Des Kaisers Reeder - Hans Leip - E-Book

Des Kaisers Reeder E-Book

Hans Leip

2,1

Beschreibung

Albert Ballin war Hanseat, Deutscher und Weltmann zugleich und einer der größten Schiffsreeder aller Zeiten. Die repräsentative Straße vor dem hochgewachsenen Gebäude der Hapag trägt noch heute den Namen "Ballindamm". Über dem Portal steht noch immer sein Leitsatz "Mein Feld ist die Welt", das zu durchpflügen ihm nur mit friedlichen Werkzeugen in den Sinn kam. Romanhaft erzählt Hans Leip die Lebensgeschichte eines der berühmtesten Söhne der Hansestadt, der zum Generaldirektor der Hapag aufsteigt und sie zur größten Schifffahrtslinie der Welt macht. Die Zurückhaltung, die dem Juden Ballin sein ganzes Leben hindurch entgegengebracht wird und seine engen, auch privaten Kontakte zu Kaiser Wilhelm II. werden von Leip genauso beschrieben wie der Niedergang seines Lebenswerks am Ende des Ersten Weltkriegs und sein Tod am 9. November 1918.-

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Hans Leip

Des Kaisers Reeder

Eine Albert Ballin-Biographie

Saga

Der obersten Gewalt jedoch, von der alles herfließt, Wohltat und Pein, unterwerfen sich feste, folgerechte Naturen, um nach ihrer Weise zu leben und zu wirken.

Goethe

1.

Der Heranschaffer

Am Johannisbollwerk · Boß und Agent · Der Mantel des Kapitäns · Schlafplatz Zwischendeck · Lange Jahre großer Segen · Ein Freund aus London · Träumerei und Mission · Bruder Josephs feiner Job · John Meyer von der Packetfahrt · Die Zarenhymne · Reeder Carr bietet die Hand.

„Los!“ brüllte der Boß.

Der Matrose an der Gangway löste die Sperrkette. Klirrend fiel die letzte Fessel des Kontinents. Die Auswanderer strömten an Bord. „Kutschieren die mit dem miesen Pott übern Atlantik, Herr Carr?“ fragte einer der Zuschauer an der Schranke.

„Nein, Herr Cassel“, antwortete der Angesprochene und schlug den Kragen des eleganten Havelocks hoch: „Die steigen in Liverpool um.“ „Und eine direkte Möglichkeit von Hamburg nach New York gibt es nicht?“ „Nein, Mister, nicht für diese polnisch-galizischen Zwischendecker. Die müssen denn schon nach Bremen zum Lloyd gehn.“

Der Schutzmann, der daneben schnauzbärtig den Durchlaß bewachte, reckte die Pickelhaube. Vorn an der Rampe des Bollwerks brüllte der dicke Boß: „Stop! Stoi! Halt, du Pijaukel!“ und riß einen jungen Kaftanträger robust am Ellenbogen zurück. „Deinen Ausweis, fellow!“

Der Matrose warf die Kette quer über die Holme der Gangplanke. Die Auswanderer, beladen mit Sack und Pack und Bitternis und Hoffnung, stockten wie ein scharf gebremster Güterzug. Einer stieß dem andern gegen Rückfront und Habseligkeiten. Einige lupften murrend den Ballen Bettzeug von der Achsel, husteten und spuckten im herniederfahrenden Schlotqualm. Rasseln von Kohlen und Schaufeln erscholl aus dem Bauch des stämmigen Schiffes. Die Heizer machten Dampf.

Warten? Immer noch warten? Was hat denn der Boß zu meckern! Aus überzerrten Händen gleiten Bügel billiger, abgewirtschafteter Koffer, Bindfäden schneiden in Fingergelenke, Verschnürung für das bißchen, was an armseligem Hausrat mitgeschleppt werden darf.

März 1881. Der Wind bläst von Ost und ist voller Hafengeruch, Trümmerdunst und Geheul, das zuweilen in einem Sprengschuß zerbirst. Den Flüchtlingen erschauert das Eingeweide, als kämen die Kosaken wieder hinterher, von denen sie durch enge Ghettogassen in Galizien gehetzt wurden. Es war aber nur der Lärm von der Kehrwieder-Insel, wo hinterm Jonashafen die Freie und Hansestadt Hamburg darangeht, mit jaulenden Baggern und dem nagelneuen „Nobels Patent-Pulver Dynamit“, den Bismarck abgerungenen Freihafen zu schaffen und dafür bedenkenlos ein ganzes Wohnviertel schönsten Barocks opfert. „Da hätt’ ich Arbeit kriegen können“, sagt einer in dem Haufen, „aber drüben überm großen Teich gibt es Gold statt Dreck.“

Aus dem langen Schlot des Liverpooler Schraubendampfers strähnt der Rauch nun hoch gen West wie ein grauer Wimpel der Unbegrenztheit. Darunter, vor dem letzten schmalen Steg in die goldene Weite, steht der Boß der Reederei, dick wie zehn Grenzpfähle. Der Bursche in Kaftan und Lammfellmütze, den er gepackt hält und den die ungeduldig Nachdrängenden gegen die Kette pressen, wiederholt voll Trotz unaufhörlich: „Agent weiß, Agent hat!“

Es nützt ihm nichts. Matrosenfäuste befördern ihn aufs Bollwerk zurück. Und wieder löst sich die Kette. Der Boß, die erkaltete Zigarre zwischen den Zähnen, vergleicht polternd Ausweis um Ausweis mit einer langen Liste und schaut drein, als habe er es mit nichts als Gaunern und Abschaum zu tun.

„Wo bleibt bloß dieser Ballin! Damn’it!“ dröhnt er dem Kapitän zu, der am Bordende der Gangplanke Posten gefaßt hat. Der „Alte“ zuckt einen Mundwinkel nach oben. Seine verkniffenen blauen Augen gleiten über die paar Gebäude am Bollwerk: Hotel, Brauerei, Zirkuskuppel, Seemannsheim und Reeperbahn, Budiken.

„Haben bald Hochwasser, Boß!“ erwidert er und mustert weiter die Passagiere, die auf dem immer steiler vom Ufer ragenden Laufbrett an Bord klimmen, als ginge es geradewegs in den Himmel.

