Des Hauses Hüterin - Morag Joss - E-Book
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Des Hauses Hüterin E-Book

Morag Joss

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Beschreibung

Ein Mord am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen: Der bitterböse Spannungsroman »Des Hauses Hüterin« von Morag Joss jetzt als eBook bei dotbooks. In Rente gehen? Keine Option für Jean, die im Auftrag reicher Leute deren Häuser hütet. Besonders schön findet sie es in Waldon Manor, ihrem letzten Auftrag nahe Bath – warum also nicht gleich bleiben? Da wäre nur der Haken mit den tatsächlichen Hausbesitzern, die irgendwann zurückkommen werden … Unerwartete Hilfe erhält Jean von dem jungen Kunstdieb Michael und der hochschwangeren Steph, die beide auf der Flucht vor der Vergangenheit sind. Gemeinsam schmieden sie einen eiskalten Plan ohne Fehl und Tadel – doch sie ahnen nicht, dass sie selbst ihre gefährlichsten Gegner werden könnten … Ein wohlig-böser Landhaus-Krimi, der den Leser mit seinem feinmaschigen Netz aus Lügen und dunkler Wahrheit ganz und gar gefangen nimmt. »Außergewöhnliche Atmosphäre, tolle Charaktere und ein eleganter Plot.« P. D. James »Ein psychologischer Spannungsroman der ersten Klasse – ein Must-read!« Publishers Weekly Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der eiskalte psychologische Spannungsroman »Des Hauses Hüterin« von Morag Joss – für alle Fans des Nervenkitzels der TV-Serie »Bates Motel« und dem schwarzen Humor von Spannungskünstlerin Gillian White. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 563

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Über dieses Buch:

In Rente gehen? Keine Option für Jean, die im Auftrag reicher Leute deren Häuser hütet. Besonders schön findet sie es in Waldon Manor, ihrem letzten Auftrag nahe Bath – warum also nicht gleich bleiben? Da wäre nur der Haken mit den tatsächlichen Hausbesitzern, die irgendwann zurückkommen werden … Unerwartete Hilfe erhält Jean von dem jungen Kunstdieb Michael und der hochschwangeren Steph, die beide auf der Flucht vor der Vergangenheit sind. Gemeinsam schmieden sie einen eiskalten Plan ohne Fehl und Tadel – doch sie ahnen nicht, dass sie selbst ihre gefährlichsten Gegner werden könnten …

Ein wohlig-böser Landhaus-Krimi, der den Leser mit seinem feinmaschigen Netz aus Lügen und dunkler Wahrheit ganz und gar gefangen nimmt.

»Außergewöhnliche Atmosphäre, tolle Charaktere und ein eleganter Plot.« P. D. James

»Ein psychologischer Spannungsroman der ersten Klasse – ein Must-read!« Publishers Weekly

Über die Autorin:

Morag Joss wuchs an der Westküste Schottlands auf und studierte an der Londoner Guildhall School of Music. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter als freie Schriftstellerin in der Nähe von Bath im Süden Englands. Dieser mondäne Kurort ist auch Schauplatz ihrer »Sara Selkirk«-Kriminalromane. Für ihren brillanten Spannungsroman »Des Hauses Hüterin« erhielt sie den Silver Dagger Award der Crime Writers' Association.

Morag Joss veröffentlichte bei dotbooks auch ihre Reihe um Inspector Andrew Poole und Sara Selkirk:

»Der Klage dunkles Lied«

»Des Todes heller Klang«

»Des Grabes stumme Melodie«

***

eBook-Neuausgabe Dezember 2019

Copyright © der englischen Originalausgabe 2003 by Morag Joss

Die englische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Half-Broken Things« bei Hodder & Stoughton, London

Copyright © der deutschen Ausgabe 2003 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/stocker1970

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-779-0

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Des Hauses Hüterin« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

Besuchen Sie uns im Internet:

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Morag Joss

Des Hauses Hüterin

Roman

Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger

dotbooks.

»Darin aber irren die jungen Menschen so oft und so schwer; daß sie (in deren Wesen es liegt, keine Geduld zu haben) sich einander hinwerfen, wenn die Liebe über sie kommt, sich ausstreuen, so wie sie sind in all ihrer Unaufgeräumtheit, Unordnung, Wirrnis ...: Was aber soll dann sein? Was soll das Leben an diesem Haufen von Halbzerschlagenem tun, den sie ihre Gemeinsamkeit heißen und den sie gerne ihr Glück nennen möchten, ginge es an, und ihre Zukunft? Da verliert jeder sich um des anderen willen und verliert den anderen und viele andere, die noch kommen wollten. Und verliert die Weiten und Möglichkeiten, tauscht das Nahen und Fliehen leiser, ahnungsvoller Dinge gegen eine unfruchtbare Ratlosigkeit, aus der nichts mehr kommen kann; nichts als ein wenig Ekel, Enttäuschung und Armut ...«

Rainer Maria Rilke,Briefe an einen jungen Dichter

JANUAR

Walden ManorAugust

Es ist nicht so, wie es vielleicht aussieht. Wir sind friedliche Leute. Im Allgemeinen erleben wir keine ungewöhnlichen Dinge, und wir sind auch gar nicht darauf aus. Aber seit Januar hat sich so viel ereignet, und ich war diejenige, die alles ausgelöst hat. Es ereigneten sich plötzlich Dinge, die ich irgendwie ins Rollen gebracht hatte, ohne genau zu übersehen, wo sie hinführen würden. Ich glaube, ich muss es erklären, auch wenn es dafür reichlich spät ist. Ich werde die Dinge so genau wie möglich schildern, in der Reihenfolge, in der sie sich ereigneten. Ich finde das allerdings schwierig, denn ich wurde dazu erzogen, wenig Aufhebens um mich selbst zu machen. Zudem gelte ich nicht gerade als mitteilsam, als jemand, der sich des Langen und Breiten in Erklärungen ergeht. Mutter beschrieb mich immer als wortkarg. Aber das lag daran, dass ich ihr gegenüber meine Gründe hatte. Ich hielt mich mit Worten zurück, damit nicht Dinge missverstanden, ignoriert oder falsch gedeutet wurden. Also hörte ich früh damit auf, Erklärungen abzugeben.

Auch Vater war gewöhnlich ein ruhiger Mann. Wenn ich an die Geräusche in unserem Haus in der Oakfield Avenue, wo ich aufgewachsen bin, zurückdenke, habe ich keine Erinnerung an Stimmen. Ich glaube, dass wir häufiger seufzten oder uns räusperten, als zu sprechen. Ich erinnere mich vor allem an das Ticken von Vaters Standuhr im Esszimmer, das wir nie benutzten. Als die Uhr nicht mehr da war, herrschte im ganzen Haus bleierne Stille, die ich mir als grauen Schatten vorstellte, und viel später, als ich erwachsen war und mich aber immer noch um Mutter kümmerte, stammte das regelmäßigste Geräusch von der Mikrowelle, die im Lauf des Tages dutzende Male klingelte. Tatsächlich hatte ich bis vor kurzem, wenn ich in einem Geschäft oder sonst wo ein bestimmtes Klingeln hörte, sofort den Geruch kochender Milch in der Nase. Aber als Kind hörte ich lediglich das Ticken der Uhr. Dazwischen herrschte Stille.

Auch Mutter war nicht gerade gesprächig. Häufig ging sie durchs Haus, als schleppe sie unausgesprochene Dinge wie eine große Bürde mit sich herum. Um den Mund hatte sie einen verkniffenen Zug, was auf Vaters und meine Mitteilsamkeit nicht gerade ermutigend wirkte. Was geschieht eigentlich mit all den Dingen, die man vielleicht gerne sagen würde, aber dann doch nicht sagt? Nun, sie sind nicht für immer im Gehirn gespeichert und warten darauf, irgendwann ausgesprochen zu werden. Vielleicht verbleiben sie eine Zeit lang dort, doch dann verflüchtigen sie sich, bis man sie nicht mehr auffinden kann. Und man erkennt, dass sie für immer verloren sind. Aber dann macht es einem nichts mehr aus.

Ich habe mich immer als einen Menschen gesehen, der nicht unbedingt der Worte bedarf. Ich gewöhnte mir erst gar nicht an, Worte zu bilden, zumindest nicht viele auf einmal, nicht einmal für mich selbst, in meinem Kopf. Lange Zeit herrschte in meinem Kopf große Ruhe. Doch das war, bevor sich all das ereignete.

Aber diese Seite meines Wesens habe ich falsch eingeschätzt, wie vieles andere auch. Ich finde, dass es auch dafür Worte gibt. Jetzt, da ich sie brauche, fallen sie mir wieder ein, vielleicht, weil mir nicht viel Zeit bleibt, sie niederzuschreiben (heute ist bereits der 20., also bleiben mir nur noch elf Tage). Ich bin froh, dass meine Finger wie von selbst über die Tastatur huschen, mich überhaupt nicht mit einzubeziehen scheinen. Die Buchstaben landen auf dem Papier in meiner alten Schreibmaschine, als wären sie aus meinen Fingerspitzen geschossen worden. Und das ist gut so, denn ich bin vollauf damit beschäftigt, all die lärmenden Worte, die in meinem Kopf herumwirbeln und sich darum streiten, welches zuerst aufs Papier gebannt wird, im Zaum zu halten. Ich habe es eilig, sie aufzuschreiben. Ich will alles erklären, denn es erscheint mir plötzlich ungeheuer dringend und wichtig, dass wir letztendlich nicht missverstanden werden.

