaublich«, sagte Vincent.
Die Frau lächelte, strich der Katze über den Kopf, die sich unter der Berührung leicht duckte und anfing zu schnurren. Die Frau fasste in das Fell hinter dem Ohr, drückte leicht und die Katze fror mitten in der Bewegung ein. Ihre linke Pfote blieb in der Luft hängen, sie sah nun aus wie eine dieser chinesischen Winkekatzen, die sie nebenan im China-Shop verkauften. Nur natürlich viel, viel echter.
»Und was hat sie?«, fragte Vincent.
»Ich möchte nur, dass du einen kleinen mechanischen Fehler korrigierst.«
Vincent sah sie an. Ein kleiner mechanischer Fehler. Nun, das klang nicht besonders dramatisch.
»Was verlangst du denn normalerweise für so was?«
»Das kommt ganz drauf an, wie lange ich brauche«, antwortete Vincent vorsichtig.
»Ich würde lieber einen Pauschalpreis machen«, sagte die Frau.
»Hmm.« Vincent starrte auf die Katze, taxierte die Schachtel und dann die Frau, die mit ihren schwarzen Lederhandschuhen und in einem teuren Hosenanzug vor ihm saß. »Vierzig Ether.« Als er die Zahl nannte, wurde ihm kurz schwindelig. Es war das Doppelte von dem, was er sonst nahm. Auch bei komplizierten Sachen.
»Vierzig Ether geht in Ordnung.« Die Frau zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Vincent biss sich auf die Lippe, um sein breites Grinsen zu verbergen, das von einem jäh aufwallenden Triumphgefühl ausgelöst wurde. Doch in seine Freude mischte sich plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht. Nein, wenn er genau darüber nachdachte, dann stimmte wirklich etwas nicht.
»Wie alt ist sie eigentlich?«, fragte er und deutete auf die mechanische Katze.
»Sie ist ein 2057er-Modell vom Herbst.«
»Herbst 2057? Das ist ja noch nicht mal sechs Monate her.«
»Richtig.«
»Aber wieso kommen Sie dann zu mir? Sie hat mindestens noch zwei Jahre Garantie und Copypet würde es Ihnen umsonst reparieren.« Im selben Moment verfluchte er sich, dass er das gesagt hatte. Wieso musste er so ehrlich sein? Lebt wohl, schöne Ether-Dollars!
Ein Schatten zog sich über das Gesicht der Frau. »Ich fürchte, sie würden zwar den Fehler beheben, aber sie mir dann wegnehmen.«
»Wieso wegnehmen?«
Sie blickte ihn lange an. »Siehst du. Genau deswegen bin ich hier.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Vincent langsam.
Die Frau sah ihn an und streifte dann ihre langen schwarzen Handschuhe ab.
Vincent zuckte zurück. Auf ihrem Unterarm und ihren Händen zeichneten sich rote Kratzer ab. Manche waren rot und schienen frisch zu sein, dann gab es welche, die schon ganz vernarbt waren.
»Ist das von ihr?«, fragte Vincent.
Die Frau nickte.
Er sah sie kurz verwirrt an. »Sie hat Krallen?«
»Nach was sieht es aus?«
Er starrte auf die Katze, die auf dem Tisch lag, und untersuchte ihre Pfoten.
»Ich kann nichts sehen.«
»Sie sind in der Mechanik verborgen. Aber sie kann sie ausfahren.«
»Wieso sollte Copypet ein Modell mit Krallen auf den Markt bringen, das die Besitzer kratzt?«
Die alte Frau schob die Schultern hoch. »Ich kann sie nicht fragen, denn ich habe sie nicht von Copypet.«
»Sie haben sie von jemand anderem gekauft?«
»Es gibt da einen Laden. In der Sophienstraße.«
»Aber …« Vincent zögerte. »Ist das legal?«
Die Frau lächelte. »Genauso legal wie dein kleiner Reparaturbetrieb.«
Sie sahen sich an. »Dann war sie so etwas wie ein Sondermodell?«, fragte Vincent.
Die Frau beugte sich vor. »Ich lasse sie mir nicht wegnehmen, verstehst du? Sie ist meine Katze.«
»Aber es ist nicht normal, dass sie kratzt«, wandte Vincent ein.
»Was normal ist und was nicht, ist mir egal. Ich will nur, dass du das reparierst. Entferne einfach die Krallen! Kannst du das?«
»Genau kann ich das erst sagen, wenn ich in ihr Inneres gesehen habe«, sagte Vincent vorsichtig. Er blickte in ihr Gesicht, auf dem sich wieder der Zweifel breitmachte.
»Ich werde mich bald darum kümmern«, sagte er schnell.
»Was ist bald?«, fragte die Frau.
»Keine Ahnung.« Vincent ließ seinen Blick zu dem verdrahteten Meerschweinchen wandern, das geöffnet neben ihm im Regal lag. »Wenn alles gut geht, dann kann ich Samstag nächster Woche damit anfangen. Dann ist sie Ende übernächster Woche fertig.«
»Ende übernächster Woche?« Die alte Frau seufzte. »Das ist eine lange Zeit.« Sie öffnete ihre Handtasche, ein winziges kleines Ding mit funkelnden Nieten, und zog eine Geldbörse heraus, in der sie herumkramte, um dann endlich einen Schein auf den Tisch zu legen. »Vielleicht kannst du es ja doch schneller möglich machen.«
Vincent starrte auf das Papier vor sich. Es war tatsächlich ein Geldschein!