„Dung für den ausgelaugten Indianerboden“, meint Mister Cassel und streicht sich den gepflegten schwarzen Bart, den er sich à la Prince of Wales um Lippe und Kinn stehen läßt.

Herr Carr, das bunte Bild ostischer Kaftane durch die Schlaufe seiner Reitpeitsche visierend, fügt hinzu: „Und so gratis von Rußland geliefert, daß das Geschäft lohnt. Der Boß da vom in seinem teuren Pelz scheint jedenfalls auf seine Kosten zu kommen.“

„Aber für seinen Ranschaffer hat es offenbar nicht mal zum Sommerüberzieher gereicht“, lächelt Cassel. Mit leichter Bewegung des Handschuhs zeigt er auf einen jungen Mann, der sich atemlos, die kleine Nickelbrille auf der schweißglänzenden Nase, durch das Gedränge am Bollwerk zwängt. Seine schwarzen Locken, der kleine Schnurrbart, das weiße Formular mit dem Kontorhut in seiner Linken, schaukeln und wippen zwischen Frachtstapeln, Fuhrwerken, Quartiersleuten, Waterclerks, Hafenlöwen, Händlern, Heuerbaasen und Gaffern heran. Hier und da grüßt er und eilt an dem gemütlich zurücknickenden Polizisten vorbei zur Laufplanke. Der Bursche mit der Lammfellmütze stürzt dem Agenten entgegen, küßt ihm den Saum des abgewetzten Jacketts und jammert: „Panje Agent, Panje Ballin! Karta parowiec! Ausweis meiniges!“ Der nimmt ihn sachte beim Arm: „Wratislaw! Cicho, cicho! Dobrze! Alles in Ordnung!“ Er zieht ihn mit sich auf die Gangway. Der Boß wirft einen vorwurfsvollen Blick auf den Fahrschein.

„Ham Se woll retour gekauft, Ballin“, grinst er verächtlich.

„Das ging am schnellsten und unauffälligsten, Miller. Die Dämchen auf Sankt Pauli haben sein Heimweh ausgenützt. Aber sie fanden seine Barschaft zu armselig und wollten dafür seinen Rock und die Hosen behalten; da hat er schon lieber das Ticket gegeben. Hat sich im Seemannsheim wieder angefunden.“

Der Pelzmützige drückt sich scheu an Bord und in den Niedergang. „Menschenfreund!“ zuckt der Boß die Achseln, speit den zerkauten Zigarrenstummel in die Lücke zwischen Rampe und Schiffsbauch und reicht Ballin die Namensliste: „Bringen Sie das denn man auch zu Ende, junger Mann! Mir ist die Flosse schon ganz steif vor Kälte und Kreuzemachen.“

„Meine Tätigkeit hört zwar an der Gangway auf, doch will ich Ihnen und den Leuten gern mal wieder den Gefallen tun, Herr Miller“, entgegnet Ballin höflich.

Und nun geht es flott. Es ist auf einmal alles ganz anders. Als wehte plötzlich ein anderer Wind. Die Sonne, eben noch eine hohle Schweinsblase, scheint jetzt zu leuchten und zu wärmen, und wo bislang bedrücktes Schweigen und verhaltenes Murren geherrscht, erschallt unterdrücktes Gelächter, ja hin und wieder lobt sogar ein Dankeswort die gute Beköstigung und Unterkunft in Hamburg: Die Columbia-Agentur hat es an nichts fehlen lassen, und ihr Inhaber und Expedient ist der junge Albert Ballin, der, der nun geschickt den Rest des Auswandererhaufens an Bord schleust.

Hier und da hat er ein Scherzwort, eine Ermunterung, sein rascher Blick geht hin und her. Kreuz um Kreuz setzt er hinter Namen um Namen. Da und dort faßt er selbst mit zu und hilft einem Bündel, einem aufplatzenden Karton, einem Dreikäsehoch oder einem Mütterchen über die abgewetzten Querlatten der Bohlen zur Bordkante empor.

„Nun man gau, Iwan! – Jegnam pana, pani Bella! – Ah, pani dobrosjejka, gode Reis! – Marja Katjimiera, was macht das Zahnwehweh? Dobje? Dobje, dobje! – Palt niewoljno, Stanislaw! Rauchen darf an Bord nur der Schornstein und der Kapitän. – Immer sutje, jechatsch stäppem, Schritt fahren, Matka Kanapka! – Warschau! Uwagatsche, vorsichtig, Bäbily! ...“

„Der kleine Jud kennt doch die ganze Polakenmischpoche wieder mal persönlich, Käptn“, knurrt der Boß. „Und dabei hat er das Gesindel doch erst gestern abend vom Bahnhof bugsiert.“

„Schätze, hat ein verflucht gutes Gedächtnis, Boß, und vielleicht noch ’n bißchen mehr“, lächelt der Kapitän. Der Boß qualmt mit dem Schlot um die Wette, die Fäuste tief in den Pelztaschen. „Wieso mehr?“ kaut er.

„Dat, wat man so Herz nennt, Boß.“

„Wissen Se, Käptn, das zehrt bloß. Das sehn Se dem Moses ja an.“

„Aber immer gut zu tun, Boß“, schmunzelt der Kapitän.

„Ist jetzt endlich Schluß?“ brüllt der Boß zu dem Agenten hinunter. Die letzten Kopftücher und Matratzen gelangen aufs Schiff und tauchen in der Luke unter. Matrosen beginnen, die zur Zeit auch bei Dampfern noch üblichen Rahsegel vorn und achtern an den Rahen loszubändseln.

„Haben Sie auch alles angekreuzt, Herr Miller?“ fragt Ballin die Gangway hinauf.

„Glauben Sie, mir rutscht auch nur eine Wanze durch die Trallen?“ knattert der Boß.

„Dann fehlen noch zwei, Herr Miller.“

„Ham die bezahlt?“

„Prepaid. Fahrkarte ist von drüben geschickt.“

„Dann haben die Dreckschweine auch da zu sein. Abfahrt, Käptn!“

Der Boß klettert die Gangplanke abwärts, aber der Kapitän ruft ihm nach: „Wenn Ballin meint? Ebbe setzt eben erst ein. Bei der Brise hau ich mit volle Seils zeitig genug nach See. Können ja mal tuten.“

„Danke, Käptn Knuth“, ruft Ballin hinauf.

