Des Sandes Widerhall - Anne Granert - E-Book

Des Sandes Widerhall E-Book

Anne Granert

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Beschreibung

Elrod vom Wasserplaneten Tshukma reist im Auftrag der Alten Völker durch die Galaxien. Eines Tages wird er seiner Talente beraubt und strandet auf dem Planeten Erde, der auf Jahrzehnte zu seinem persönlichen Gefängnis wird. Er hat sich bereits aufgegeben, als ihn die Begegnung mit der Hexe Sunna aus seinem kümmerlichen Dasein reißt. So wird Elrod unfreiwillig Teil eines Weltrettungskommandos aus Fremdweltlern und Menschen, erkennt jedoch schnell, dass ihm seine neuen Bekanntschaften zum Vorteil gereichen können.

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Seitenzahl: 470

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Zu diesem Buch

Elrod ist auf dem Planeten Erde gestrandet und hat dabei unter mysteriösen Umständen seine Talente verloren. Er hat sich bereits aufgegeben, als er der Hexe Sunna begegnet. Diese gerät mitten in einen Konflikt mit den Dustern, einem außerirdischen Volk, das sich Lebewesen und ganze Planeten einverleibt. In Sunna sieht Elrod seine Chance, zurück auf seinen Heimatplaneten Tshukma zu gelangen. Doch stattdessen wird er unfreiwillig in eine Weltrettungsaktion reingezogen, denn die Duster sind bereits eine größere Bedrohung für die Erde als angenommen.

Zur Autorin

Anne Granert, geboren 1983 in Nordhorn, hat ein Lehramtsstudium der Sonderpädagogik absolviert. Während des Studiums arbeitete sie nebenbei für eine Airline, die Universität Hamburg und im Drob Inn am Hamburger Hauptbahnhof.

Zu ihren Hobbys zählt sie lesen, schreiben, kochen, Lippenstift und in ferne Länder reisen. Nun erfüllt sie sich ihren größten Traum und bringt in ihrer Freizeit phantastische Welten zu Papier.

Besuchen Sie auch die Homepage: annegranert.de

Für Mirka,

Emmi und Ole…

… um Euch daran zu erinnern,

dass es da draußen noch mehr zu sehen gibt.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Glossar

Prolog

»Hier«, knurrte Dan und drückte Liam einen unscheinbaren USB-Stick in die Hand.

»Du wirst es bald verstehen«, antwortete Liam und schloss den Stick an seinen Laptop an. Während er die wenigen Dateien überflog, rief er sich Jacks Anruf am späten Vormittag in Erinnerung.

Nach Jahren der Funkstille hatte Jack sich endlich wieder gemeldet. Er suche Informationen über ein magisches Artefakt mit dem Namen Da’Tshung. Es gehe um den Fortbestand der Erde, um einen Kampf gegen eine übermenschliche Bedrohung. Vermutlich war das Jacks Rechtfertigung dafür, Liams niedere Dienste in Anspruch zu nehmen.

Ob Liam, legendärer Händler für magische Artefakte, ihm helfen könne, hatte Jack mit bebender Stimme gefragt. Okay, das »legendär« hatte Liam sich selbst zugedichtet. So dicke waren er und Jack nicht mehr, dass dieser ihn als legendär bezeichnet hätte. Unvorsichtig, kindsköpfig, leichtsinnig waren eher die Attribute, die Jack gewählt hätte. Dabei waren sie auf der Boston University beste Freunde gewesen. Beide Überflieger im Bereich Informatik. Liam hatte schnell gemerkt, dass damit nebenbei gutes, wenn auch schwarzes Geld zu verdienen war. Gepaart mit seiner Leidenschaft für alle Arten magischer Gegenstände, die die Fremdweltler auf die Erde schleppten, hatte er sich einen Namen als Händler gemacht. Das war der Anfang vom Ende gewesen. Oder Jacks neue Freundin Anna war das Ende gewesen. Wie konnte er schon gegen eine jahrtausendealte hübsche Frau mit unerschöpflichen Talenten anstinken? Wie auch immer, stellte Liam vergnügt fest, das hier ist ein Neubeginn.

Er runzelte die Stirn. Drei gestochen scharfe Blaupausen befanden sich zusammen mit ein paar Zahlencodes in der Datei: die Außenanlage, der erste Stock und der Keller der Mancini-Festung.

»Was ist mit dem Obergeschoss?«

»Unwichtig«, antwortete Dan. »Der Stein befindet sich im Keller.«

»Der Auftraggeber möchte aber alle.«

Dieser Auftrag war ein erster Annäherungsversuch zwischen ihm und Jack und er wollte es nicht versauen. Ein nervöses Kribbeln überzog seine Kopfhaut und er zwang sich, ruhig durchzuatmen. Automatisch checkte er den Ausgang, der in die Lieferzone der Apotheke führte. Marcus stand an der massiven Eisentür und war damit beschäftigt, Waren für die Bar anzunehmen.

Ruhig, mahnte sich Liam, bislang hat alles perfekt geklappt.

Sein alter Informant Dan, obwohl schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen, hatte den Auftrag sofort übernommen. Er arbeitete jetzt im Dunstkreis der Mancinis. Schlechte Bezahlung, ätzender Arbeitgeber, da könne man sich ruhig noch was dazuverdienen, hatte er gemeint. Zwar konnte er den Stein nicht direkt beschaffen, zumindest aber die Blaupausen.

»Mehr hab ich nicht«, murmelte Dan und trat einen Schritt auf Liam zu. Bevor dieser ausweichen konnte, hatte Dan schon seine Hand auf Liams Arm gelegt. Eine Welle der Zuversicht strömte durch seine Adern. Liam blinzelte irritiert, eingelullt in ein wärmendes Gefühl der Behaglichkeit.

»Schick die Blaupausen ruhig ab«, flüsterte Dan.

Na klar, dachte Liam, als das nervöse Kribbeln nachließ. Alles in Ordnung. Er tippte ein paar Befehle in seine Tastatur und die drei Blaupausen bahnten sich einen verschlüsselten Weg in Jacks Postfach. Zufrieden nahm er den Stick heraus, klappte seinen Laptop zu und steckte ihn in seinen unscheinbaren schwarzen Rucksack.

»Sag Jack liebe Grüße«, raunte Dan und zog sich hinter ihm Richtung Ausgang zurück.

»Ja, mach ich«, antwortete Liam mechanisch. Der Rucksack glitt ihm aus den Händen. Er bewegte seine Finger und bemerkte, dass seine Handinnenflächen schweißnass waren. Seine Kopfhaut brannte wie Feuer und für einen Moment verschwamm seine Sicht.

Was hatte Dan gesagt?

Mit schwachen Fingern griff er nach seinem Rucksack und richtete sich auf. Sein Magen war ein einziger Knoten, der ihm das Atmen erschwerte.

Hinter Liam ertönte ein Knall und er fuhr herum. Dan hatte die Eisentür zugeschlagen und grinste ihn an.

ALKOHOLISCHES GETRÄNK, DAS:

Für den allzu gewöhnlichen Menschen oder Fremdweltler stellt der Genuss diverser Rauschmittel ein primitives Mittel zur Entspannung dar. Speziell Alkoholika, hierbei sind Trinkalkohol enthaltende Erquickungen gemeint, in Form von Met, Wein und anderen Spirituosen sind jeglichen Kulturen immanent.

Hekatenerinnen und Hekatener, von jeher in allen Bereichen des Lebens anderen Völkern gegenüber dominierend, nutzen die genannten Genussmittel zur Fluch- und Sündenübertragung. Hierbei hat jede Hexe oder jeder Hexer eine ganz individuelle Präferenz für eine bestimmte Sorte dieses Gebräus.

Repositorium des Unnermenschen Frerk

1

5 Tage zuvor

»Hey, Elrod?« Louisa schüttelte ihn an der Schulter.

»Was?« Elrod schreckte auf und fegte fast seinen nach Torf und Pfeffer schmeckenden Whisky vom Tresen. Der Barhocker ächzte unter seinem Gewicht. Tief in Gedanken versunken war ihm entgangen, dass er mittlerweile der letzte Gast im O’Briens war.

Louisa schmunzelte. »Ich schließe. Hast du geträumt?«

»Ja«, seufzte er, während er seine Schläfen massierte. Sein nunmehr sechstes Whiskyglas war noch zur Hälfte gefüllt, wo war er in Gedanken nur gewesen?

Dort, wo er immer war.

Seit über hundert Jahren.

Bei seiner Ankunft auf diesem gottverdammten Planeten Erde.

»Wo auch immer du warst, nimmst du mich das nächste Mal mit?« Louisa warf ihm ein umwerfendes Lächeln zu, während sie den leeren Tresen umrundete, um die letzten Tische abzuwischen.