Ein alter Hunderteuroschein.
»Du kannst ihn in der Zentralbank eintauschen«, sagte die Frau, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Er ist immer noch einiges wert.«
»Ich weiß«, sagte Vincent, ohne den Blick von dem Schein zu wenden. »Man bekommt einen Wert zu Ether von 10:1.«
»Möglich«, sagte die alte Frau. »Du wirst sie mir bald vorbeibringen, nicht wahr?«
Vincent konnte sich ihrem Blick nicht entziehen. »Dieser Schein, ist das jetzt so was wie eine Anzahlung?«
Die Frau lächelte leise und zog noch etwas aus der Handtasche. Es war eine lila Visitenkarte, die sie vor Vincent auf den Tisch heftete und die darauf genauso leuchtete wie vorher ihr Mantel vor den grauen Häuserzeilen.
»Das ist keine Anzahlung. Das ist ein Geschenk.«
Vincents Herz klopfte. Wann hatte er zum letzten Mal ein Geschenk erhalten? Es war so lange her, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte. Heute war ein guter Tag, definitiv. Ein sehr guter Tag!
Er begleitete die alte Frau zur Tür, half ihr in den Mantel und öffnete die Haustür. Da drang ein kalter Wind in die Diele und ließ ein graues Papier hochfliegen und langsam wieder zu Boden segeln. »Ich glaube, das hier ist für dich!« Die Frau schob das Papier mit der Spitze ihrer lila Stiefel zu Vincent hin. Der sah verwirrt nach unten. Tatsächlich – da lag ein Brief. Ein graues unscheinbares Kuvert. War es vorhin auch schon da gewesen? Vincent bückte sich und hob den Brief auf. Er knisterte in seiner Hand.
»Es muss ziemlich eilig sein, wenn sie es am Samstag zustellen«, bemerkte die alte Frau.
»Mmm. Ja, wahrscheinlich«, murmelte Vincent. Die alte Frau hatte recht. Einen Brief zu bekommen war schon seltsam. Einen Brief am Samstagmorgen zu bekommen, noch sehr viel seltsamer.
»Wie auch immer.« Die alte Frau sah Vincent an. »Ich werde dich bald sehen, nicht wahr?«
»Darauf können Sie sich verlassen«, antwortete Vincent. Sie nickten sich zum Abschied zu. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, sah Vincent auf den Brief. Natürlich. Er war an seinen Vater adressiert. Vincent überlegte kurz, ob er ihn zu den anderen ungeöffneten grauen Briefen unter der Garderobe legen sollte, doch dann entschied er sich anders und nahm ihn mit in die Werkstatt.
2
Als Vincent die Werkstatt betrat, hatte er den Brief schon fast wieder vergessen. Hier roch es nun leicht nach Lavendel. Selbst die Katze, die mit ihren langen seidigen Haaren auf dem Tisch lag, verströmte diesen Geruch, der irgendwie auch gut zu der lila Visitenkarte passte, die die Frau ihm hinterlassen hatte. Alina Sartorius. Der Name stand darauf in einer altmodisch geschwungenen Schrift, mit Initialen, die die anderen Buchstaben überragten wie aufziehende Wolken. Vincent drehte die Karte in seinen Händen. Er hatte schon öfter merkwürdige Kunden gehabt, aber diese Alina Sartorius war schon sehr besonders. Jedenfalls hatte sie ihm Geld gegeben, viel Geld sogar, einen Hunderteuroschein, den er sorgfältig zusammenfaltete und in seine Hosentasche steckte. Er würde gut zu seiner Sammlung alter Dinge passen, von denen er einige unter dem Tisch in seiner Werkstatt hortete. Sie umfasste eine silberne Taschenuhr sowie eine chinesische Trickbox mit aufwendigen Intarsienarbeiten, nicht größer als eine Zigarrenkiste. Der Deckel zeigte eine schwarz-weiß gestreifte Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss. Ferner eine Reiseschreibmaschine namens Erika mit einem ausgeleierten Farbband, die einen unbeschreiblichen Krach machte, wenn man darauf schrieb, ein altes und zerlesenes Exemplar von Der Meister und Margarita, das ihm einmal seine Mutter geschenkt hatte, einen braunen Plattenspieler mit einem Plexiglasdeckel und dazu zwei Schallplatten. Die eine stammte von einer Band aus dem letzten Jahrhundert, die sich Rolling Stones nannte. Auf dem Cover streckte sich ihm eine rote Zunge entgegen. Auf der anderen war etwas Klassisches zu hören. Ein Violinkonzert oder so. Der Schein passte gut dazu. Ein Geschenk! Das war ungewöhnlich großzügig, was gar nicht zu jemandem passte, der so aussah wie sie. Außerdem hatte sie ihm ihre Katze dagelassen. Eine K303! Er hatte schon einiges über sie gelesen. Ihr Gang wurde durch die mehr als dreihundert Hebelverbindungen so geschmeidig, sie hatte mehr als zweihundert unterschiedliche Lautäußerungen – ihr Miauen und Schnurren klang daher völlig echt – und ihr standen mehr als fünfhundert Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Außerdem