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Hunderttausende Tote, in Schutt und Asche gelegte Großstädte - die Talentierten konnten die Duster-Vorrichtung zerstören, doch sie zahlen einen hohen Preis: Nach Ariels Attentat wird der Körper von Mkhais Schwester von einem unbekannten Gift zerfressen und auch von Sunnas Mutter fehlt noch jede Spur. Marodierende Horden Duster töten wahllos Fremdweltler und Menschen. Die Talentierten wissen, dass sie Hilfe brauchen. Doch wo sollen sie diese finden, nun, da die Allianz des Mandavariel zerschlagen scheint?
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Seitenzahl: 504
Zu diesem Buch
Hunderttausende Tote, in Schutt und Asche gelegte Großstädte – die Talentierten konnten die Duster-Vorrichtung zerstören, doch sie zahlen einen hohen Preis: Nach Ariels Attentat wird Ela’ines Körper von einem unbekannten Gift zerfressen und auch von Sunnas Mutter fehlt noch jede Spur. Marodierende Horden Duster töten wahllos Fremdweltler und Menschen. Die Talentierten wissen, dass sie Hilfe brauchen. Doch wo sollen sie diese finden, nun, da die Allianz des Mandavariel zerschlagen scheint?
Informationen zu den Charakteren und Planeten finden sich im Glossar.
Zur Autorin
Anne Granert, geboren 1983 in Nordhorn, hat ein Lehramtsstudium der Sonderpädagogik absolviert. Während des Studiums arbeitete sie nebenbei für eine Airline, die Universität Hamburg und im Drob Inn am Hamburger Hauptbahnhof.
Zu ihren Hobbys zählt sie lesen, schreiben, kochen, Lippenstift und in ferne Länder reisen. Nun erfüllt sie sich ihren größten Traum und bringt in ihrer Freizeit phantastische Welten zu Papier.
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Bislang erschienen
Des Sandes Widerhall – Die Talentierten 1
Für Emmi,
die ihren kleinen Bruder in die Lüfte erhebt,
und Ole,
der, getragen auf ihren Armen, den Mond stiehlt.
Für Mirka,
in tiefer Dankbarkeit für unsere kreativen Dates.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Epilog
Immer wieder versuchte er, seine Augen zu öffnen, doch gleißendes Licht blendete ihn und ließ Tränen hinter seinen Lidern aufsteigen und über seine Wangen rollen. Er wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. Seine Haut war kalt und fühlte sich anders an, so als wäre sie mit einer weichen Schutzschicht bedeckt. Irritiert stützte Liam sich auf dem Boden ab und fasste in etwas Nasses. Angewidert zog er seine Hand zurück, den üblen Geruch von Körperflüssigkeiten in der Nase.
Er versuchte, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Wo war er und was war mit ihm passiert? Bildfetzen waberten durch seinen Kopf, die grinsenden Visagen von Dan und Marcus. Er glaubte, sich daran zu erinnern, einen stechenden Schmerz an seinem Hals gefühlt zu haben. Doch er konnte nicht einordnen, ob er den Schmerz tatsächlich gespürt oder nur davon geträumt hatte. Und nun saß er in irgendwelchen stinkenden Flüssigkeiten, über die er nicht weiter nachdenken wollte, den Rücken an eine kalte, harte Mauer gelehnt. Ein schabendes Geräusch kam näher, schmatzend, kratzend. Erschrocken fuhr Liam herum und riss die schmerzenden Augen auf. Eine Maus, nur eine Maus. Er fasste sich an den Hals. Wie konnte eine Maus nur solch laute Geräusche machen?
Sein Blick klärte sich so weit, dass er endlich seine Umgebung wahrnehmen konnte. Das gleißende Licht, von dem Liam hätte schwören können, dass es die Intensität einer brennenden Wüstensonne hatte, stellte sich als unscheinbare Straßenlaterne heraus. Er befand sich hinter ein paar Müllcontainern in einer dunklen Seitenstraße, die entweder ihm selbst oder anderen als Toilette gedient hatte. Seine Hose war dreckig, doch erleichtert stellte er fest, dass es sich anscheinend nicht um seine eigenen Exkrete handelte. Auch wenn das die Situation nicht viel besser machte.