Ein müdes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Er war schon Stammgast in vielen Bars gewesen, seitdem er auf diesem Planeten gestrandet war. Von Zeit zu Zeit musste er die Kneipen wechseln, damit niemandem auffiel, dass er nur langsam alterte. Die wenigsten gewöhnlichen Menschen, wie die Fremdweltler sie nannten, wussten um die Existenz anderer Völker auf der Erde.

In all der Zeit war ihm selten eine so hübsche Wirtin untergekommen. Zierlich, mit langen pechschwarzen Locken und dunklen Augen war sie der Liebling der überwiegend männlichen Gäste. Gleich würde sie ihn fragen, ob sie ihn mitnehmen könne und er würde, wie immer, dankend ablehnen. Es war ein Spiel zwischen ihnen, ein sich selbst erhaltender Status quo. Sie würden die Bar verlassen, er würde ihr die Tür aufhalten, warten, während sie alles abschloss. Dann würde sie erneut fragen, ob er eine Mitfahrgelegenheit brauche und nach seiner Verneinung scheu zum Abschied winken.

Er schob sich ein paar Strähnen seines braunen Haares aus dem Gesicht und raufte sich den mit grauen Strähnen durchzogenen Bart. Warum eigentlich nicht? Warum gab er nicht nach und ließ sich mitnehmen, um eine Nacht in einer sicherlich hübsch eingerichteten Wohnung zu verbringen, während seine Hände Louisas Körper erkundeten?

Ein schmerzhafter Stich ins Herz erinnerte ihn an den Grund.

»Ich glaube nicht, dass es dir dort gefallen würde.« Elrod stand auf und kippte den restlichen Drink im Stehen hinunter.

Louisa warf den Lappen ins Spülbecken und musterte ihn mit traurigen Augen. Eigentlich musste er eine ziemlich abgebrochene Gestalt abgeben mit seinen ausgeblichenen Jeans und dem Hemd aus einem anderen Zeitalter. Aber seit Jahren schon schien er ihr zu gefallen. Vermutlich hatte sie so eine Art Helfersyndrom.

Er wartete an der Tür, bis sie ihre Sachen zusammengeklaubt hatte. Die laue Nachtluft tat ihm gut und milderte die trüben Gedanken etwas.

»Und du brauchst wirklich keine Mitfahrgelegenheit?«, erkundigte Louisa sich erneut.

Elrod schüttelte den Kopf. »Nein, danke, Louisa.«

»Gut, dann bis die Tage«, erwiderte sie und ging hastig zu ihrem alten grauen VW, der etwas zerbeult am Bordstein stand. Wie fast jeden Abend wartete Elrod wie ein Gentleman, der er eigentlich nicht war, bis sie im Auto saß und die Zündung angeschmissen hatte. In diesem Distrikt trieben sich selten talentierte Menschen oder Fremdweltler herum. Aber man konnte nie wissen, ob nicht doch ein Duster auf der Suche nach frischer Beute des Weges kam. Deren Übergriffe häuften sich in letzter Zeit besorgniserregend. Als Elrod das friedliche Brummen des alten Wagens vernahm, drehte er sich zufrieden um und ging Richtung Süden.

Er entschied sich zugunsten der lauen Nacht gegen die Untergrundbahn, bei den Einheimischen auch »das T« genannt. Das O’Briens befand sich am Rande eines heruntergekommenen Wohnviertels an einem Flusslauf des Western Channels. Dementsprechend warfen die Laternen ihr fahles Licht auf leere Straßen. Elrods bestiefelte Schritte waren das einzig vernehmbare Geräusch, als er an den roten Backsteingebäuden vorbeiging.

Ein Blick in den klaren Sternenhimmel drückte seine Stimmung noch mehr nieder. Er wurde diesen einen hartnäckigen Gedanken seit Jahrzehnten nicht los: Warum hatte er damals den Auftrag angenommen, der ihn auf diesen Planeten geführt hatte? Er kickte einen kleinen Stein auf die Straße.

Verflucht seist du, Ravan.

Damals hatte sich Elrod auf seinem Heimatplaneten Tshukma eine Pause vom Reisegeschäft, wie er seine Tätigkeit liebevoll nannte, gegönnt. Er konnte gut von seinen Einkünften leben und wollte zunächst alte Wunden lecken und sich vielleicht sogar neu orientieren.

Ravan war eines Tages aufgekreuzt und hatte versucht, ihn von einem Auftrag zu überzeugen, der ihn auf die Erde führen sollte.

»Ich mache eine Pause. Frag jemand anderes«, hatte Elrod geantwortet.

»Aber Kuan, ich brauche nicht jemanden, ich brauche dich und deine speziellen Fähigkeiten«, beharrte Ravan. »Komm schon, ein letzter Auftrag. Es winkt irre viel Kohle, danach kannst du dich für alle Zeiten zur Ruhe setzen.«

Kuan war Elrods Geburtsname und bedeutete so viel wie »mächtiges Wasser«. Und das war er auch gewesen, überaus talentiert und mächtig. Wasser zu beherrschen war eines seiner Talente, und da es auf fast jedem Planeten Wasser gab, brauchte er sich vor nichts und niemandem zu fürchten. Da er das Wasser für die Passagen zwischen den Planeten nutzte, war er sehr erfolgreich darin geworden, Personen und gefährliche Güter zu transportieren. Darüber hinaus besaß er noch die eine oder andere spezielle Fähigkeit, die er Ravan aber vorenthalten hatte. Er traute ihm nur bis zu seinem Geldbeutel.

»Du weißt, dass ich kein Geld brauche. Such dir jemand anderen.«

Ravans Auftrag war ihm zu suspekt. Jeder andere Logistiker hätte den Auftrag übernehmen können und doch wandte sich Ravan mit einer beträchtlichen Menge Geld an ihn. Warum ausgerechnet er?

»Nun komm schon, Kuan, der alten Zeiten willen«, sagte Ravan in schmeichelndem Ton und prostete ihm mit selbstgebrautem Arra zu, einem hochprozentigen Schnaps. »Außerdem schuldest du mir was«, fügte er gedämpft hinzu.

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Ravan diese Karte spielte. Kuan stand seufzend auf und blickte aus dem Küchenfenster auf die türkisfarbenen Wasserfelder seines Heimatplaneten. Die mit Moos und Farn bewachsenen Stege, die die schwimmenden Häuser und Dörfer miteinander verbanden, glänzten im Licht der beiden tiefroten Sonnen. Sein Nachbar, ein Künstler, war gerade dabei, eine Leinwand auf Walknochen aufzuspannen. Ein bezauberndes Mädchen mit langem, offenem Haar nahm auf einer Holzbank Platz, um ihm Modell zu stehen. An einem normalen Tag hätte er ihnen Gesellschaft geleistet und einen würzigen Tee mit ihnen getrunken.

Er stützte sich auf der Arbeitsfläche ab und ließ für einen Moment den Kopf hängen. Ob er diese Schuld jemals begleichen konnte? Ein letzter Auftrag nur. Also hatte Kuan eingewilligt. Zunächst war auch alles gut gegangen. Er hatte seine Zielperson, ein Mitglied des Alten Volkes, an das er sich jedoch nicht mehr erinnern konnte, erfolgreich auf die Erde begleitet.

Doch dann war alles aus dem Ruder gelaufen.

Elrod war stehen geblieben. Schon seit über einhundert Jahren verfolgte ihn dieselbe Szene, doch er wurde nicht schlau aus ihr. Er konnte sich nur bruchstückhaft erinnern, aber als er damals in Irland aufgewacht war, war ihm ein Großteil seiner Talente abhandengekommen.

Er, der Reisende, war gestrandet.

Und so in Gedanken vertieft gewesen, dass ihm entgangen war, welchen Weg er eingeschlagen hatte. Er blickte sich um und fluchte. Wie so oft hatten ihn seine Füße Richtung Everett getragen. Dieser Stadtteil war für Elrod der einzige Ort auf Erden, an dem er für einen Moment glücklich gewesen war. Er wollte sich gerade umdrehen, als er ein vertrautes Gefühl wahrnahm. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Instinktiv sandte er seine Witterung aus und tastete nach fremdem Blut. Die Umgebung war staubtrocken und er nahm nichts außer Leere wahr. Nicht das Vorhandensein, sondern das Fehlen von etwas überzog seine Arme mit einer Gänsehaut.

Duster.

Ein widerwärtiges Volk, das seit ein paar Jahren sein Unwesen auf der Erde trieb. Viel wusste Elrod nicht über die Duster, aber was er gehört hatte, war genug, um einen Bogen um sie zu machen.

Gerüchten zufolge stammten sie von einem nahezu wasserlosen Planeten aus einer weit entfernten Galaxie, suchten sich jedoch von Zeit zu Zeit andere Lebewesen, um sich von ihnen zu ernähren. Sie waren in ihrer ursprünglichen Form amorph, auch wenn es bislang keinen Überlebenden gab, der das bestätigen konnte. Wie Sand hefteten sie sich an ihre Opfer und töteten sie. Dieser Umstand verlieh ihnen auch ihren Namen. Entweder sogen sie andere Lebewesen mit ihren Partikeln aus, oder sie verleibten sich ihre Körper ein und wandelten in ihnen herum.