war sie so programmiert, dass sie immer mehr von ihrem Besitzer lernte und sich auf ihn einstellen konnte. Sie war der perfekte Katzenersatz für jemand, der Katzen liebte. Allerdings war das mit den Pfoten schon merkwürdig. Ob die alte Frau sich nur wichtigmachen wollte? Vincent nahm eine Pfote in die Hand. Sie war vollkommen weich und unauffällig, so wie er es bei den anderen, billigeren Exemplaren schon gesehen hatte. Er beugte sich über das künstliche Haustier und suchte in dem langen Fell nach den Schrauben. Es gab genau drei davon. Er drehte die Schrauben erst mit dem Schraubenzieher und dann mit der Hand aus dem Gewinde. Sie funkelten rötlich in der Sonne, als er sie in einen umgedrehten Dosendeckel legte, damit sie nicht vom Tisch rollten. Wahrscheinlich waren sie aus Platin. Dann öffnete er behutsam den Brustkorb der Angorakatze und legte die Platte mit den Haaren zur Seite. Er pfiff leise durch die Zähne, als er die Verdrahtungen vor sich sah. Alles vom Feinsten! Wie er diese Mechanik liebte! Gespannte Federn und Hebel. Er mochte das leise Klicken von Schaltern, das Klappern von Ketten. Sie führten ihn in eine Welt und eine Zeit, die weit vor seiner Geburt lag. Es war eine Welt der Dinge, die man anfassen konnte. Schon als Kind hatte er die silberne Taschenuhr bewundert, die er von seinem Großvater geerbt hatte. Die Zahnräder hinter dem Uhrglas hatten ineinandergegriffen. Morgens ließen sie den Mond und die Sterne unter den Zeigern verschwinden und kurz darauf die Sonne aufgehen. Als ob es die Zeiger wären, die die Mechanik des ganzen Himmels antrieben. Nachdem er mühelos die Uhr einmal auseinandergebaut und dann wieder zusammengesetzt hatte, begriff er, dass er etwas konnte, was sonst niemand konnte. Er sah sich einen mechanischen Gegenstand an und verstand, wie er funktionierte. Er konnte ihn reparieren. Er war ein Zauberer, der diese Dinge wieder zum Leben erweckte. So – wie jetzt! Er griff in den Nacken der Katze und schaltete sie ein. Es gab ein kleines metallisches Klicken. Die geöffnete Katze schlug die Augen auf und starrte ihn aus großen bernsteinfarbenen Augen an. In diesem Moment hörte er ein Miauen unter sich.
»Behemoth?«
Der Kater strich ihm um die Beine. Er war pechschwarz, so wie der andere Kater, von dem er seinen Namen hatte. Behemoth, der Teufelskater aus Der Meister und Margarita, dem Lieblingsbuch seiner Mutter. Sie hatte den Kater so genannt, als er zu ihnen kam, ein junges, täppisches Kätzchen, das gut zu Vincent gepasst hatte, als der ein Kind war, und das mit ihm zusammen groß geworden war. Jetzt war Vincent allerdings erst knapp erwachsen, während Behemoth schon auf das Ende seines Lebens zuging, was ein bisschen ungerecht war, wenn Vincent genau darüber nachdachte.
»Du bekommst gleich was zu fressen, versprochen!« Er hob Behemoth hoch und setzte ihn auf den Tisch neben die künstliche Katze. Trotz seines Namens hatte der Kater nichts Teuflisches. Er war eher ein wenig faul und übergewichtig.
»Und wie findest du sie?«
Der Kater fauchte die Angorakatze an, machte einen Buckel und streckte seine Pfote aus. Vincent musste lachen. Es war fast immer so. Grundsätzlich mochte Behemoth mechanische Tiere lieber, je unähnlicher sie ihm waren. Insekten und ihre Drähte liebte er, doch mit allen Säugetieren hatte er seine Schwierigkeiten, vor allem mit Hamstern und Hasen. Besonders aber hasste er künstliche Katzen. Kein Wunder, dachte Vincent, auch er selbst fühlte sich in der Gegenwart von künstlichen Menschen unwohl. Ihm lief immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn er so einen Twin erkannte, vor allem wenn er täuschend echt war. Sie bekamen sie mittlerweile fast so gut hin wie die Haustiere.
»Ganz ruhig, Behemoth!« Vincent zog behutsam den Kater weg und setzte ihn auf den Boden. »Wir werden sie nicht behalten, keine Angst! Ich werde sie ein bisschen verbessern und dann zurückgeben.«
Behemoth miaute und sah Vincent fragend an. Der seufzte und ging zu einem Regal, das sich rechts neben dem Fenster befand und aus dem er eine Büchse hervorzog. Er öffnete sie mit einem Schraubenzieher und füllte das Fleisch in einen Napf, der in der Ecke stand. Das Verfallsdatum auf der Büchse war vor ein paar Jahren abgelaufen, aber Behemoth schien das Futter immer noch zu bekommen. Es gab keine Katzennahrung mehr, seitdem es kaum noch Katzen gab. Also keine echten Katzen. Behemoth war eines der letzten seltenen Exemplare.