Und ich werde versuchen, nicht nur darzulegen, was geschehen ist, sondern auch, warum und weshalb es sich nicht anders hatte abspielen können. Aber bis jetzt habe ich über das Warum noch nicht richtig nachgedacht. Das liegt an der Zeit. Ich hatte keine Zeit, nicht die richtige Art von Zeit, mir die Frage zu stellen, warum alles so gekommen ist. Ich bin zu sehr damit beschäftigt gewesen, glücklich zu sein; selbst jetzt bin ich glücklich, obwohl die Zeit, die mir bleibt, überschattet ist. Ich gebe mich damit zufrieden, sie zu nutzen, um alles zu entwirren und aufzuschreiben. Es ist ein angenehmer Zeitvertreib, im Arbeitszimmer am Fenster zu sitzen, über die Schreibmaschine gebeugt, und ab und zu hinauszuschauen und ihnen, also Michael, Steph und Charlie, im Garten unten zuzuwinken. Sie tun nichts Besonderes. Steph wiegt Charlie auf ihrem Schoß und singt: »Schlaf, Kindlein, schlaf« – eines von Charlies Lieblingsliedern – und je mehr sie ihn hin- und herwiegt, desto munterer wird er. Jetzt winken sie zurück. Ich habe ihnen erklärt, dass ich für die Agentur einen Bericht schreiben müsse, was ja in gewisser Weise nicht gelogen ist. Durch Grimassen bekunden sie mir ihre Anteilnahme, weil ich den Nachmittag nicht mit ihnen verbringen kann. Steph hat Charlies Handgelenk umfasst und lässt ihn ebenfalls winken. Hinter ihnen erblicke ich dreierlei Arten von Herbstastern in hübschen Rottönen; aber die Rosen stehen jetzt schon in der zweiten Blüte und wirken ermattet, als ob sie zu lange Party gefeiert hätten.

Aber ich schweife ab. Ich sagte, dass ich alles erklären wolle. Und obwohl ich mir keine Erklärung vorstellen kann, die nicht auch ein Stück Rechtfertigung enthält, werde ich gar nicht erst versuchen, Entschuldigungen für das, was wir getan haben, vorzubringen. Ich leiste auch keine Abbitte, es sei denn für das Chaos und die Unannehmlichkeiten, die wir verursacht haben.

Wie also hat es angefangen? Mit dem Brief der Agentur? Oder mit der Annonce, die ich aufgegeben hatte? Vielleicht sogar viel, viel früher, Jahre vorher, mit Jenny, der Nichte, die ich erfunden hatte. Ja, vielleicht gibt das gewisse Hinweise. Anfangs diente diese Nichte als kleine, harmlose Notlüge, die natürlich weitere nach sich zog. Und unversehens war die Tatsache, dass sie gar nicht existierte, kein Thema mehr. Ich glaubte schließlich selbst, dass ich eine Nichte hatte; sie war so real für mich, wie jemand, der in Australien lebt, es für mich sein konnte. Im Übrigen bin ich noch nie im Ausland gewesen.

Obwohl, wenn ich jetzt darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass es mit diesem Ort hier anfing, dem Haus selbst. Vom ersten Augenblick an vermittelte es mir ein nicht definierbares Gefühl, das mich hätte stutzig machen müssen, denn immerhin ist es mein 58. Haus. Nach 57 Häusern in achtzehn Jahren sind meine Erinnerungen etwas verschwommen, aber ich weiß mit Bestimmtheit, dass ich nie zuvor etwas Ähnliches empfunden habe. Das hier ist also das 58., obwohl ich in einigen Häusern mehrere Male war, da die Besitzer es so wünschten. Ich bin, oder besser, ich war auf längere Aufenthalte spezialisiert. »Wir haben die ideale Haussitterin für Sie, flexibel und ungebunden und normalerweise verfügbar«, so wurde ich von der Agentur empfohlen. Ich betone das deshalb, um Ihnen vor Augen zu führen, dass ich wohl angesehen war. Das alles hat nichts mit Unerfahrenheit, Boshaftigkeit oder Neid zu tun.

Als ich das Haus zum ersten Mal betrat, war es voll gestopft mit allen möglichen alten Möbelstücken und Gegenständen, voller als es jetzt ist, aus Gründen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Vieles davon war nicht mehr gut erhalten, aber ich mochte alles so, wie es war. Es gefiel mir, wie die Dinge im ganzen Haus in kleinen Gruppen arrangiert waren, als ob sie sich gegenseitig ausgewählt hätten und jetzt zusammengluckten. Da waren die Kästen: Nähkästen, mit Samt ausgelegt, die silberne Spulen, Scheren sowie hübsche kleine Stiefelknöpfer enthielten; Kästen mit kleinen Glasflaschen ohne Korken; nach Zedernholz duftende Federmäppchen mit Tintenklecksen auf der Innenseite; vergilbte Elfenbeinkästchen mit alten Schnitzereien, bemalte oder emaillierte Dosen, die vermutlich ursprünglich Schnupftabak enthielten, aber das war mir eigentlich egal. Im Wohnzimmer fielen mir kleine Gegenstände aus Silber ins Auge: der schwere Brieföffner mit dem Schwanenkopf, das Vergrößerungsglas, eine runde Schatulle mit einer Delle, der Filigrankorb mit gewundenem Griff, eine Vase für eine einzelne Rose. Im Esszimmer das blau-weiße Geschirr, von dem einiges angeschlagen war, und die Fächer aus perlenbesetzter Spitze, verblasstem bemaltem Pergament und abgenutzten Federn in der Bibliothek. Im Übrigen war der Raum modern ausgestattet. Aber auf drei Regalen entdeckte ich sehr alte Bücher mit aufgeplatzten Buchrücken und verblassten Titeln. Sie sahen aus, als seien sie mit Zimt überstreut worden, und verbreiteten einen Geruch von welkem Laub, der mich an die Kirche erinnerte. Viele Buchseiten waren lose und so durchsichtig, dass der Druck auf der anderen Seite durchschien, als wären sie nicht schon unleserlich genug.

Aber all das wirkte in seiner Unvollkommenheit harmonisch, schien nicht danach zu verlangen, ausgebessert zu werden, wie dies bei modernen Objekten der Fall ist. Häufig zerbrechen neue Dinge, noch bevor der Zahn der Zeit sie angenagt hat. Hier hatte man den Eindruck, als ob alle Gegenstände einfach lange genug herumgestanden hatten, so dass es ganz natürlich schien, dass sie irgendwann fallen gelassen oder umgestoßen worden waren, und jedes einzelne dieser belanglosen, zufälligen Ereignisse wurde geduldig von ihnen ertragen, als ob die Dinge selbst wüssten, dass sie auch in diesem Zustand akzeptabel und schön waren. Wären leblose Dinge in der Lage, zufriedene Seufzer von sich zu geben, diese hier hätten es getan. Ich wollte genauso sein wie sie und überlegte, ob ich, wenn ich ebenfalls dahinschwand und zusammenbrach, was letztlich jedem bevorsteht, genauso sein könnte. Ja, ich erinnere mich, dass ich mir in jenen ersten Tagen des Januar genau diese Frage stellte.

Der dritte Tag verstrich genauso wie die ersten beiden und verlor sich irgendwo in den Falten des Nachmittags. Wie immer war Jean den größten Teil des Vormittags mit Staubwischen beschäftigt. Überflüssigerweise hatte sie auch Staub gesaugt und ihr Bad geputzt. Nach ihrem Mittagessen, bestehend aus Instantkaffee und Keksen, hatte sie die Küche aufgeräumt. Als sie sich nicht länger vorgaukeln konnte, dass es noch etwas zu tun gab, stieg sie die geschnitzte Holztreppe hinauf, zum obersten Stock. Erneut verspürte sie leichte Neugier, als ob das Haus und der Rest des Tages sich verschworen hätten, etwas vor ihr geheim zu halten. Und wiederum versuchte sie, die drei Türen, von denen sie wusste, dass sie verschlossen waren, zu öffnen. Dann schlenderte sie ziellos weiter, blieb hier und da stehen. Ihr herumschweifender Blick beobachtete, wie das Licht in den vielen anderen Räumen des Hauses die Zeit verdrängte. Licht strömte durch die Fenster herein, huschte über den Boden und die holzvertäfelten Wände und ergoss sich über leere Betten. Es legte sich so kalt und stumm wie ein eisiger Atemhauch auf Möbel und Gegenstände und die im Türrahmen stehende Jean. Das Licht beanspruchte den Raum, den gewöhnlich die Stunden und Minuten einnahmen, die außerhalb des Hauses weiterhin verstrichen. Durch die Westfenster sah Jean, wie der Wind die entlaubten Bäume am Rande der Felder durchrüttelte. Durch die Südfenster beobachtete sie, wie der Wind über das Gras auf der Koppel fegte, wie Wolken am Himmel dahinzogen. Im Innern des Hauses ging der Nachmittag in den Abend über, seine Falten vertieften sich, verdrängten das restliche Tageslicht, begruben es unter sich. Als es dunkel war, ging Jean wieder von Raum zu Raum, strich behutsam über Gegenstände und zog die Vorhänge zu. So verging der dritte Tag, und Jean wartete insgeheim ab, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst war.