Die Dampfsirene orgelt gewaltig dreimal über Hafen und Stadt. Ballin greift mit beiden Händen um die Geländer des Laufstegs. Die eilige Fahndung nach dem Ausweis hat ihn erhitzt gehabt. Jetzt friert ihn elend. Kapitän Knuth wischt sich über die Stirn, zieht seinen blauen Mantel aus und ächzt: „Verdammt warm von all den Abschiedsgrogs!“

Und mit abschätzendem Blick nach unten und geschicktem Schwung läßt er den Mantel sitzgerecht auf den schmächtigen Schultern des kleinen jüdischen Agenten landen.

Zu Erstaunen, Rührung oder Abwehr bleibt keine Zeit. Knuth weist auf die Barriere. Und die Stimme des Boß dröhnt: „Nu aber hurry up, old man!“

Ohne Hast, den Fahrschein dem Wachtmeister vorzeigend, betritt eine ungewöhnliche Erscheinung die Pier, ein hochgewachsener Weißbart, barhaupt, in würdiger Haltung, obwohl mit allerlei altbackenem Krimskrams behangen, und ein kapuzenverhülltes Etwas auf dem Arm.

„Der Uhrmacher Abraham Posenitsch aus Kalisch und sein Enkelkind wollten sich noch den europäischen Staub abspülen, und gestern war die neue Badeanstalt am Schaarmarkt schon zu.“ Ballin sagt es erklärend. Er geht den beiden entgegen, nimmt das Kind und trägt es sorglich an Bord. Der Alte bleibt dicht hinter ihm. Aus der säuberlichen Kapuze weht eine blonde Haarsträhne, und ein paar runde blaue Kinderaugen lugen ängstlich hervor.

„Wie heißt denn das Muschili?“ fragt der Agent.

„Irmgard“, piepst die Kleine. Und der Alte fügt auf Deutsch hinzu: „Ist die Tochter meines Sohnes. Er ist drüben. Ich bring’ sie ihm. Die Mutter ist tot, eine Deutsche aus Oberbayern. Wir waren schon bei der Abreise, da kamen die Soldaten ...“

„Bleiben Sie noch, Mister?“ fragt der Exportmann Carr seinen Nachbarn an der Barriere.

„Doch. Möchte den Agenten sprechen. Den kenn’ ich von Liverpool. Tüchtiger Junge.“

„Das seh’ ich. Aber dieser Menschenverschleppungsbetrieb gefällt mir nicht. Meine beiden Schiffe sind reine Frachter. Ich glaub’, ich verkaufe sie.“

„Selbständigkeit ist immer riskant, Herr Carr.“

„Oder würden Sie sich beteiligen, Mister Cassel?“

„Nay, Sir! Ich hab anderes zu tun. Aber vielleicht der junge Mann.“

„So ’n Habenichts und Grünschnabel? Und dabei ein ...“

„Meinen Sie das? Übrigens hieß unser letzter Premier in England Disraeli, Herr Carr.“

*

Der Zwischendecksraum des Dampfers der Liverpooler America Line riecht noch nach den Ängsten und den Seekranken der vorigen Reise. Zum Ausschwefeln war keine Zeit. Die Saison ist da, das Geschäft blüht und muß wahrgenommen werden.

Im kärglichen Licht, das durch die Bullaugen aus dem trüben Tag hereinsickert, liegen die eisernen Bettgestelle kahl eng bei eng zweischichtig übereinander. Die Flinkeren unter den Auswanderern haben sich gleich die guten Ecken gesichert, müssen aber dulden, daß ihnen wahllos Kameradschaft zugeteilt wird. Es wird weder auf Familie noch Geschlecht Rücksicht genommen. „Ab Old England wirds noch gemütlicher!“ donnert der Bootsmann in den Lärm und bringt mit grober Faust den Wirrwarr der Proteste, Flüche, Bitten und Tränen zur Ruhe.

Als nun der Agent mit dem Kind auf dem Arm erscheint und hinter ihm noch ein Fahrgast, erhebt sich vielstimmig anklagendes Geschrei, besonders von Frauen und Mädchen, die sich in unerwünschte männliche Nachbarschaft eingewiesen finden.

„Na, Soltentien!“ lacht Ballin dem Bootsmann zu: „Dat wüllt wi all kriegen.“ Und das Kind auf dem Arm, schafft er rasch und munter Rat, wo es fehlt. Aber für den Alten und die kleine Irmgard ist dennoch nicht der geringste Platz aufzutreiben.

Der Boß grollt den Niedergang herunter: „Hier haben Sie nichts zu suchen, Ballin!“

„Oben ist eine Kabine frei, geben wir ihm die“, sagt Ballin.

„Aber für Zoll und für Bademeister ging mein letztes Geld drauf“, jammert der Alte.

„Auf meine Rechnung“, flüstert Ballin: „Ich will meine Kundschaft zufriedenstellen.“

„As you want, Master!“ lacht spöttisch der Boß: „Als wenn von diesem Mob jemals einer wiederkäme.“

„Sie haben meinen Sohn vor zwei Jahren aufs beste betreut, Herr Ballin“, sagt der Alte und hat unterdes etwas aus dem Kaftan hervorgeholt, aber es entgleitet ihm, er bückt sich seufzend und sucht es zwischen Gepäck und Stiefeln. Auch Ballin hat sich rasch gebückt.

„Ist es dies?“ Er hebt zwischen Daumen und Zeigefinger eine erbsengroße Perle hoch.

Der Alte nickt: „Ja, und die sollen Sie behalten.“

„Also doch ’n Geschäft?“ knurrt der Boß. Aber Ballin lehnt ab:

„Nein, mein Lieber, das nehme ich nicht. Das können Sie noch selber gebrauchen.“

Der Patriarch erwidert milde: „Drüben alles gut. Mein Sohn hat uns geschickt zwei solche Perlen, hat gesait: Für allerletzte Not. Eine hat genommen Irmgard, Mutter von kleiner Irmgard, als die Soldaten herfielen über sie. Tot war sie, eh die ihr Knie noch gesehn.“

„Eine Pille, Ballin, keine Perle!“ Der Boß lacht, als krache ein Stapel Holz von Deck.