Erneut erhaschte ein seltsames Geräusch seine Aufmerksamkeit. Rascheln und schnelle Schritte, dieses Mal also keine Maus. Liam hoffte, dass der Verursacher des Geräusches an ihm vorbeiging. Er fasste sich an den Bauch, als sein Magen sich in einem Anflug erbarmungslosen Hungers verkrampfte. Ernüchtert stellte er fest, dass das Rascheln sich auf ihn zubewegte. Er duckte sich tief in den Schatten hinter dem Container und wartete ab. Die sauren Gerüche übermannten ihn fast und er musste durch den Mund atmen, um nicht zu erbrechen.
»Liam?«, hauchte eine weiche Frauenstimme. »Hab keine Angst.« Angestrengt beugte Liam sich etwas vor und wandte der Stimme den Kopf zu. Das Licht der Straßenlaterne tauchte ihren Körper in Schatten und so konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, wohl aber ihre altertümliche Aufmachung mit all den Röcken, die sie übereinander angezogen hatte. »Liam«, sprach sie weiter, »du musst mitkommen. Sie sind auf dem Weg hierher, wir müssen verschwinden.«
»Wen meinst du?«, raspelte er mit einer Stimme, die nicht seine eigene zu sein schien.
»Duster, mein Junge. Komm.« Sie trat auf ihn zu, reichte ihm ihre Hand und wartete geduldig ab.
»Wer bist du?«, fragte Liam verwirrt.
»Ich bin Beltane und eine Freundin von Jack und Anna. Komm, bevor es zu spät ist.« Liam ergriff ihre Hand, getrieben von dem Gefühl, der seltsamen Frau vertrauen zu können.
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Sein Blick glitt über geborstene Fenster und zersprungenes Glas. In einem großen Splitter spiegelte sich sein eigenes Antlitz.
Er vergaß zu atmen.
GESTALTWANDLER, DIE:
Können Kreaturen, die ihre Gestalt so einfach verändern wie der Wind seine Richtung, vertrauenswürdig sein?
Unter den vielen Völkern wird diese Frage seit Jahrtausenden thematisiert. Das mag der Grund sein, weswegen sich Gestaltwandler mit Vorliebe als flauschige Katzen oder andere niedliche Vierbeiner zeigen. Zumindest auf dem Planeten Erde. Auf anderen Planeten bedienen sie sich einer Gestalt, die in der vorherrschenden Kultur als freundlich und liebenswürdig angesehen wird. Das kann auf Úlfgangur ein mannshoher Horntiger oder auf Panderau ein Klippendrache sein. Mittlerweile wird vom »Volk der Gestaltwandler« gesprochen, auch wenn sie keinen gemeinsamen Ursprung haben. Viel eher scheint ihr Talent eine Laune der Natur im Lauf der Kolonisierung zu sein.
Repositorium des Unnermenschen Frerk
Die Einbahnstraße nahe dem Hamburger Flughafen war für diese späte Uhrzeit beinahe belebt. Gewöhnliche Menschen quollen wie Maden aus den Öffnungen der Busse hervor und ergossen sich gehetzt in alle Richtungen. Elrod hatte wenig Vergleichsmöglichkeiten, aber er hätte darauf wetten können, dass sie allesamt leiser und argwöhnischer waren als üblich. Oder lag seine Einschätzung nur daran, dass er aufgrund der Ereignisse der letzten Tage selbst leiser und argwöhnischer geworden war?
Rhythmisch schlugen seine schweren Stiefel auf dem Asphalt auf, während er entschlossen an einem Discounter und mehreren Lokalen vorbei Richtung Schnellimbiss schritt. Ein paar Soldaten mit angespannten Mienen, deren Finger sich um die Halterungen ihrer Waffen krallten, beobachteten die Passanten misstrauisch. Unwillkürlich zog Elrod den Kopf ein. Die Militärpräsenz erinnerte ihn daran, dass seit einigen Tagen nichts mehr so war wie zuvor. Wenigstens war ihm heute noch kein selbst ernannter Prediger über den Weg gelaufen, der ihn von der Invasion Außerirdischer überzeugen wollte. Angestachelt durch eine Hetzjagd, die Theo – Verfasser verleumderischer Flugblätter und Kopf der Gruppierung Theos Genossen – in den sozialen Medien veranstaltete, denunzierten gewöhnliche Menschen vermeintliche Fremdweltler auf brachiale Weise. Innerhalb weniger Tage war es bereits zu grausamen Morden im Namen der Genossen gekommen, obwohl niemand hatte belegen können, dass es sich bei den Opfern tatsächlich um Fremdweltler handelte.