Sie bewahrte den Brief der Agentur in der Tasche ihrer neuen dicken Strickjacke auf, dem Weihnachtsgeschenk, das sie für sich selbst gekauft und in Weihnachtspapier gewickelt hatte, damit sie am Weihnachtsmorgen vor den anderen Pensionsgästen etwas »von meiner Nichte Jenny aus Australien« auszupacken gehabt hatte. Nachdem sie auch dieses Jahr über die Feiertage nicht als Haussitterin engagiert gewesen war, hatte sie sich erneut gezwungen gesehen, Weihnachten im Ardenleigh-Gästehaus zu verbringen. Innerhalb von achtzehn Jahren war dies ihr fünftes Weihnachtsfest in dieser Pension gewesen. Beim ersten Mal war ihre Nichte Jenny »geboren« worden, als eines Morgens beim Frühstück eine deprimierte alte Dame Jean aufgefordert hatte, ihr zuzustimmen, dass Weihnachten schrecklich war, wenn man älter wurde und sich überflüssig fühlte. Es hatte wie eine Anklage geklungen. Jean war damals Ende vierzig gewesen und argwöhnte, dass sie älter aussah. Sie ignorierte die plumpe Anspielung auf ihr Alter und konzentrierte sich auf den Begriff »überflüssig«. Sie hörte sich sagen: »Ich hätte nicht hierher kommen müssen, denn meine ... meine Nichte hat mich gebeten, sie zu besuchen. Aber ich habe ihr erwidert: Dieses Jahr werde ich nicht bei dir verbringen, trotzdem danke, meine Liebe. Danke, meine liebe Jenny, habe ich zu ihr gesagt, aber dieses Jahr nehme ich mir etwas anderes vor.« Und natürlich wollte die alte Dame dann wissen, warum sie die Einladung der Nichte abgelehnt hatte. Nun, sie bekommt bald wieder ein Baby, ihr drittes. Deshalb dachte ich, es ist nicht richtig dass ich sie noch zusätzlich belaste. Dann fügte sie mit dramatischer Stimme hinzu: Wissen Sie, sie muss mit einer komplizierten Geburt rechnen.

Einige Bewohner waren Dauergäste. Als Jean wieder mal das Weihnachtsfest in der Pension verbringen musste, fragte eine der Damen neugierig, wie es denn der Nichte gehe. Da sie die Gäste nicht enttäuschen wollte – in den letzten beiden Jahren schienen sie auf Neuigkeiten von Jenny regelrecht gelauert zu haben –, hörte sie sich von dem Baby erzählen (ein richtiger Racker, in jeder Beziehung.). Sie erklärte, dass Jenny dieses Jahr mit ihrer Familie Weihnachten bei den Schwiegereltern verbringen würde. Das Gleiche wiederholte sich im Jahr darauf, und dann gingen Jean die Nerven durch, und sie ließ Jenny samt Familie nach Australien auswandern. Aber da sich die Gäste von Ardenleigh inzwischen eine hohe Meinung von Jenny gebildet hatten, hielt Jean es nicht für angebracht, das Ansehen ihrer Nichte dadurch zu schmälern, dass sie ihr erlaubte, im fernen Australien ihre alte Tante in England zu vergessen. Das sah Jenny gar nicht ähnlich. So zeigte sie an den Weihnachtsfesten in Ardenleigh immer Jennys liebevoll ausgesuchtes Geschenk vor und war froh, dass sie, abgesehen von dem unzumutbar langen Flug (in ihrem Alter!), keinen anderen Grund vorbringen musste, weshalb sie Weihnachten nicht »down under« verbrachte.

Dieses Jahr schien Jenny allerdings mit ihrem Geschenk kein glückliches Händchen gehabt zu haben, denn die Jacke war ein Flop. Jean hatte angenommen, sie sei amethystfarben, aber jetzt, nachdem sie sie bereits eine Woche besaß, stellte sie fest, dass es sich eigentlich um ein schmutziges Purpurrot handelte. Doch obwohl die Farbe nicht ihren Vorstellungen entsprach, trug sie die Jacke. Sie wickelte sich fest in ihren ›Fehlgriff‹ ein und befühlte dabei den Brief, damit sie gegen die Versuchung gefeit war, ihn in ihrer Jackentasche zu vergessen. Morgens, wenn sie sich bückte, um einen Tischfuß abzustauben oder den Staubsauger zu betätigen, raschelte er in ihrer Tasche, als ob eine kleine scharfe Kante von ihr selbst abgebrochen wäre und lose an ihrer Seite herunterhing. Sie war etwas verwirrt, dass es ihr nicht wirklich wehtat. Manchmal nahm sie den Umschlag heraus und betrachtete ihn von allen Seiten, aber sie las den Brief nicht noch einmal.

Doch irgendwann im Lauf der Nachmittage fand sich Jean mit dem Vorhandensein des Briefes ab. Wenn das Tageslicht abnahm, schien auch die Bedrohung zu schwinden, die von ihrer Jackentasche ausging. Sie spürte, dass der Brief nach wie vor da war, aber sie betrachtete ihn jetzt mit einer Art gelassenem Erstaunen, das sich in bloßen Unglauben verwandelte, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendwelche Zeichen auf einem Stück Papier irgendeine Macht über sie haben sollten. Als sie von einem Zimmer zum anderen ging und die Lampen anknipste, fand sie es verwunderlich, dass sie noch heute Morgen angenommen hatte, der Brief habe irgendeine Bedeutung für sie. Im milden Lampenlicht erschien ihr das unvorstellbar. Und mit zunehmender Dämmerung fand sie die Vorstellung, dass unbedeutende Worte in einem Umschlag, vergraben in ihrer Jacke, Bedeutung für sie haben sollten, immer absurder. Als sie sich abends vor das Kaminfeuer im Wohnzimmer gekauert hatte und der Frieden des Hauses am vollkommensten war, fand sie den Gedanken, dass ganze acht Monate vor ihr lagen, einfach unfassbar. Wenn sie es nur wollte, konnte hier die Zukunft ebenso verschwommen und fern sein, wie sie es sich von der Vergangenheit wünschte.

Am vierten Tag rief Shelley von der Agentur an.

»Hallo?«

»Ist dort Walden Manor?«

»Hallo?«

»Mit wem spreche ich? Jean, sind Sie es? Hier ist Shelley von Town & Country Sitters. Haben Sie unseren Brief erhalten?«

»O ja, ich habe ihn erhalten.«

Jean mochte Shelley nicht. Sie hatte sie nur einmal gesehen, als ein Hauseigentümer darauf bestanden hatte, dass Jean die Hausschlüssel persönlich im Büro in Stockport abholte. Eigentlich hätte sie Mitleid mit Shelley haben sollen. Diese litt nämlich an Asthma und war geplagt mit zwei überdimensionalen Brüsten, die das Bild von zwei hart arbeitenden äußeren Lungen, rund und breit, unelastisch und aufgedunsen, heraufbeschworen. Jean stellte sich vor, wie sie sich hoben und senkten, und schmiegte ihre eigenen schmalen Schultern noch enger in die dunkelrote Jacke. Plötzlich erfasste sie eine Woge der Panik. Sie hielt den Hörer etwas vom Ohr ab und versuchte, sich zu beruhigen. Am anderen Ende der Leitung hielt Shelley den Atem an. Jean vermutete, dass Shelley am Schreibtisch saß und die Telefonschnur um den beringten Zeigefinger ihrer freien Hand geschlungen hatte. Bestimmt trug sie ihren marineblauen Blazer, den sie immer im Geschäft anhatte, offen über ihrer Bluse, wobei bei jeder Berührung ein knisterndes Geräusch entstand. Jean vernahm nicht nur dieses, sondern auch alle möglichen anderen Geräusche, als ob irgendwo in der Ferne ein Kampf, den sie nicht sehen konnte, ausgetragen würde.

»Gut, Jean«, stieß Shelley schließlich hervor, »so haben Sie also unsere Bestätigung erhalten. Ich wollte mich eigentlich nur erkundigen, ob Sie irgendwelche Fragen haben. Sie sind also mit dem Inhalt des Briefes einverstanden? Leider können wir Ihnen nach Ablauf dieses Vertrags keinen weiteren Job anbieten. Das hatten wir ja auch schon besprochen, nicht wahr.«

Jean schwieg, war sich darüber im Klaren, dass ihr Schweigen für Shelley unangenehm war.