„Doch Perle!“ sagt ruhig der Greis.

„Und etwa echt?“ fragt der Boß.

Der Alte nickt: „Aber hohl, gefüllt mit Ipo.“

„Ipo?“

Ballin sagt zweifelnd: „Ein Indianergift?“

Der Boß lacht: „Da haben wirs. Sie sollen sich begraben lassen, Ballin.“

„Aber vorher lange lange Jahre großen großen Segen!“ erklärt feierlich der Alte.

Draußen dröhnt die Dampfpfeife. Ballin drückt dem Bootsmann einen Taler in die Hand.

„Geiht klor, Ballin!“ sagt der und steigt mit dem Gepäck des polnischen Uhrmachers voran. Ballin trägt das Kind an Deck zurück und in die Kabine. Als er es dem Großvater gibt, schmiegt es sich zärtlich an ihn und zirpt: „Komm mit, Pappi!“

*

Dann steht er wieder am Bollwerk. Der Schlotqualm staut sich wie eine Faust. Der Dampfer legt mit wirbelnder Schraube und auftuchenden Segeln ab. Ein Kommando heult. Käptn Knuth ist mit der Segelstellung nicht zufrieden. Bootsmannspfiff. Die Matrosen der Wache reißen an den Lee-Brassen. Und ein Shanty weht auf. Schartig sticht die Stimme des Vorsängers durch den Wind:

Oh, pitty poor Reuben Ranzo!

Und unter scharfem Pull an den Tauen antwortet der Chor:

Ranzo, boys, Ranzo!

Aber die Geschichte von dem rotnäsigen Azorenbengel Loranzo, der als Grünhorn auf einem Yankee-Walfänger anmustert, Prügel kriegt, von dem Kapitän in die Geheimnisse der Navigation eingeweiht wird, dessen Tochter küßt und schließlich als Erster Steuermann fährt, gelangt nicht mehr ganz zur Kenntnis der an Land Verbliebenen. Der Dampfer legt unaufhaltsam ab, den schwarzen Rumpf voll Mensch und Fracht.

Ein paar junge Burschen, denen es um den Schlafplatz nicht bange ist, haben sich wieder heraufgetraut und winken an der Reling. Zwei, drei Mädchen vom Spielbudenplatz winken ihnen nach. Und auch der junge Agent will sein Taschentuch ziehen, da merkt er, daß ihm noch immer der Kapitänsmantel um die Schultern hängt und ihm zu entgleiten droht. Er nimmt ihn vollends ab, rollt ihn zusammen und gedenkt, ihn mit heftigem Schwung dem entschwindenden Dampferheck nachzuwerfen mitsamt einem dankbaren Blick zur Kommandobrücke, obgleich der Kapitän dort eine abwehrende Geste macht und auch schon in einer dickeren Hülle steckt.

Der Abgrund zwischen Schiff und Rampe klafft längst zu weit. Der Wind entfaltet die blaue Leihgabe und weht sie ins gurgelnde Hafenwasser.

„Lot em susen! Beibei!“ ruft lachend Käptn Knuth.

„Fehlt nur noch, daß die Wohltat in die Schraube gerät!“ schimpft der Boß. „Curios, Ballin! Irgend etwas ist jedesmal mit Ihnen los, daß man in die Luft gehn möchte. Sie behandeln das Viehzeug, als wären es Großfürsten.“

„Menschen sind keine Pökelware, Miller“, entgegnet Ballin.

„Solche Ansichten werden Ihnen einen Schneuz was einbringen.“

„Aber vielleicht der Schiffahrt.“

„Sie leben im Mond, Ballin.“

„Von dort läßt sich alles viel besser übersehen, Herr Miller.“

Ein harmloser Knabe, zu gutmütig für diese Welt, aber als Schlepper ganz brauchbar, man darf ihn nicht vergrämen, denkt Miller, und schüttelt mit herablassender Herzlichkeit die schmale fröstelnde Hand des Agenten, bietet ihm sogar eine Zigarre an in der Gewißheit, daß er sie wie immer ablehnen werde. Aber diesmal greift Ballin zu, halb in Gedanken, und weil sie Warme verspricht. Der Boß läßt ihn damit stehen, ohne noch auch ein Zündholz zu verschwenden, und entschreitet zum Frühstück, indes der Polizist die Schranke freigibt und die Zaungäste sich zerstreuen.

Ballin, noch an der Rampe, trauert kurz hinter dem in der Hafenbrühe versinkenden Mantel her und hebt dann den Blick dem Dampfer nach, der, von Möwen verfolgt, die Segel bläht und sich bescheiden in das Strombild und die Weite fügt.

„Grüß Sie, Albert!“

Die Stimme Mister Cassels mit dem weichen rheinischen Klang reißt den jungen Agenten aus einer Vision ungeheurer Märchenschiffe. Er faßt sich sofort:

„Oho, Ernst Cassel, haben Sie London satt?“

„Ich bin dort jetzt Direktor.“

„Gratuliere! Etwas Direktes schwebte mir eben auch vor, wenn auch nicht auf der Bank.“

„Dann schieben Sie es nicht auf die lange Bank, Albert!“

„Eine direkte Verschiffung von Zwischendeckern von Hamburg nach New York.“

„Nanu? Wollen Sie den englischen Zwischenhandel ausschalten?“

„Ja, Ernst!“

„Das ist eine Kampfansage.“

„Nein, das ist gesunder Wettbewerb.“

„Sehr kühn, Albert!“

„Sie sind wohl schon gänzlich Engländer geworden, Ernst.“

„Ziemlich. Ich schreibe mich seit längerem schon Ernest.“

„Wann sind wir endlich Europäer, Ernest?“

„Da denken Sie allerdings sehr weit, Albert; very far indeed! Doch falls ich Ihnen irgendwie helfen kann ...“

„Vorläufig nicht nötig, Ernest.“

Cassel lächelt, hakt den Freund unter, dessen dürftigen Gewandes nicht achtend, und geht mit ihm zur Stadt zurück.

