Die Toten von Bath - Morag Joss - E-Book
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Die Toten von Bath E-Book

Morag Joss

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Beschreibung

Die Abgründe hinter der englischen Idylle: Der Krimi-Sammelband »Die Toten von Bath« von Morag Joss jetzt als eBook bei dotbooks. Drei eiskalte Verbrechen – ein außergewöhnliches Ermittlerduo … Erhaben thront der englische Kurort Bath in den Hügeln von Somerset, doch hinter der perfekten Fassade drängen dunkle Geheimnisse ans Tageslicht. Ein Leichenfund in den alten römischen Bädern erschüttert die ganze Stadt – wer hat den angesehenen Museumsdirektor auf so kaltblütige Weise hingerichtet? Der junge Detective Inspector Andrew Poole ahnt, dass dieses Verbrechen weite Kreise zieht und beginnt unter Hochdruck zu ermitteln. An seiner Seite die Cellistin Sarah Selkirk, die als erste am Tatort war. Doch kann es wirklich Zufall sein, dass ihr der Tod von nun an überallhin zu folgen scheint? Immer tiefer verstricken sich der Inspector und Sarah in einen Sumpf aus Lügen und Intrigen, der schon bald weitere Opfer fordert … »Ein aufregendes neues Talent unter den britischen Krimiautorinnen! Außergewöhnliche Atmosphäre, tolle Charaktere und ein eleganter Plot«, empfiehlt Bestsellerautorin P. D. James Jetzt als eBook kaufen und genießen: Das Spannungs-Highlight »Die Toten von Bath« von Morag Joss vereint die Kriminalfälle rund um Detective Inspector Andrew Poole und Sarah Selkirk mit »Der Klage dunkles Lied«, »Des Todes heller Klang« und »Des Grabes stumme Melodie«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1637

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Über dieses Buch:

Drei eiskalte Verbrechen – ein außergewöhnliches Ermittlerduo… Erhaben thront der englische Kurort Bath in den Hügeln von Somerset, doch hinter der perfekten Fassade drängen dunkle Geheimnisse ans Tageslicht. Ein Leichenfund in den alten römischen Bädern erschüttert die ganze Stadt – wer hat den angesehenen Museumsdirektor auf so kaltblütige Weise hingerichtet? Der junge Detective Inspector Andrew Poole ahnt, dass dieses Verbrechen weite Kreise zieht und beginnt unter Hochdruck zu ermitteln. An seiner Seite die Cellistin Sarah Selkirk, die als erste am Tatort war. Doch kann es wirklich Zufall sein, dass ihr der Tod von nun an überallhin zu folgen scheint? Immer tiefer verstricken sich der Inspector und Sarah in einen Sumpf aus Lügen und Intrigen, der schon bald weitere Opfer fordert…

»Ein aufregendes neues Talent unter den britischen Krimiautorinnen! Außergewöhnliche Atmosphäre, tolle Charaktere und ein eleganter Plot«, empfiehlt Bestsellerautorin P. D. James

Über die Autorin:

Morag Joss wuchs an der Westküste Schottlands auf und studierte an der Londoner Guildhall School of Music. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter als freie Schriftstellerin in der Nähe von Bath im Süden Englands. Dieser mondäne Kurort ist auch Schauplatz ihrer Kriminalromane. Für ihren brillanten Spannungsroman »Des Hauses Hüterin« erhielt sie den Silver Dagger Award der Crime Writers' Association.

Die Website der Autorin: moragjoss.com

Morag Joss veröffentlichte bei dotbooks auch ihren preisgekrönten psychologischen Spannungsroman »Des Hauses Hüterin«.

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Sammelband-Originalausgabe August 2022

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-098-4

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Morag Joss

Die Toten von Bath

Drei Kriminalromane in einem eBook

Aus dem Englischen von Ursula Bischoff

dotbooks.

Der Klage dunkles Lied

Kriminalroman

Für Tim und Hannah,und mit besonderem Dank an Phyllis

Vorwort

Bath ist für seinen mehr als gerechten Anteil an hervorragend erhaltenen und gut proportionierten Bürgern bekannt, die über eine optisch gefällige Front und klassische Merkmale verfügen. Aber sie kommen in diesem Buch nicht vor. Personen und Ereignisse sind reine Fiktion, während sich die Beschreibung der Kulisse überwiegend an der Realität ausrichtet.

Bei der Beschreibung der Sehenswürdigkeiten in Bath habe ich mich um Genauigkeit und Authentizität bei der Schilderung der historischen und architektonischen Einzelheiten bemüht. Doch mangels prophetischer Weitsicht haben weder die Römer noch spätere Baumeister ihre Monumente mit Blick auf Mordfälle und ihren technischen Ablauf, die Verschleierungstaktiken der Täter oder die Ermittlungen der Polizei errichtet; deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, das eine oder andere Interieur einschließlich Geheimkabinett, Korridore und Hintertüren in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen meiner Romanfiguren zu verändern, was sie mir hoffentlich zu danken wissen. Ich gestehe, daß ich weder um eine Umbaugenehmigung nachgesucht noch selbige erhalten habe, aber mir wurde versichert, daß fiktive Veränderungen (noch) nicht in die Zuständigkeit der Baubehörden von Bath fallen.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei Margaret Campbell für die Informationen und Hinweise bedanken, die ich in ihrem Buch The Great Cellist gefunden habe. Mein Dank gilt auch dem aufgeschlossenen »Head of Heritage Services« in Bath, der sich bester Gesundheit erfreut und eifrig mit Denkmalpflege befaßt ist, und dem District Commander der Polizei von Bath, dessen Obhut ich wegen seiner Herzlichkeit wärmstens empfehlen kann. Fehler, die mir bei der Beschreibung von Musikinstrumenten, Cellisten, Thermalbädern, polizeilichen Maßnahmen oder anderweitig unterlaufen sein könnten, gehen natürlich ausschließlich auf mein Konto.

Morag Joss

Prolog

Es war beängstigend: Wasser, nichts als Wasser, so weit das Auge reichte. Er war nicht an so viel Wasser gewöhnt. Seine Vorfahren hatten im Landesinneren unweit eines breiten, flachen Flusses gelebt, der nur kurze Zeit eine spiegelglatte Oberfläche besaß; für den Rest des Jahres war er so trocken, daß beim Durchqueren Staub an seinen Füßen haftete. Die Wassermassen hätten ihm nicht solche Angst eingejagt, wenn er nicht so tief unten gewesen wäre, mutterseelenallein und in vollständiger Dunkelheit, aus der ein metallisch-dumpfes Dröhnen und Hämmern ertönte, als würde das Schiff mit anderen Schiffen zusammenstoßen, Lattenkisten und Container sich aus ihren Halterungen lösen oder rings um ihn herum explodieren. Sich an das Wissen klammernd, daß sich gegen diese Todesangst keine Abhilfe schaffen ließ, es sei denn, er nähme die Entdeckung seiner Anwesenheit in Kauf, verdrängte er die Schreckensvision einer Kollision mit den gezackten, salzverkrusteten Klippen im Atlantik, die sich in die stählerne Hülle des Schiffes bohrten, und die weißen Gischtfontänen, die wie die Pfeile eines steinernen Bogens in die Höhe schnellten, während sich das Schiff den Weg zwischen den grünen, vom Wasser glattgeschliffenen Gesteinsbrocken hindurch bahnte.

Er schloß die Augen, aber die Finsternis hinter seinen Lidern erwies sich als gleichermaßen trostlos. Aus einem verborgenen Winkel seines Gedächtnisses holte er wieder seine Angst vor Entdeckung hervor und öffnete die Büchse der Pandora. Sofort stiegen erneut qualvolle Gewißheiten in ihm hoch: die drohende Festnahme, bei der man nicht zimperlich mit ihm umgehen würde, das Konfiszieren seiner Barschaft, eine Maßnahme, die auf unverhohlenen Diebstahl hinauslief, das Verhör, Schläge, schlimmstenfalls sogar Folter, unter Umständen eine Gerichtsverhandlung und mit Sicherheit die Rückkehr ins Gefängnis. Das Tosen des Meeres schien manchmal nahe, dann wieder weit entfernt, wie das Zuschlagen von Zellentüren in den Gefängnisgängen, stets von der unmittelbarsten täglichen Schmach begleitet, dem Zuschlagen der eigenen Tür und dem Kratzen, wenn der Riegel vorgeschoben wurde. Gleich zu Beginn seines Aufenthalts hatte er dort noch größere Erniedrigungen kennengelernt, angefangen in der Nacht, als er auf das Zuschlagen der Tür wartend eine dunkle, massige Gestalt auf der Schwelle erspäht hatte, einen der Wärter, der sich grinsend den Schritt gerieben hatte, bevor er in die Zelle kam und die Tür schloß. Die Vorstellung, ein paar Nächte unter der Oberfläche des Meeres zu verbringen, verlor ihren Schrecken. Diese Nacht würde vorübergehen, genau wie andere Nächte. Majmout hatte genug Geld erhalten, um ihn ausreichend mit Essen zu versorgen und ihn zu verstecken, und Majmout hatte gesagt, daß er sich bei Tageslicht auf dem Schiff frei bewegen dürfe, solange er nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken und sich nur dort aufhalten würde, wo Majmout es für sicher hielt. Er hatte gesagt, von den anderen Matrosen habe er nichts zu befürchten; viele brachten von Zeit zu Zeit einen blinden Passagier an Bord, entweder gegen Bezahlung oder um Familienangehörigen zu helfen. Es bestand kein Grund zur Sorge, alles würde gutgehen, auch in dieser ersten Nacht. Die kommenden Stunden konnten nichts bringen, was so unerträglich war wie der Gedanke an einen erneuten jahrelangen Aufenthalt im Gefängnis!