Es wurde sogar behauptet, dass die Duster, die im Volksmund oft als Mumien bezeichnet wurden, als vertrauenserweckende Personen wie Polizisten oder andere Staatsdiener auftraten. Das machte es für die meisten Lebewesen schwer, sie zu identifizieren. So sahen die Bewohner der Erde die Bedrohung nicht, wiesen sogar die bloße Existenz der Duster zurück. Allen voran das FO, die Kurzform für Foreigner Office. Ein nichtsnutziges Pack, das sich auf staatlicher Ebene um die Belange der Fremdweltler kümmerte. Dies führte dazu, dass diejenigen, die an die Duster glaubten, hinter vorgehaltener Hand von ihnen sprachen oder sie mit Spitznamen wie Mumien betitelten, um nicht für verrückt gehalten zu werden. Da Elrod die letzten Jahrzehnte weitgehend abgeschieden verbracht hatte, kannte er die Geschichten nur aus zweiter Hand. Das eine oder andere Mal hatte er die Anwesenheit der Duster gespürt, die alles umfassende Leere, die von ihnen ausging. Und dann weggesehen. Was scherten ihn die Erdenbewohner?

Nun schien sich zumindest eines der vielen Gerüchte, die sich um das außerirdische Volk rankten, zu bestätigen.

Elrods Blick war an einer Polizeikontrolle auf der anderen Straßenseite hängengeblieben. Sein whiskyvernebelter Geist spürte die Anwesenheit von Talenten, doch die beiden Polizisten, die sich einem alten petrolfarbenen Lancia näherten, zeichneten sich durch etwas anderes aus. Das Fehlen von Wasser in ihnen und um sie herum sagte ihm, dass es sich eindeutig um Duster handeln musste. Ein Schauer des Ekels durchfuhr Elrod. Einem Reflex folgend sandte er seine Witterung aus, doch er fühlte nur taube Leere. Das war der zweite Grund, warum er den Dustern in der Regel aus dem Weg ging: Er konnte ihre Talente nicht ermessen.

Wo kein Wasser, da auch kein Blut. Und wo kein Blut, da auch keine Möglichkeit für Elrod, Talente wahrzunehmen.

Elrod wollte sich gerade umdrehen und verschwinden, als die Fahrertür sich öffnete und eine große Frau mit einem altmodischen Hut auf dem Kopf aus dem Auto stieg. Ihre Worte konnte er auf diese Distanz nicht verstehen, doch an ihrem Lächeln erkannte er ihre Ahnungslosigkeit. Wie ein Reh, das ins Scheinwerferlicht starrt.

Ein sehr hübsches und überaus talentiertes Reh.

Elrod stockte ob ihrer mächtigen Talente und betrachtete die Frau genauer: Ein halblanger lavendelfarbener Rock umspielte ihre schlanken Waden und ihre tätowierten Arme stachen aus ihrer hellen Bluse hervor. Sie war nicht unbedingt hübsch im eigentlichen Sinne, sie war eher eine Erscheinung, die seinen Herzschlag sofort beschleunigte. Und die vermutlich innerhalb der nächsten halben Stunde zwei widerlichen Dustern zum Opfer fiel.

Wirklich schade drum.

Von der Frau ging eine ursprüngliche Kraft aus, die Elrod seit über einem Jahrhundert nicht mehr gespürt hatte und die augenblicklich pochende Kopfschmerzen in seinen Schädel pflanzte. Er konnte nicht genau fassen, was an der Frau war, dass er sich zu ihr hingezogen, ja, nahezu mit ihr verbunden fühlte. Normalerweise hatten Frauen nicht so einen starken Effekt auf ihn. Er durchforstete verzweifelt seine Erinnerungen, die Antwort zum Greifen nah, doch immer einen Schritt voraus hinter einer dicken Wand aus Nebel versteckt. Kannte er sie? Nichts deutete darauf hin. Je tiefer seine Witterung jedoch in ihrem süßen, vor Talenten strotzenden Meer aus Blut versank, desto stärker verspürte er einen Impuls, der ihn in Richtung der Frau trieb.

Der größere Polizist war gerade dabei, der holden Maid die Fahrzeugpapiere abzunehmen und sie zum Polizeiwagen zu eskortieren. Elrod konnte die naive Ahnungslosigkeit der Frau schon fast mit Händen greifen. Duster hatten hin und wieder diesen Effekt auf gewöhnliche Menschen und Fremdweltler. Sie lullten sie in ein vertrautes, warmes Gefühl der Sicherheit ein, um dann über ihre Opfer herzufallen und sie auszuweiden. Manche Talentierte waren überwiegend immun dagegen, so wie Elrod, doch damit zählte er zu einer Minderheit. In der letzten Zeit war die Anzahl vermisster Personen rasant gestiegen.

Sollte er oder sollte er nicht? Zwei Duster waren eigentlich kein Problem für ihn, selbst ohne den Gebrauch seiner wenigen Talente, und die schöne Frau weckte nicht nur seinen Beschützerinstinkt, sondern auch sein Interesse.

Er hätte nicht so viel trinken sollen. Elrod war noch etwas benebelt, was ihm vielleicht die nötige Portion Aktionismus verlieh, und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Er torkelte in die Richtung des kleinen Grüppchens, schaffte es gerade so über die Straße und lallte: »Hey Chef, steigt hier ‘ne Party?«

»Verpiss dich«, zischte eine etwas mickrige Version eines Polizisten und trippelte nervös von einem Fuß auf den anderen.

»Ja, wer wird denn hier gleich sauer?«, scherzte Elrod. »Muss nur noch eben was erledigen.« Damit öffnete er seinen Hosenbund, entblößte sein Gemächt und pinkelte fröhlich gegen den Polizeiwagen.

Das war wohl die Eintrittskarte, dachte Elrod, als der kleinere Polizist ihm seinen Knüppel in die Kniekehlen rammte. Ächzend fuhr er zusammen und schaffte es gerade noch, seine Hose zu schließen, bevor er sich schon im Wagen befand. Er hatte der Party wohl etwas den Spaß genommen, denn die Frau wurde nun schnell neben ihn bugsiert. Eine rasante Fahrt durch verwahrloste Häuserschluchten begann.

In seiner zusammengesunkenen Haltung hatte Elrod Zeit, das bezaubernde Wesen zu mustern. Sein Blick glitt langsam ihren wohlgeformten Körper hinauf, nur um bei einem Augenpaar zu stocken, das ihn unverwandt ansah. Etwas belustigt senkte sie ihren Blick auf seine Hose. Er war beim Zuknöpfen wohl doch nicht so erfolgreich gewesen. Hastig schlug er die Beine übereinander und verdeckte alles Sichtbare, so gut er konnte.

»Sorry«, brummte er.

»Kein Ding«, sagte sie grinsend und sah aus dem Fenster.

Elrod gewann den eher unwahrscheinlichen Eindruck, dass sich seine Mitfahrerin nicht nur wenig fürchtete, sondern das Ende ihrer Fahrt furchtlos, geradezu entspannt erwartete. Immer wieder warf sie ihm neugierige Blicke zu. Durch die Kopfschmerzen hindurch versuchte er, einen Plan zu fassen, wann und wo er die Frau aus den Fängen der Duster befreien würde. Er kam nicht richtig voran mit seinen Ideen; seine Überlegungen endeten immer gleich mit der Schlussszene seiner Rettungsaktion, in der sich seine Sitznachbarin nackt an seine Brust schmiegte.

Die Fahrt nahm ein abruptes Ende an einer schäbigen Polizeistation weit außerhalb der Stadt. Elrod schwirrte der Kopf von den sandigen Gerüchen und dem fehlenden Wasser. Die Kopfschmerzen hatten sich mittlerweile über seinen ganzen Schädel ausgebreitet und stachen wie spitze Nadeln in seine Kopfhaut. Er hatte kurz das Gefühl, seine Sehkraft würde sich vor lauter Schmerz verabschieden. Doch die vielen flimmernden Punkte vor seinen Augen verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

Und mit ihr die verführerische nackte Silhouette.

Die Polizeistation sah aus wie eine alte Schule aus den siebziger Jahren in einem eher schlechten Wohnviertel. Ein flaches Haupthaus mit einem vierstöckigen Anbau befand sich an der östlichen Seite. Der Haupteingang war schmutzig und in unscheinbarem Beige und Blau gehalten. Die Außenwände waren unterschiedlich verkleidet, so als hätten sich die Duster Stück für Stück Häuser und Flächen einverleibt, wie sie es auch mit Menschen und anderen Lebewesen zu tun pflegten.