»Dich müsste man auch mal umprogrammieren, dann frisst du nicht so viel!«, sagte Vincent leise. »Hast du gesehen? Sie hat mir einen Hunderteuroschein dagelassen! Einen Schein! Verrückt, was?«
Während Behemoth sich mit einem fröhlichen Schlabbern über die Fleischstücke hermachte, beugte sich Vincent über die Katze und verfolgte die Kabel und die Verdrahtung, die sich nach unten zog. Dann sah er die Krallen. Sie waren unter einer Platte verborgen, die mit vier winzigen Schrauben am Pfotengelenk verbunden war. Die beiden äußeren Schrauben hatten einen Torx-Kopf, der aussah wie ein Stern mit sechs abgerundeten Zähnen, die beiden Schrauben in der Mitte jedoch hatten neun Zähne. Neun! Es gab keine Torx-Schraubenzieher mit neun Zähnen. Nirgendwo. Klar, sie wollten nicht, dass Leute wie er an ihren Tieren herumschraubten. Wahrscheinlich wollte Copypet verhindern, dass jemand die Platte öffnete, der nicht zu ihnen gehörte. Aber wenn er die Platte nicht öffnete, konnte er die Krallen nicht ziehen. Er nahm einen seiner anderen Schraubenzieher und versuchte, die Platte aufzustemmen. »Verdammt!« Er hatte es stattdessen geschafft, die Krallen auszufahren, und eine davon hatte seinen Daumen erwischt. Ein Blutstropfen lief ihm über den Finger, den er schnell in den Mund steckte. Er biss auf die Haut, um den Schmerz zu unterdrücken.
»War das ein neuer Auftrag?«
Vincent drehte sich um. Paul, sein Vater, stand hinter ihm in der Tür. Er trug seinen zerknitterten Malerkittel über einem alten T-Shirt. Seine Haare waren ungekämmt und an seinen Händen Farbflecken. Vincent konnte nicht recht sagen, ob er seinem Vater ähnlich war, denn wenn man beide zusammen auf Fotografien sah, würde man nicht vermuten, dass sie Vater und Sohn waren. Sein Vater war groß und seine Haut wurde schnell braun, wenn er in die Sonne ging. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, er hatte schwarze krause Haare, durch die sich ein paar Silberfäden zogen, und dunkle Augen. Vincent dagegen war ganz das Kontrastprogramm: helle Haut, rote Haare, graugrüne Augen. Genau wie seine Mutter – so wurde es ihm zumindest immer gesagt. Wurde allerdings aus dem starren Bild ein bewegtes, aus dem Foto ein Film, dann konnte man sehr wohl eine Ähnlichkeit zwischen den beiden entdecken. Vincent und sein Vater hatten die gleiche Art zu laufen, die Schulter hochzuziehen und das gleiche, fast schüchterne Lachen. Sein Vater kam näher. Er roch nach Terpentin. Ja, es war Terpentin und nicht Alkohol, wie Vincent erleichtert feststellte. Er beugte sich mit Vincent über die Katze und die zeigte ihm die Krallen.
»Die sieht wahnsinnig echt aus.«
»Es ist ein 303er-Katzenmodell von letztem Jahr.«
»Ist … das was Besonderes?«
Vincent nickte. »Es gibt zurzeit nichts Besseres. Eigentlich unterscheidet sie nicht mehr viel von Behemoth.«
Der Kater unter ihm miaute, als er seinen Namen hörte.
»Wie Behemoth, bis auf die Abschaltfunktion.« Paul lächelte leise. Er hielt Abstand zu der Katze und zu Vincent, fast so, als wäre Vincent ein Magier, der die Fähigkeit hatte, tote Materie zu erwecken. Die leise Bewunderung, die aus dieser Geste sprach, freute und ärgerte Vincent zugleich. Er zog noch einmal an seinem Daumen, spürte den metallischen Blutgeschmack auf seiner Zunge und sah sich die Wunde an. Es war ein gerader messerscharfer Kratzer, der relativ tief war und seine Haut sauber spaltete.
»Brauchst du ein Pflaster?«, fragte sein Vater.
»Nein, geht schon, es blutet nicht mehr.«
»Und was hat sie?«, fragte Paul.
»Mhmm. Ich muss was an der Mechanik verändern. Die alte Frau, der sie gehört, möchte, dass ich die Krallen ziehe.«
»Ist das schwierig?«
»Eigentlich nicht«, Vincent seufzte. »Aber jetzt komme ich nicht weiter.«
»Wieso?« Paul sah die Katze prüfend an.
»Mir fehlt ein Schraubenzieher.«
»Was für ein Schraubenzieher?«
»Eine bestimmte Art von Torx-Schraubenzieher. Mit neun Zähnen statt mit sechs. Ich werde mal in den Laden gehen, wo sie die Katze herhat.«
»Gute Idee«, murmelte Paul ohne großes Interesse. Sein Blick fiel auf die Visitenkarte.