Shelley fuhr fort: »Es tut uns Leid, den Leuten zu kündigen, aber das ist Firmenpolitik. Town & Country sieht sich nicht in der Lage, seine Sitter nach dem Rentenalter weiter zu beschäftigen. Wir dürfen es nicht. Es geht um die Versicherung.« Diese lange Rede endete mit einem heftigen Schnauben. »Ich will damit sagen, Sie haben gute Arbeit geleistet. Aber Sie haben ja bereits die Sechzig um vier Jahre überschritten, nicht wahr?«

Da Jean immer noch schwieg, änderte Shelley ihre Taktik. »Sie kommen doch gut zurecht, Jean, trotz der Lage des Hauses, oder? Wenn Sie irgendwelche Besorgungen zu erledigen haben? Die Besitzer meinten nämlich, der Job wäre besser für jemanden mit Auto geeignet, da das Haus ja etwa eine Meile vom Dorf entfernt ist und es dort vielleicht etwas einsam sein könnte. Sie sagten doch tatsächlich, eine jüngere Person mit Auto und vielleicht einem Teilzeitjob in der Umgebung würde sich besser eignen. Aber ich erklärte ihnen, Sie seien ein echter Profi und die Entfernung störe Sie nicht. Das stimmt doch, oder Jean?«

»Ich habe etwas kaputtgemacht«, verkündete Jean unvermittelt. »Heute beim Abstauben. Eine Teekanne auf dem Büfett. Eine blau-weiße Porzellankanne mit Silbereinfassung. Keine sehr große.«

Es herrschte erneut Stille, während Shelley sich überlegte, welchen Ton sie anschlagen sollte, und Jean hörte, wie das Atmen unmissverständlich heftiger wurde. »Na wunderbar, dass Sie mich so unterstützen. Das dürfen wir jetzt ausbaden. Sie müssen es auf der Inventarliste vermerken und uns offiziell melden, damit wir die Hauseigentümer unterrichten können. Sie haben doch die Inventarliste, nicht wahr? Sie war unter den Papieren, die wir Ihnen zugeschickt haben, zusammen mit der Liste der Eigentümer, die deren Anweisungen und Verbote enthält.«

»Ja, natürlich habe ich die ganzen Papiere erhalten, auch die Liste mit den Anweisungen. War 'ne ganze Menge.«

»Nun, die Leute haben nun mal das Vorrecht, sich etwas aufzuplustern, besonders wenn sie den Sitter nicht persönlich kennen. Die Familie Standish-Cave musste ja einen Tag vor Ihrem Eintreffen abfliegen und erledigte somit alles schriftlich.«

Die dem Haussitter überreichte Liste mit Anweisungen und widerwillig erteilten Zugeständnissen, die die Eigentümer über die Agentur an den Haussitter weitergereicht hatten, füllte mehrere mit Maschine geschriebene Seiten. Die Anweisungen waren sehr umfassend: kein Feuer im Kamin, keine Kerzen, weder das Ess- noch das Wohnzimmer dürfen benutzt und nur im Gästezimmer darf der Fernseher eingeschaltet werden. Es darf nur das Geschirr in der Küche verwendet und die Cappuccino- oder Eismaschine darf nicht in Gang gesetzt werden. Der Haussitter muss beim Abstauben der Bücher immer Handschuhe tragen, darf zur Politur nur Bienenwachs und keine Silikonsprays verwenden. Offene Gläser können aufgebraucht werden, und nachts muss der Stecker am Fernseher rausgezogen werden. Jean schmiegte sich noch enger in ihre Jacke.

»Man könnte meinen, ich hätte noch nie ein Haus gehütet und wüsste nicht einmal die banalsten Dinge.«

»Nun, Sie können es ihnen nicht verübeln, besonders jetzt nicht, nachdem Sie die Kanne kaputtgemacht haben. Immerhin ist es ihr Haus.«

»Ich könnte ja versuchen, sie zu reparieren; ich habe noch alle Scherben.«

»Finger weg. Die Besitzer wären bestimmt nicht damit einverstanden. Sie wollen sie bestimmt vorschriftsmäßig repariert haben, sofern es sich überhaupt noch lohnt. Diese Kunden sind ganz speziell, deshalb wenden sie sich auch an uns. Oh, Jean.«

Wieder war aus Stockport das mühsame, kurze Atmen zu vernehmen. Schließlich räusperte sich Jean und sagte: »Tut mir Leid.«

Shelley erwiderte hastig: »Davon bin ich überzeugt, aber genau das ist der Punkt, nicht wahr? Sie sind vierundsechzig. Was ist, wenn es wieder passiert? Angenommen, Sie stürzen oder es passiert Ihnen etwas Ähnliches. Unsere Kunden zahlen, damit sie ihr Haus beruhigt dem Sitter überlassen können, was aber in diesem speziellen Szenario nicht der Fall wäre. Wenn Town & Country seine Haushüter über die Rentenjahre hinaus beschäftigte, wäre es um den Seelenfrieden der Kunden geschehen.«

»Es ist nur eine kleine Kanne. Sie werden es vermutlich nicht einmal merken, da ja hier so viele Dinge herumstehen.«

»Jean, Sie haben es mit Menschen zu tun. Die Bedürfnisse des Kunden haben Priorität. Das ist das Wichtigste, nicht wahr? Sie befinden sich im Haus des Kunden.«

Jean schniefte. »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, denn ich mache meinen Job immerhin seit achtzehn Jahren.«

»Ja, und deshalb wird es vielleicht Zeit, ans Aufhören zu denken. Wir müssen schließlich alle mal in Rente gehen, oder? Ich glaube, Ruhe könnte Ihnen gut tun. Ich habe ganz vergessen: Wo, haben Sie gesagt, wollten Sie Ihren Lebensabend verbringen?«

Es herrschte erneut Stille in der Leitung, da Jean nicht wusste, was sie antworten sollte. Und Shelley versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass die Agentur mit Jean bei den wenigen Gelegenheiten, wenn sie eine Lücke zwischen Haussitting-Jobs hatte, seit achtzehn Jahren immer nur über eine Mrs. Pearl Costello, die Inhaberin des Ardenleigh Private Guest House irgendwo im Osten von Sussex, korrespondiert hatte. War es St. Leonard? Sie mochte gar nicht daran denken, dass Jean auch dieses Jahr wie üblich um einen Job über die Weihnachtszeit ersucht hatte. Sie hatten aber nur den einen Job in Walden Manor anzubieten, der am 3. Januar begann. Shelley seufzte, und ihre Jacke knisterte über der Schulter. Gut, Jean hatte also wohl keine Familie. Aber heute war Shelleys erster Arbeitstag nach dem Weihnachtsurlaub. Sie hatte in einem Haus mit drei Schlafzimmern für vierzehn Personen aus vier Generationen das Weihnachtsfest ausgerichtet und redete sich selbst ein, dass das Familienleben gern überschätzt wurde. Bestimmt hatte Jean in Ardenleigh ihren Spaß.

»Wollen Sie Ihren Lebensabend am Meer verbringen?«

»Ich erwäge verschiedene Möglichkeiten. Habe mich noch nicht entschieden.«

»Wie schön für Sie. So, nun lass ich Sie aber wieder in Ruhe. Schicken Sie uns eine Schadensmeldung. Und bitte denken Sie in Zukunft daran, dass Sie, wenn Sie einen Anruf erhalten, Folgendes sagen sollten: ›Hier bei Standish-Cave in Walden Manor. Kann ich etwas ausrichten?‹ Das ist verbindlicher als einfach ›hallo‹ zu sagen, nicht wahr? Gehört zu den Firmengrundregeln. Und Vorsicht mit dem Staubwedel, zumindest so lange, bis Sie Ihren wohlverdienten Ruhestand antreten.«

Jean legte den Hörer auf. Sie war sich sicher, dass Shelley in Stockport das Gleiche tat, allerdings mit einem Kopfschütteln und einem tiefen Seufzer und der an niemand Bestimmten im Büro gerichteten Bemerkung, dass es höchste Zeit wurde, Jean Wade zum Teufel zu jagen.

Am Abend machte Jean im Kamin des Wohnzimmers ein Feuer. Als es hell loderte, zog sie den Brief der Agentur aus der Jackentasche und hielt ihn vorsichtig über die Flammen. Das Papier rollte sich zusammen, wurde schwarz und loderte noch einmal kurz auf, als die Holzscheite zischend zusammenfielen und explodierendes Harz einen schwachen Knall erzeugte. Jean, die es sich in ihrem Sessel gemütlich gemacht hatte, empfand diese Geräusche wie einen Seufzer der Billigung, gefolgt von einem nachsichtigen Schnalzen. Erst als das Feuer verlosch, stieß ihr, zu ihrer eigenen Überraschung, die Leere des Raums unangenehm auf. Jean hatte im Allgemeinen kein Problem mit der Einsamkeit. Bereits vor langer Zeit hatte sie erkannt, dass Einsamkeit und eine gewisse Melancholie zwei Konstanten in ihrem Leben waren und durchaus nicht ungewöhnlich. Zwischen beiden konnte eine Verbindung hergestellt werden, aber diese Möglichkeit ließ sie so gut sie konnte ungeprüft. Selbst wenn es so war, was konnte sie daran ändern? Wie viele Menschen, die Selbstmitleid nicht ertragen können, empfand Jean manchmal großes Mitleid mit einem tief vergrabenen Teil ihres Wesens, dessen Vorhandensein sie ärgerte. Und natürlich war sie jetzt allein, allein im Schein des Feuers und dem weichen Licht der Lampen, in dem niedrigen, mit Holzbalken versehenen Wohnzimmer mit dem altrosa Teppich und den schweren Vorhängen, die die Dunkelheit ausschlossen. Sie saß in einem stabilen Armsessel. Dieser sowie die übrigen wiesen zusammen mit zwei Sofas, die mit verschiedenen Stoffen bezogen waren, alle die gleichen Grün-, Rosa- und Graunuancen auf. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich besser gefühlt, und natürlich war sie allein. Was plötzlich ihre Unzufriedenheit hervorrief, überlegte sie, konnte also nicht nur die Einsamkeit sein, nicht irgendein unbestimmtes Verlangen nach Gesellschaft, sondern mehr ein Gefühl des Bedauerns, dass sie die Einzige auf der Welt gewesen war, die das kurze, aber befriedigende Verglühen des Briefes miterlebt hatte. Denn es war eine besondere Zeremonie gewesen, die bräunliche, wirbelnde Schrift des Briefkopfs Town & Country Sitters tut alles zu Ihrer Beruhigung‹ in Flammen aufgehen zu sehen. Und Zeremonien, auch wenn sie nicht richtig nachvollzogen werden können, sollten Zuschauer haben, überlegte Jean, denn sie konnte nicht genau erklären, welche Bedeutung ihre Zeremonie gehabt hatte, ob sie ein Ende oder einen Anfang, eine Erinnerung, eine Verpflichtung oder ein Gelübde bedeutete. Aber die Handlung war gewissermaßen befreiend gewesen, und jemand hätte ihr Gesellschaft leisten sollen, um zu beobachten, wie der Brief zu Asche wurde. Jemand, der anschließend eine Zeit lang bei ihr blieb und mit dem sie mit ihrer wenig geübten Stimme reden konnte, über den Brief, ihre Mutter, die verschiedenen Häuser und das Älterwerden, jemand, der im anderen Sessel am Feuer sitzen, nicken und verstehen würde. Und der ihr später, vielleicht fast beiläufig ihre Klugheit und ihren guten Geschmack bewundernd, versichern würde, dass bei so vielen angeschlagenen Gegenständen eine kaputte Teekanne völlig belanglos war, dass alles gut werden würde, ja sogar, dass ihre nicht gerade geschmackvolle Jacke tatsächlich eine hübsche Amethystfarbe hatte.