Neben dem Hauptgebäude befand sich ein verwaister betonierter Platz, der in einem anderen Leben sicherlich einmal ein schöner Hof gewesen war. Ein paar unbedeutende Grünflächen lagen brach und boten Müll und Unrat eine Bühne. Ein Hochhaus, das wie ein rotgeklinkerter Trutzturm aussah, begrenzte die Anlage im Norden und starrte mit dunklen, geisterhaften Fensteraugen ins Leere. Im krassen Gegensatz zu dem Erscheinungsbild des Reviers stand das vertrauenerweckende, betörende Gefühl, das dieser Ort verströmte. Elrod schüttelte den Kopf, um sowohl dieses Gefühl als auch die Kopfschmerzen zu verscheuchen. Der Widerhall der Duster verschwand. Die Kopfschmerzen leider nicht.

»Los geht’s«, raunzte der größere Polizist, öffnete die Wagentür und zog Elrod unter Anstrengung aus dem Wagen. Die mickrige Version mühte sich mit der Frau ab. Eine breite, verlassene Treppe führte sie nach oben und durch einen grell erleuchteten Korridor in das Innere des Baus. Zur Linken befand sich ein Trakt, in dem es anscheinend nach unten ging. Elrod konnte keinen genaueren Blick darauf werfen, denn schon wurde er zusammen mit der Frau nach rechts ins Hauptgebäude bugsiert.

Der verwahrloste Eindruck setzte sich innen fort. Die dreckigen Tapeten lösten sich an manchen Stellen von der Wand, der Teppich war durchgetreten und stümperhaft ausgebessert worden. Ein fülliger Beamter, Elrods Witterung nach ebenfalls ein Duster, saß hinter einem dunklen Anmeldetresen und schaute nur flüchtig von seinem Computerbildschirm auf, um mit dem Kopf nach hinten zu nicken. Das Revier war spärlich besetzt und zu Elrods Überraschung sah er keine weiteren Bürger vor den Tischen oder an der Anmeldung. Alles war leer, finster und still. Elrod beschlich das Gefühl, dass es sich hier nicht mal ansatzweise um ein normales Polizeirevier handelte und er den richtigen Augenblick für eine Flucht irgendwie verpasst hatte. Er wurde zunehmend nervöser, als er und die Frau ohne eine weitere Erklärung die Treppe runtergeschubst wurden.

»Hey, was soll das?« Seine unfreiwillige Begleitung versuchte, sich zaghaft zu wehren. »Was ist denn überhaupt die Anklage?«, fragte sie, jedoch ohne Erfolg. Ihre Fragen verhallten ungehört in dem schmutzigen Korridor.

Elrod hätte ihr beipflichten können, doch niemand machte sich die Mühe, irgendeine ausgedachte Geschichte zum Besten zu geben. Ganz eindeutig sollten sie das Revier, oder was auch immer dies hier war, nicht mehr verlassen. Der Flur erstreckte sich schier endlos in den Keller hinein und die Luft wurde zunehmend kratziger. Elrod fühlte sich wie ein Fisch auf dem Trockenen, seiner natürlichen Umgebung beraubt und dem Tode nahe. Beklemmung und Besorgnis krochen seinen Körper hinauf. Seine Begleiterin jedoch taxierte konzentriert die Zellen, als überlegte sie, sich dort häuslich niederzulassen. Die Zellen waren leer, ebenso wie die Räume, an denen sie vorbeigekommen waren.

Grob wurde Elrod in eine Zelle gestoßen. Mittlerweile hatten sie vier als Polizeibeamte getarnte Duster im Schlepptau. Ihre Anwesenheit hatte also Motten angezogen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es hier unten vor Dustern wimmeln würde. Unzählige mehr witterte Elrod in den Stockwerken unter seinen Füßen. Die sich ausbreitende Trockenheit biss sich in seine Lungen und ließ sie verdorren. Elrod seufzte angespannt. Vielleicht sollte er bedeutende Entscheidungen nicht unter Einfluss von zu vielen Drinks treffen.

Sie mussten hier irgendwie verschwinden.

Die Frau folgte ihm in die Zelle. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie sie sich nun doch zu wehren versuchte. Ihm kamen Zweifel an seiner spontanen, alkoholumnebelten Eingebung, sie vor den Dustern zu retten. Selbst im Vollbesitz seiner Talente wäre ein Sieg jetzt schwer erkauft; gar nicht auszumalen, wie er es in seiner derzeitigen Verfassung lebend hier herausschaffen sollte.

Elrod ging in Gedanken hastig seine Möglichkeiten durch. Zum Glück hatte er immer etwas Wasser in Reserve. Eine geringe Menge zwar, aber es sollte zumindest für eine Flucht auf die andere Seite der Wand reichen.

Seine Begleiterin widersetzte sich den Bemühungen des hochgewachsenen Beamten, sie noch tiefer in die Zelle zu schubsen.

»Ich suche Informationen!«, brüllte sie. »Wo ist«, begann sie erneut, wurde aber jäh mit einem Schlag ins Gesicht unterbrochen. Sie ging zu Boden und blieb vor Schmerz stöhnend liegen. Die Augen des schwer schnaufenden Polizisten begannen, rot zu glühen.

Dieses Mal war Elrod das Reh. Fasziniert beobachtete er, wie sich das Gesicht des Polizisten langsam auflöste. Millionen ätzender Partikel umgaben seine hässliche Fratze wie ein immer schneller wirbelnder Nebel.

»Du Miststück, steh auf«, zischte er mit geballten Fäusten.

Als sie jedoch liegenblieb, herrschte er seine Kollegen an: »Ich will ihr ins Gesicht sehen, wenn ich sie töte.«

Hastig stürzten zwei weitere Beamte in die Zelle und zogen die Frau auf die Beine.

»Wollen wir doch mal sehen, wie lange du das aushältst«, fauchte er und hielt ihr blutendes Gesicht mit seiner Klaue fest.

Die Dunstwolke näherte sich der Frau, schien ihren Körper zu liebkosen. Elrod konnte sich immer noch nicht rühren. Die gelbliche Staubwolke zog seinen Blick magisch an. Er stutzte, als er eine weitere Bewegung wahrnahm. Sein Blick wurde auf die tätowierten Arme der Frau gelenkt. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er schwören können, dass sich die tätowierte Schlange von ihrem Handgelenk zu ihrer Schulter bewegt hatte und nun angriffslustig dort wartete. Dem Duster war das wohl auch aufgefallen.

»Was …« Erschrocken wich er zurück. Er schien einen Befehl gegeben zu haben, denn eine weitere Handvoll Duster kam in die Zelle gestürmt und packte die Frau.

Den Tumult nutzte Elrod, um umständlich an seinen Stiefeln zu nesteln und eine ovale Box für Kontaktlinsen zum Vorschein zu bringen. In jeder der beiden Kammern befanden sich nicht mehr als ein paar Tropfen Wasser. Gerade genug, dass es die Duster nicht interessierte, und doch ausreichend für eine sehr kurze Wasserreise. Mit geübten Fingern schnipste er den Inhalt der einen Kammer an die schlanken Fesseln seiner Mitinsassin. Gerade, als er sein Talent wirken wollte, sah er, wie sich die Schlange von der Schulter der Frau erhob und streitlustig zischte. Elrods Geist reagierte zu langsam und während er noch versuchte, Duster, Schlangen und eine schöne Frau in Einklang zu bringen, hatte er sie auch schon gepackt und mit sich gezogen.

BEN NEVIS, DER:

Schroffe Berglandschaften erheben sich majestätisch über den sanften Rundungen sattgrüner Hügel. Zwischen Glens und Lochs weht der Odor moosigen Torfs, der sich tautropfenartig im Geschmack des weltweit besten Whiskys niederschlägt. Namensgeber für den süffig goldenen Ben Nevis ist der mit 1345 Metern höchste Berg Schottlands, Heim und Wirkungsstätte der abertausenden Unnermenschen Britanniens.

Obwohl etymologisch nicht eindeutig geklärt, wird sein Name allgemeinhin mit „Kopf in den Wolken“ übersetzt, was auf Häufigkeit und Dichte des von den Unnermenschen erzeugten örtlichen Nebels zurückzuführen ist. In den Kreisen der Hekatenerinnen und Hekatener wird der Ben Nevis auch als alkoholisches Getränk zur Aufbewahrung und Weitergabe von Flüchen oder Sünden genutzt.

Repositorium des Unnermenschen Frerk

2

»Whisky?«

Elrods Nasenflügel blähten sich, als er Witterung aufnahm, und verrieten ihr anscheinend, dass er wach war.

»Ich würde dir auch etwas anderes anbieten, aber unser Aufprall hat meinen Kühlschrank demoliert und ich kann ihn nicht mehr öffnen. Hier.« Sie musste ihm ein Glas unter die Nase halten, denn er konnte den Geruch von Moor und Torf wahrnehmen.

Ihre Stimme hallte klar in seinem Bewusstsein wider, schlug gegen seine müden Knochen wie eine eiskalte Welle und endete als feines Rinnsal tief in seiner Seele.