»Ist das von ihr?«, fragte er.
»Mhmmhmm.«
»Sehr … lila!« Paul tippte mit dem Finger auf die Karte und hielt seine Hand in vielleicht zwanzig Zentimeter in der Luft darüber. Ein Hologramm erschien, das eine efeuumrankte Villa mit roten Fensterläden zeigte. Eine große, runde Treppe führte zu einer mit aufwendigem Schnitzwerk verzierten Eichentür.
»Nicht schlecht, oder? Würde mir auch gefallen.«
Er hob die Hand ein wenig höher und die Villa wurde kleiner, man konnte nun die Straße erkennen, andere kleine Villen und Seitenstraßen. Er hob sie noch höher und eine Miniaturausgabe der Stadt wurde sichtbar.
»Akazienweg. Steinhausen. Gute Gegend, wenn du mich fragst.«
»Mhmm«, sagte Vincent.
»Und was wirst du verlangen?«, fragte ihn Paul und schloss die Hand. Das Hologramm verschwand.
»Vierzig Ether.«
Paul musterte ihn überrascht. »Das ist gut. Das heißt, wir haben Geld bis Juni. Bis dahin habe ich sicher auch noch ein, zwei Bilder verkauft. Vielleicht könnten wir mal in den Urlaub fahren!«
Vincent sah seinen Vater an. Er würde keine Bilder verkaufen und auch nicht in den Urlaub fahren und sie beide wussten das. Er fasste in seine Hosentasche und spürte dort den Geldschein. Eigentlich sollte er noch von dem Geldschein erzählen. Andererseits … Würde er ihn überhaupt einlösen? Vielleicht würde er ihn auch einfach behalten. Er mochte ihn nicht hergeben. Warum, das konnte er selbst nicht genau sagen.
»Sie ist ziemlich weit gefahren, um dir die Katze vorbeizubringen«, bemerkte Paul, der immer noch ganz in die Visitenkarte vertieft war. »Das könnte uns ganz neue Möglichkeiten eröffnen!«
Vincent konnte nicht sagen, warum, aber das uns störte ihn.
»Ein neues Viertel. Ein neuer Markt!«, fuhr Paul fort. Vincent sah ihn an. Seine Augen waren gerötet, wahrscheinlich hatte er wieder die halbe Nacht in seinem Atelier verbracht und so getan, als würde er malen. Das Schlimmste war, dass er vermutlich wirklich nur so getan hatte.
Vincents Vater legte die Visitenkarte direkt unter Vincents Nase. »Wenn du da bist, tu mir einen Gefallen, ja! Schau auf die Wände! Vielleicht braucht sie Bilder.«
»Aber …«
»Nimm zur Sicherheit meinen Katalog mit. Zeig ihr die Sachen. Ich werde was zusammenstellen. Eine kleine Auswahl. Du weißt, ich kann alles malen. Zur Not sogar Katzenbilder.«
Vincent seufzte. »Kannst du sie nicht einfach digitalisieren und ihr schicken?«
»Du weißt, dass das nicht das Gleiche ist. Man muss sie anfassen können. Ich meine, richtig anfassen.«
Vincent hasste diesen flehenden Blick aus den Augen seines Vaters. Er wünschte, Paul müsste nicht darüber nachdenken, Katzenbilder für reiche Leute zu malen. Er wünschte, er wäre ein echter Künstler und würde irgendwelche unverständlichen abstrakten Bilder malen, die dann in teuren Galerien ausgestellt werden würden. Er wünschte, er selbst bekäme Stipendien und müsste nicht an den Geldschein in seiner Hosentasche denken, als handle es sich dabei um einen Rettungsanker. Er wünschte, ach, er wünschte sich, seine Mutter wäre hier und würde seinem Vater all das sagen.
»Also, gehst du?«, fragte Paul.