*

Schon in die Geburtskammer Albert Ballins am Stubbenhuk zu Hamburg hatte der Dunst des Hafens hineingeweht. Das war am 15. August 1857 gewesen. Und als er, das jüngste von dreizehn Kindern, in die hinterlassene Auswandererexpedition seines Vaters eintrat, war er siebzehn Jahre alt. Wohnung und Kontor waren inzwischen dem Hafenbetrieb noch näher, an den Baumwall Nr. 6 verlegt.

Nachdem sich Albert Ballin von Cassel verabschiedet hatte – man schrieb den 14. März 1881 –, fand er seinen Bruder Joseph daheim beim Rasieren. Der Ältere hatte längst seine Mitarbeit am väterlichen Geschäft mit dem weniger aufreibenden Job eines Fondmaklers vertauscht und war sich viel zu schade, die Tagesfron vor der mittäglichen Börsenstunde zu beginnen.

Albert trat erregt in die gemeinsame Dachkammer, darin die beiden Betten je eine Wand einnahmen. Vorerst aber sagte er weiter nichts als: „Gut geschlafen, Joff?“

Dann zog er aus der schrägen Ecke, die der Schrank an der Giebelwand freiließ, ein abgegriffenes Cello, setzte sich auf den Rand seines noch immer ungemachten Lagers, drehte versonnen an den Wirbeln und strich dann ein paar heftige Doppelgriffe, so daß dem Bruder ein unwilliges: „Nana, wozu der Krach!“ entfuhr. Albert hielt inne und ließ dann, wenn auch nicht gerade meisterhaft, die bedrängende Melodie von Schumanns Träumerei erklingen. Und, als sei diese Stimme unendlicher Sehnsucht das Leitseil für gewagte Pfade, begann er halbe Sätze hervorzustoßen. Sein Bruder, den Schaum an der Waschkumme abstreifend, das Gesicht mit dem Handtuch reibend, dann Puder und Kölnischwasser nicht schonend, wurde langsam aufmerksam, namentlich auf Worte wie: „Erbärmliche Schufte! Mord! Und dennoch Anlaß, ungeheuer zu disponieren.“

„Was quasselst du da?“ sagte Joseph und zwängte den Adamsapfel hinter einen steifen Kragen neuester Mode.

„Ernest Cassel hat es frisch aus dem Telegraphen. Gestern haben die Russen ihren Zaren zur Strecke gebracht, kam im Schlitten von der Parade, auf dem Wege zum Winterpalais in Petersburg.“

„Das ist bei den Russen doch nichts Neues. Darum brauchst du doch keine Trauermusik zu wimmern! Davon wackelt nicht mal die Börse. Und wenn schon, Wichtigkeit, ich hab’ bloß Südamerika-Papiere.“

„Joff, wir werden Schiffe brauchen, unheimlich viel Raum für die vielen. Sie kommen, sie kommen.“

„Bruderherz, deine Phantasie und dein Geschäft! Wenn die den ollen Alexander umgelegt haben, kommt ein junger, und der wird nicht so dumm sein, noch mehr Arbeitsvieh und Steuerzahler aus dem Lande zu jagen. Mit der polakischen Auswanderei und mit der jiddischen wird’s aus sein, mit einem Schlage, genau wie mit der deutschen, wo sie überall Fabriken und Industrie aufmachen, als wären’s billige Brausebuden.“

Er befestigte die platte Querschleife aus überzogenem Blech mit einer widerspenstigen winzigen Gummischlaufe am Kragenknöpfchen, neigte sich gnädig zu dem Jüngeren: „Mensch, Albert stell dich um, wie ich! Ist doch sowieso ein übles Gewerb’, sich die Finger schmutzig machen mit so unappetitlichem Volk und sich zu ärgern über den dicken Boß Miller und die Gastwirte, Schlafbaase und Bordellbesitzer. Klagen, nichts wie Klagen, Undank, Aufregung und kalte Füß’ und kaum Butter aufs Rundstück.“

Albert spielte versonnen weiter, dann sagte er leise: „Eigene Schiffe müßte man haben, direkte Schiffe und besser ausgestattet mit menschenwürdigen Räumen ...!“

„Du solltest Missionar werden“, lachte der Bruder, „Neger wenigstens wird’s genug geben auf die Dauer!“

Albert setzte den Bogen ab und lächelte: „Auch das ist eine Mission. Reise du heute auf See, es ist erbärmlich! Das muß anders werden, Joff, selbst für die Ärmsten! Seereisen ein Genuß für jedermann! Das ist es.“

Joseph scheitelte die dünnen Haare, besah sich im ovalen Spiegel, der überm Waschtisch hing, zog den grauen Gehrock an, ergriff den schwarzen Zylinder, bügelte genießerisch mit dem Ärmel drüber hin, ließ den Glanz im Licht des Fensters spielen, warf einen verächtlichen Blick auf den Hafen und versetzte:

„Was sind das schon für fluktible Werte, Brüderchen! Unsicher wie Wind und Woge, abhängig von lächerlichsten Imponderabilien. Das gilt für die Schiffe wie für die Frachten. Und nun erst für die Besatzung! Und dann die Passage, das Unsicherste, was es gibt. Mensch und Ozean als Kalkulationsobjekt! Und dabei bist du verachtet und nicht nur, weil Vater und Mutter noch brav zur Synagoge gingen, sondern weil dein Beruf als besserer Sklavenhandel gilt!“

„Aber Joff, das soll ja grad anders werden!“

„Hattest du nicht selbst längst die Nase voll und hast dich voreilig mündig erklären lassen beim Senat? Bloß um etwas Solideres anzufangen und mit Maschinen zu handeln?“

„Wärst du nur nicht abgesprungen, Joff!“

„Nicht mal Maschinen sind gentlemanlike, Albert. Maschinen sind was für Transportarbeiter. Laß dir’s gesagt sein, bequem und anständig ist allein das faszinierende Jonglieren mit dem Auf und Ab der Kurse. Ein Ohr hier, ein Ohr da, ein Kabel, ein Gespräch. Das ist die Mathematik der Welt mit Handschuhen und in Klubsesseln.“