Eine Antwort war mehr als überfällig, schließlich ging es hier um Whisky. Ihm brummte der Schädel. Elrod bezweifelte, dass der Whisky helfen würde, aber er hatte noch nie einen guten Tropfen verweigern können. Die Erde hatte so viel Gutes zu bieten, vor allem Alkohol hatte er in den letzten Jahrzehnten leider zu schätzen gelernt.

Er regte sich, um das verführerische Angebot anzunehmen. Jedes seiner Glieder schmerzte und er erinnerte sich vage an einen Zusammenprall mit einem roten Smeg.

»Du kannst auch ein Glas bestes Leitungswasser haben, doch ich bevorzuge einen Ben Nevis.«

Offensichtlich teilten sie einen ähnlichen Geschmack.

Elrod stöhnte kurz auf, als er die Augen öffnete und sich das helle Deckenlicht schmerzhaft in seine Pupillen bohrte. Durch einen kurzen, von Tränen verschleierten Blick konnte er die Silhouette seiner ehemaligen Mitinsassin erkennen. Ihre raubtierhaften grün-braunen Augen sahen ihn erwartungsvoll an, die Lippen waren zu einem Lächeln geformt.

»Gerne«, antwortete Elrod matt.

»Du kannst noch Eis für deinen Schädel haben, aber verdirb den Whisky nicht damit. Den Flur entlang ist das Bad, du blutest an der linken Schläfe«, sagte sie, während sich ihr anmutiger Körper zurück zu besagtem ramponierten Kühlschrank begab. Sie hielt sich einen Waschlappen ans Kinn. Die Faust des Dusters war als blauer Schatten in ihrem Gesicht erkennbar.

Schwerfällig erhob er sich. Er hatte an einem alten Heizkörper unter einem Fenster gelehnt und massierte sich das linke Schulterblatt. Irritiert fragte er sich, wo er sich befand und vor allem, ob er in einer anderen Zeit gelandet war. Heizkörper hatte er schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Seit dieser Landstrich wärmer wurde, gab es überall integrierte Klimasysteme.

Elrod nahm den Whisky und ihre Ausführung als Aufforderung, sich mit steifen Gelenken ins Bad zu begeben und dabei die Wohnung zu inspizieren.

Sein derzeitiger Aufenthaltsort war keine schnöde Wohnung, sondern ein Loft mit einem abgetrennten Badbereich. Dunkler Dielenboden bildete eine passende Einheit mit Wänden aus rotem Backstein. Auf dem Weg zum Bad bestaunte er die lose an die Wand geklebten Poster mit einst berühmten Persönlichkeiten wie Romy Schneider, Claudia Cardinale oder Grace Kelly. So sehr ihn diese Auswahl faszinierte, so konnte sie doch nicht von der sagenhaften Aussicht ablenken: Zwei weite, in Alu eingerahmte Fensterfronten gaben den Blick frei auf einen nahenden Sonnenaufgang hinter sanft geschwungenen Hügellandschaften. In sehr weiter Ferne erahnte er die sich rapide ausbreitende Wüste.

Erleichtert stellte Elrod fest, dass er sich immer noch in Boston befand. Er lehnte seine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe, nahm einen tiefen Atemzug und genoss das Gefühl schwindender Schmerzen in seinen Gliedern. Nur die pochenden Kopfschmerzen wollten nicht weichen. Seine rechte Hand führte das schlichte Whiskyglas an seinen Mund und er benetzte seine schmalen Lippen mit dem köstlichen Gold. Einen großen Schluck später wallte Hitze in seinem Magen auf. Er keuchte und wankte. Vielleicht doch zu früh für noch mehr Alkohol, er sollte sich lieber vorerst nach Wasser umsehen.

Das Bad war ein schmaler, fensterloser Raum. Durch einen Blick in den Spiegel stellte Elrod fest, dass er zwar nur an der Schläfe blutete, sein Körper aber so zerschunden aussah, wie er sich vor ein paar Minuten noch angefühlt hatte. Sein graues Shirt war zerrissen, seine Jeans voller Staub.

Gelbem Staub. Widerlich.

Er drehte den Wasserhahn auf und spülte das Blut von seinem Gesicht ab. Als er nach einem Handtuch griff, reichte die Frau ihm durch die Tür einen Eisbeutel. Er hatte sie nicht gewittert, verdammt. Er sollte sich besser konzentrieren und seinen Rausch loswerden.

»Ich bin Sunna. Lass dir Zeit, du kannst hierbleiben, solange du möchtest.«

»Solltest du nicht vorher meine Dokumente durchsehen, nach meinem Namen fragen oder zumindest einen Revolver am Gürtel tragen?«

Er hatte sich ihr Outfit genau angesehen – zwar passten genug Waffen in ihre Rockfalten, doch sie machte einen außerordentlich unbedarften und unschuldigen Eindruck, wie sie dort stand. Ihre linke Hand ruhte sachte auf ihrer Hüfte und ihre leicht gebräunten, tätowierten Arme bildete einen feinen Kontrast zu der beigefarbenen Bluse, die viel Raum für Spekulationen bot.

»Um jemanden zu töten, bräuchte ich keinen Revolver. Außerdem weiß ich, wer du bist. Ich habe keine Angst vor dir.«

Die Sonne war schon fast sichtbar, als Elrod wieder in ihr Wohnzimmer trat. Eine atemberaubende Aussicht, daran könnte er sich gewöhnen. Er schwenkte seinen Whisky und trat ans Fenster. Im Bad hatte er sich noch etwas Zeit genommen für ein paar Gedankenspiele über die holde Maid namens Sunna und um möglichst viel Alkohol abzubauen. Auch wenn sie über mächtige Talente verfügte, war sie offensichtlich keine Gefahr für ihn, zumindest hätte er das wohl schon gemerkt. Allerdings musste er herausfinden, wer genau sie war und warum sie durch die Wasserreise in ihrer Wohnung gelandet waren. Eigentlich hätten seine geringen Fähigkeiten sie nur auf die andere Seite der Mauer, vielleicht bis zur nächsten Straßenkreuzung bringen sollen. Sunna musste menschlichen Ursprungs sein, aber das schloss Talente ja nicht aus. Allerdings war Magie mittlerweile ein rares Gut auf Erden, sie versiegte mehr und mehr. Vielleicht war Sunna ja doch ein in eine hübsche Fassade gekleideter Nukpana mit riesigen Tentakeln.

Elrod schüttelte sich.

Hirngespinst.

Punkt.

»Ich war sehr erstaunt, als ich erkannt habe, wer du bist«, flüsterte Sunna. Sie war neben ihn getreten. Ihr Blick sagte ihm, dass sie sich doch noch nicht ganz sicher war. Sie schwenkte ihren Whisky in kreisenden Bewegungen. War das ihr zweiter oder hatte sie noch nichts getrunken?

»Warum bist du mit mir gekommen?« Sie machte eine ausladende Bewegung, die offenbar das Polizeirevier und ihre Wohnung einschloss, und lächelte.

Er musste ein Wort finden, das dieses Lächeln beschrieb. Ein Lächeln, das so offen war, dass er daraus lesen konnte wie einst aus seinen heimischen Kinderbüchern.

»Das Übliche: Hübsche Frau wird fälschlicherweise festgenommen. Held kommt, um sie zu retten.«

»Du findest mich hübsch?« Ihre Augenbrauen zuckten, fein geschwungene Bögen in dunklem Braun, dazu benutzt, um hunderte verschiedene Gesichtsausdrücke hervorzubringen, von denen Unschuld und Neugier zurzeit die vorherrschenden waren.

»Ich vermute, ein paar von ihnen hätten wir schon noch erledigen können, oder? Immerhin waren im Erdgeschoss nur eine Handvoll von ihnen und wir waren zu zweit«, fuhr sie fort.

Sein Zögern schien Welten zu überdauern.

Sie hatte sich also absichtlich verhaften lassen, anscheinend mit dem Wunsch, möglichst viele Duster zu töten. Demnach war sie mit vielen Talenten gesegnet und äußerst naiv. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Jetzt, mit etwas klarerem Geist, konnte Elrod jede Zelle ihres Körpers spüren, ihre Vibration war seine, ihre Energie floss durch seine Adern. Sie war eine Nachfahrin des Alten Volkes, er spürte es.

Das Alte Volk bestand im eigentlichen Sinne aus einer Handvoll verschiedener Völker, die aus der entlegensten und ältesten Galaxie des Universums stammten. Dazu zählten unter anderem die Knucker von Nicor, die Geschwister von Jeeva und die Hexen und Hexer von Hekate. Einige ihrer Abkömmlinge waren vor vielen Jahrtausenden ausgezogen, um anderen Galaxien bei der Entwicklung zu helfen. Sie kolonisierten Planeten, mischten sich sogar mit vorhandenen Spezies. Einige verloren dadurch über die Jahrtausende ihre Talente; ihr Blut mischte sich zu sehr mit dem anderer Lebewesen. Nicht so bei Sunna. Ihr Blut war nahezu rein, sie entstammte in gerader Linie einem der Alten Völker. Möglicherweise den Hekatenern, wenn seine Erfahrung ihn nicht trog.