Er lauschte dem Summen des nahegelegenen Schiffsmotors und atmete den betäubenden Geruch von Öl und Metall ein, den er, selber kein Seemann, als Probe seiner Seetauglichkeit empfand. Er verkroch sich tiefer im schützenden Kokon der staubigen Säcke und spürte das Gewicht, das auf ihm lastete. Die Kälte des Bodens drang in seine Schultern ein, breitete sich in seinem Rücken aus, und obwohl seine Glieder eiskalt und steif waren,. brannte sein Gesicht wie Feuer. Er hatte den ganzen Tag keinen Hunger verspürt, aber er kam fast um vor Durst. Die Angst zu verdursten durchzuckte ihn und nistete sich neben anderen Fieberphantasien in seinem Kopf ein, der Furcht vor Entdeckung oder vor dem Meer, das groß und schwarz wie ein Büffel in das Schiff eindrang. Und eine weitere Angst gesellte sich hinzu: Falls Majmout ahnte, wieviel Geld er bei sich hatte und wie leicht er dieses in seinen Besitz bringen könnte, würde er ihn möglicherweise über Bord werfen. Er mußte seinen Geldbeutel ständig am Körper tragen und darauf achten, daß Majmout keine Gelegenheit erhielt, zu sehen, was sich darin befand. Für die Dauer der Überfahrt würde er seine ganze Schlauheit und Stärke brauchen. Jetzt galt es zunächst, Kräfte zu sammeln, sich auszuruhen, und wenn er die Augen schloß, konnte er sich beinahe einreden, daß der morgige Tag besser als der heutige zu werden versprach, und wenn auch nur, weil er dem trockenen Land ein Stück näher kam. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen: Die ganze Nacht lang schnürte ihm das Anbranden des Ozeans gegen den Bug und seine Angst vor der riesigen, lauernden See den Atem ab, daß er meinte, ersticken zu müssen.

Teil 1

Kapitel 1

Sara holte tief Luft, zum einen vor Erschöpfung, und zum anderen, um ihre Verärgerung zu unterdrücken. Das Läuten des Telefons unterbrach den ersten Moment der Cooldown-Phase am Ende des Laufs, in der die Bewegungen langsam zum Stillstand kamen. Sie hoffte, daß es nicht Robin war, ihr Agent; sie war innerlich noch nicht bereit, das Kriegsbeil zu begraben, und fühlte sich schon im voraus frustriert. Ihre Beine zitterten, und das Wasser rann ihr noch aus allen Poren, als sie ranging. Der warme glatte Plastikhörer rutschte aus ihrer schweißnassen Hand, fiel zu Boden, sprang zurück, drehte sich um die eigene Achse und knallte gegen die Kommodenschublade. Wer immer am anderen Ende der Leitung sein mochte, würde annehmen, sie hätte das Telefon gegen die Wand gefeuert, so daß es sinnlos war, jetzt die Gelassene, Vernünftige zu mimen. Aber es war nicht ihr Agent, sondern James. Nicht weniger frustriert, bemühte sich Sara um einen lässigen Tonfall, was ihr schwerfiel, weil sie immer noch keuchte.

»Sara Selkirk. Ach du bist's! Was das war? Nichts. Mir ist nur der Hörer aus der Hand gefallen.« Sie streifte die Laufschuhe von den Füßen, ohne die Schnürsenkel aufzumachen. »Ich bin ein bißchen außer Atem, das ist alles. Hab gerade mein Lauftraining hinter mir.« Sie wischte sich mit der freien, feuchten Hand über Hals und Brust.

»Aha. Und wie kommst du voran? Alles in Ordnung?« fragte James. Den Hörer unters Kinn geklemmt, beugte sich Sara hinunter und pellte sich aus den schmutzigen Socken. Dann setzte sie sich mit ausgestreckten Beinen auf den Fußboden. »Alles bestens – bis auf ein paar Blutblasen.« Sie seufzte und begutachtete den Schaden an ihren Fußsohlen. »Aber ich trainiere morgen weiter. Es macht mir Spaß.«

James war fassungslos. »Jetzt mach aber mal einen Punkt, Schätzchen. Sport ist Mord! Bist du krank oder pervers?«

»Quatsch. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein tolles Gefühl das ist. Warte ab, irgendwann werde ich dich auch noch dazu bekehren. Also, wann proben wir? Nicht, daß ich besonders scharf darauf wäre.«

»Heute nachmittag um vier, im Pump Room. Sie schließen ihn früher als sonst, so daß wir reinkönnen. Wir müssen allerdings in Kauf nehmen, daß sie noch Tische und alles mögliche hin- und herräumen, aber wir werden es überleben«, sagte er. »Bist du wirklich ganz sicher, daß alles in Ordnung ist? Du klingst so seltsam.«

»Doch, doch, alles bestens«, erwiderte Sara und streckte ihre Füße. »Glaube ich zumindest.« Ihr Herz klopfte immer noch heftig, aber zumindest etwas langsamer. »Vier Uhr ist mir recht. Wenn's sein muß.« Im nächsten Moment bemerkte sie das verletzte Schweigen am anderen Ende der Leitung, und sie hätte sich ohrfeigen können, daß sie es vergessen hatte. »Es tut mir leid ...«

»Es muß sein, leider. Ich wäre auch lieber woanders, wie du dir vielleicht denken kannst. In St. Michael's auf dem Lansdown Hill, genauer gesagt. Aber wir haben zugesagt und stehen im Wort, und für dich ist es wichtig«, sagte James. »Es macht mir nichts aus, du gehst vor, aber –«

»O James, es tut mir leid, ehrlich. Ich habe die Trauerfeier für Graham völlig vergessen. Ich weiß, daß du teilnehmen wolltest. Und ich bin wirklich froh, daß wir im Pump Room auftreten. Es tut mir wirklich leid.«

»Schon gut«, erwiderte James müde und seufzte. »Tut mir auch leid. Es ist ärgerlich, aber schließlich ist es nicht deine Schuld, daß sich die beiden Termine überschneiden. Austin wird Verständnis dafür haben. Er konnte die Kirche an keinem anderen Tag bekommen.« Er seufzte erneut. »Es wird eine würdevolle Trauerfeier werden, mit mir oder ohne mich. Mein Gott, ist das alles schrecklich.«

»Du könntest ja ein Blumengebinde hinschicken.«

»Ja, vielleicht. Also, jetzt stich dir deine Blasen auf, oder tu, was immer dir Spaß macht. Bis später.«

Als sich Sara etwas später hinsetzte, um zu üben, fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, daß James sich wirklich beide Beine für sie ausriß. Nur wenige Tage, nachdem er sie zu der kleinen Vorstellung überredet und den Auftritt bestätigt hatte, war sein Freund Graham Xavier gestorben; die Trauerfeier sollte am Freitag, den 13. Juni, um neunzehn Uhr stattfinden. Austin, völlig ausgelaugt durch die monatelange Pflege, hatte hilflos mitansehen müssen, wie sein langjähriger Lebenspartner dahinsiechte, blind und ausgezehrt, aber zornig bis zum letzten Atemzug. Er hatte geduldig erklärt, der Termin sei nicht zuletzt deshalb ideal, weil er auch vielen Londoner Freunden die Möglichkeit bot, zur Trauerfeier nach Bath zu kommen, und außerdem sei es der einzige, den die Kirche im Moment frei habe. Sara erinnerte sich, wie ungehalten James gewesen war. Sie hatte ihm vorgeschlagen, das Konzert im Pump Room abzusagen und statt dessen bei der Trauerfeier für Graham zu spielen. Aber James hatte traurig erwidert, es sei besser, etwas für die Lebenden zu tun. Graham wäre in diesem Punkt gewiß seiner Meinung. Sie dachte schuldbewußt, daß sie James dankbar sein und sich an ihre guten Manieren erinnern sollte, die seit einiger Zeit brach lagen.

Während sie spielte, schweiften ihre Gedanken zu Graham und in die Vergangenheit zurück, wie so häufig, wenn sie allein war. Graham war mit James befreundet gewesen, aber er war ein Freund von vielen gewesen. Sein Tod war ein harter Schlag, wenn auch nicht so plötzlich und persönlich wie der Verlust, den sie selbst erlitten hatte. Unter dem sie immer noch litt, dachte sie dumpf. Voller Trauer, von aller Welt mißverstanden, und zutiefst verärgert. Die wenigen Menschen, die sie damals etwas besser gekannt und die geahnt hatten, warum sie ihre Karriere so plötzlich aufgegeben hatte, schienen jetzt darauf zu warten, daß sie endlich den Zustand der Lähmung überwand, den sie für zeitweilige Orientierungslosigkeit nach einem schweren Schock hielten. Es hätte nur noch gefehlt, daß sie unverblümt fragten: Wie lange dauert es eigentlich noch, bist du den Verlust überwunden hast? Denn genau das wollten sie im Grunde wissen. Vor allem Robin, der mit seinen Anfragen zunehmend deutlicher wurde: Wann wirst du in der Lage sein, darüber nachzudenken? Nicht jetzt, nicht jetzt, und schon gar nicht unter Druck. James vermied jede ungeschliffene, direkte Anspielung, aber obwohl sie sich alle paar Tage sahen, gab sogar er sich jetzt nicht mehr mit der Frage Wie geht's? zufrieden, sondern wollte wissen: Wie kommst du voran? Er besaß eine Engelsgeduld, aber vermutlich war auch die nicht unerschöpflich. Sie würde ihm ihre Dankbarkeit zeigen müssen. Robin allerdings sollte in seinem eigenen Saft schmoren!