„Sieht bei uns noch nicht nach Klubsesseln aus, Joff.“

„Hat dein Freund Cassel es in London nicht weit gebracht?“

„Traf ihn eben, ist Direktor geworden bei seiner Bank.“

„Puh, Perzenthändler unter Polizeiaufsicht. Er ist aus Köln, und ich ahnte schon immer, daß man dort viel weniger zur Freiheit geboren ist, als wir Hanseaten, Albert. Ich bleibe ungebunden, frei im luftigen Reich der Aktienspekulation.“

„Was doch nur an dem hängt, was Fleiß und Schweiß anderer zuwege gebracht hat!“

„In Argentinien sagt man: Die einen leben von den Dummen und die Dummen leben von der Arbeit. Soll das etwa ‚Träumerei‘ sein? Meinst wohl, daß man dich die erste Geige im Bordgeschäft spielen läßt, wo hierzulande schon die Packetfahrt kaum noch japsen kann! Träumerei, mein harmloses Herzchen! Tschüß, Albert!“

„Bordmusik?“ lächelt Albert dem Enteilenden nach. „Keine schlechte Idee!“

Aber dann sind seine Gedanken wieder bei der „russischen Gegebenheit“. Der neue Zar, hatte Cassel gesagt, würde kräftig nach Sündenböcken suchen, ein wilder Finsterling, das war dem britischen Geheimdienst nicht verborgen. Acht Millionen Juden, die Deutschen eingerechnet, das sei bestimmt zuviel fürs Mütterchen Rußland, und deshalb wird ein Drittel totgeschlagen werden, ein Drittel wird verhungern, und der Rest wird auswandern. Das ist die große Chance!! ...

Albert Ballin springt auf. Das Instrument klappert zu Boden. Er nimmt den Hut und rennt die Treppe hinunter, vorbei an der Tür seines Agenturbüros, darin die paar Angestellten, von seinem strengen Beispiel geschult, die Abrechnung des eben abgefertigten Transports ohne den Chef unterschriftsreif machen.

*

Die Familie des Herrn Edward Carr war vor zwei Generationen von England gekommen und zu Hamburg hängengeblieben. Sein Onkel war der Reeder Sloman, mit kleiner Flotte, ein zäher Konkurrent der Hamburg-Amerika-Linie. Carr hatte mit ererbtem Geld im gleichen Topf gekocht, war aber zu widerhaarig, sich lange unterzuordnen, und hatte seinen in zwei Dampfer umgewandelten Anteil herausgezogen. Die Sache warf aber im bloßen Frachtdienst weniger ab, als er gehofft und für seine Reitpferde brauchte, die ihm lieber waren als die schnaufenden Dampfer. Er hatte sich diesen Vormittag ins Kontor der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft begeben. Nun saß er auf einem der schlichten Mahagonistühle, deren Roßhaarbezug dem Besucher eine abweisende Kühle still entgegenbrachte. Die hochbeinigen Schreibpulte und -böcke wetteiferten an Unbehaglichkeit mit den erdunkelten Wänden aus Teakholz. Portieren aus braunem Croise machten die hohen Fenster schmal, und die kleinen Posamententroddeln daran erinnerten teils an vertrocknete Kirschen, teils an aufgeweichte Schlittenschellen, zumal es draußen anfing zu schneien. Wenigstens fiel Herrn Carr zur Einleitung nichts Besseres ein als eine diesbezügliche Bemerkung, indes er mit der Reitpeitsche an der gerundet hängenden Vorhangkante entlangstrich.

Der Prokurist John Meyer schlug die Ofentür härter als nötig zu. Bei solchem Wetter pflegte er selber nachzuheizen. Der Ostwind drückte einen Schwaden Dunst ins Zimmer. Meyer hüstelte und feuchtete die trockene Kehle mit einem Whisky an, indes Carr zur Sache kam.

„Die Hapag hat viel zu wenig Dampfer, Herr Meyer“, sagte der brüsk und tippte mit der Reitgerte auf eins der bräunlichen Ölbilder, darauf die Flotte der Reederei verewigt war.

Meyer, stattlich, mit flottem Bärtchen und den Allüren eines verkappten Schauspielers, holte unterm Pultdeckel ein zweites Glas hervor und goß dem Gast mit geübtem Schwung voll ein, den üblichen Zusatz von Sodawasser mißachtend. Er schob das Glas auf die gebrechliche Andeutung von Tisch, die als „Stummdiener“ für beschleunigte Abfertigung gedacht war, und sagte: „Mir schlägt’s auf die Gurgel, der Rauch und was Sie sagen, Herr Carr.“

Jeden Einwand mit überlegener Geste abschneidend und das volle Organ souverän spielen lassend, fügte er hinzu: „Erstens hat unsere Agee bald viel zuviel Tonnage, genau wie die sämtliche Welt, und zweitens viel zu wenig Fracht und Passenger, genau wie auch die sämtliche. Und nun kommen Sie.“

„Sprechen Sie mal mit dem Verwaltungsrat, Herr Meyer!“

„Der bin ich, Herr Carr!“

„Und wie ist es mit dem Fingerspitzengefühl, Herr Meyer?“

„Oh, Herr Carr, Tastversuche hat unsere Linie nie für alert gehalten. Man kömmt uns oder kömmt uns nicht, aber wenn man kömmt, kömmt man, wie es uns zukömmt.“

„Ihr laßt euch alles von Bremen wegnehmen.“

„Nö, Herr Carr, das sind die verfluchten Agenten, die klauen uns die Passage mit ihrer ewigen Unterbietung der Fahrpreise.“

Carr nahm einen Schluck, und Meyer tat desgleichen. Dann seufzte er mit der Stimme eines sterbenden Othello: „Und was gedachten Sie uns anzubieten, Herr Rittmeister?“

Carr überhörte den Titel und meinte sachlich: „Zwei Frachter; Schraube, Maschine, Aufbauten, Bunker und so weiter, alles tadellos in Trimm, handlich, anhängliche Besatzung, unverwöhnt betreffs Heuer und Proviant, geringer Kohlenverbrauch, angenehme Geschwindigkeit, ist das was, Herr Meyer?“

„Viel zu teuer, Herr Carr.“

Ehe Herr Carr entgegnen konnte, erscholl von der Straße Blasmusik, und er fragte: „Haben Sie Geburtstag, Herr Meyer, dann prosit!“ Meyer stieß mit ihm an.