Die Alten Völker handelten in der Absicht, Leben zu schützen und weiterzuentwickeln. Kein Wunder, dass Sunna Jagd auf die Duster machte. Die Duster standen für alles, was die Alten Völker nicht waren: Tod, Unterwerfung und Zerstörung.

»Ach, ist das so?«, antwortete Elrod in dem Versuch, Zeit zu schinden. »War das dein Plan? Ein paar Duster töten?«

Ein Anflug von Trauer legte sich über ihre Züge. »Vielleicht. Warum nicht? Traust du mir das nicht zu?«

Sie drehte sich vor ihm, wog ihre Hüften hin und her. Er musste schmunzeln, als er an Louisa dachte. Es war noch nicht lange her, dass eine Frau mit ihm gespielt hatte, doch dieses Spiel hier wollte er nur zu gern mitspielen. Er musterte Sunna von oben bis unten.

»Du hast zumindest gewisse Talente, immerhin kannst du Duster identifizieren.«

»Gut«, lachte sie, »weiter so. Was weißt du noch?«

»Bevor ich dich gerettet habe …«

»Bitte was?«, rief sie aus. »Du mich gerettet? Ich wusste gar nicht, dass ich gerettet werden musste. Wenn ich an die doch recht turbulente Passage zurückdenke, erscheint es mir eher so, als hätte ich dich gerettet. Das ist amüsant, mach weiter.« Sie nahm elegant auf einem ausladenden Sofa Platz und nippte mit geschlossenen Augen an ihrem Drink.

»Wenn ich mich richtig erinnere, zischte da etwas auf deiner Schulter, kurz bevor ich dich gerettet habe.« Elrod ließ sich neben sie auf die Couch sinken und merkte, wie er sich langsam entspannte. Seit Jahrzehnten verscharrte Emotionen kamen kriechend an die Oberfläche und ihm schwirrte der Schädel. Und immer noch diese stechenden Kopfschmerzen.

»Ja, das stimmt. Das war ein Zauber, der mich ziemlich viel Kraft und Zeit gekostet hat und du hast ihn«, sie machte eine abrupte Bewegung mit den Fingern, »verpufft, sozusagen. Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll.« Sie rieb ihre Finger aneinander und Funken stoben in die Luft. Elrod musterte sie fasziniert. »Was weißt du noch?«

Zurückhaltung, gebot seine Intuition. Er durchforstete seine Erinnerungen. Seiner Erfahrung nach blieben direkte Nachkommen des Alten Volkes lieber unerkannt. Und er mochte Sunna. Nicht nur wegen ihres Wesens.

Möglicherweise war sie sein Ticket nach Hause.

Alleine konnte er kein Portal mehr zu seinem Heimatplaneten öffnen. Das Talent war ihm abhandengekommen. Eine solche Reise erforderte andere Talente als ein kurzer Sprung durch eine Hauswand im Beisein von ein paar Wassertropfen. Schmuggler transportierten keine Personen mehr, zu stürmisch war die Atmosphäre um die Erde herum geworden. Vielleicht konnte sie ihm dabei ja helfen. Oder noch besser: Vielleicht konnte er mit ihrer Hilfe seine Talente zurückbekommen. Er sollte sie also nicht erzürnen.

»Den hübschen Funken und deinen Ausführungen nach bist du eine Hexe, eine Hekatenerin.«

Sunna nickte erfreut. »Bravo, der Kandidat erhält hundert Punkte. Eine etwas verärgerte Hexe«, fügte sie an, lehnte sich in seine Richtung und kam ihm gefährlich nah. »Wie gesagt, du hast meinen Plan durchkreuzt, du schuldest mir etwas.«

Er war versucht, eine anzügliche Antwort zu geben, hatte sich aber schnell wieder im Griff. Sein Gehirn war so umnebelt, wandte sie möglicherweise einen Zauber an? Nein, eigentlich merkte er so was. Seine Art war vor Zaubern und Magie recht gut geschützt. Oder war auch das verloren gegangen?

Er hätte in den Tiefen der letzten Spelunke bleiben sollen, das hier war sehr gefährlich. Seinem klopfenden Herzen folgend stand er hastig auf, wischte sich die schweißnasse Hand an der Jeans ab und ging zum Fenster. Einerseits spürte er eine starke, nahezu reißende Verbindung zu Sunna, andererseits wollte er so gerne verschwinden. Aus ihrem Loft und von diesem Planeten.

»Du weißt nicht, was ich in den Katakomben des Gebäudes gespürt habe«, murmelte er schleppend in die Tiefen seines Whiskyglases.

»Dann erkläre es mir«, erwiderte sie. Sie war aufgestanden und umrundete den braunen Nierentisch zwischen ihnen. Sie stand so dicht vor ihm, dass ihr Geruch ihn fast schwinden ließ.

»Also, was ist da vorhin passiert?«

»Das war keine unbedeutende Polizeistation«, antwortete er müde. »Das war ein ganzes Nest.«

Einen Drink und etliche Gläser Wasser später bestellten sie als spätes Frühstück Pizzabrote und Espressi bei Dino. Unverschämt gut, aber auch unverschämt unfreundlich, wenn man keine siebzehn, weiblich und mit guten Eigenschaften gesegnet war. Vermutlich war ebendies der Grund, warum ihre Pizzen schnell und freundlich an Sunnas Adresse geliefert wurden.

Sie besaß eine Ausstrahlung, die er noch nicht fassen konnte, doch er war sich sicher, dass kein Augenpaar unberührt an ihrer Erscheinung abglitt. Ihm schien, als stammte sie aus einer anderen Zeit, vermutlich einer etwas düsteren Zeit. Auch wenn sie unschuldig wirkte, sie war es definitiv nicht, ihre Talente vermutlich den seinen sogar ebenbürtig. Diese Bekanntschaft versprach überaus anregend zu werden.

»Nun«, sagte er und wischte sich mit einer Serviette den Mund ab, »du sagtest, du kennst mich. Woher?«

Sunna nahm einen Schluck aus ihrem Glas und schaute ihn lange an. Er überlegte, was wohl in ihrem Kopf vorging, und fragte sich, ob sie auch zwei nackte Leiber sah.

»Du bist der Reisende.«

»Ähm, ja. Aber woher weißt du das?« Als sie nicht antwortete, wurde er etwas mutiger. »Liegt es an meiner überaus ansprechenden äußeren Erscheinung? Meinen kräftigen Händen, die jede Passage für eine schöne Hexe wie dich zu einem sicheren und doch unglaublichen Erlebnis werden lassen?«

Sunna verschluckte sich vor Lachen und hielt sich die Serviette vor den Mund. »So ein Erlebnis, wie es die Priesterin der Darr mit dir hatte?«

Elrod Ohren wurden sofort rot wie die kleine Sonne Tshukmas. »Die Geschichte ist eine elende Übertreibung. So war das damals gar nicht.«

»Ach komm«, neckte sie ihn und musterte seine Gestalt von oben bis unten. Nackte Leiber, definitiv. »Immerhin war es deinem Geschäft nicht abträglich, ganz im Gegenteil.«

»Bis ich meine Talente verlor, das ist dir doch klar, oder?«

Sie wurde wieder ernst. Ein trauriger Ausdruck zeichnete sich für einen Sekundenbruchteil auf ihrem Antlitz ab. Kannte sie die Geschichte? Bitte nicht jetzt, flehte Elrod. Die Stimmung war gerade so gut.

Betretenes Schweigen. Mitleidige Blicke.

»Erinnerst du dich noch daran, als du es mit deiner Pinkelaktion in den Polizeiwagen geschafft hast?«

Elrod nickte.

»Na ja, dein offener Hosenstall hat auch einen schnellen Blick auf deine Brandwunde ermöglicht.« Sie nahm seine Hand. »Du bist eine Legende, dein Aussehen kam mir gleich bekannt vor, aber erst die Wunde hat mir Gewissheit verschafft. Da dachte ich, dass du bestimmt ebenfalls Jagd auf die Duster machst. Und als du dann auch noch in der Zelle versucht hast, eine Passage zu schaffen, wusste ich, dass du der Reisende bist.«

In Elrods Geist brandeten schmerzhafte Erinnerungen an das verheerende Feuer vor fast einem Jahrhundert auf. »Ja, der Reisende. Eher Logistiker als Krieger, auch wenn ich Letzteres zu oft unter Beweis stellen musste.« Er ließ die Schultern hängen. »Und ein Reisender ohne Talente«, seufzte er traurig.

»So ganz stimmt das nicht. Okay, ich musste ein bisschen mithelfen, sonst wären wir wohl eher in der Außenmauer des Nests oder im Nexus des Universums gelandet als in meinem Loft.«

»Wie hast du das eigentlich gemacht?«, fragte er wie beiläufig.