Vincent seufzte und strich Behemoth über seinen schwarzen Pelz. »Erst mal muss ich diesen Schraubenzieher finden.«
3
Während sein Vater begann, Katzenbilder zu malen, machte sich Vincent noch am gleichen Nachmittag zu dem Laden in der Sophienstraße auf. Er war schon lange nicht mehr in der Gegend gewesen und wunderte sich über die vielen neu gebauten schicken Hochhäuser. Vor einigen Jahren war hier noch C-Gebiet. Jetzt sah alles nach einem blitzblanken Doppel A aus. Die bunten Läden mit den zusammengewürfelten Plastiksandalen, den Kunstblumen und den billigen Reisetaschen waren verschwunden. Nur noch eine bröckelige Mauer, auf die jemand vor langer Zeit The City is not for sale gesprüht hatte, erinnerte daran. Dahinter schimmerte die neue Fassade des Bahnhofs, ein Glasquader, der so aussah wie ein gestrandetes Raumschiff. Es war sauber, gespenstisch still und so farblos wie in all den anderen reichen Vierteln der Stadt. Vincent ließ seine Hand über die hohen schwarzen Stangen des Eisenzauns gleiten, dessen Spitzen sich wehrhaft wie Speere in die Luft streckten. Dahinter zitterten sauber geschnittene kugelige Buchsbäume im Wind, und die letzten vertrockneten Blätter, die nicht schon im Herbst von den Laubbläsern eingefangen worden waren, wehten über die leere Straße. Die Häuser hinter den Eisenstangen waren neu gebaut, machten aber auf alt und ehrwürdig, mit hohen Fenstern, Klinkerverputz, großen Eingängen und Foyers, in denen uniformierte Rezeptionisten saßen, die Vincent misstrauisch musterten. Eigentlich gehörte er nicht hierher. Leute mit einem C-Punktestand sollten sich nicht in A-Gebieten herumtreiben. Er verlangsamte seine Schritte und schlenderte fast, um sich nicht verdächtig zu machen. An einem mit Holz verkleideten Brunnen bog er links von der Hauptstraße ab und gelangte in die Sophienstraße. Die Straße zog sich, was an den breiten Häusern lag. Es gab 2 a–f, dann eine Nummer 4 mit insgesamt drei Eingängen. Schließlich befand er sich vor der Nummer 6. Das Haus stand als einziges nicht in der geraden Reihe, sondern war tiefer eingerückt. An der Tür hing ein Schild in Leuchtbuchstaben, auf dem geschlossen stand. Er sah durch die Scheibe hindurch und sog einmal kurz die Luft ein. Tatsächlich! Es war ein Copypet-Laden! Allerdings – und das sah er auf den zweiten Blick: Es waren gebrauchte Tiere, die hier verkauft wurden. Im Schaufenster standen Wildtiere. Sie waren, nachdem sie in der Wirklichkeit fast völlig ausgestorben waren, im letzten Sommer das neue Ding. Hinter dem großen, täuschend echten Wolf im Vordergrund, der zum Glück ausgeschaltet war, befanden sich noch andere Tiere, die weniger echt als irgendwie verrückt und künstlich aussahen: Alligatoren mit silbrig schimmernder Haut, kleine pinkfarbene Mäuse, die durch brennende Reifen sprangen, und winzige Einhörner, die regenbogenfarbigen Rauch aus ihren Nüstern stießen. Und da – hinter diesen seltsamen Kreaturen – sah er ein Mädchen. Das heißt, er sah zunächst ihr rotes Kleid, das sie zwischen den Tieren aufleuchten ließ. Sie saß auf einem Stuhl hinter dem Verkaufstresen, die dunklen Haare fielen ihr so ins Gesicht, dass man sie kaum erkennen konnte, und sie war in ein Buch vertieft. Vincent musste zweimal hinblicken. Es war tatsächlich ein Buch, eines mit einem richtigen Umschlag und Seiten, kein Reader. Sehr altmodisch und sehr modern, was irgendwie zu ihr zu passen schien. Vincent klopfte an die Scheibe, das Mädchen sah auf, war einen Moment verwirrt, so als müsste sie aus der Welt des Buchs erst wieder zurück in die echte Welt finden, und starrte dann auf Vincent. Sie legte eilig das Buch auf den Tresen und beeilte sich, ihm aufzusperren.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
Vincent blinzelte und sah sie an. Sie war nur unwesentlich kleiner als er und wahrscheinlich genauso alt, ihre Füße steckten in großen klobigen Stiefeln, das leuchtende rote Kleid reichte ihr über die Knie. Eine riesige schwarz umränderte Brille zog alle Aufmerksamkeit auf sich und in ihren schwarzen Locken ringelte sich eine irritierende weiße Strähne. Nein, sie war nicht hübsch, nicht so, wie man jemanden gleich hübsch findet, aber sie nahm Vincent sofort gefangen. Etwas Wildes, Unberechenbares ging von ihr aus. Und sie hatte diese großartigen Mundwinkel, die sich nach oben zogen, so als würde sie jeden Moment lachen. Vincent fuhr sich über seine Haare und spürte plötzlich, wie eine merkwürdige Verlegenheit ihn überkam. »Ich komme wegen einer Katze«, sagte er und räusperte sich. Wie zum Teufel sollte er anfangen, ohne zu verraten, dass er illegalerweise an den Tieren herumschraubte? »Also ein K303-Modell und … ich wollte fragen …«
»Wir verkaufen keine K303«, sagte sie schnell. Sie hatte helle Augen hinter den dicken Brillengläsern.
»Nicht?« Ihr Blick hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. »Meine Kundin hat aber gesagt, dass sie sie von hier hat.«
Das Mädchen biss sich auf die Lippe und musterte ihn nachdenklich, so als ob sie überlegte, ob sie ihm trauen könnte. Dann sah sie sich kurz um und winkte Vincent zu sich in den Laden. »Komm rein!«
Vincent stolperte über die Schwelle und sah sich staunend um. Der Raum war vollgestopft mit Kunsttieren. Die Regale gingen bis zur Decke und in jeder Abteilung quietschte, flatterte, fiepte und piepste es. Vögel und Insekten befanden sich in den höheren Stockwerken, darunter kleinere Säugetiere wie Hamster und Eichhörnchen, und schließlich am Boden, in großen Abteilungen, Katzen, Hunde und Wölfe. Selbst ein Aquarium fehlte nicht. Mehrere gläserne Quallen fungierten als Lampen und sendeten ein geheimnisvolles grünblaues Licht aus, das durch die Sauerstoffblasen bewegte Muster an den Wänden zeichnete. Vincent beobachtete einen Schwarm goldener Fische. Sie stoben auseinander und wieder zusammen, wie ein genau choreografiertes Ballett. Er legte die Hand auf das Wasser und manche der Fische stupsten mit ihren Nasen an die Oberfläche.