Weil es nämlich ein Fehler wäre, um ihren ersten öffentlichen Auftritt seit mehr als einem Jahr einen solchen Wirbel zu veranstalten! Heute morgen, in aller Herrgottsfrühe, hatte sie bei dem Telefongespräch mit Robin die Beherrschung verloren, als er sich taub für die Tatsache stellte, daß es sich bei der »Aufführung« um weniger als eine halbe Stunde Spiel anläßlich einer Wohltätigkeitsveranstaltung handelte. »Was soll die Aufregung, Robin? Vergiß es!« hatte sie gesagt. »Ich spiele nur, weil James nicht lockergelassen hat. Nein, das bedeutet nicht, daß ich jetzt für ein richtiges Engagement gerüstet wäre. Ich bin noch nicht soweit. Ich habe mich breitschlagen lassen, aber nur dieses eine Mal.« Daraufhin war er ausfallend geworden und hatte erklärt, wenn das so sei, wäre es besser, wenn sie überhaupt nicht auftreten würde, und das rate er ihr nicht als Freund, sondern als Agent. Falls sie jetzt mittendrin das Handtuch werfe, käme das einer Katastrophe gleich. Sie hatte ihm dann kindischerweise, obwohl sie insgeheim seiner Meinung war, untersagt, zum Konzert zu kommen. »Das hatte ich ohnehin nicht vor«, hatte er erwidert. »Ich habe in London alle Hände voll zu tun. Es gibt noch andere Leute, die ich betreue, verstehst du, Künstler, denen etwas an einem öffentlichen Auftritt liegt. Die an ihrer Karriere interessiert sind.« Und sie hatte gekontert: »Ach, tatsächlich? Nun, dann mache ich dir einen Vorschlag, Robin, kurz und schmerzlos. Vergessen wir's, ein für allemal; das war's.« Und dann hatte sie, unverzeihlich, den Hörer aufgeknallt und war viereinhalb Kilometer in rasantem Tempo gelaufen, um Dampf abzulassen.

Sie kam zum Ende der Tonleiterübung und bemerkte plötzlich, während die Luft rundum von ihrem aggressiven Spiel vibrierte, daß sie den Bogen mit einer Wucht geführt hatte, als wolle sie Robin den Kopf absäbeln. Sie stand auf, legte das Cello auf die Seite und ging zur Verandatür hinüber, doch anstatt in den Garten hinauszutreten, drehte sie sich um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sie liebte den nackten, ausgebleichten Holzboden und die Vorhänge aus weißem Musselin, die von den schwarzen Gardinenstangen hinunterhingen, direkt neben Matteos Bösendorfer-Konzertflügel aus Ebenholz, dem kleinen dunklen Stuhl und dem Notenständer, die sie auch benutzte. Aber es war immer Matteos Zimmer gewesen. Während der ersten Monate hatte sie den Raum gemieden, aber später stets frische Blumen aus dem Garten hineingestellt, eine willkommene Ausrede, ihn zu betreten. Als sie eines Tages eine Schnecke entdeckte, die eine widerliche Schleimspur auf dem Flügel hinterließ, kam ihr der Blumenschmuck plötzlich abgeschmackt vor, wie ein Totenschrein, den Matteo gehaßt hätte. Nun zwang sie sich, den Raum hin und wieder zu benutzen und ihn unverändert zu lassen. Nur sehr selten, wenn sie auf der Schwelle stand und die Hand hob, um die Tür zu öffnen, vermißte sie plötzlich die Geräusche, die auf einen bewohnten Raum hinwiesen, die Klavierklänge oder Matteos Stimme, die an ihr Ohr drangen, und ihr fuhr, wie das ungewollte Zittern eines Muskels, der unsinnige Gedanke durch den Kopf, daß er vielleicht nur kurz in den Garten gegangen sei. Als sie sich nun in dem Raum umblickte, mußte sie sich eingestehen, daß Robin keinerlei Schuld an alledem traf. Ich sollte ihn anrufen, dachte sie; er kann nichts dafür, und außerdem hat er recht. Sie wollte einfach noch nicht wieder vor Publikum spielen. Aber das Schlimme daran war, was weder Robin noch James erkannten, daß der Gedanke an ein Konzert nicht Versagensangst bei ihr auslöste, sondern abgrundtiefe Langeweile, die in ihrer Tragweite viel erschreckender war als das nervenaufreibendste Lampenfieber.

James war der Ansicht, das alte Gefühl für die Musik käme nur zurück, wenn sie wieder zu konzertieren begänne, und daß sie die innere Blockade, wie er es nannte, dann schon von allein überwinden würde. »Einmal wieder Bühnenluft schnuppern, und alles ist wieder in Butter«, hatte er zuversichtlich verkündet und sich mit seiner Prognose gründlich geirrt. Sie konnte jetzt nicht mehr kneifen, und deshalb würde sie bei dem Konzert mitmachen, aber sie würde rein mechanisch und mit der gleichen eisigen Kälte im Herzen spielen, die sie erstmals in Paris überkommen hatte. Sie würde sich an ihre guten Manieren erinnern und hoffentlich genug Demut aufbringen, um Robin anzurufen. Und danach, hoffte sie inständig, würde man sie endlich in Ruhe lassen.

In bußfertiger Stimmung arbeitete sie den ganzen Vormittag. Erst später fiel ihr auf, daß sie mehr als vier Stunden rein mechanisch und mit solcher Präzision geübt hatte, daß sie sich kaum an die Stücke erinnern konnte.

Cecily Smith war gerade in die müßige Überlegung vertieft, ob sie nicht zu einem Schönheitschirurgen gehen und sich das Fett absaugen lassen sollte, als es läutete. Seufzend quetschte sie ihre geschwollenen Füße in die Schuhe, legte die Cosmopolitan in die Schreibtischschublade zurück und schlenderte gemächlich durch den Gang zu Dereks Büro hinüber, wo sie seine Kaffeemaschine genauso sorgfältig einschaltete, wie er selbst es zu tun pflegte. Als es zischte und brodelte, wusch sie seine Tasse und Untertasse ab, schuf Ordnung auf dem Schreibtisch und ließ dabei ihre Hand sanft über den ausgebeulten Kalender mit dem braunen Ledereinband gleiten. Hin und wieder zupfte sie ihren kurzen schwarzen Rock zurecht, den sie sich infolge eines Artikels mit der Überschrift »Der neue Mini – keine Frage des Alters!« zugelegt hatte. Alles Humbug, für solche Modetorheiten war sie eindeutig nicht mehr jung genug. Und Derek war viel zu unsportlich, um beim Treppensteigen immer zwei Stufen auf einmal nehmen zu können; als er nun sein Büro betrat, schnaufte und schwitzte er, wie es einem Mann seiner Statur entsprach. Cecily, der die Geräusche vertraut waren, mit denen er den obersten Treppenabsatz erreichte, blieb gerade noch die Zeit, ihr Haar kurz aufzubauschen, den Bauch einzuziehen und sich vom Schreibtisch umzudrehen, um ihm ein makelloses Bild zu präsentieren, von Kopf bis Fuß die perfekte Sekretärin des Schuldirektors, mit einem Lächeln auf den Lippen, von dem sie wußte, daß es ein gewisses Maß an Willfährigkeit signalisierte. Derek warf einen Stapel Umschläge auf den Schreibtisch, schenkte sich Kaffee ein, trank zwei Schlucke und blickte sie mit gefährlich funkelnden Augen an. Dann stellte er die Tasse ab, zog sie am Handgelenk in die am weitesten vom Fenster entfernte Ecke und (wie rücksichtsvoll, dachte sie) wischte sich mit der Hand über die Lippen, bevor er ihr seine Zunge in den Mund stieß. Seltsam, daß Kaffee mit seinem reinen, köstlichen Aroma den Atem eines Menschen so verwandeln konnte, daß er an einen faulig riechenden Komposthaufen erinnerte. Es störte sie nicht besonders, und sie gestattete sich nur selten, darüber nachzudenken, warum der Kaffee in Dereks bevorzugter Reihenfolge seiner Aufputschmittel neuerdings an erster und sie an zweiter Stelle rangierte. Ohne weitere Förmlichkeiten zerrten seine Hände die Rückseite ihres Rocks hoch, griffen an ihre Oberschenkel und begannen, ihr Gesäß zu kneten.

Rundum herrschte Stille, mit Ausnahme des Getümmels, das vom weit entfernten Pausenhof herüberdrang. Das Lehrerkollegium, von Derek als »mein Assi-Team« bezeichnet, hatte sich vermutlich unten im Lehrerzimmer zu einer Tasse Kaffee eingefunden, entweder weil sie Durst hatten oder weil sie diskret waren (Cecily war sich nicht sicher). Ihnen blieben etwa vier Minuten, ehe sie mit einer Störung rechnen mußten, durch eine Bande von Rauchern, die am Fahrradunterstand ertappt und eingekreist worden war, oder durch einen gequälten Junglehrer. Da sie nicht wagten, ihrer Lust zu forsch zu frönen, hatten sie mehr oder weniger gelernt, sich in Geduld zu üben und sich auf das Allerheiligste, Cecilys kleines Haus in Bath, zu beschränken. Doch im Augenblick fielen sie in einer Ecke zwischen Karteikästen, Spinnweben und alten Ausgaben von TES übereinander her und ergötzten sich an der Aussicht, später die Freuden eines Festmahls auszukosten.