»Ich kann keine Portale öffnen, keine Passagen schaffen. Aber ich kann Dinge visualisieren, wenn ich mich sehr darauf konzentriere. Ich schätze, so haben wir den Weg in meine Wohnung genommen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Was nun auch egal ist. Wichtig ist doch nur, dass wir jetzt zusammen gegen die Duster kämpfen können. Ein bisschen was hast du ja noch drauf. Wir brauchen halt Verstärkung«.

Sunna hatte ihre Pizzabrötchen förmlich verschlungen und widmete sich nun genussvoll ihrem Caffè Doppio. »Kennst du die Apotheke?« Elrod hatte es sich in einem ihrer niedrigen, gepolsterten Stühle bequem gemacht und überlegte gerade, sie zu fragen, ob er eine Pfeife rauchen dürfe. »Dort sollten wir Unterstützung bekommen, ich kenne da ein paar Leute.«

Elrod nestelte an seinem Zippo herum, drehte es zwischen seinen Fingern. Auf den zerkratzten silbernen Flächen konnte er sein zerfurchtes Gesicht sehen. »Sunna, der ganze Komplex ist voller Duster. Die Etage mit den Zellen ist vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. Es müssen Dutzende von ihnen dort stationiert sein. So viele auf einem Haufen habe ich noch nie gespürt.« Seine Stimme war angeschwollen. »Warum und vor allem wie willst du sie dort mit einer Handvoll Leuten bekämpfen? Die wir ja auch noch gar nicht sind«, fügte er deutlich milder hinzu. Er musste wirken wie ein besorgter Vater.

Die Aussicht, dass Sunna und etwaige Mitstreiter den Dustern zum Opfer fielen, gefiel ihm gar nicht.

»Warum? Du fragst ernsthaft, warum?«, fragte sie verständnislos. Sie sprang auf und wanderte unruhig zwischen Sofa und Küchenzeile hin und her. »Aus den gleichen Gründen wie jedermann, nehme ich an.« Sie fuchtelte wild mit den Armen. »Sie töten wahllos Lebewesen, verschleppen und foltern sie. Mit dir zusammen haben wir eine reelle Chance, das Nest auszuradieren.«

Sunna sprach so vehement und voller Eifer, dass er die darunterliegende tiefe Traurigkeit fast überhört hätte. Doch ihre Energie hatte sich verändert, fühlte sich an wie ein Knoten aus Eingeweiden und getrocknetem Blut.

Er raufte sich die Haare. »Auszuradieren? Dutzende Duster? Und dann? Folgen noch mehr! Sunna, was willst du wirklich?« Er wusste, dass er dem wunden Punkt näherkam.

Nun war sie es, die den Blick in die Ferne schweifen ließ. »Ich«, hauchte sie, »suche Informationen. Informationen über vermisste Personen.«

Punktlandung. Familie.

»Sunna«, begann Elrod, trat auf sie zu und schüttelte hilflos den Kopf. »Ich kann dir nicht helfen.«

Konnte er jemals wieder überhaupt irgendetwas Hilfreiches, Glorreiches, Talentiertes tun? Er konnte gut mit den Fäusten kämpfen und einen dünnen Wasserschild schaffte er auch noch. Aber mit mehr als ein paar sehr kurzen Reisen, dem Erspüren von Talenten und ein paar mickrigen Waffen aus Eis konnte er nicht aufwarten. Ach ja, und er konnte nasse Klamotten trocknen.

Erschöpfung erfüllte ihn, bodenlose schwarze Erschöpfung. Der Ausblick zog ihn an und er ging näher ans Fenster, um seine Stirn an die kühle Scheibe zu lehnen.

»Eigentlich habe ich mich für klug gehalten, aber das musst du mir erklären.« Ihre Stimme klang so unendlich traurig. »Kannst du nicht oder willst du nicht?«

Leider wusste er darauf keine Antwort. Einerseits wollte er mit dieser Aktion nichts zu tun haben, zumal er nicht in Bestform war. Außerdem erfüllte es ihn mit Ernüchterung, dass Sunna keine Portale öffnen konnte, was er sich jedoch bereits gedacht hatte. Dennoch spürte er einen Ausweg aus seinem Dilemma, eine Möglichkeit, seinem jämmerlichen Dasein zu entfliehen. Darüber hinaus zog ihn jede Zelle seines Körpers zu Sunna hin, wollte sie umarmen, beschützen und ihr die Sterne zu Füßen legen.

Er musste Zeit gewinnen, Zeit zum Nachdenken.

»Komm, lass uns den angebrochenen Tag genießen und ein Stück gehen. Du erzählst mir von deinem Plan und dann sehen wir weiter.«

NUKPANA, DER/DIE:

Die Nukpana sind in ihrer Primitivität als sehr friedliebendes Volk bekannt. Aufgrund ihres abstoßenden Äußeren – sie haben zwischen acht und zwanzig dicke, klebrige Tentakel an ihrem Rumpf – stellen sie jedoch ein geächtetes Volk dar. Eine Zeit lang vertrat das weibliche Oberhaupt der Nukpana, Oltschock Gur, die Politik der Anbiederung. So kleideten sich die Angehörigen des Volkes in Gewänder toter Lebewesen, um über ihren Makel hinwegzutäuschen.

Ein paar Jahre lang bemerkte kein Fremdweltler die Täuschung und der Handel zwischen dem Planeten Nukpa und den anderen Galaxien gedieh. Als jedoch ein unerfahrener Schmuggler während eines nächtlichen Trinkgelages die Täuschung der Nukpana bemerkte, verbreitete sich die Kunde über die Nukpana als kannibalisches Volk wie ein Lauffeuer. Seitdem ist ihre Art selten anzutreffen. Sie stellen ihre Tentakel meist wieder offen zur Schau und werden dementsprechend schnell verjagt. Doch tief in ihrem Herzen sind sie sehr friedlich und ernähren sich ausschließlich von Pflanzen. Was niemand weiß und auch niemand mehr herausfinden wird.

Repositorium des Unnermenschen Frerk

3

Der Mond war an diesem frühen Nachmittag kaum als Sichel am blauen Himmel zu erkennen, aber Elrod spürte ihn mit jeder Zelle seines Körpers, auch wenn sich seine Verbindung zum Mond in den letzten Jahrzehnten verändert hatte. Sie war brüchiger und dünner geworden. Ob auch das am Fehlen seiner Talente lag, vermochte er nicht zu sagen.

Sunna lief zielstrebig durch die nun mit Menschen gefüllten Straßen Richtung Stadtzentrum. Elrod, dessen Körper sich mittlerweile vollständig erholt hatte, folgte ihr.

Verglichen mit anderen Planeten war es auf der Erde recht sauber, die Luft war klar und roch nach Zuversicht und Ahnungslosigkeit. Eigentlich ein traumhafter Planet für ein Exil. Doch die Wüsten breiteten sich kontinuierlich aus. Gerade langsam genug, dass die gewöhnlichen Menschen noch gemeinhin von leichter Erderwärmung sprachen. Wenn sie ihren Fehler in ein paar Jahren erkennen würden, wäre eine Rettung des Planeten und seiner Bewohner jedoch schon aussichtslos. Und Elrods Exil besiegelt. Er wusste, dass es anderen Völkern, zumindest was die Reisen zwischen den Planeten betraf, ähnlich ging. Irgendetwas störte die Erdatmosphäre und machte es unerfahrenen Reisenden nahezu unmöglich, sicher zu reisen.

Er schmunzelte, als sie vor der Apotheke anhielten. Eine schmuddelige verglaste Tür führte zunächst in eine scheinbar typische Apotheke, grell, weiß, die Regale voller Pillen, Tabletten und Tiegelchen für Wehwehchen jeglicher Art. An der Decke hingen längliche Neonröhren, die die Kunden mit ihrem kalten Licht blendeten. Jetzt war der Laden allerdings leer, nicht verwunderlich, da nur selten Passanten diese eher von luxuriösen Wohn- und Bürohäusern geprägte Ecke der Stadt als Einkaufsziel auserkoren.

Sunna ging am Tresen vorbei zu einer grauen Metalltür mit einem »Nur für Personal«-Schild, welche ebenso unscheinbar war wie der Apotheker, dessen Gesicht Elrod auch sogleich vergaß. Alles nur eine Tarnung, denn er wusste, dass die Tür nur so strotzte vor Alarm- und Sicherheitsmechanismen. Zauber, Schlösser und Talente ergänzten sich zu einem Bollwerk gegen Unerwünschte. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass sogar Elfen an der Erschaffung beteiligt gewesen waren.

Sie hielten vor der Tür an und ein rotes Augenpaar musterte sie durch einen Sehschlitz.

»Hey Gideon«, grüßte Sunna. Zur Antwort öffnete sich die Tür gerade weit genug, dass sie hindurchgehen konnten.

»Sunna, Elrod, lange nicht gesehen«, begrüßte Gideon sie mit einem Nicken.

Sunna sah Elrod mit hochgezogener Augenbraue an. »Lange nicht gesehen? Du hast gar nicht gesagt, dass du die Apotheke kennst.« Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und musterte ihn mit irritierter Miene.