Noch bevor die Teekanne in Scherben gegangen war, hatte ich gegenüber den Gegenständen dieses Hauses dieses Gefühl. Wenn ich durchs Haus schlenderte, war mir, als ob die Zeit stehen geblieben war oder vielmehr, da dies ja nicht möglich ist, dass das Verstreichen der Zeit irrelevant geworden war, so wie es letztlich mit einem Krieg geschieht, der in einem anderen Land ausgetragen wird. Denn ich hatte den Eindruck, dass in diesem Haus der einzige Zweck der Zeit vor dem Dunkelwerden darin lag, mit dem Licht, das durch die Fenster hereinflutete, etwas Wunderbares zu vollbringen. Die Stunden jener ersten Nachmittage in Walden Manor verstrichen, und ich ließ mich von dem einfallenden Licht unterhalten, das allmählich wieder verblasste und uns, die Gegenstände und mich, erneut uns selbst überließ. Ich fand, das Licht war die angenehmste Gesellschaft, die ich je erlebt hatte.

Ich überprüfte dieses Gefühl in den ersten Tagen und gewöhnte mich daran. Ich erkannte, dass in einem solchen Haus die Zeit so unmerklich verstreicht, dass man sich dessen überhaupt nicht bewusst wird, es sei denn, man achtet auf die Veränderung des Lichts. Die Zeit bedrängte mich nicht mehr in der Weise, wie es der Fall gewesen war, als ich den Brief erhalten hatte. Ich hatte das Gefühl, die Zeit würde mich dahintändeln lassen, solange ich wollte, ja würde sogar selbst direkt neben mir dahintändeln, aber so diskret, dass ich sie gar nicht wahrnehmen würde.

All diese Erkenntnisse gründen natürlich auf späterer Einsicht. Damals hätte ich es nicht in Worte fassen können. Alles, was ich damals im Januar mit Bestimmtheit hätte sagen können, war, dass ich eine gute Zeit in einem schönen Haus verbrachte. Und dass sich die Menschen täuschen, wenn sie behaupten, Freude sei vergänglich. Das Gegenteil ist der Fall. Ich war hier hergekommen mit dem Gedanken, dass die Zeit bis September schnell vorbeigehen würde, was mich sehr beunruhigte. Doch in der ersten Woche hier machte ich die Erfahrung, dass ein Teil der Freude auf ihrer augenscheinlichen Unendlichkeit beruht. Wenn man glücklich ist, rückt das Ende in weite Ferne, auch wenn man befürchtet, dass etwas so Wunderbares nicht ewig dauern kann, doch es hält an. Und man ist verwirrt, denn man rechnet damit, dass es vorbeigeht, was aber nicht der Fall ist. Dann erfasst einen so etwas wie Leichtsinn, und man fängt an zu glauben, dass das Glück unbedingt anhalten müsse. Und das tut es tatsächlich. Da ich glücklich war, rückte die Zeit bis September plötzlich in weite Ferne. Das Glück umgab mich wie ein Wald, so dass ich den September, der dahinter wartete, nicht mehr sehen konnte.

Sie hatte Shelley gegenüber nur die halbe Wahrheit über die Teekanne gestanden. Als diese durch eine zarte Berührung des Staubwedels herunterfiel und auf dem Boden des Esszimmers in Scherben ging, ergoss sich daraus eine Flut von Schlüsseln, die wie emaillierte Samenkörner über die Fliesen schlitterten. Zuerst war Jean aufgebracht, denn sie hatte das Gefühl, fast mit Absicht dort hineingetrieben worden zu sein. Die Eigentümer hatten nämlich Folgendes auf die Liste geschrieben: »Benutzen Sie den Staubwedel. Nehmen Sie die Gegenstände beim Abstauben nicht in die Hand«, und Jean hatte sich an die Anweisungen gehalten. Eigentlich war es deren Schuld, dass die Kanne zerbrochen war. Hätte sie ein Staubtuch verwendet oder die Teekanne hochgehoben, statt mit dem idiotischen Staubwedel darüberzufahren, wäre diese nicht heruntergefallen und zerbrochen.

Als sie die Schlüssel vom Boden aufhob und begutachtete, dachte sie nicht mehr an die Teekanne. In diesem Haus gab es nämlich viele verschlossene Türen. Jean hatte im Lauf der Zeit herausgefunden, dass jeder Hauseigentümer anders war. Einige luden den Haussitter ein, sich ganz zu Hause zu fühlen, und boten ihm so viele Freiheiten, dass es fast schon peinlich war. Jean war während ihrer Haushütejobs aufgefordert worden, den Computer zu benutzen, sich an der Hausbar zu bedienen, zweifelhafte Videos anzusehen, die Sauna zu benutzen, ja sogar die elektrischen Lockenwickler der Hausherrin. Andere Hausbesitzer verhielten sich weniger überschwänglich, aber immer noch großzügig. Manchmal schlossen sie nicht benötigte Zimmer ab – zur eigenen Bequemlichkeit genauso wie zu der des Haussitters. Nur wenige schlossen die Zimmer so, wie diese Eigentümer es getan hatten, ohne Erklärung. Vier leere Schlafzimmer im Obergeschoss hatten sie unversperrt gelassen und alle Räume im Untergeschoss, da Jean sie zwar nicht benutzen, aber sauber halten sollte. Sie hatten auch was sie in ihren Anweisungen den Poolpavillon nannten abgeschlossen sowie die Garagen und Werkzeugschuppen. Kleine Schränke und Schreibtischschubladen im ganzen Haus waren ebenfalls unzugänglich, und die Schlüssel waren gut versteckt worden. Vermutlich in der blau-weißen Teekanne auf der Rückseite des Büfetts, vermutete Jean jetzt, als sie eine Hand voll Schlüssel aufhob und in ihrer Handfläche leise klirren ließ. Die Besitzer hatten sie in die Teekanne getan, um sie vor ihr zu verstecken. Ihr leichter Ärger über dieses Verhalten steigerte sich zu Groll. Damit wollten sie doch zum Ausdruck bringen, dass sie ihr nicht trauten. Nahmen sie etwa an, dass ein schlichter Haussitter nicht fähig war, der Versuchung zu widerstehen, ihre schönen, kostbaren Gegenstände zu beschädigen?

Die Wagenschlüssel waren für Jean, die keinen Führerschein besaß, uninteressant. Sie nahm auch nicht an, dass sie Gartengeräte bedienen sollte oder wollte. Einige Schlüssel waren mit Papierstreifen wie »Rasenmäher«, »alte Säge« und »neue Säge« gekennzeichnet. Aber die größten Schlüssel waren zweifellos für die verschlossenen Türen im Obergeschoss bestimmt. Damit würde sie die Zimmer öffnen, die ihr vorenthalten wurden, und diese würden dankbar sein, dass sie ihnen ihre Aufmerksamkeit schenkte. Die kleineren Schlüssel, vermutete sie, waren für die Schränke bestimmt. Diese würden noch kostbarere Dinge enthüllen und sie über die kaputte Teekanne hinwegtrösten. Schätze, die noch wertvoller waren und lediglich darauf warteten, ans Tageslicht befördert zu werden. Und die kleinsten Schlüssel würden sicherlich die Schlösser geschnitzter Schatullen und geheimer Schubladen in eleganten Sekretären öffnen. Sie würden mit einem unmerklichen Klick nachgeben, und sie würde winzige Griffe herausziehen und Deckel über Geheimnissen lüften, die diese Leute in ihrer anmaßenden Art vor ihr geheim halten wollten. Neben diesen zinnfarbenen Schlüsseln, deren matter Glanz lediglich die Fülle und Kostbarkeit dessen, was sie beschützten, verbarg, verlor die leuchtende, blau-weiße, silbergefasste Teekanne ihre Bedeutung. Sie sammelte die Porzellanscherben auf, die nun so überflüssig waren wie eine abgelegte Haut, und verstaute sie in einer Tüte.