Cecily spähte über Dereks Schulter zum Fenster hinaus, über den Asphalt zur Aula hinüber, dem »PE-Komplex« im Derek-Jargon, ein gräßliches Machwerk aus den siebziger Jahren, das an ein noch häßlicheres Gebäude aus den sechziger Jahren angebaut worden war. Seemöwen hüpften lustlos auf der Dachpappe umher. Unten streiften ebenso lustlose Kinder am Zaun entlang, der den Schulhof umgrenzte. Auf der anderen Seite ließen weit auseinander gesetzte Schößlinge traurig ihre Köpfe in dem unerklärlich wogenden städtischen Gras hängen, wo zwei traurig dreinblickende Hunde einander sorgfältig beschnüffelten und umkreisten. Auf dem Grundstück, das sich der Wiese anschloß, befand sich ein Häuserblock von mittlerer Höhe, auf dessen Wänden selbst die Graffiti einen traurigen Eindruck machten. Sie konnte das Panorama nicht lange betrachten, ohne zu spüren, daß ihr Herz sank, wie der Zwickel einer alten, abgetragenen Hose. Es war nicht hoffnungslos häßlich: Natürlich gab es viele Gegenden, die schlimmer waren. Trotzdem schien keiner, der bei der Gestaltung ein Wörtchen mitzureden gehabt hatte, auch nur einen Gedanken daran verschwendet zu haben, daß Menschen sich in ihrer Umgebung wohl fühlen sollten. Es war wichtig, daß es Dinge gab, auf denen das Auge mit Wohlgefallen ruhte, Dinge, die strenggenommen nicht unbedingt lebensnotwendig waren. Cecily dachte an ihre neue Urne. Sie hatte sie gerade erst in dem viel zu teuren, hochgestochenen Laden in der Walcot Street gekauft, der edlen Schnickschnack für Haus und Garten führte, und da sie wußte, daß sie mehr dafür hingeblättert hatte, als sie sich leisten konnte, liebte sie sie um so mehr. Sie hatte sie mit einem ebenso teuren Sammelsurium an Hängepflanzen bestückt, die »den ganzen Sommer eine Kaskade von Farben« liefern würden, sofern man der Behauptung auf der Verpackung Glauben schenken durfte. Die Urne stand nun in ihrem ansonsten unkultivierten Vorgarten, der ungefähr die Größe eines Handtuchs besaß, aber sie machte sich dort gut. Sie bildete eine harmonische Ergänzung zu den restlichen fünf terrassenförmig erbauten Reihenhäuschen, die sich wie ein Ei dem anderen glichen und über den Schiebefenstern an der Frontseite Viktorianische Mauersteine mit Ornamenten und ähnliche Kinkerlitzchen rund um die Eingangstür besaßen.

In besserer Laune, denn es war Freitag und sie würde bald nach Larkhall in ihr Häuschen fahren können, löste sie sich von Derek, dessen Gesicht gerötet war. Seine Stimmung schien sich ebenfalls gebessert zu haben, obwohl er immer noch kein Wort gesagt hatte. Beide blickten ratlos auf seinen Schritt, während er sich bemühte, seiner Erektion Herr zu werden, indem er sie wie einen widerspenstigen Türgriff nach unten drückte.

»Du hast mich ganz schön in Fahrt gebracht«, sagte er überflüssigerweise.

Cecily strich ihren Slip glatt und zog ihren Rock herunter.

»Ich mag dich in dem Rock«, sagte er, und fügte mit schwerer Stimme hinzu, »und ohne. Nur noch ein paar Stunden, Cec.« Sie folgte seinem Gedankengang, was ihr zu überhören ermöglichte, daß er sie wieder bei dem Kosenamen genannt hatte, den er ihr gegeben hatte. Vielleicht war es albern und übertrieben auf Würde bedacht, sich dagegen zu wehren, aber ihr Name lautete Cecily. Sie hatte es sogar geschafft, zu lachen, als er sie im Schlafzimmer einmal meine Cec-Muschi genannt hatte. Haha, Derek, wirklich komisch! Aber ihm gefielen Anzüglichkeiten, vor allem, wenn sie von ihm selbst stammten. Sie sah ihm solche Kleinigkeiten nach, denn sie bewunderte und liebte ihn wirklich und wahrhaftig, weil er sich nicht unterkriegen ließ, weil er sich abrackerte, um den Kindern und Jugendlichen im häßlichen Süden von Bristol bessere Chancen auf den Lebensweg mitzugeben. Eines Tages würde sie ihm die angemessene Unterstützung geben können, die er verdiente, ihm jeden Morgen nachwinken, wenn er in seinem frischen Hemd das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, würde das geräumige Haus und den weitläufigen Garten in ein Paradies verwandeln, in das er gern zurückkehrte, und sie selber würde glücklich und perfekt in ihrer Hausfrauenrolle sein, würde ihn stets mit frisch lackierten Nägeln und tiptop frisierten Haaren begrüßen und sich nie wieder Sorgen über die Visa-Abrechnung oder die Rückzahlung der Hypothek machen müssen.

»Ich freue mich darauf«, erwiderte sie, und das entsprach der Wahrheit.

Dereks Frau würde bis Sonntagmorgen außer Haus sein, sie leitete irgendwo einen Fortbildungskurs für Kindergärtnerinnen. Sie würden also den ungeheuren Luxus genießen, den Abend und die ganze Nacht miteinander zu verbringen, statt einiger weniger Stunden, die sich Derek immer dann stahl, wenn er einen plausiblen Grund fand, an »einer Konferenz« teilzunehmen. In den annähernd zwei Jahren ihrer Liaison hatte er mindestens ebenso vielen Konferenzen splitterfasernackt mit Cecily unter der Daunendecke beigewohnt, wie er in einem nicht mehr ganz frischen Hemd im grellen Licht eines Konferenzzimmers mit seinen öden Schulräten über sich ergehen lassen mußte. Er hatte es, wenn er spätabends abgekämpft nach Hause kam, zu wahrer Meisterschaft darin gebracht, seine Frau in empörte Diskussionen über die Arbeitslast zu verwickeln, die einem Schuldirektor schändlicherweise zugemutet wurde.

»Hast du schon entschieden, was du für uns kochst?« erkundigte sich Cecily.

Dereks Stimme spiegelte die Autorität und Aura eines Mannes wider, der eigenhändig das Abendessen zubereitet. »Ente, dachte ich, mit irgendwelchen Beilagen. Mir wird schon etwas einfallen. Obst, falls es zur Zeit etwas Interessantes gibt. Und Käse. Ich werde mal im Posh vorbeischauen und sehen, was die haben.«

Was Posh – Dereks Name für The Fine Cheese Company, ein Nobelschuppen und sein Lieblingsgeschäft in Bath – außer mehreren Dutzend Käsesorten immer in Hülle und Fülle hatte, war eine Reihe unbeschreiblicher Olivenöle, die einen in den Ruin treiben konnten, duftendes Brot zum Eintunken, Steingutbehältnisse und Gläser mit Leckerbissen, die in Öl mariniert waren, und kleine Köstlichkeiten zum Knabbern. Er konnte einfach nicht widerstehen. Cecily, die solchen Luxus nicht aus eigener Tasche zu finanzieren vermochte, brachte es nicht übers Herz, seine Großzügigkeit bei der Nahrungsbeschaffung zu entmutigen. Trotzdem hoffte sie immer noch, obwohl zwei Geburtstage und ein Weihnachtsfest vorübergegangen waren, bei denen er sie mit Glückwunschkarten und einem wenn auch vorzüglichen Essen abgespeist hatte, daß derselbe Impuls gelegentlich auch auf andere Bereiche ihres gemeinsamen Lebens abfärben möge. Sie verabschiedete sich bis auf weiteres von ihrer Diät und stellte ihr anpassungsfähiges Herz mit nur geringem Bedauern auf ein Wochenende ein, an dem Derek ihr schmuckes Viktorianisches Häuschen mit seinem riesigen, unersättlichen Appetit in Besitz nehmen würde. Das Fett konnte sie sich immer noch absaugen lassen.

Sara hatte die Generalprobe mit James beendet und notgedrungen beschlossen, die restliche Zeit bis zum Konzert in der Stadt totzuschlagen. Es war bereits nach fünf, und sie mußten spätestens um halb acht im Pump Room sein. Es lohnte sich nicht, im Schneckentempo durch das Verkehrsgewühl am Freitagnachmittag nach St. Catherine zurückzuzuckeln, um genau eine Stunde zu Hause zu verbringen.

»Mach doch nicht so ein finsteres Gesicht, Schätzchen«, versuchte James sie aufzumuntern. »Du hast doch deine Robe für heute abend im Wagen, oder? Du kommst mit zu mir, nach Crescent Garden. Dort kannst du ein Bad nehmen und es dir gemütlich machen. Versuch dich ein bißchen zu entspannen.« Sara schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich zwar ruhelos, aber die Aussicht, daß sich James zwei Stunden lang bemühen würde, sie nach allen Regeln der Kunst zu verwöhnen, während er tatsächlich nur in seiner Wohnung hin- und hermarschierte und tonlos Passagen aus Don Giovanni oder Phantom der Oper vor sich hinsang, war ihr unerträglich.