Mkhai, der neben Elrod ging, schlang seinen knielangen Mantel enger um seine hagere Gestalt. Ein beißender Wind fuhr unter Elrods Hemd und ließ ihn reflexartig die Schultern hochziehen. Vor einigen Tagen war die drückende Schwüle schlagartig einer herbstlichen Kälte gewichen und Elrod musste sich langsam eingestehen, dass es an der Zeit für eine Jacke war – die er leider in Boston gelassen hatte.
»Was darf es sein?«, fragte der kleine, schmächtige Imbissbesitzer mit dem schwarzen Vollbart, als Elrod und Mkhai den Laden betraten.
»Das Übliche«, antwortete Elrod mechanisch und mithilfe seines FO-Passes in einwandfreiem Deutsch. In Ermangelung einer großen Küche in ihrem Unterschlupf und der Muße, warme Mahlzeiten zuzubereiten, hatten sie ihr Essen in den letzten Tagen fast täglich in demselben 24-Stunden-Imbiss gekauft.
»Sechs Mal?«, hakte der Besitzer nach und begann noch vor dem bestätigenden Nicken Mkhais mit dem Grillen der ersten Fladen. Die beiden Talentierten setzten sich an einen der drei Tische, die sich links vom Tresen an der gelb gestrichenen Wand aufreihten. Der Tisch war eine Mischung aus Plastik und Metall und erinnerte Elrod an die typischen Schnellrestaurants in den Staaten. Der dazu passende Stuhl knarzte leicht unter seinem Gewicht, was Mkhai ein selten gewordenes Schmunzeln abrang.
Elrod grunzte und blickte sich um. Im Fernseher an der Wand gegenüber lief eine Nachrichtensendung, die die neuesten Erkenntnisse bezüglich der multiplen Explosionen in Großstädten rund um den Globus zusammenfasste. Frustriert wandte Elrod sich ab. Das Fünkchen Hoffnung, dem Thema an diesem Tag entfliehen zu können, starb. Seine Augen flogen über die Überschriften einer lokalen Zeitung, die Mkhai vor sich ausgebreitet hatte.
Tag fünf nach den Terroranschlägen – und noch immer keine Hinweise auf die Täter.
Sind der IS und Kim Jong-un Verbündete?
Die NATO warnt vor einem Dritten Weltkrieg.
Trump macht Einwanderer für die Anschläge verantwortlich.
USA schotten sich weiterhin ab.
Elrod kniff die Augen zusammen, um einen der auf dem Kopf stehenden Artikel zu entziffern, der sich mit den in den sozialen Medien verbreiteten Verschwörungstheorien befasste, Außerirdische seien für die Explosionen verantwortlich. Ein verschwommenes Bild zeigte angeblich einen Fremdweltler mit einem langen, flauschigen Schwanz. Für einen Moment fragte sich Elrod, ob das die verschwundene Gestaltwandler-Katze aus der Apotheke war. Elrod rieb sich die müden Augen und verdeckte sein Gesicht mit den Händen. Nur die lebhaften Bilder in seinem Kopf erinnerten ihn daran, dass seine rechte Hand vor ein paar Tagen verstümmelt gewesen war. Er schob sich eine der braunen, etwas längeren Strähnen seines Haars, das ihm strähnig ins Gesicht fiel und ihn an der Schläfe kitzelte, zurück hinters Ohr und drehte sich auf dem Stuhl halb Richtung Fensterfront um. Draußen wurde der Wind heftiger, die Menschen schritten schneller aus, um nach einem langen Arbeitstag an ihre warmen, heimischen Herde zu kommen. Herde, Schafe. Das sind sie, dachte Elrod kopfschüttelnd, dumme, einfache Schafe.