Vielleicht nehmen Sie an, dass das Alleinsein im Haus von Menschen, die viel begüterter sind als man selbst, die ideale Voraussetzung für Bitterkeit schafft, aber ich glaube nicht, dass ich je in diese Falle getappt bin. Im Übrigen ist dieses Haus hier nicht unbedingt das größte oder luxuriöseste meiner Laufbahn, noch machte es mir je etwas aus, keine Nachbarn zu haben. Haussitting ist sowieso ein einsamer Job, und eine Meile bis zum Dorf ist durchaus zumutbar. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich mich in Städten immer viel einsamer gefühlt, in riesigen, prachtvollen Villen hinter elektronischen Schutzzäunen, Häusern voll teurem Plunder, die sich meistens an Orten befanden, die beliebt und gleichzeitig abstoßend sind, wie zum Beispiel Bournemouth. Oder Wilmslow. An solchen Orten werde ich immer einsam sein. In solchen Häusern liegen Teppiche ausgebreitet, die sind so flauschig, dass man glaubt, über platt gedrückte Tiere zu schreiten. Wuchtige Polsterstühle mit riesigen Kissen erinnern an korpulente Damen in engen Kleidern mit viel zu schrillen Farben. Sehr häufig in Pfirsich. An solchen Orten ist man einsam, fühlt sich gleichermaßen behaglich wie auch abgestoßen.

Dieses Haus, mein 58., ist nicht das größte, auch nicht das einsamste oder luxuriöseste. Es ist das anmutigste, es ist ganz einfach schön. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass dies das erste wirklich schöne Haus ist, das ich je gehütet habe, denn ich konnte mir vorstellen, auf Dauer hier zu leben, nicht nur vorübergehend. Es ist auf altmodische Weise schön – und ruhig. Ich glaube nicht, dass ich ein Snob bin, aber dieses Haus hier verrät guten Geschmack. Doch es ist nicht nur das. Ich habe es nie wirklich mit seinen Eigentümern in Verbindung gebracht, finde es sogar seltsam, sie als solche zu bezeichnen. In der ersten Woche habe ich mir noch Gedanken über sie gemacht, aber mit der Zeit immer weniger und nach Michaels Auftauchen eigentlich kaum noch.

Als ich hier eintraf, waren drei der oberen Räume verschlossen. Ebenso die Kellertür, verschiedene Schränke, die Garagen und die Nebengebäude. Ich war etwas verärgert darüber. Die Kunden sollten so etwas unterlassen. Eine meiner Aufgaben besteht in erster Linie darin, die Zimmer zu lüften. Wie soll ich das, wenn sie verschlossen sind? Dann ist da die Brandgefahr. Was passiert, wenn ein Kurzschluss entsteht, Feuer ausbricht und man nicht rankommt? Man grübelt, was sich wohl hinter der Tür abspielen mag, kann jedoch nur am Türgriff rütteln und alle Heiligen anflehen, dass alles gut geht. Die Menschen bedenken das nicht, nicht solange sie nicht selbst einen Brand erlebt haben. Die Ironie war, dass auf der langen Liste der Anweisungen und Verbote ausdrücklich stand, ich solle jede Brandgefahr vermeiden. Also kein Feuer im Kamin oder Kerzen und nachts den Stecker des Fernsehers herausziehen. Ich hätte das persönlich nehmen können, aber ich gemahnte mich, dass sie ja nichts über mich im Zusammenhang mit Bränden und Häusern wussten. Das konnten sie nicht, weil Town & Country Sitters ebenfalls nichts wussten. Denn hätten sie eine Ahnung gehabt, wäre ich nie genommen worden. Nein, die »Eigentümer« waren einfach übervorsichtig, für den Fall, dass ich tatsächlich so dumm war, wie sie befürchteten, denn schließlich war ich ja nur eine Haussitterin.

Auch folgende Anweisungen ärgerten mich: In der Bibliothek, dem Wohn- und Esszimmer und im Obergeschoss sollten die Heizkörper ausgeschaltet bleiben, aber nicht in »meinem« Zimmer oder dem kleinsten Bad oder dem kleinen Fernsehzimmer. Man ging einfach davon aus, dass ich abends nur fernsehen und anschließend ins Bett gehen würde. Nun, selbst wenn ich das zu tun pflegte, fand ich es unverschämt, davon auszugehen. Es erinnerte mich an die Ardenleigh-Pension, wo man die Wahl zwischen dem Schlafzimmer (tagsüber war die Heizung ausgeschaltet) oder der so genannten Lounge hat, wo der Fernseher den ganzen Tag läuft, ohne dass jemand ihm Beachtung schenkt, aber wo auch niemand etwas anderes tut, außer pikiert dreinzusehen. Und auf der Liste stand auch ausdrücklich, dass die Küche geheizt sei. Wenn das mal kein Wink mit dem Zaunpfahl war, um mir zu zeigen, wo mein Platz war.

Fast von Anfang an machte ich jeden Abend im Wohnzimmer ein Feuer, bis Anfang Juni. Im offenen Schuppen im Hof ist so viel Holz gestapelt, dass es für Jahre reicht. Zudem gibt es hier jede Menge Bäume. Seit letzter Woche hat Michael wieder Feuer gemacht, denn die Augustabende können kühl sein.

Wie dem auch sei, ich will ja versuchen, alles zu erklären. Ich gebe zu, ich war gegenüber Mr. und Mrs. Standish-Cave nicht gerade bester Stimmung, aber nicht aus Boshaftigkeit. Eher deshalb, weil sich die Dinge auf eine bestimmte Weise entwickelten. Es fing damit an, dass ich nach einem weiteren im Ardenleigh-Gästehaus verbrachten Weihnachtsfest hierher kam. Zu Weihnachten finde ich das Gästehaus grauenhaft. Es ist dann zur Hälfte eine Pension für Urlaubsgäste und zur Hälfte ein Seniorenheim. Mrs. Costello nimmt jeden auf, der zahlt, sofern er nicht verkalkt ist. Wahrscheinlich behagt es ihr sehr, den ganzen Winter über Pensionsgäste zu haben. Aber zu Weihnachten ist es weder das eine noch das andere. Auf jedem Etagenheizkörper steht ein Schneemann aus Plastik, Flitterkram (türkis, zum Teppich passend) ist über den Bildern, dem Barometer und der Kuckucksuhr angebracht, sogar auf dem Edelstahlset für Essig und Öl, das auf jedem Tisch steht. Dieses Jahr gab es einen Weihnachtsbaum aus Plastik mit flackernden Kerzen, die ein Weihnachtslied spielten, bis einer der weiblichen Gäste nachts im Traum davon verfolgt wurde, so dass sie ins Bett machte. Es wurde dann zum Tagesgespräch, ob man ihr erlauben würde zu bleiben. Die Bilder an der Wand entsprachen den Tischsets und diese wiederum den Bildern. Und ich habe auch noch nicht gewusst, dass Grapefruitschnitze in Sirup (der erste Gang am Weihnachtstag) besser schmecken sollen, wenn man sie auf einem Set mit einer Kutschfahrt-Szene aus dem guten alten England serviert bekommt. Die Pension ist im Übrigen ganz passabel, man gewöhnt sich an den Verkehr draußen und an das Fernsehen, und immerhin wird um sechs die Heizung in den Zimmern angestellt. Aber die Ironie an der Geschichte war: Auch wenn ich das Ardenleigh-Gästehaus nicht gerade als Paradies betrachtete, war es immer noch besser als der Ort, an dem ich vermutlich enden würde, denn ab September würde ich nicht einmal den Pensionspreis für Dauergäste zahlen können.

Später waren wir zu dritt, Michael, Steph, ich und dazu das Baby, und plötzlich wird mir klar, was das eigentlich Wichtige war. Es ist schwierig. Ich habe gerade die letzten Zeilen noch einmal gelesen. Sie sagen Ihnen nicht viel, oder? Ich will es mal so ausdrücken: Es war nicht nur der Gedanke an das Ardenleigh oder an eine noch schlimmere Einrichtung, oder an dieses Haus oder die Gegenstände darin, oder an mich, Michael oder Steph oder das Baby. Nicht der Gedanke an einen einzelnen Aspekt, der wichtiger wäre als die anderen. Es ging um uns alle und um alles an diesem Haus: die Art und Weise, wie dieser Ort jedem von uns ermöglichte, mit dem Kämpfen aufzuhören, wie er uns Kraft zu verleihen schien, dass es richtig schien, so viel dafür und auch füreinander zu geben. All das beschränkte sich nicht nur auf uns drei.

Wissen Sie, wir haben spät erkannt, dass wir zu einem Haus gehörten und zu anderen Menschen. Damit möchte ich nicht sagen, dass wir in der Vergangenheit nicht schon alle unsere Versuche damit hatten, das ist unvermeidlich, aber jetzt waren wir hier, bildeten eine Familie, und das war der Punkt. Und wenn Sie finden, dass sich das wie der Versuch einer Entschuldigung für das, was geschehen ist, anhört, könnten Sie Recht haben.