»Danke, das ist lieb von dir, aber ich mache lieber einen Spaziergang. Nein, nicht nötig, daß du mich begleitest. Ich wollte noch ein paar Besorgungen machen. Bei Waitrose, du weißt schon. Bis später.«

»Du solltest dir wirklich noch ein paar Stunden Ruhe gönnen. Aber ganz wie du meinst; vergiß vor lauter Shopping deinen Chopin nicht, und klemm dir ja nicht den Finger ein. Und sei pünktlich. Bis später.«

Wie nicht anders zu erwarten, herrschte am Freitagnachmittag im Waitrose Hochbetrieb: Es wimmelte von Frauen, die unerschrocken durch die Gänge streiften, mit hoch aufgetürmter, üppiger Haarpracht, die ihnen offenbar das gleiche Gefühl der Sicherheit verlieh, das die Träger von Motorradhelmen empfinden. Eine Invasion der Heils Angels, direkt aus dem Frisiersalon, die Gesichter noch angespannt und gerötet von der Trockenhaube, mit Ketten an den üblichen, aber völlig unvorteilhaften Stellen: um die Absätze der Schuhe drapiert, am Handgelenk baumelnd, als Handtaschenriemen über die Arme geschlungen und um die ausufernden Taillen. Ihr Anblick trug nicht gerade dazu bei, Saras Laune zu verbessern, und sie wünschte sich nicht zum ersten Mal, es gäbe eine Möglichkeit, bei einem Einkaufswagen die messerscharfen, rotierenden Klingen an den Achsen der Räder zu befestigen, die Ben Hur so nützlich fand.

Neben ihnen waren die Hobbyköche mit ihren schicken hellgrauen Trenchcoats und den verwegen aufgesetzten Hüten eine wahre Augenweide. Sie standen höchstselbst in der Küche, aber nur für Ruhm und Ehre, und für Erwachsene, die nicht mit Lob geizten. Sie kauften sogar eigenhändig ein, aber in aller Regel nur für eine einzige Mahlzeit, nie mit Kindern im Schlepptau oder einem Cello, und wenn sie fünfzehn Minuten brauchten, um unter acht verschiedenen Salatsorten zu wählen, empfanden sie das selten als Zeitverschwendung. Oft traf man sie in der Obst- und Gemüseabteilung: Sie waren in einem kleinen, kreativen Architekturbüro, in der Designerbranche oder im Medienbereich tätig und hatten früher Schluß gemacht, um gut und teuer für die Dinnerparty am Freitagabend einzukaufen. Einmal hatte ein attraktiver Hobbykoch Sara gefragt, was man mit einem Daikon-Rettich macht – was sie zufällig wußte –, sich aber derart für die Antwort interessiert, daß sie enttäuscht feststellen mußte, es war echte Wißbegierde und kein Vorwand, anzubandeln. Die Entdeckung, daß ihre Reize nicht mit einem Knollengewächs mithalten konnten, war niederschmetternd. Einer dieser Hobbyköche prüfte gerade die neun verschiedenen Waldpilzsorten. Nicht schlecht, der Typ, wenn auch nicht mehr taufrisch, ungefähr fünfzig. Er brachte einige Kilos zuviel auf die Waage, aber da er größer als 1,80 Meter war, verstand er sie gut zu kaschieren. Was den Inhalt seines Einkaufswagens anging, konnte der Kandidat hundert Punkte verbuchen: Er war gefüllt mit Flugentenbrust, Estragon, Crème fraîche, einem kalifornischen Zinfandel-Wein und einem Beaumes de Venise, Schokomandeln, ungesalzener Butter, reifen, südafrikanischen Pflaumen, roten Chilischoten und Schalotten. Einige kleinere braune Papiertüten von der Fine Cheese Company und ein Strauß mit fünf formvollendeten Tigerlilien befanden sich oben in der Ablage. Und nun rundeten eine erkleckliche Anzahl von Waldpilzen, Petersilie und frische Feigen die Palette ab. Der hochgewachsene Mann mit der ernsten Miene, dem dunklen Anzug und dem Schlips, der die verführerischen Nahrungsmittel mit solcher Sorgfalt auswählte, hatte etwas Anrührendes. Hoffentlich weiß sie es zu schätzen, dachte Sara, die sicher war, daß er für eine Sie kochte.

Sie blickte in ihren eigenen Einkaufswagen. Cashewnüsse, ein Baguette, ein einsames Lachsfilet und ein Beutel mit vorgewaschenen und geputzten Salatblättern. Essen für eine Person. Sie hatte jede Lust am Einkauf verloren und verließ mit der Tragetasche und der Frage den Supermarkt, wie man um sechs Uhr abends in Bath am besten die Zeit totschlug, ohne in einen Pub einzukehren. Sie würde zum Pump Room zurückkehren und sich ein Plätzchen irgendwo hinter den Kulissen suchen, wo sie warten konnte, während ringsum hektische Vorbereitungen für das Bankett getroffen wurden. Aber der Gedanke erschien ihr nicht besonders reizvoll. Sie zog die gediegene Atmosphäre, die tagsüber im Pump Room herrschte, bei weitem vor, die Teetische mit den weißen Tischdecken unter dem Kronleuchter, die natürliche Heilquelle, deren Wasser immer noch für ein Pfund pro Glas heraufgepumpt wurde, die Panoramascheibe mit Blick auf das heiße, darunterliegende, blubbernde Thermalbad. Und obwohl man nicht länger den unterhaltsamen Anblick von Skrofulose-Kranken genießen konnte, die sich im heilsamen Wasser treiben ließen und dann und wann die Köpfe eintauchten, war es amüsant, den friedlichen Einmarsch der Touristen mit ihren Videokameras, den Sweatshirts mit dem nachgemachten Aufdruck einer Universität und den Nylonanzügen in den Pump Room zu beobachten, eine angemessene Kulisse für den Landadel gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Aber die Touristen waren heute früher hinauskomplimentiert worden, wegen des Benefizkonzerts und Banketts.

Sie schlenderte durch die New Bond Street und hielt vor dem Jigsaw inne. Die lakonisch lächelnde Schaufensterpuppe in der Auslage war in ein türkisfarbenes Röhrenkleid drapiert; sie schien verständlicherweise nicht besonders erfreut über ihre hautenge Bekleidung zu sein. Sara blickte an ihr vorbei in den Spiegel, wo sie ihr eigenes Spiegelbild gewahrte, es taxierte und leidenschaftslos zu der Schlußfolgerung gelangte, daß sie es durchaus anziehen könnte, wenn sie wollte. Die Farbe paßte gut zu ihrem dunklen Haar und den großen, grünblauen Augen, und der Schnitt des Kleides würde über den Hüften, die zwar nicht ausladend, aber eine Idee breiter waren als die spindeldürren, hervorstechenden Beckenknochen der Gipsfigur im Schaufenster, gefälliger wirken. Ihre Jeans saßen lockerer als vor einem Jahr. Und die Batistbluse, die sie dazu trug, war eine Nummer zu groß. Teilweise lag es am Joggen und, seit sie Mitglied im Fitneß-Club geworden war, am regelmäßigen Konditionstraining, aber Schuld war auch die wachsende Gleichgültigkeit gegenüber den meisten Dingen im Leben, einschließlich ihrer Ernährung. Sie hatte zwar keine direkte Abneigung gegen das Essen, mußte sich aber häufig daran erinnern. Auch der Gedanke, in irgendwelchen Geschäften Kleider anzuprobieren, war in ihren Augen eine lästige Pflichtübung, zu der sie sich nur aufraffen konnte, wenn sie dringend etwas Neues zum Anziehen brauchte. Was hoffentlich erst in zehn Jahren oder später der Fall sein würde.

»Hallo! Gefällt's dir? Ich finde es todschick! Nimmst du das Kleid? Du wirst phantastisch darin aussehen!« Aus heiterem Himmel war die hochgewachsene, blonde, durchtrainierte Sue aus dem Fitneß-Club neben ihr aufgetaucht, die trotz fehlender Hörner und Helm wie die Anführerin einer noch unsichtbaren Wikingerflotte auf Eroberungszug wirkte.

»Meine Güte, hast du mich erschreckt! Nein, ich nehme es nicht. Aber dir würde es gut stehen«, erwiderte Sara.

Sue musterte das Kleid kritisch und tätschelte zufrieden ihren flachen Bauch. »Vielleicht. Kommt darauf an, ob es Paul gefällt. Er haßt Einkaufen wie die Pest. Wie alle Männer.«

»Wie alle Männer?« Plötzlich dachte Sara wieder an Matteos rühmliche Ausnahmeerscheinung. »Machst du einen Schaufensterbummel? Dann schließe ich mich an, ich habe nichts weiter vor. Ich muß um halb acht im Pump Room sein, aber bis dahin habe ich Zeit.«

»O ja, komm mit!« rief Sue aus. »Ich will zu dieser tollen Veranstaltung in den Assembly Rooms. Die heilenden Künste, eine alternative Heilkundemesse. Sie wird dir gefallen! Mir bleiben nur noch ein paar Stunden. Ich muß in den Club zurück, mein Dienst geht heute abend von acht bis elf. Ich würde mich freuen, wenn du mitkommst, es ist bestimmt hochinteressant. Tante Livvy hat mir davon erzählt. Sie wird auch dort sein; um halb sieben findet die offizielle Eröffnung statt.«

»Olivia nimmt vorher noch an der Eröffnung teil? Ich weiß, daß sie um acht beim Bankett im Pump Room sein wollte. Ganz schön im Streß, die Dame!«

»Nein, eigentlich nicht; sie muß zwar anwesend sein, aber sie ist jetzt nur noch Stellvertreterin. Ich glaube, der neue Direktor hält die Eröffnungsrede. Hab seinen Namen vergessen. Also, was ist? Es wird bestimmt lustig. Paul wird auch da sein. Er hat in der Küche eine kleine Nebenbeschäftigung angenommen, so daß ich ihn nicht einmal sehen werde. Los, komm mit.«

Sara öffnete den Mund, um abzulehnen, dann zögerte sie. Warum nicht? Ihr blieb mehr als genug Zeit: Die Assembly Rooms in der Nähe des Circus befanden sich zwar am anderen Ende der Stadt, aber in einem Nest wie Bath bedeutete das im Höchstfall, daß sie einen flotten Fußmarsch von zwanzig Minuten bis zum Pump Room vor sich hatte. Selbst wenn sie die Assembly Rooms erst um zehn Minuten vor sieben verließ, würde sie spätestens Viertel nach sieben im Pump Room sein, wenn sie immer geradeaus die Milsom Street entlang und durch die Old Bond Street, die Union Street und den Abbey Churchyard gehen würde.