Vor ein paar Tagen hatte die Explosion der Hauptvorrichtung der Duster unter dem Hamburger Rathaus dazu geführt, dass in einer gewaltigen Kettenreaktion alle Apparaturen in Städten wie Dublin, Athen, Mumbai, Jakarta, Tokio, San Francisco und anderen wassernahen Großstädten explodiert waren und Teile der Städte mit sich gerissen hatten. Betroffen gewesen waren vor allem Regierungsgebäude und Hafenanlagen, je nachdem, welche Örtlichkeit für die Duster strategisch am besten gelegen war.
Tausende Studenten der neuen Technologie-Generation waren zerfetzt worden, als die Duster-Maschine unter dem Indian Institute of Technology in Bombay explodiert war. Nun verband ein tiefer Krater den Pawai Lake und den Vehar Lake zu einem stinkenden Meer voller verwesender Leichen. Die indische Regierung hatte aus Angst, China könnte seine Reißzähne sofort in das entstandene Vakuum schlagen, umgehend mit hohen Zöllen auf Importgüter reagiert.
Die chinesische Regierung befand sich seit den Vorwürfen im Streit mit Indien. Vor allem, da die Anschuldigungen haltlos schienen, denn der Hong Kong International Airport war durch eine Explosion vom Festland abgeschnitten, die Landebahnen mit zum Teil vollbesetzten Flugzeugen ins Meer gebrochen. Durch die schrecklichen Ereignisse ihrer Sinne beraubt, hatte es die Regierung immer noch nicht geschafft, die Infrastruktur wiederherzustellen. Die verstörte Bevölkerung befand sich in einem Zustand wilder Zerstörungswut. Es kam zu Plünderungen, auf die Mord und Totschlag gefolgt waren.
In Hamburg hatte die verheerende Explosion die Kleine Alster und den Bleichenfleet vereint. Die Feuerwehr war noch immer mit der Bergung der im Wasser treibenden Leichenteile beschäftigt. Über allem hing der Gestank nach Verwesung. Der Rathausplatz sowie ein großer Teil der belebten Innenstadt waren zerstört, hunderte Geschäfte und Büros vom Erdboden verschluckt worden. Boston war gleich durch zwei große Explosionen erschüttert worden. Die republikanische Regierung hatte den Notstand ausgerufen und sich abgeschottet. Der ganze Landstrich südlich des Flughafens Boston, Dreh- und Angelpunkt von Hafen, Industrie und Geschäften, lag in Trümmern. Die Zeitungen sprachen von mehreren zehntausend Opfern, Rekordzöllen, einem globalen Wirtschaftszusammenbruch. Die Infrastruktur war, wie in allen anderen betroffenen Ländern, zusammengebrochen.
Auch in einigen nicht betroffenen Städten war das Chaos ausgebrochen. Läden wurden geplündert, Selbstjustiz gegen jeden gerichtet, der auch nur zu dicke Augenbrauen oder verdächtige Extremitäten hatte. Die Regierungen versuchten militärisch, die Menschen wieder unter Kontrolle zu bringen. Plünderer wurden brutal niedergeschlagen. Ein Schuldiger war noch nicht gefunden und die Länder schoben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu. Ohne es zu merken, hatte Elrod angefangen, mit den Fingern auf der Tischplatte zu trommeln. Stirnrunzelnd blickte Mkhai von der Zeitung auf. »Was ist los?«
»Ach nichts.« Mkhai bedachte ihn mit einem fragenden Blick. »Anna und Jack haben mich mit ihren Ideen angesteckt. Ich kann nicht aufhören, über ihre Talente nachzudenken.« Und über so einiges anderes, fügte er in Gedanken hinzu.
Mkhai blätterte abwesend in der Zeitung. »Du meinst darüber, ob sie mitverantwortlich sind?« Elrod nickte. Anna war tief bestürzt gewesen, vermutete sie doch, dass die Explosionen auch deswegen so verheerend gewesen waren, da sie mit ihrem Talent eingegriffen hatte. Jack beharrte darauf, dass ihr Talent sich lediglich in der Korrektur des Da’Tshung manifestiert hatte und die Wellen ihres Tuns die Explosionen an sich, nicht aber deren Stärke beeinflusst hatten. Umso entschlossener suchten Anna und Jack nun nach einem Weg, die Wellen im Universum zu steuern. Anna vermutete, dass darin die Antwort für ihr Dasein lag.