»Vorsicht!«, rief das Mädchen plötzlich. »Sie können beißen.«
»Beißen?«
Sie schob sanft seine Hand von der Wasseroberfläche. »Ja, das sind welche mit Sonderfunktion.«
»So wie bei der K303?«, fragte Vincent. »Ich weiß, dass sie Krallen hat.«
»Nicht alle davon haben Krallen«, sagte das Mädchen ausweichend.
»Aber die, die ihr verkauft?«
Sie zögerte. »Eigentlich gab es nur eine davon.«
Vincent schüttelte den Kopf. »Warum hat Copypet ein Tier entwickelt, das seinen Besitzer verletzen kann?«
Sie steckte sich die weiße Strähne hinter die Ohren »Nun. Das haben wir öfter. Seit es kaum noch echte Tiere gibt, wird immer mehr danach gefragt. Nach einem wirklich wilden Tier. Wölfe, Füchse, Krokodile. Geht gerade ausgezeichnet. Ersatztiere mit ein bisschen Gefahr.«
»Ein bisschen Gefahr ist gut!«, murmelte Vincent.
Sie sah ihn verwundert an. »Wie meinst du das?«
»Meine Kundin. Sie hatte richtig tiefe Kratzerspuren. Die Krallen waren mindestens drei Zentimeter lang.«
»Wir …« Sie musterte ihn unbehaglich. »Eigentlich war es nur ein Versuchsmodell und noch nicht fertig.«
»Ach so. Darf man das denn verkaufen?«
»Bist du etwa von Copypet?«, fragte sie schnell.
»Nein, wie kommst du darauf?«
Sie starrte ihn an. »Du stellst so komische Fragen.«
Vincent zögerte. Wenn er nun die Wahrheit sagte, dann brachte er sich in Gefahr. Wer weiß, wem sie das alles erzählen würde? Schließlich, warum wusste er nicht, beschloss er, ihr zu trauen. Da war etwas in ihrem Blick, irgendetwas, von dem er das Gefühl hatte, er könnte ihr alles sagen.
»Ich soll bei dieser K303 die Krallen ziehen. Aber mir fehlt ein Schraubenzieher. Für eine Torx-Schraube.«
»Du schraubst an ihnen herum?« Sie lächelte ihn spöttisch an. »Das ist aber auch nicht legal.«
»Nein, ist es nicht.«
»Wenn es rauskommt, dann kannst du einen ganzen Buchstaben fallen.«
Vincent blinzelte. »Ist das jetzt eine Drohung?«
»Keine Angst.« Sie lachte. »Ich verrate nichts.«
»Das wäre auch keine gute Idee«, sagte Vincent. »Ich meine, ich will nicht noch weiter fallen.«
»Wieso? Was hast du denn?« Sie sah neugierig aus.
Vincent wurde ganz gegen seinen Willen rot.
»Entschuldige«, sagte sie schnell. »Das war jetzt indiskret, oder?«
Vincent holte tief Luft. »Doppel C«, sagte er und sah sie direkt an. Es würde sie schockieren, ganz sicher. Die Leute waren immer schockiert, wenn er seinen Punktestand nannte. Vor allem, wenn sie einen besseren hatten, was eigentlich auf fast alle zutraf. Das Mädchen vor ihm hatte sicher ein A, schließlich war das hier A-Gegend und mit etwas anderem als A bekäme man sicher hier keinen Laden. A-Leute wollten mit einem wie ihm nichts zu tun haben. Komischerweise machte es ihm sogar einen grimmigen Spaß, seinen Punktestand zu verraten und sie zu provozieren.
Das Mädchen sah ihn jedoch völlig unbekümmert an. »Dann würde ich dir aber ein Upgrade empfehlen.«
»Ein Upgrade?«, fragte Vincent verwirrt. Hatte er sich verhört?
Sie sah ihn mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen an. »Man kann nicht nur an den Tieren ein bisschen herumschrauben.«
Es folgte ein langer Moment der Stille, der mit einem langen Seufzer endete. »Ach ja, der Schraubenzieher … Darum bist du gekommen, richtig?«
»Genau«, murmelte Vincent. Er fühlte sich ein bisschen schwindelig. Den Punktestand manipulieren! So was hatte noch niemand vorgeschlagen. Es klang wie etwas Unerhörtes, etwas wirklich Verbotenes. Etwas, was man nicht einmal zu denken wagte. Er hatte sich sicher verhört. Oder irgendwas völlig falsch verstanden. Das Mädchen tat so, als wäre nichts geschehen, schob eine schmale Leiter vor das riesige Holzregal an der Wand und kletterte neben der Abteilung für Reptilien hinauf. Auf der oberen Etage befanden sich mehrere schmale Schubladen, von denen sie nun eine aufzog. »Einen Torx, sagtest du?«
Vincent nickte.