Sue schickte sich an, in Richtung Russell und Bromley am oberen Ende der Straße hinaufzugehen, und Sara beschloß, sich ihr anzuschließen.

»Du siehst heute so aufgedreht aus«, sagte Sara. »Alles in Ordnung?«

»Ob alles in Ordnung ist, weiß ich nicht, aber Paul und ich haben gerade eine gute Phase. Schon die ganze Woche«, erklärte Sue strahlend.

Das ist wahrhaftig ein Rekord, dachte Sara. Sues Freund arbeitete als Kellner im Fortune Park-Hotel, zu dem auch der Fitneß-Club gehörte. Eines Nachmittags im vergangenen Winter, als der Club so gut wie leer war, hatte sie Sue heulend hinter dem Empfangstresen angetroffen und die ganze Geschichte brühwarm aufgetischt bekommen, wie schrecklich launenhaft und eiskalt er manchmal sein konnte, »als würde er mich dahin wünschen, wo der Pfeffer wächst, und im nächsten Moment ist er wie ausgewechselt und richtig süß, und deshalb weiß ich, daß er mich wirklich liebt.« Obwohl Sara Paul nicht persönlich kannte, hatte sie sich ein Bild von ihm gemacht: ein geistig minderbemittelter Provinzgockel, ein mieses kleines Würstchen, das den dicken Max markierte. Sue hatte ihr auch noch erzählt, daß ihre Eltern geschieden waren und ihr Vater inzwischen gestorben war. Ihre Mutter hatte wieder geheiratet und zwei weitere Kinder zur Welt gebracht; sie lebte in Kanada. Sie hatte im Grunde nur noch ihre Tante Olivia und ihren Großvater, Olivias Vater, obwohl sie nicht mehr mit den beiden unter einem Dach wohnte. »Meine Tante arbeitet im Museum«, hatte Sue schniefend erklärt. »Sie ist Kuratorin und hat dort praktisch das Sagen. Sie ist wirklich lieb.« Sie hatte die Tatsache, daß Sara und Olivia sich kannten, irgendwie als tröstlich empfunden, und Sara argwöhnte, daß Sue sie seit diesem Tag als eine Art Ersatztante für Notfälle betrachtete.

Sie schlenderten die Straße hinauf bis zur Milsom Street. Na schön, während Tante Nummer Eins ihren Pflichten im Museum nachging, wäre es doch nett, wenn Tante Nummer Zwei einsprang und dafür sorgte, daß das liebe Kind seinen Spaß hatte – ein umwerfendes, flügges, vierundzwanzigjähriges Kind, das nun zufrieden die Auslagen eines Wäschegeschäfts mit sündteuren Slips betrachtete – und es würde Tante Nummer Zwei nicht umbringen, auch mal eine gute Tat zu vollbringen.

»Ich freue mich schon unbändig auf die Messe. Es geht darum, die eigene Mitte zu finden, verstehst du? Ich habe nicht genug liebevollen Kontakt mit meinem inneren Kind«, sagte Sue mit ernster Miene. »Wie steht's mit dir?«

Sara wußte nicht genau, was sie darauf erwidern sollte, und war froh, daß sie einer Antwort enthoben war, weil Sue ihr keine Zeit dazu ließ. »Warum frage ich überhaupt, natürlich hast du! Man merkt, daß du aus einem Guß bist. Du hast dein inneres Gleichgewicht gefunden. Den Einklang von Körper und Seele. Bestimmt besteht da eine Verbindung. Ich meine, Ärzte haben nicht die leiseste Ahnung. Nicht die Bohne.«

Sara murmelte etwas Unverbindliches und genoß Sues unbeschwerte Energie, ohne wirklich zuhören zu müssen. Sie setzten ihren Weg fort, und während sich Sue über die »neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse« ausließ, die bewiesen, daß schon die alten Ägypter die Spitze der Ananas als halluzinogene Droge verwendet hatten, oder vielleicht auch als Empfängnisverhütungsmittel – Sue konnte sich nicht genau erinnern – fragte Sara sich, ob sie aus Versehen ins Teddybären- und Eisenkandelaber-Epizentrum des Universums geraten waren. Fast jeder Laden schien diese beiden Artikel zu führen, außer denen, die Futons, Luxusdessous und Panamahüte feilboten. Nachdem sie einen flüchtigen Blick in das Schaufenster eines Immobilienmaklers an der George Street geworfen hatten, betraten sie den Circus. Hier verlieh, zwischen Anwaltsbüros und Zahnkliniken, das Licht aus mehreren Küchen im Erdgeschoß den umliegenden Wänden eine anheimelnde Wärme und den Blätter der Kamelien und Lorbeerbäume in ihren Pflanzkübeln einen satten Schimmer. Hier unten war um diese Zeit der Teufel los, die Wohnzimmer in den oberen Stockwerken mit den hohen Decken waren dunkel, und die mit Gardinen drapierten Fenster sahen blind auf die Straße hinaus. Sara atmete tief den Geruch des Wohlstands ein und vermutete, daß einige der Hobbyköche hinter den Küchenfenstern damit beschäftigt waren, auf den Terrakottaböden hin- und herzulaufen, Flaschen zu öffnen, damit der Wein atmen konnte, und das Regiment über die Kupfertöpfe auf den flaschengrünen, altmodischen Öfen mit dem nostalgischem Flair zu führen. Es war nicht der »Geruch von brutzelnden Steaks in den Gängen«, sondern der Duft von gegrilltem Ziegenkäse auf Raukeblättern, mit einer Himbeer-Schnittlauch-Vinaigrette, Vogelbeeren-Jus und gerösteten Pinienkernen, die dekorativ darüber gestreut waren, aber er weckte nicht die gleichen, nostalgischen Erinnerungen.

Derek hatte sich erst um Viertel vor vier von einem Lehramtsanwärter loseisen können, der das harte Los einer Zahnspange trug und ihm ein Gespräch aufdrängen wollte. Er wußte, daß er dem armen Teufel, der unbedingt mit jemandem über die schockierende Erkenntnis reden mußte, daß ihm Zweifel an seiner pädagogischen Tauglichkeit gekommen waren, das Wochenende verdorben hatte.

»Kopf hoch, Dave. Kommen Sie Montag morgen in mein Büro, wir werden in aller Ruhe darüber reden. Einverstanden? Lassen Sie sich von Cecily einen Termin geben.«

Aus gutem Grund hatte er seinen Kopf auf dem Weg durch den Gang ins Sekretariat gesteckt und sich ebenso heiter wie für jedermann hörbar mit den Worten verabschiedet: »Also dann, auf Wiedersehen, alle miteinander! Bis Montag, Cecily, und ein schönes Wochenende!«

Er raste nach Hause. Er nahm sich nicht einmal die Zeit zum Umziehen. Er stopfte ein paar Sachen in eine große Tragetasche von Marks and Spencer: Hemd, Strickjacke, Kordhosen, Unterhosen, Socken, Kulturbeutel. Er rollte sein Lieblingsküchenmesser in seine Lieblingsschürze ein und legte beides dazu. Er hätte darüber hinaus auch gern eine anständige Zitronenreibe und seine Lieblingspfanne mitgenommen – in Cecilys Küche gab es nichts als Schrott –, aber es war klüger, nicht zuviel einzupacken; dadurch minderte sich das Risiko, bei Cecily etwas zu vergessen, was Pauline später vermissen könnte. Nicht, daß sie soviel Zeit in der Küche verbrachte, um über den Inhalt fortwährend und hundertprozentig auf dem laufenden zu sein, aber sie hatte bisweilen einen siebten Sinn und Luchsaugen. Er überflog die Post und steckte eines der Kuverts, die an ihn adressiert waren, in seinen Aktenkoffer, den er ebenfalls mitnahm. Nun aber ab durch die Mitte: Mit etwas Glück würde er ohne Verzögerung nach Bath fahren, einkaufen, und trotzdem noch vor sechs bei Cecily sein.