»Wie wir es rollen und kehren, Antworten sind schwerlich zu finden.« Das Feuilleton schien Mkhais Aufmerksamkeit erhascht zu haben.
»Drehen und wenden«, erwiderte Elrod automatisch.
»Mhm?«, brummte Mkhai, ohne von der Zeitung aufzuschauen.
»Ach nichts«, wiegelte Elrod ab und wandte sich erneut dem Fernseher zu. Das FO hatte sich zu keiner Stunde zu den Vorfällen geäußert. Da die Atmosphäre sich wieder beruhigt hatte und es einfacher geworden war, Portale und Passagen zu stabilisieren, vermutete Elrod, dass sich ein nicht unerheblicher Teil der FO-Beamten auf andere Planeten abgesetzt hatte. Er konnte es ihnen kaum verübeln. Viel schlimmer wog jedoch der Umstand, dass unzählige Duster abgeschnitten vom Kollektiv ihres Planeten auf der Erde ihr Dasein fristeten und es nur eine Frage der Zeit war, bis sie sich wie ein hungriger Parasit durch die verbliebene Bevölkerung fressen würden. Kälte kroch in Elrods Knochen und in einem unbewussten Reflex sandte er seine Witterung aus. Keine Talente, keine weiteren Fremdweltler in Reichweite. Schade. Aber auch keine Duster. Ur sei Dank.
Fakt war, dass die Vorrichtung der Duster, die der Erde schon seit Langem das Wasser entzogen hatte, vernichtet worden war. Fakt war auch, dass die Verbindung zwischen der Parallelwelt der Duster und der Erde unterbrochen war. Zumindest hatte Mkhai diese Informationen vor ein paar Tagen aus einem Duster herausgeprügelt, der sich an einer Touristin gütlich getan hatte. Das war das Einzige, dessen sie sich sicher sein konnten. Was sie nicht wussten, war, wie viele Duster sich nun auf der Erde befanden und was sie zu tun gedachten.
»Sie sind ein kopfloser Haufen«, hatte Yvea vor ein paar Tagen verächtlich gesagt.
»Ein kopfloser Haufen, der Hunger hat«, hatte Elrod eingeworfen.
»Unermesslichen Hunger.« Sunna war bleich geworden, als sie darüber nachgedacht hatte, welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde, dass tausende Duster über den ganzen Erdball verstreut waren. Ohne Führung, dafür mit immer größer werdendem Hunger. Elrod hatte die Arme um seine geliebte Hexe gelegt und versucht, sie zu beruhigen. Doch auch ihm fiel es schwer, im Angesicht eines weiteren möglichen Sturms zuversichtlich zu bleiben. Zumal sie im Moment nichts anderes tun konnten, als zu warten. Und Geduld war noch nie Elrods Stärke gewesen.
Wenn er die gewöhnlichen Menschen auf der Straße beobachtete, fragte er sich, was ihnen noch bevorstand. Wie lange würden die Duster in ihren Verstecken ausharren? Würden sie sich neu formieren? Würden sie einen anderen Weg finden, der Erde ihre Parallelwelt überzustülpen? Hatten sie Verbündete und wenn ja, wer waren sie? Ariel hatte versucht, Anna und Ela’ine zu töten, aber war er ein Einzeltäter? Oder spielten die Elfen ein eigenes Spiel?
»Die Döner sind fertig«, rief der Besitzer und reichte Elrod zwei weiße Plastiktüten mit duftendem Inhalt.
Mkhai legte das Geld passend auf den Tresen und beide verabschiedeten sich. Der Imbiss hatte sich mit hungrigen, gesichtslosen Leuten gefüllt. Elrod spürte ihre Herkunft und versicherte sich, dass kein Duster oder anderer Fremdweltler ihren Weg kreuzen konnte. Sie verließen den stickig warmen Imbiss hinaus in die beißende Kälte. Auf dem Weg durch den nahegelegenen Park schwangen die knisternden Tüten an Elrods Arm hin und her, während er umständlich an seinem ledernen Tabakbeutel nestelte, um seine blaue Pfeife mit kratzigem Tabak aus dem U-Bahn-Kiosk zu füllen. Elrod selbst hatte noch nicht versucht, ein Portal zu öffnen, doch Rallion hatte gemeint, dass die Passagen nun fast so stabil waren wie zuletzt vor Jahrzehnten. Elrod hoffte, dass er sich bald bei dem einen oder anderen Schmuggler ketahrschen Tabaknachschub besorgen konnte.