Wegen sechs Gobelinkniekissen, acht Pfund pro Stück, hätte sich wohl der ganze Aufwand kaum gelohnt. Michael war wegen der zwei Alabasterfiguren aus dem 16. Jahrhundert, die im Glaskasten zu bewundern waren, hierher gekommen. Nur der Abwesenheit des Pfarrers und dieser dummen Frau war es zu verdanken, dass er die Figuren nicht in die Finger bekam. Und der Trostpreis in Form von sechs Kniekissen machte das Ganze irgendwie sogar noch schlimmer. Diesen Gedanken hing Michael nach, während er lächelte und ihr zuhörte. Sie war wohl eine Ehrenamtliche der Kirchengemeinde und hatte ihn – wenn auch unbewusst – daran gehindert, das siebte Kissen auch noch zu klauen, und jetzt folgte sie ihm auf Schritt und Tritt durch die Kirche.

Er hatte im Pfarramt angerufen und gefragt, ob er die Alabasterfiguren anfassen dürfe, doch eine am Computer sitzende Frau hatte ihm erklärt, dass der Pfarrer abwesend sei und sie nicht wisse, wie der Schaukasten, in dem sich die Figuren befanden, zu öffnen sei, aber selbstverständlich könne er die Kirche besichtigen. Er war froh gewesen, dass kein Mensch in der Kirche war, und fühlte sich keineswegs niedergeschlagen, denn er war darauf gefasst gewesen, dass die Figuren nicht zugänglich waren, aber vielleicht konnte er dennoch ein paar nützliche Dinge herausfinden, zum Beispiel wie stabil das Schloss war, vielleicht sogar, wo der Schlüssel aufbewahrt wurde (häufig verstauten ihn die Kirchenleute einfach in einer Schublade in der Sakristei). Es wäre nicht das erste Mal, dass er noch einmal wiederkommen musste. Eine ordentliche Menge der geklauten Kniekissen würde die Reisespesen ausgleichen. Als diese Nervensäge von Frau acht Minuten später aufgetaucht war, saß er in einer Bank, seinen Rucksack neben sich, und hatte die Situation voll im Griff, da er ja mehr oder weniger damit gerechnet hatte, gestört zu werden.

Schon vor langer Zeit hatte er erkannt, dass die Ruhe in Dorfkirchen trügerisch war, da den ganzen Tag Menschen ein- und ausgingen, die wichtigtuerisch irgendwelche Aufgaben für die Gemeinde erledigten. Er war immer auf dem Sprung. Beim geringsten Alarmzeichen, meistens in Form des klappernden Eisenriegels an der Tür, mimte er den frommen Gläubigen, der ins Gebet versenkt war. Bis zu dem Zeitpunkt, da er gestört wurde – heute hatte es nur acht Minuten gedauert –, war er immer emsig beschäftigt. Diesmal hatte er die lästigen, aber gut zu verkaufenden handbestickten Kniekissen in seinen Rucksack gepackt. Dieser besaß eine Kapazität für zwanzig, die gut hundert Pfund einbringen mochten, was allerdings nur ein Fünftel dessen ausmachte, was er für die Alabasterfiguren hätte rausschlagen können. Also wäre es kein einträglicher Tag, aber immerhin einer, für den sich der Besuch gelohnt hatte.

Nun würde er diese Berechnungen jedoch korrigieren müssen, denn er hatte bis jetzt erst sechs Kissen in den Rucksack gestopft. Und die Frau erklärte ihm nun schon seit zwanzig Minuten, dass der Pfarrer deshalb nicht hier war, weil seine Frau drei Wochen vor Weihnachten gestorben sei und der arme Mann erst mal zu sich finden müsse.

»Was für ein Schicksalsschlag! Der arme Mann! Ich sagte zu ihm, man weiß nie, wie es einen erwischt, denn jeder von uns ist anders. Sind wir doch, oder? Aber er erwiderte, er werde bis Dreikönig durchhalten, das war ja gestern, und dann würde er sich eine Ruhepause gönnen. Wenn Sie mich fragen, sage ich Ihnen, dass er es schlechter verkraftet, als er sich zugetraut hat.«

Michael lächelte und meinte, er könne das gut verstehen. »Aber vielleicht könnten Sie den Kasten öffnen? Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, suche ich seit mehreren Jahren nach Artefakten aus dieser Zeit, und nur durch ...«

»Am Sonntag habe ich zum Küster gesagt, wenn Sie mich fragen, steht dieser Mann vor einem Zusammenbruch, und er erwiderte, ja, ich weiß, aber zumindest ist er eine Woche weg, in Columba's Lodge, und ich sagte, das höre ich gern.«

»Wissen Sie, wenn ich die Figuren berühre, ist das die einzige Möglichkeit ...«

»Wie? O nein, tut mir Leid, aber ich hätte kein gutes Gefühl dabei. Ich bin Kirchenvorsteherin, wie ich Ihnen bereits sagte, aber ich weiß nicht, ob ich die Befugnis dazu habe. Noch nie war ich mit einem solchen Anliegen konfrontiert, und der Pfarrer bewahrt den Schlüssel in der Sakristei auf, also ... Wenn wenigstens der andere Kirchenvorstand hier wäre, aber soweit ich weiß, verbringt er eine Woche auf den Kanaren. Sie fahren immer im Januar. Einige Leute haben einfach Glück!«

Michael verzog den Mund erneut zu einem verständnisvollen Lächeln, zweifelte aber daran, ob er es schaffen würde, ohne feindseliges Zischen »macht nichts« zu sagen. Also schwieg er lieber. Er ging das Mittelschiff entlang, blickte nach oben, als interessiere ihn die Decke, und blinzelte ein paar Mal, um das nervöse Muskelzucken in seinem Gesicht zu überspielen, das jedes Mal auftrat, wenn er aufgeregt war. Dann erkannte er wie einen immer wiederkehrenden vertrauten Schmerz, dass sie ewig weiterreden und ihn nicht mehr allein lassen würde. Also musste er als Erster gehen.

»Wissen Sie, Jeff, haben Sie nicht gesagt, dass Sie Jeff heißen, ich denke, der Pfarrer würde einwenden, dass es weniger um den Wert der Figuren geht als um die Zerbrechlichkeit. Niemand darf sie ohne Handschuhe anfassen. Verstehen Sie, ich kann das nicht verantworten. Aber vielleicht kommen Sie wieder, wenn der Pfarrer zurück ist. Vielleicht lässt er zu, dass Sie die Figuren berühren.«

Michael spielte den enttäuschten Gelehrten. »Ja, das wäre wunderbar, aber ich muss bis zum Wochenende wieder in Norfolk sein, verstehen Sie? Und es wäre so wichtig, sie genau zu untersuchen. Mein kleines Buch behandelt vor allem einige Probleme der Datierung, wie ich Ihnen bereits erklärt habe, und lediglich eine gründliche Untersuchung bringt mich weiter ...«

»Oh, aber wir sind recht zuversichtlich, dass sie wirklich aus dem 16. Jahrhundert stammen, weil ...« Michael stellte fasziniert fest, welch eine Gier nach Einzelheiten sich in ihrem Gesicht ausdrückte. Ihr immer noch fülliges Haar war früher vermutlich rot gewesen. Unter ihrer Strickmütze stahlen sich ein paar Locken hervor, und über ihrem kleinen Mund, der immer in Bewegung war, zeichnete sich rötlicher Flaum ab. Michael holte tief Luft, um einen letzten Versuch zu wagen. Er erklärte ihr, dass laut seiner Hypothese, die auf seinem Verständnis (das natürlich rudimentär war, eher privater Natur, obwohl vielleicht ein Verleger daran interessiert sein könnte) der religiösen Ikonographie Nordeuropas gründete – die Einzelheiten wolle er ihr ersparen –, die Figuren vielleicht viel älter waren.

»Ja, sie könnten sogar aus dem 12. Jahrhundert stammen. Doch um sicher zu sein, muss man sie anfassen, da das Gewicht und das Material entscheidend für die Datierung sind. Und wenn man ein klein wenig vom Sockel abkratzt, bekäme man die Bestätigung. Aber wenn ich mich nicht irre, sind sie so einmalig, dass sie unbezahlbar sind. Ihr Wert ist unschätzbar.«

Diese Masche hatte schon früher funktioniert. Es war verblüffend, wie der Widerstand einiger Personen, ihm ihre kostbaren Kunstgegenstände auszuhändigen, plötzlich schwand, wenn er der Vermutung Ausdruck gab, dass sie sich nach einer näheren Untersuchung als noch großartiger und kostbarer herausstellen könnten als angenommen. Aber aus unerklärlichen Gründen war diese Frau immun gegen seine Überredungskünste. »O mein Gott, Sie hätten zuerst den Pfarrer anrufen sollen, es ist zu dumm, dass Sie ihn verpasst haben. Obwohl, um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht sicher, ob er empfänglich dafür gewesen wäre, denn er ist einfach erschöpft. Es ist erst viereinhalb Wochen her, seit sie gestorben ist, und das kurz vor Weihnachten. Und man kann sich vorstellen, dass Weihnachten ihm fast noch den Rest gegeben hat, aber nein, er ließ keinen einzigen Gottesdienst aus. So ist er eben, immer pflichtbewusst, zu eisern sich selbst gegenüber. Und dabei brauchte er dringend Erholung, das konnten wir alle sehen. Seine Frau war erst 59, und gegen Ende hatte er sie rund um die Uhr gepflegt. Der Bischof hat viel Verständnis für solche Dinge. Ich meine, der neue, der Vorgänger hatte weniger dafür übrig. Doch als Gemeinde versuchen wir alle ...«

»Ist schon gut, das konnte ich ja nicht wissen. Ist wirklich sehr traurig. Vielleicht ein andermal. Ich werde Sie jetzt ...« Michael fand nicht die richtigen Worte, wie es sonst der Fall war, und der Muskel in seinem Gesicht zuckte jetzt unübersehbar. Warum erforderte es jedes Mal größere Anstrengung? Dieser Teil davon, der Teil des Geschäfts, der eigentlich Spaß machen sollte und der, so überlegte Michael, einst überhaupt der Witz an der Sache gewesen sein mochte, erforderte jetzt immer größere Mühe. Seine Aufmerksamkeit war eingeschränkt, und das war gefährlich. Oder vielleicht, erwog Michael und legte die Hand übers Gesicht, ließ er es zu, dass seine Aufmerksamkeit abschweifte, weil es gefährlich war, denn das Feuer, mit dem er spielte, war im Lauf der letzten Unternehmungen abgekühlt, und etwas mehr Gefahr würde vielleicht wieder mehr Hitze entfachen. Oder war er einfach müde, unendlich müde, einfach ausgebrannt, wie es der Pfarrer war?