Nachdem er die Besorgungen erledigt hatte, steckte Derek im Stau fest, der auf der London Road herrschte, und schnaubte vor Wut. Noch schlimmer war, daß er ausgerechnet vor einem heruntergekommenen Pub ausharren mußte, durch dessen Tür sich mit schöner Regelmäßigkeit furchterregende Kundschaft wie Giftmüll auf den Bürgersteig an der Ecke ergoß. Die jungen Leute sahen aus, als hätten sie den Hundekorb daheim geplündert, mit löchrigen Ärmeln und Wolljacken und mehrfach zerfetzten Hosenbeinen. Nur ihre schwarzen Springerstiefel, die bis zur Mitte des Schienbeins reichten, wirkten wie aus einem Guß. Die meisten erweckten den Eindruck, als hätten sie sich im Schlamm gewälzt, und sie funkelten Derek an, als hätte er sie hineinbefördert. Sich insgeheim für seine Schwäche verachtend, verriegelte er die Wagentüren von innen. Das Radio betete schon wieder dieselbe Litanei vom aktuellen Tabellenstand bei den Ligameisterschaften, von inkompetenten Schulleitern und dem rückläufigen Leistungsstand herunter. Noch immer gereizt, sich aber sicherer fühlend, kramte er den Briefumschlag hervor, den er mitgenommen hatte, und öffnete ihn, ohne auf den Poststempel zu achten.

Mit einem Schlag sah die Welt wieder rosig aus. Eine freudige Botschaft, ein Geschenk des Himmels! In dem Schreiben teilte man ihm mit, er sei als Leiter des Bildungs- und Kulturreferats der Stadt Bath und des Bezirks Nord-West Wansdyke in die engere Wahl gezogen worden. Derek schlug das Herz plötzlich bis zum Hals, als er sich an die Einzelheiten seiner Bewerbung erinnerte. Er hatte sie eingereicht, weil er zwei Dinge wußte: zum einen, daß er nichts zu verlieren hatte, weil er als Anwärter auf diesen Posten ein absoluter Quereinsteiger war, und zum anderen, daß er bei der Formulierung von Bewerbungen ein absoluter Spitzenmann war, wenn er sich Mühe gab. Obwohl es bereits fünf Wochen her war, hatte er den Inhalt auf Anhieb wieder parat, denn er betraf Dinge, an die er früher einmal geglaubt hatte und die er seit Jahren mit Erfolg vortäuschte. Er hatte auf die Notwendigkeit hingewiesen, ein Gleichgewicht zwischen Kontinuität und Veränderung, traditionellen Methoden und neuen Denkweisen, Richtlinientreue und Risikofreudigkeit zu schaffen. Er hatte Dutzende von Schlagworten eingeflochten, zum Beispiel kulturelle Vielfalt, qualitätsmäßige Anreicherung der Arbeitsaufgaben, Eigenverantwortlichkeit, Teamfähigkeit, visionäre Führung und fiskalische Kompetenz. Das Ergebnis war ein Meisterwerk aus der Zuckerbäckerei, das auf der Zunge zerging und den Titel trug »Bürger 2001: Ein maßgeschneidertes, am neuen Millennium orientiertes Bildungs- und Kulturprofil für Bath und Nord-West Wansdyke«. Das Konzept hätte locker für eine Kandidatur als Bildungs- und Kultusminister gereicht. Er hatte auf seine »Rolle« in der Region angespielt, wo er als Bildungsexperte mit »langjähriger praktischer Erfahrung« galt, der seine Bereitschaft signalisiert, »in die strategische Führungsebene« aufzurücken. Um sich als »Schlüsselfigur« in der Kultur- und Kunstszene bezeichnen zu können, hatte er eine Reihe unbedeutender Initiativen mit künstlerischem Anspruch aufgezählt, Hungerleider, denen er widerwillig seine ehrenamtlichen Dienste zur Verfügung gestellt hatte. Er hatte sowohl den Umfang als auch die Bedeutung der zwei pädagogischen Gutachten in den Midlands übertrieben, die er vor acht Jahren erstellt hatte, und seinen Einfluß als Berater einer inzwischen aufgelösten Theatertruppe, die aus Laien bestand, mit Worten beschrieben, die strikt genommen an Betrug grenzten. Er hatte erwähnt, daß er an einem Werk über die Kunsterziehung in England und Wales seit der neuen Gesetzgebung von 1988 arbeitete, wobei er unerwähnt ließ, daß er damit noch nicht begonnen, sondern nur im Vorfeld einen Großteil der Recherchen durchgeführt hatte, und dann seine Notizen unwiederbringlich verloren hatte, als die Festplatte seines Computers abstürzte.

Es war im Grunde keine Bewerbung, sondern eher ein Visum, ein Freifahrschein, der ihn von seinem Posten im dahinsiechenden Südbristol entbinden würde, um ihm zu einem Leben in dem malerischen, eleganten Bath (er tat die Besucher des Pubs als untypisch ab) und der märchenhaften Karriere zu verhelfen, die er verdiente. Er gehörte einfach nach Bath. Er gehörte eindeutig nicht nach Bristol, und er konnte diesen Moloch nicht länger ertragen. Er mußte weg. Er mußte die Stellung haben. Er las den Brief noch einmal durch. Es wurde kein Datum für ein Vorstellungsgespräch genannt, aber es hieß, man werde sich in der nächsten Woche telefonisch mit ihm in Verbindung setzen. Der Unterausschuß, der mit der Auswahl der Kandidaten betraut war, sei gespannt darauf, dabei mehr über sein Bildungs- und Kulturkonzept für die nächsten fünf Jahre zu erfahren. Das sei für ihn gewiß kein Problem. Und er möge zur Kenntnis nehmen, daß der Ausschuß ein besonderes Interesse an seinen Plänen für die Museenverwaltung hege: die Stellung, um die er sich beworben habe, werde nach den letzten Strukturmaßnahmen zum ersten Mal die Aufgaben eines Bildungsreferenten und die Gesamtverantwortung für die Museen vereinen. O Gott, auch das noch!

Cecily war erst wenige Minuten vor ihm nach Hause gekommen. Sie hatte eine Stunde lang den in Tränen aufgelösten Dave trösten müssen und noch keine Zeit gehabt, aufzuräumen oder sich umzuziehen, und sie war nicht in Stimmung für Dereks fleißige Fingerübungen im Gang. Sie fühlte sich auch nicht geschmeichelt, als sie den Grund für seine Aufregung erfuhr, noch hingerissen angesichts der Aussicht, schleunigst nach Bath zurückzukehren, um einen Blick ins Museum für Historische Kostüme zu werfen, bevor es seine Pforten schloß.

»Ich muß für dieses Vorstellungsgespräch in Topform sein, Cec«, sagte Derek beschwörend. »Bitte komm mit. Es dauert bestimmt nicht lange. Ich muß den Eindruck erwecken, als wüßte ich genau, wovon ich rede, deshalb bleibt mir keine andere Wahl, als alle Museen abzuklappern, und die Zeit drängt. Das Vorstellungsgespräch findet unter Umständen schon übernächste Woche statt. Die anderen nehmen wir uns morgen vor. Eins sage ich dir, Cec, wenn ich diesen Posten erst habe, wird alles anders. Für uns. Das willst du doch auch. Bitte.«

Derek sagte selten bitte.

Kapitel 2

Sara und Sue trennten sich von den Verlockungen des Circus und gingen zu den Assembly Rooms hinunter, die in ihrer würdevollen, bernsteinfarbenen Pracht von den flachen Häuserfassaden der Bennett Street umgeben waren. Für ein öffentliches Gebäude nahm es sich verblüffend unauffällig aus mit seinem Haupteingang, der sich an der Seitenfront befand, und ohne grelle Plakate, die auf bevorstehende Ereignisse hinwiesen, oder andere Zeichen, die sichtbar auf seine Funktionen aufmerksam machten. Woher sollte jemand, der fremd war in der Stadt oder unempfänglich für die Buschtrommel der Bürger von Bath, auch wissen, daß die Prunksäle von John Wood dem Jüngeren (1771 vollendet) nun der breiten Öffentlichkeit zugänglich waren und für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung standen? Wenn man völlig ahnungslos auf Besichtigungstour war und nach einem Eingang Ausschau hielt, hätte man meinen können, das Gebäude beherberge die Kommandozentrale einer wohlhabenden religiösen Gemeinschaft oder ein riesiges Privatkino in gehobenem Stil. Sara fand das ein bißchen ärgerlich, als ob jedes Schulkind wissen müßte, daß sich im Innern des Bauwerks ein hervorragendes Kostümmuseum und eine Reihe prachtvoller Empfangssäle aus dem achtzehnten Jahrhundert verbargen. Gemeinsam betraten sie das Gebäude durch den schlichten Säuleneingang und gelangten in ein Vestibül, in dem sich bereits eine riesige Menschenmenge drängte. Sara fühlte sich fehl am Platz. Vielleicht hätte sie doch besser das Angebot angenommen, sich vor dem Konzert in James' Wohnung auszuruhen. Die Generalprobe war gut verlaufen, obwohl sich beide nichts vormachten: Es war ihr gelungen, beim Spiel ein gewisses Maß an innerer Beteiligung vorzutäuschen, nicht mehr. Beide wußten, daß sie mit gezinkten Karten spielte, aber da sich kein echtes Gefühl für die Musik einstellen wollte, blieb ihr keine andere Wahl. Der Funke war erloschen. Aus der rein technischen Warte hatte sie sich nichts vorzuwerfen, war brillant wie eh und je, und das würde den meisten Zuhörern, Einheimische mit Geld und karitativem Bedürfnis, heute abend genügen. Es war ein kostspieliges Bankett und Konzert, nur für handverlesene Gäste, bei dem Spenden für das größte Kulturereignis, das Bath Festival, locker gemacht werden sollten, und Sara ging davon aus, daß sie annähernd zwei Drittel der Anwesenden kennen würde. Natürlich würde der künstlerische Leiter der Festspiele teilnehmen, wie immer hinreißend und charmant, und der kaufmännische Leiter, wie gehabt in Sorge über die Finanzierung, und die meisten Mitglieder des Festival Trust Board, des kunterbunt gemischten, aber durchaus bemühten Organisationskomitees. Gut betuchte Geschäftsleute aus Bath mit ihren gut betuchten Kunden, aus strategischen Gründen hofierte, potentielle Sponsoren und Schirmherren der Festspiele, und etliche Künstler und kulturbeflissene Einwohner der Stadt, die gut bei Kasse waren, würden ebenfalls geladen sein. Und die aktiveren Freunde des Bath Festival, wie Sues Tante Olivia Passmore und einige andere, die Sara einfielen, würden sich wohl auch nicht die Chance entgehen lassen, ein Konzert zu besuchen, von dem sie (fälschlicherweise) annahmen, es läute Sara Selkirks Comeback ein. Wieder kam ihr der Gedanke, daß man die Veranstaltung kaum als Konzert bezeichnen konnte.