Vor ein paar Tagen noch hätte er sich sein Hab und Gut geschnappt und wäre auf und davon gewesen. Doch es war so viel passiert, was ihn mit voller Wucht zurück ins reale Leben katapultiert hatte. Und sein Herz hing mehr denn je an dieser zum Tode verdammten Erde und an dem kleinen Kreis Talentierter, deren Nähe und Eingeschworenheit ihm nach Ewigkeiten des Alleinseins das Gefühl gab, wieder Teil einer Familie zu sein. Allen voran an Sunna, der mächtigen Hekatenerin.
»Nun gib mir schon die Tüten«, sagte Mkhai lachend. »Rauch du mal deine Pfeife in Ruhe.« Elrod nickte dankend, ließ sein Feuerzeug schnappen und nahm einen kräftigen Zug des herben Krauts. »Du siehst aus, als hättest du den Zug dringend gebraucht.«
»Da hast du absolut recht«, brummte Elrod mit der Pfeife zwischen den Lippen. Der Tabak linderte seine Nervosität nur wenig. »Wenn ich an die letzten Tage denke …«, murmelte er und steckte seine Hände tief in die Taschen seiner ausgeblichenen Jeans.
Der Bruder trat einen kleinen Stein beiseite und nickte melancholisch. »Erinnere mich bloß nicht dran, ich habe Angst vorm Einschlafen, weil ich jede Nacht davon träume, dass Ela’ine es nicht schafft.« Elrod gefror das Blut in den Adern. Ela’ine. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Mkhai schauderte. Es hätte von der Kälte sein können, doch Elrod wusste es besser.
ARUNBLATT, DAS:
Auf nahezu jedem Planeten gibt es Heilkräuter, welche bei Wunden oder Geschwüren zum Einsatz kommen. Das Arunblatt ist in vielen Galaxien weitverbreitet. Auf der Erde ist der Igelkopf, auch als Rudbeckie bekannt, als entfernter Verwandter anzutreffen.
Ursprünglich während der ersten Hochzeit der Kolonisierung von den Bewohnern Jeevas als Ritualpflanze bei Opferungen angewandt, gilt sie heute dank der überaus vorausschauenden und erstklassigen Pflege und Kultivierung durch die Unnermenschen als allgemeine Heilpflanze. Sie dient unter anderem zur Stärkung des Immunsystems und Heilung eiternder Wunden. In seltenen Fällen kann es zu Nebenwirkungen in Form von vergrößerten Nägeln oder Krallen kommen, was äußerst schmerzhaft ist.
Repositorium des Unnermenschen Frerk
»Steh auf!«, schrie Elrod Sunna durch das ohrenbetäubende Grollen einstürzender Gebäude zu. Sie war auf der Flucht vor dem zusammenfallenden Rathaus auf dem Kopfsteinpflaster des Bürgersteigs, dessen Steine sich nun unregelmäßig gen Himmel erhoben, gestürzt und lang hingeschlagen. Er griff ihr hastig und vermutlich etwas zu unsanft unter den Arm und zog sie auf die Füße, während er seine noch immer in Fetzen hängende rechte Hand an seine Seite drückte. Die Selbstheilung schritt nur quälend langsam voran. Staub vermischte sich mit seinem Blut und brannte in seinen Wunden. Es roch nach Ruß, Feuer und Sand. Neben ihm verharrte Jack nur so lange, bis er sich sicher war, dass Elrod und Sunna es schaffen würden, dem in sich einstürzenden Rathausmarkt zu entfliehen. Weiter vorne sah Elrod Anna und Mkhai, der die leblose Ela’ine in den Armen hielt, unter einem großen Baum auf der anderen Straßenseite warten.