»Wie viel Zähne?«
»Neun.«
Sie kramte in der Schublade herum und förderte einen winzigen, rötlich glänzenden Schraubenzieher zutage, mit dem sie wieder die Leiter hinunterkletterte.
»Mit dem müsste es klappen!« Sie drückte ihn Vincent in die Hand.
Vincent fuhr sich über die Haare. »Und was bin ich dir schuldig?«
Sie lächelte ihn an. »Ich schenke ihn dir!«
»Einfach so?«
»Einfach so. Das heißt … vielleicht brauche ich einmal eine Gegenleistung.«
»Eine Gegenleistung?«
»Irgendwann. Mal sehen«, sagte das Mädchen. Sie sah zu ihm hoch. Ihre weiße Strähne leuchtete im Gegenlicht. Für einen kurzen Moment hatte Vincent das Gefühl, als habe er sie schon einmal gesehen, diese weiße Strähne. Aber das lag in einer fernen Vergangenheit und war verschlossen wie eine Tür, zu der er keinen Schlüssel hatte. Er steckte den Schraubenzieher in seine Manteltasche, grüßte kurz und verlegen und verließ den Laden. Eine Glocke bimmelte leise, als er die Tür schloss. Draußen schien die Sonne über die blank geputzten Häuser. Sie kam Vincent plötzlich heller und freundlicher vor als zuvor.
4
Die Reparatur der Katze war in zwei Tagen erledigt. Vincent hatte mit dem neuen Werkzeug die Schrauben entfernt, die Krallen gezogen und den Mechanismus überflüssig gemacht und trotzdem funktionierte die Katze noch einwandfrei. Auftrag erfüllt. Dafür hatte er jedoch das Meerschweinchen des kleinen Mädchens vom Hochhaus gegenüber liegen lassen, was ihm ein ziemlich schlechtes Gewissen bereitete.
Es war ein kalter und windiger Märzmorgen, als er zu Alina Sartorius’ Villa im Akazienweg fuhr. Das Gebäude war tatsächlich groß, mit einer breiten Treppe und roten Fensterläden. Allerdings sah es in echt bei Weitem nicht so mondän aus wie auf dem Hologramm der Visitenkarte. Eine Sache, die eigentlich ständig passierte. Die Dinge in der Realität waren fast nie so wie in den Hologrammen. Eigentlich waren sie auch nie so wie auf TwinEarth, einem Programm, das jeder nutzte und bei dem die ganze Welt nachgebildet war. Dort gab es immer Lücken, Sachen, die vergessen worden waren, oder Häuser, die in Wirklichkeit gar nicht existierten. Dieses hier jedenfalls war schief und hatte eigenartig runde Fenster, die aussahen wie Augen. Im Vorgarten standen traurige braune Stängel von abgestorbenen Pflanzen herum und Moos zog sich über die Steintreppe, die zu der Eingangstür mit den Schnitzereien führte. Das Haus war von grünem Efeu umrankt, der aus der Nähe betrachtet allerdings aussah, als wollte er das Haus erwürgen. Die Ranken schlangen sich um die Regenrinne, wuchsen vor den vergitterten Fenstern und bewahrten die alten Dachziegel vor dem Abrutschen. Vincent stellte sein Fahrrad an den Holzzaun, der rings um das Haus führte und dessen Latten schon an einigen Stellen verfault und eingebrochen waren, sodass er es aufgab, seine Absperrkette darumzuschlingen. Er legte sie nur um sein Hinterrad und überlegte sich, ob dort, wo es stand, das Fahrrad auf einen der Lastwagen aufgeladen würde, die manchmal durch die Straßen fuhren und nicht befestigte Fahrräder mitnahmen, kam aber dann zu dem Schluss, dass das eher in seinem Viertel der Fall war und nicht hier. Hier gab es Villen hinter Eisenzäunen und überall Überwachungskameras, die geschickt in die altmodischen gusseisernen Straßenlaternen eingebaut waren.
Er nahm das Paket vom Gepäckständer und zog darunter die riesige Mappe seines Vaters hervor. Darin befanden sich Pauls Bilder, eine ganze Auswahl davon, realistische und welche, die eher abstrakt aussahen. Dreiecke und Vierecke mit Katzenaugen, die er bis spät in die Nacht auf samtblauen Hintergrund gepinselt hatte. Es waren wilde, intensive Bilder, über die er seit dem Besuch der alten Frau ständig sprach und die nach und nach ein Eigenleben bekamen. Sie waren unser Auftrag und waren für unsere Kundin. Vincent war froh, dass sein Vater seit Langem überhaupt wieder malte, und so hatte er die Mappe dann doch, ohne weiter zu protestieren, mitgenommen. Sie war riesig und schwer auf dem Gepäckträger zu transportieren und Vincent hatte keine Ahnung, ob und wann er die Bilder anpreisen sollte. Er hatte nur den glücklichen Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters im Kopf, als er ihm sagte, die Bilder würden ihm gefallen.