Die Teilnehmer der Tagung wanderten im Vestibül umher, während man Sues Name auf der Liste suchte und ihr dann mehrere Bögen Recyclingpapier und den unvermeidlichen Anstecker in die Hand drückte. Sie entfernten sich von dem Gedränge und lehnten sich weiter oben in der Halle gegen die Wand, um das Programm zu überfliegen. Die Worte »Workshop«, »gemeinsam« und »stark« kamen ziemlich häufig vor, selbst nach Sues Geschmack, und während Sara ihr beim Lesen über die Schulter spähte, wobei sie sich bemühte, ihre Geringschätzung zu unterdrücken, sah sie, wie der hochgewachsene Mann aus dem Waitrose das Foyer betrat. Da er fast der einzige Mann und mit Sicherheit der größte Mensch weit und breit war, schien er den Raum auf Anhieb mit Beschlag zu belegen. Er befand sich in Gesellschaft einer Frau, und beide sahen abgespannt aus, als kämen sie direkt aus dem Büro. Sie war ein bißchen kurz geraten, hatte für ihre achtundvierzig oder mehr Jahre eine Spur zuviel auf den Rippen und stellte sich bestimmt nie die Frage, ob sie vielleicht auch eine Spur zuviel Make-up trug. Sie hatte reichlich Schminke aufgetragen, immerhin im wesentlichen zu ihrem Vorteil: ihre runden grauen Augen waren fachkundig schwarz umrandet, was ihr bei Dämmerlicht gewiß ein erotisches Aussehen verlieh. Sie waren gerade noch sichtbar unter den Ponyfransen, die aussahen, als wären sie einem kleinen, hungrigen Nager zum Opfer gefallen. Über die ursprüngliche Farbe der schulterlangen Haare konnte man nur mutmaßen, denn sie waren so häufig und gnadenlos mit farbigen Strähnen gesprenkelt, daß sie aufgegeben und Patina angesetzt hatten, wie ein herunterhängendes Wellblechdach auf einer Bauernkate. Durch die Ponyfransen lugte sie interessiert zu dem Tisch mit den Broschüren.

»Ich werde daraus nicht schlau«, flüsterte Sue. »Ich frag mal.« Sie ging ein Stück die Halle entlang zu einem Tisch mit dem Schild »Information« und erhielt sogleich eine fachkundige Aufklärung. Von ihrer Stellung an der Wand beobachtete Sara, wie die Schlange im Foyer immer länger wurde. Die Frau an der Kasse stimmte dem hochgewachsenen Mann zu, daß es wirklich gesteckt voll sei. Sie erklärte ihm geduldig, daß diese Leute hereindurften, weil sie nicht in das Kostümmuseum gehen, sondern an einer Privatveranstaltung in den Assembly Rooms im Parterre teilnehmen würde; das Museum sei ab sechs Uhr für die Öffentlichkeit geschlossen, und jetzt sei es bereits fünf nach sechs. Nein, sie könne beim besten Willen keine Ausnahme machen, morgen früh sei wieder Einlaß, es sei denn, sie stünden auf der Liste der Tagungsteilnehmer, und das sei ja wohl nicht der Fall, oder? Die Auskunft wurde nicht mit Wohlwollen aufgenommen. Sara fragte sich, warum die beiden überhaupt gekommen waren, statt anderswo einen gemütlichen Abend mit einer Flasche Champagner zu verbringen. Und da sie offensichtlich zusammengehörten, genauso offensichtlich nicht verheiratet waren und ein kleines Festmahl in trauter Zweisamkeit in der Hinterhand hatten, wäre ihr Platz an diesem Abend doch eigentlich am besten im Bett, nach einer drängenden, leidenschaftlichen Liebesattacke. Angesichts solcher Vergnügungsmöglichkeiten hielt Sara das bezeugte Interesse an altersschwachen historischen Stoffen für ungesund. Aber für die beiden schien der abschlägige Bescheid schwer verdaulich zu sein, zumindest für den Mann, der nun energisch darauf hinwies, daß die Pforten des Museums ja noch nicht geschlossen seien und daß es von Kleinlichkeit zeuge, ihnen den Zutritt zu verwehren. Seine Art, laut und langsam zu reden, war an sich schon eine Beleidigung, da er damit bekundete, daß er ein geduldiger, toleranter Mann sei und sie ein erbärmliches, uneinsichtiges Frauenzimmer. Daß er das mit Sicherheit nicht war und sie nur vielleicht, war dabei völlig unwichtig, und das Ganze hatte auch nicht die geringste Wirkung auf die Dame an der Kasse.

»Laß es gut sein, Derek«, sagte seine Begleiterin beschwichtigend hinter ihm.

»Das ist keineswegs meine Absicht«, entgegnete er wutentbrannt und drehte sich abrupt zu ihr um. Vielleicht waren die beiden doch miteinander verheiratet. Aber sie trug keinen Ring, abgesehen von zwei Silberringen mit Türkisklunkern an der rechten Hand, die aussahen wie aus dem Kaugummiautomaten.

»Mein Name ist Derek Payne«, verkündete er lauthals, drehte sich wieder um und legte eine Pause ein, als erwarte er, daß sich. nach diesem Stichwort wie durch ein Wunder das Herz der Dame an der Kasse erweichen lassen würde. Wundersamerweise öffnete sich in diesem Augenblick, wie auf ein Stichwort, eine Flügeltür im Gang hinter der Kasse, und eine hochgewachsene Gestalt in Abendkleidung erschien auf der Schwelle. Sara erschrak: Im trüben Licht des Korridors hatte die Gestalt gespenstische Ähnlichkeit mit Matteo. Diese Sinnestäuschung, die sie einen Moment aus der Fassung brachte, entstand nicht zuletzt durch die schwarze Krawatte, die langen Beine, den wiegenden Gang und das dichte schwarze Haar. Auch die grelle Beleuchtung im Foyer konnte diesen Eindruck nicht völlig verwischen, denn der Mann strahlte, wie Matteo, eine solche Autorität aus, daß Derek Payne plötzlich lächerlich neben ihm wirkte.

»Und ich bin Matthew Sawyer. Direktor des Museums- und Kulturzentrums.«

Noch eine Überraschung: das mußte Olivia Passmores neuer Chef sein. Der große Derek ließ sich widerstandslos abführen und in eine Ecke manövrieren, wo er geschickt umgestimmt wurde, wie Sara am überzeugenden Klang der Baritonstimme vermutete. Sie freute sich schon darauf, Olivia das kleine Drama zu schildern. Sie würde später im Pump Room nach ihr Ausschau halten oder mit ihr gemeinsam dorthin gehen, wenn sie sie zufällig in der Menge entdeckte. Olivia war fast so etwas wie eine Freundin, genauer gesagt, eine von den guten Bekannten, die man an Orten wie Bath sehr schnell fand. Sara wußte, daß Olivia nach fast drei Jahren, in denen sie als Stellvertretende Direktorin die alleinige Verantwortung für das Museums- und Kulturzentrum innegehabt hatte, erleichtert auf ihren Posten als Nummer Zwei zurückgekehrt war, als der Stadtrat die Umstrukturierungsmaßnahmen abgeschlossen und vor drei Monaten Sawyer zum Direktor ernannt hatte.

Dereks kleine Freundin trat in sicherer Entfernung unruhig von einem Bein aufs andere und betrachtete scheinbar interessiert die Broschüren der Alternativheiler auf dem Anmeldetisch, um ihre Verlegenheit zu kaschieren. Auch Sara war es plötzlich peinlich, daß sie die Szene mit derart offenkundiger Neugierde verfolgt hatte. Es war nicht so, daß dieses Paar wirklich ihr Interesse geweckt hätte; sie fand es nur amüsant, die weitere Entwicklung zu beobachten, nachdem sie Derek im Supermarkt begegnet war, und es erschien ihr seltsam, daß der andere Mann einen Augenblick lang Ähnlichkeit mit Matteo gehabt hatte und auch noch Matthew hieß. Sie ging weiter und schloß sich wieder Sue an, die ihr Informationsgespräch beendet und sich für den ersten Abendkurs über mentale Kommunikation und Körpersprache eingeschrieben hatte.

»Klingt super. Es geht dabei um das Körper-Geist-System, das wie ein Schaltkreis funktioniert. Man lernt, wie man auf den Körper einwirkt, damit er seine Selbstheilungskräfte entfalten kann. Alles eine Sache der inneren Einstellung. Bewußtsein schaffen«, erklärte Sue großspurig. »Kein Interesse?«

»Äh, ein anderes Mal. Bring du ruhig in Erfahrung, was es mit diesem natürlichen Heilungsschaltkreis auf sich hat. Ich schlendere hier ein bißchen herum und schau mir die Auslagen an. Okay?«