»Geht schon«, rief Sunna und humpelte mit blutenden Knien voran. Sie sah von oben bis unten zerschunden aus. Rote Striemen überzogen Arme und Gesicht, ihr lockiges Haar hing in staubigen Strähnen aus einem ehemals locker gesteckten Knoten hervor. Ihr ausladender Rock war dort, wo er von Trümmern getroffen worden war, zerfetzt. Auch Elrods Wasserschild hatte daran nichts ändern können. Obwohl er ihr vor nicht einmal einer Stunde Beltanes Heilmittel gegen Zadiks Biss gegeben hatte, hoben sich die beiden roten Male beunruhigend von ihrem blassen Hals ab. Ihren rechten Arm fest im Griff zog er sie mehr, als dass sie lief, Richtung Baum. Seine Rückenwunden brannten. Nur für einen kurzen Moment sah er nach hinten, als die Misstöne eines berstenden Stadtzentrums für einen Moment unheilvoll leiser wurden. Er kam ins Straucheln, als er gewahr wurde, was sich vor seinen Augen auftat: Wo zuvor das Rathaus gestanden hatte, klaffte nun das von Trümmern gezackte Maul eines Kraters. Das Beben unter Elrods Füßen schwoll an.
»Lauft!«, schrie Elrod in die Stille und zerrte Sunna mit sich. Mit der freien Hand schubste er Jack nach vorne, doch es war zu spät. Mit einem gewaltigen Knall erfasste die Druckwelle der Explosion ihre Körper und schmiss sie nach vorne. Sein Wasserschild konnte nicht verhindern, dass Sunna erneut auf den rauen Steinen aufprallte. Jack landete einige Meter weiter. Elrod sah, wie er mit schmerzerfülltem Gesicht den Mund aufriss, doch die sie umgebende Apokalypse verschluckte jeden Laut. Im letzten Moment legte Jack schützend seine Arme über den Kopf, bevor die ersten Trümmer auf sie einschlugen. Ohne auf die todbringenden Brocken zu achten, riss Elrod Sunna und Jack auf die Beine und zog sie mit sich. Geistesgegenwärtig formte er aus den tosenden Fluten der Alster einen runden Schild aus massivem Eis und deckte damit ihre Köpfe ab. Einen zweiten Schild wirkte er über dem Baum, unter dem Anna und Mkhai mit Ela’ine kauerten. Jeder Einschlag dröhnte dumpf in seinen Ohren und raubte ihm fast die Sinne.
»Verdammt«, krächzte Jack, als genau vor seinen Füßen ein Steinschlag niederging und sein Bein fast unter sich begrub. Ungelenk überwand er das Hindernis, den Blick starr auf den unebenen Boden gerichtet. Schwer atmend erreichten sie die anderen. Um sie herum herrschte Chaos und Entsetzen. Von Trümmern der Explosion niedergestreckte Menschen pflasterten ihren Weg. Ein Schrei in kurzer Distanz ließ Elrods Blut gefrieren. Dann ein dumpfer Aufprall und Stille. Mechanisch drehte Elrod sich um. Dort, wo vor ein paar Stunden noch zwei belebte Einkaufsstraßen von zwei Fleeten getrennt gewesen waren, klaffte ein großes Loch. Unter massiven Steinbrocken lugten blutüberströmte Extremitäten hervor. Wie erschrocken von der grausamen Szenerie erloschen die letzten Lichter vereinzelter Straßenlaternen flackernd und hinterließen kalte Finsternis. Erneut erklang ein unheilschwangeres Knirschen, begleitet von einem weiteren Beben.
»Wir müssen hier weg!«, schrie Anna gegen die Geräusche der sich bewegenden Erde an. Sie war am glimpflichsten davongekommen, nicht nur, weil sie gemeinsam mit Elrod und Jack außerhalb des Kampfgeschehens, im Inneren des Wasserbandes, versucht hatte, den zentralen Zylinder der Vorrichtung mit dem Da’Tshung zu deaktivieren – Elrod war sich sicher, dass auch ihre Impulse sie geschützt hatten. Dieses verdorbene und unheilige Band aus Wasser war Fluch und Segen zugleich gewesen, hatte es doch Ariels Dolch abgelenkt und Anna somit vor dem sicheren Tod bewahrt. Jack hatte Anna geholfen und sich im entscheidenden Moment als schützendes Schild über sie und Elrod geworfen, sodass die durch das Kellergewölbe fliegenden Metallsplitter sie nicht treffen konnten. Ein karger Schutz, der für die anderen Talentierten leider nicht galt. Mkhais Oberarm zierte eine klaffende Wunde, deren Blut sich mit dem seiner Schwester vermischte. Doch auch Jacks eigene Immunität gegenüber allem Bösen, das seinen Ursprung nicht auf der Erde hatte, hatte ihn nur bedingt schützen können. Sein Pullover war auf der Rückseite durchlöchert und gab den Blick frei auf tiefe, blutende Striemen.