„Ich fühle mich jeden Tag wie neu geboren und verfehle nie die Gelegenheit, dieses zu begrüßen.“ Er trat zum Fenster: „Aber was die Zarenhymne da draußen anders sein soll als eine unliebsame Zufälligkeit, möchte ich dahinstellen. Sie werden erlauben, daß ich mich wieder den Fälligkeiten meines Kontors zuwende.“

Carr wollte sich schon erheben, als an die Tür geklopft wurde und auf das gedehnte „Herein?“ Meyers höflich und befangen der kleine jüdische Agent mit der Nickelbrille hereintrat, den Mister Cassel morgens am Johannisbollwerk so freundlicher Ansprache gewürdigt hatte.

„Nun?“ Meyer zog die Stirn in tausend Falten.

„Ballin, von der Agentur Columbia“, sagte der junge Mann, die erste Silbe seines Namens unterstreichend. „Ich habe einen Vorschlag, Herr Prokurist.“ Damit hielt er einen Zeitungsausschnitt in die Höhe: „Wissen Sie schon?“

Meyer schickte einen flehenden Seitenblick zu Carr: „Könnten Sie, Herr B ... allin, über sich gewinnen, sogar bei dem Lärm draußen aufzufassen, daß wir mit Agenten nie und nirgends zu tun haben möchten?“

Ballin wies auf die Notiz: „Eben meldet der Correspondent. Zar Alexander II. von einer Bombe zerfetzt.“

Meyer schickte einen Blick zur Decke: „So leid das jemanden zu tun nicht umhin geht, aber um aller Reußen willen, was geht uns das an?“

„Die Beförderung der zu erwartenden Ostauswanderer wird enormen Schiffsraum erfordern. Falls zur Verfügung, könnte man Strom und Geschäft über Hamburg direkt in die USA lenken!“

„Man lenke! Unser Bedarf ist Kajüte, mein Teurer, oder Fracht.“

„Das läßt sich miteinander verbinden, Herr Prokurist.“

„Aber nicht doch, Sie verfügen ja schon einfach, lieber Freund; die Hapag möchte für galizische Belange ganz und gar nie geneigt oder gar degradiert sein. Sie werden das nicht nachfühlen können, aber hier gibt’s noch Ruf und Ansehen.“

Ballin nickte: „O ja, es handelt sich um zumeist sehr ehrenwerte Leute, kleine Handwerker, Bauern, Händler, auch Deutsche aus dem Baltikum, Flüchtlinge, Verfolgte, Ausgewiesene, denen zu helfen Pflicht und Klugheit gebieten.“

„Die Hapag ist kein Wohltätigkeitsverein, hehrer Gebieter; sagen Sie mal ...“ Meyer legte herablassend die Hand auf des Besuchers Schulter, das abgeschabte Jackett musternd, und verlieh der väterlichen Geste einen leichten Druck zur Tür hin: „Ist das noch Ihr Konfirmationsanzug?“

Ballin, die Kränkung wortlos schluckend, entgegnet freundlich: „Ich bin gar nicht konfirmiert.“

Meyer senkte Augen und Stimme:

„Sehen Sie, Herr Ballin, dann geht’s bei uns schon sowieso mitnichten, klein geschrieben. Ungemeinen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Und bestellen bitte vor Tür den musikalischen Wodka gnädig ab. Adjö!“

Ballin entfernte sich, ohne Verdrossenheit zu zeigen. Meyer schüttelte den gutaussehenden Kopf, der ihm den Beinamen Beau-Meyer eingetragen, hob die Hände mit tragischer Gebärde und lispelte durch eine Zahnlücke: „Ein ßtarkes Sstück, ist das ja woll, dieser so erßtaunlich ins Zugemutete ßtrebende Djudenlümmel! Das muß man je geradezu ’runterßpülen!“

Carr rieb sich mit dem Gertenstiel die Nase, trank seinen Whisky aus, zog die goldene Repetieruhr aus der Weste, klappte sie auf, steckte sie weg und leckte mit der Zungenspitze nachdenklich über die Oberlippe.

Der Reedereiprokurist wandte sich ihm zu: „Rückgreifend denn zu unseren Belangnissen! Wie weit haben der Herr inzwischen das erhoffte Einkommen unserer Womöglichkeit angepaßt?“

Carr aber erhob sich, ging zur Tür und sagte leichthin: „Herr Meyer, ich hab’ zwar die heutige Börse versäumt, möchte aber die meine zu retten suchen.“

Dabei schlug er sich mit der Reitgerte zart gegen den Mantel in Nähe der Hosentasche, so daß es deutlich von Münze klirrte: „Mahlzeit, Herr Meyer!“

Ballin fühlte sich keineswegs entmutigt, als er die drei Granitstufen des Hauses verließ. Über dem klassizistischen Eingang, flankiert von zwei Gaslaternen, sah er das Reedereiwappen zwischen steinernen Delphinenschwänzen und Lorbeer an einen zementenen Anker geheftet, und er las die fünf Buchstaben Hapag statt in der volksmündlichen Fassung: „Haben alle Passagiere auch Geld?“ – in der mehr seemännischen: „Hunger, Arbeit, Plackerei, Anpfiff, Gewürge.“

Er brauchte nicht bange zu sein. Seine Agentur ernährte die Mutter, die Schwestern, ein paar Angestellte und ihn. Was er in diesem kühlen hanseatischen Gebäude gewollt, ging über persönliche Ansprüche hinaus.

Die fünf biederen Straßenmusikanten hatte gerade Schukowskijs „Bosche Zarja chrani“ in der markigen Lwow-Vertonung hinter sich gebracht.

„Noch mol, Herr Baron?“ fragte flockenbestäubt der Pistonist und goß den Speichel aus dem Instrument.

Ballin winkte ab und eilte davon.