Michael schenkte der Frau erneut sein Hilfsgeistlichen-Lächeln und konzentrierte sich so gut wie möglich. Er war nicht Michael, sondern Jeffrey »alle nennen mich Jeff« Stevenson. Er legte Dankbarkeit in seine Stimme, sein Lächeln zeigte Bedauern, und seine Augen ließen keinen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit aufkommen. In Gedanken ging er nochmals alles durch. Er, Jeff, war ein Hilfsgeistlicher der Kirche von England, hatte ein paar Tage Urlaub. Sein besonderes Interesse galt sakralen Gegenständen. Er war ein Hilfsgeistlicher; enttäuscht und weise, aber (weil sie es alle sind) ausgesprochen nett.

Freundlich sagte er: »Es ist meine Schuld, ich hätte es überlegter planen sollen, aber manchmal ist es besser, dorthin zu gehen, wohin einen die Füße tragen, und einfach hereinzuplatzen. Nun gut, zurück nach Norfolk, Plan gescheitert. Es sei denn, wir können jemand anderen bereden ...«

»Oh, Norfolk! Ich mag Norfolk! Wo genau liegt Ihre Kirche?«

Michael schluckte und bemühte sich verzweifelt, den blanken Hass, der in ihm aufstieg, nicht zu zeigen.. »St. Margaret, Burnham Norton«, erklärte er ihr und rief sich in Erinnerung, dass er heute Jeff Stevenson von St. Margaret, Burnham Norton war und kein Anlass zur Panik bestand. Falls erforderlich, konnte er die biografischen Einzelheiten über Jeff Stevenson herunterleiern, die er aus Crockfords Klerikerverzeichnis auswendig gelernt hatte. Ein Teil in Michaels Gehirn stellte sich jetzt den richtigen Jeff Stevenson vor, der in Norfolk sein Priesteramt versah, ahnungslos, dass er auf der anderen Seite des Landes einen Doppelgänger hatte, der seine Rolle recht gut spielte. Michael wusste, dass die Aufgaben, die der echte Jeff Stevenson heute erledigen musste, bestimmt Trost für die Alten, die Einsamen, die Kranken mit einschlossen, Aufmunterung, Beruhigung und Bemäntelung der Wahrheit, dass das Leben der meisten Menschen beschissen war, ob es nun einen Gott gab oder nicht. Michael glaubte, dass Trost nur eine andere Form der Lüge war, was also Jeff Stevenson nicht besser machte als ihn.

»Oh, wo genau liegt das?«, fragte die Frau, und ihre Stimme verriet, was kaum zu glauben war, echtes Interesse. Wie war es möglich, überlegte Michael. Und vor allem warum,warum diese Neugier, dieses Interesse an Einzelheiten im Leben von Fremden? Dann erfasste ihn die Erregung, die er bis jetzt vermisst hatte. Michael hatte keine Ahnung, wo Burnham Norton lag. Eine Katastrophe bahnte sich an, wenn er aufgrund jener so häufig vorkommenden Zufälle entlarvt wurde. Halb wünschte er es sich, halb wollte er hören: »Weil meine Schwester dort wohnt, Sie kennen sie bestimmt«, oder aber: »Der Hilfsgeistliche von St. Margaret ist der Neffe meines Patenkinds. Und Sie sind es nicht!« Eines Tages würde es geschehen. Würde es heute sein? Je häufiger er kleine Reisen unternahm, desto größer wurde das Risiko. Und mit jedem Mal, bei dem er davonkam, wurde es wahrscheinlicher, dass der Tag bevorstand, an dem er aufflog.

»Liegt es an der Küste?«

Die Frage schien von den Kirchenwänden abzuprallen und um den Glaskasten, in dem die Figuren sicher verwahrt waren, herumzuwirbeln. Michael bewegte sich unauffällig auf die Tür zu.

»Nun, wenn Sie wissen, wo Norwich liegt, dann ist es meines Erachtens nicht weit von dort. So, nun sollte ich aber lieber ...«

»Aber in welcher Richtung? Wie viele Meilen entfernt? Liegt es in der Nähe von, wie heißt es doch noch mal – ich kann es mir vorstellen, ich war als Kind dort – zwei Mal.«

»Oh, ist das Ihr Kirchenanzeiger?«, stieß Michael plötzlich hervor. »Darf ich einen nehmen?«

»Aber sicher. Da, nehmen Sie ruhig mehrere, Sie können sie ja weitergeben«, sagte sie und schob ihm einen Stapel blassgrüner Hefte zu. »Es steht auch etwas über unsere Figuren darin, wir sind nämlich recht stolz auf sie. Und wir freuen uns über Besucher.«

»Oh, darf ich? Danke schön.«

»Nehmen Sie, so viele Sie wollen. Und vergessen Sie uns nicht. Der Pfarrer kehrt Ende der Woche zurück. Haben Sie sich schon in unserem Gästebuch eingetragen? Es müsste ein Stift daneben liegen, aber die sind auch immer schnell weg.«

»Oh, nur keine Umstände. Es hat mir Spaß gemacht, Ihre Kirche zu besichtigen. Ja, ich habe mich eingetragen«, sagte Michael überschwänglich. »Habe es gleich am Anfang erledigt, bevor Sie kamen. Ich danke Ihnen so sehr.«

»Und kommen Sie wieder am Ende der Woche, wenn der Pfarrer wieder hier ist.«

»Wenn es möglich ist, komme ich gern. Danke!«

»Viele Grüße an Norfolk.«

»Ich richte es aus.« Und wenn Sie noch ein Wort sagen, dachte er, während er die Frau anstrahlte, bevor er sich der Tür zuwandte, werde ich Ihnen den Hals umdrehen.

Michael hielt in einer Parkbucht am Rand von Painswick, nahm den Stapel blassgrüner Kirchenanzeiger vom Armaturenbrett, kurbelte das Fenster herunter und warf ihn hinaus. Als die Hefte zu Boden flatterten, starrte er sie an. Seine Anspannung entlud sich jetzt in einem Weinkrampf. Der Van musste gerichtet werden, die Stromrechnung war überfällig, und selbst wenn er die sechs Kissen sofort verkaufen konnte, musste er noch tanken, so dass letztlich nichts übrig blieb. Er ließ den Kopf aufs Lenkrad fallen und schluchzte. Morgen musste er wieder vor Gericht erscheinen, weil er erneut seine Geldstrafe nicht entrichtet hatte und die Verzugszinsen nicht aufbringen konnte. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Trotz seiner gelungenen Vorstellung heute war er nicht Jeff Stevenson. Er war eindeutig nur er selbst.

Am Dienstag, am Tag nachdem die Teekanne in Scherben gegangen war und nach Shelleys Anruf, steckte Jean die Schlüssel in ihre Jackentasche und machte ihre Runde durchs Haus. Der größte Schlüssel passte in die abgeschlossene Tür auf der Vorderseite des Hauses. Es stellte sich heraus, dass es ein Studierzimmer war, das aber gar nicht wie ein solches aussah, sondern eher eine gemächliche Atmosphäre verbreitete, als ob die hier betriebenen Studien nicht aktiv vorangetrieben wurden, sondern sich eher in ihrem eigenen Rhythmus entwickelten. Das Mobiliar war offensichtlich im Lauf der Zeit Stück für Stück zusammengetragen worden und hier stehen geblieben, auch wenn es nicht mehr gebraucht wurde. Neben einen Schreibtisch aus Mahagoni reihte sich einer aus Eiche, der kleiner und weniger hübsch war und auf dem eine alte IBM-Schreibmaschine stand. Ein Aktenschrank mit vier Schubladen stand neben einem anderen, der halb so groß war und eine andere Farbe aufwies. Es gab einen Computer und einen Drucker, ein ausgeschaltetes Faxgerät und einen Anrufbeantworter. Neben dem Computer stand eine alte Rechenmaschine und hinter dem schnurlosen Telefon entdeckte sie ein weißes aus Plastik mit einer runden Wählscheibe.

Jean war nicht besonders neugierig, welches Geschäft hier betrieben wurde. Aber wenn sie die Regale betrachtete, auf denen ein Almanach der Kricketspieler stand, Softwareschachteln mit Titeln wie Mensa Ultimate Challenge und British Plant Guide