»Es erschien mir nicht notwendig«, lautete seine schlichte Antwort. »Wollen wir?« Galant hob er eine Hand, um sie zum Weitergehen zu bewegen.

Sie verharrte noch einen Moment, bis sich ein glockenklares Lachen ihre Kehle hinaufrollte. »Ich hätte es mir auch denken können«, sagte sie kopfschüttelnd und ging mit verführerisch wogenden Hüften die Treppe hinunter zur Bar.

Die Bar befand sich auf der linken Seite eines hohen Kellergewölbes, das zu einem ehemaligen Lagerhaus gehörte. »Ehemalig« umfasste hier eine Zeitspanne von einigen Jahrhunderten, denn das Gebäude zählte zu einem der ältesten der Stadt. Viele alte Gebäude standen noch und trotzten bislang der immer wärmer werdenden Atmosphäre. Dementsprechend frisch war es hier unten, trotz der vielen Menschen und Fremdweltler, die sich an der Bar und an den Tischen tummelten. Die Bar bestand aus auf Hochglanz poliertem Walnussholz und schien auf ewig mit dem Gebäude verwachsen zu sein. Schwer und mächtig thronte sie vor der Wand, hinter ihr über tausend verschiedene Sorten einheimischer und außerirdischer Spirituosen, die sich bis zur Decke in einem Regal drängten.

Sunna beugte sich zu der Bedienung vor, die Elrod unter dem Namen Kat kannte. »Sag Marcus bitte, dass wir da sind, und bring uns zwei Kaffees an den Tisch dort drüben.« Sie zeigte auf einen runden Tisch mit drei Sitzgelegenheiten mitten im Raum.

Elrod grinste breit, als er sich dort neben sie setzte.

»Verdeckte Operationen sind wohl nichts für dich, oder?«, wisperte er und zeigte auf die Gäste in Hörweite.

Sie beugte sich näher zu ihm. »Wie sollen wir denn sonst auf uns aufmerksam machen?«, offenbarte sie ihr Vorhaben und lehnte sich zurück, um Kat Platz für den Kaffee zu machen.

Er schaute sich um und versuchte, seine Umgebung einzuschätzen. Hunderte feine Nuancen fremden Blutes strömten auf ihn ein und übermannten ihn fast. Würde man hier wirklich auf Verbündete stoßen? Viele hielten die Duster immer noch für einen Mythos, für eine Verschwörungstheorie über die Erderwärmung. Im Bestfall würden sie eine Horde Irrer und Psychopathen um sich versammeln, im schlimmsten Fall selbst als Irre und Psychopathen weggesperrt werden.

Ihm sollte es eigentlich egal sein, er war hier nur zu Gast. Ein scharfer Stich in seiner Magengegend erinnerte ihn jedoch daran, dass die Erde mittlerweile zu seinem Gefängnis geworden war. Ihm gingen langsam die Alternativen aus.

»Wie stellst du dir das vor? Hast du schon einmal jemanden nicht nur hinter vorgehaltener Hand über die Duster sprechen hören? Die meisten können die Duster nicht als das erkennen, was sie vermutlich sind. Sie sehen in ihnen ehrenwerte Staatsdiener. Jeder, der über sie spricht, wird für paranoid erklärt.« Elrod musterte die anderen Gäste verstohlen.

»Vermutlich? Paranoid?«, entgegnete die Hexe. »Und was meinst du?«

Elrod lehnte sich zurück und schürzte die Lippen. »Na, ich bin schon deiner Meinung.«

»Aber?«

»Eigentlich gibt es kein Aber.«

»Und uneigentlich?« Sunna seufzte und sah ihn entnervt an.

»Uneigentlich bin ich schon lange der Meinung, dass sich das FO mit dem Problem befassen sollte.« Schon als ihm die Worte aus dem Mund fielen, merkte er, wie hohl sie klangen.

Sunnas Blick zeigte ihm, dass sie ebenso dachte. Hohle Phrasen.

»Das FO«, wiederholte sie. »Soso. Ich denke, du gibst mir recht, dass wir nicht auf das FO zählen können. Glaub mir, ich habe dort um Hilfe gebeten und war klug genug, meine Bitte nur einmal zu stellen. Wir müssen alleine handeln, Elrod, sonst«, sie ließ ihren Blick einmal durch den Raum schweifen, »stirbt die Bevölkerung wie Lämmer auf einer Schlachtbank.«

Elrod hielt die meisten gewöhnlichen Menschen eh für dumme Lämmer. Was nicht unbedingt an eigenen Erfahrungen lag, sondern vielmehr an der Tatsache, dass er auf diesem Planeten gefangen war. Wenn er es recht bedachte, hatte er durchaus liebenswerte Menschen kennengelernt. Ein Bild manifestierte sich vor seinem inneren Auge und ließ ihn die Lippen zusammenpressen.

Tabby.

»Was hast du?«, fragte Sunna besorgt.

»Nichts«, antwortete Elrod schnell und winkte ab. »Du hast mich eh schon überzeugt. Wir können vom FO keine Hilfe erwarten, sie hätten schon lange zugeschlagen, wenn ihnen das Problem bewusst wäre.« Bevor er seinen Gedankengang ausführen konnte, trat Marcus aus dem Schatten heraus an ihren Tisch.

»Hallo, meine Schöne.« Er setzte sich auf den freien Sessel und begrüßte Sunna mit einem Kuss auf die Wange. Er war, wie immer, in einen dunkellila schillernden Anzug gehüllt, die dunklen Haare lässig nach hinten gelegt, und überragte die meisten Anwesenden um mindestens einen Kopf. Was er nicht an Muskelmasse vorzuweisen hatte, machte er durch Schläue und Gewitztheit wett. Er hatte schon vor einigen Jahren vorübergehend die Führung der Apotheke übernommen, als der damalige Besitzer, ein stämmiger Mann mit vielen Talenten, spurlos und unter mysteriösen Umständen verschwunden war.

»Kat sagte, du wolltest mich sprechen?«

»Gleich zum Wesentlichen, das mag ich so an dir«, sagte Sunna heiter und lehnte sich in Marcus’ Richtung. »Wir hatten gestern Nacht eine Auseinandersetzung mit der örtlichen Polizei draußen vor den Stadttoren. Ein wahrhaft schauriger Haufen dort, mehr staubwedelschwingende Mumien als Menschen. Sie hatten vor, uns ohne Anklage in einer Zelle verrotten zu lassen. Na ja, okay, vielleicht beabsichtigten sie auch, uns zu töten. Ich wollte kämpfen, aber mein edler Begleiter hier«, sie warf Elrod einen neckenden Seitenblick zu, »hielt es für sinnvoller, zu flüchten. Nun suchen wir Mitstreiter, um das Polizeirevier zu stürmen. Es ist voller Mumien und scheint somit eines ihrer etwas größeren Nester zu sein.«

Sie nestelte an ihrer Kaffeetasse herum, fuhr mit Daumen und Zeigefinger den glatten Bogen des Henkels nach und blickte Marcus tief in die grünen Augen. Während ihres Monologs war sie nur einen Hauch bestimmter geworden, doch es schien, als hätte das ganze Gewölbe Ohren bekommen. Funkelnde Augen blickten in ihre Richtung, nur um dann hastig hinter Speisekarten oder vorgehaltenen Händen zu verschwinden.

»Ein verwegener Plan, Sunna.« Marcus lehnte sich in seinem rubinroten Sessel zurück und hob die linke Augenbraue. »Dafür bräuchte man eine ganze Armee …«

»… oder ein paar Mitstreiter mit nützlichen Talenten«, beendete sie den Satz.

Elrods Augen weiteten sich. Er konnte förmlich fühlen, wie ihre Worte durch die Bar hallten, feine Bänder woben, um auch das kleinste Fünkchen Hoffnung einzufangen und an sie zu binden. Er hielt den Atem an. Auch auf ihn hatte Sunnas Zauber eine spürbare Auswirkung. Nach nur einem Augenblick war alles vorbei, doch er war sich sicher, dass ihr Hexenwerk seine Wirkung entfaltet hatte. Das Ganze versprach, ein Heidenspaß zu werden.

»Ich hatte dich und deine Freunde im Sinn«, verkündete Sunna.

Marcus begann nervös, seine Fliege zu richten. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, während er den Blick verstohlen durch das Gewölbe gleiten ließ.

Eine melodische weibliche Stimme wisperte: »Ihr wisst nicht, worauf ihr euch einlasst. Verschwindet lieber, so schnell ihr könnt.«

Elrod richtete sich erschrocken auf und sah sich unauffällig um. Niemand befand sich in unmittelbarer Nähe. Er wollte die Stimme schon als Humbug abtun, da fiel sein Blick auf Sunna. An ihren aufgerissenen Augen erkannte er, dass auch sie die Stimme vernommen hatte. Sie war kreidebleich geworden und knetete ihre Finger.