Alsbald erschien Herr Carr, warf der Baßtuba ein Silberstück zu und sagte:

„Da capo! Und aus allen Backen!“

Mit „Scheun Dank ok, Herr Graf!“ setzte das Quintett wieder ein, ungeachtet des Mienenspiels, das John Meyer am Fenster des Hochparterres vollführte.

*

Carr war jetzt dicht hinter Ballin und fühlte sich versucht, den jungen Mann ermunternd mit der Reitpeitsche zu berühren. Der Wunsch, sich eines guten Pferdes zu versichern, machte seine Schritte lang. Und nun war sein heller Zylinderhut auf gleicher Linie mit der grauen, bedeutend niedrigeren Melone des Agenten.

Ballin blickte gelassen. Er kannte den Mann nicht. Carr lüftete den Hut fingerbreit, um die tadellose Frisur nicht unnötig dem Schneegestiebe preiszugeben.

„Haben Sie ulkig gemanaged, Herr Ballin. Musik regt an. Man darf nur nicht zuviel Whisky getrunken haben. Was Sie da eben im Kontor sagten, gefällt mir. Man sollte wirklich ein paar Schiffe nur für Fracht und Zwischendeck einrichten.“

„Eigene Schiffe, Herr ...?“

„Carr, Edward Carr.“

„Ah, von der Sloman-Reederei.“

„Ich hab’ mich getrennt und würde gegebenenfalls meine beiden Schiffe ‚Australia‘ und ‚Amerika‘ entsprechend umbauen lassen.“

„Wären geeignet.“

„Halten Sie die direkte Route Hamburg – New York für riskant?“

„Wenn ich mich beteilige, nein.“

„Oho! Und mit wieviel?“

„Mit meiner Arbeit.“

„Ach so!“

„Meine Agentur würde volle Besetzung für jede Reise nach drüben garantieren.“

„Donnerwetter!“

„Falls Unterbringung und Verpflegung an Bord die Werbung rechtfertigt.“

„Rechne pro Schiff achthundert Passagiere.“

„Höchstens sechshundert, Herr Carr. Ich kenne die beiden Kästen, wie alles, was ab Hamburg schwimmt. Aber ich bitte mir hinreichenden Speiseraum aus und getrennte Waschräume für Männer und Frauen, anständige Küche, Bewegungsfreiheit auf Deck und menschenwürdige Schlafplätze anstatt des bisher üblichen Pferchs.“

„Bester Mann! Zwischendeck bleibt so oder so immer der gleiche Puff.“

„Das wäre gerade zu mildern.“

„Und die wahnsinnigen Mehrkosten?“

„Kommen vielfach heraus!“

„Sie garantieren das Geschäft?“

„Nur deswegen.“

„Sind Sie sicher?“

„Ja!“

Carr zog die Reitgerte durch die Luft und tat drei stumme Schritte neben dem Agenten. Ein Bierwagen polterte vorüber. Schottische Karren schoben sich vorbei. Von fern pumperte noch die Blaskapelle. Dann war eine plötzliche Stille im Straßenlärm, man vermeinte den Schnee rieseln zu hören. Und Carr sagte ruhig: „Top! Wir machen Vertrag!“

Der junge Agent mußte an sich halten. Er blickte zur Seite in die wasserhellen Augen des Kaufmanns aus britischem Blut. Ballins Vater stammte aus Jütland, war eingewandert in den feuchten grauen Rum-, Roggen- und Schellfischwinkel zwischen Niederelbe und Jammerbucht, nicht als Trödler und Wucherer, sondern als unternehmender Wollkämmerer und Tuchbereiter mit Fabrik und Angestellten. Er war gescheitert durch den großen Hamburger Brand Anno 1842 und hatte schließlich froh sein müssen, Agentendienste für englische Reedereien leisten zu dürfen zur Heranschaffung von Auswanderern.

Sein Sohn Albert hatte das Erbe übernommen. Nun schlug seine Stunde. Sollte er zögern, dem „Top“ des Patriziers zuzustimmen?

„Ich weiß nicht“, sagte Ballin, „wir kennen uns zu wenig, Herr Carr.“

Des „Rittmeisters“ Reitgerte zischte durch die Flocken. Dann blieb er stehen, zog den Handschuh aus und sprach: „Mr. Cassel hat mich vor Ihrer Tüchtigkeit gewarnt, Ballin. Genügt das?“

„Es genügt!“ antwortete der junge Mann. Sein blasses Gesicht rötete sich, und strahlenden Auges ergriff er die dargebotene Rechte.

2.

Die Carr-Linie

Passagiere sind keine Fracht · Zwischendeck und Kajüte · Ein Plakat triumphiert · Alarm und Ablehnung · Ein gemütliches Schiffahrtskontor · Carr kriegt kalte Füße · Drei blonde Damen · Der Prinz auf Helgoland · Wolldecken haben’s in sich · Brombeeraugen hinter Glas · Albert zieht aus.

Die Gründung der Carr-Linie erregte wenig Aufsehen. Seefahrtskontore kleineren Formats entstanden und fallierten in der Hansestadt je nach Bedarf und Vermögen. Fast jede größere Ex- und Importfirma besaß ein paar eigene Frachter. Was Edward Carr anfing: Neben Stückgut auch Auswanderer dürftigster Sorte aus Ost und Südost zu verfrachten und das mit Hilfe eines jüdischen Agenten als Kompagnon und direkt nach New York, erschien eigentlich fast leichtfertig und so wenig gesellschaftsfähig, daß man es lieber übersah. Obschon man dem neuen Reeder wegen seiner Konten, seines Namens und seiner weit verzweigten Verschwägerung die nachgesuchten „Parten“ nicht mißgönnte.

Parten, so nannte man die schon langsam veraltenden Vorläufer der Aktien. Es waren private Anteile am Geschäft der Schiffahrt in Papieren, die nicht offen an der Börse notiert wurden. Somit ging alles ganz ordentlich vonstatten. Der Umbau der beiden Frachter konnte beginnen. Ballin machte täglich selber einen Sprung zur Werft hinüber, so daß die Ausstattung beinahe so „komisch vergeuderisch“ ausfiel, wie er es sich gedacht hatte.

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