»Wohin denn?«, erwiderte Sunna verzweifelt. Mit vor Schreck geweiteten Augen blickte sie von den unter Trümmern begrabenen Leichen zu Ela’ines lebloser Gestalt auf Mkhais Armen. Deren enges Kleid aus blauem Leinen umspielte schlaff ihren reglosen Körper. Nur mit Mühe konnte man die sich schwach bewegende Brust erkennen. Das Blut, das aus der Rückenwunde floss, die Ariel ihr zugefügt hatte, suchte sich seinen Weg über Mkhais rechten Arm. Feine tiefrote Tropfen fielen in einem beständigen Rinnsal zu Boden.
»Irgendwohin«, meinte Mkhai und zum ersten Mal erkannte Elrod Furcht in seinen Augen. »Es muss doch einen Ort geben, an dem wir sicher sind. Hat denn keiner eine Idee?« Als er seine leblose Schwester musterte, bahnten sich Tränen einen Pfad durch den Staub und Schmutz, der seine Wangen bedeckte. Der Staub ließ sein dunkles, lockiges Haar heller wirken, sein sonst so leuchtender Umhang war dreckig und zerrissen. Bevor Ela’ine von Ariel niedergestochen worden war, hatte er erbittert mit einem Duster gekämpft, um auf der Suche nach Antworten in dessen Bewusstsein einzudringen.
Diese Art Informationsbeschaffung, wie er es nannte, war äußerst gefährlich und kräftezehrend. Einst hatte er den Kampf verloren und war zu einem Duster geworden. Nun beugte er seinen Kopf und versank mit seiner Nase in dem Haar seiner Schwester, das sich aus seinem Zopf gelöst hatte und lang und glatt Richtung Boden fiel.
»Hier entlang!«, drang plötzlich die rauchige Stimme Yveas durch die Düsterkeit. Als würde der dicke Rauch ihren Körper liebkosen, trat sie geräuschlos aus den sich windenden Schwaden. Hinter ihr verdichtete sich der Dunst zu Schatten, die das Antlitz einer weiteren, hageren Person formten. Elrods Witterung nach ein Elf.
»Yvea, was tust du hier?«, fragte Elrod mit vom Staub belegter Stimme. Sein Gehirn arbeitete langsam, zu langsam für eine solche Situation. Das Dröhnen der Trümmereinschläge und die Explosion hallten immer noch in seinen Ohren und verstopften jegliches Denken.
»Erzähle ich später, folgt mir.« Die Elfin stand, klein und zierlich, neben einer vor Erstaunen sprachlosen Sunna und schob sie sachte weg vom Ort der Explosionen. Auch sie zeigte deutliche Spuren eines Kampfes. Ihre ledernen rauchgrauen Beinkleider waren aufgerissen, ihr schienen mehrere Dolche zu fehlen und ihr langes schwarzbraunes Haar fiel ihr zerzaust über die Schultern.
Der andere Elf schien ebenfalls leicht verwundet. Die Kleidung aus stahlfarbenem Leder war an einigen Stellen aufgerissen, das kurze Haar auf einer Schädelseite blutverklebt. Eine tiefe, alte Narbe zog sich von seiner linken Schläfe über das Ohr, das als solches kaum noch zu erkennen war. Seine grauen Augen musterten die Runde diebisch über seine Hakennase hinweg, als würde er abschätzen, wen sie notfalls zurücklassen könnten.
Elrod schob sich intuitiv an Mkhais Seite und umfasste Ela’ines Beine. Binnen weniger Augenblicke versuchte er, den Neuankömmling einzuschätzen, wie er es auch sonst tat. Dieses Mal jedoch fiel es ihm verdammt schwer, einen klaren Gedanken in den durch die Explosion leergefegten Hallen seines Geistes zu fassen.
»Also, kommt ihr?«, drängte Yvea, als sich niemand rührte. Ihr Blick flog zwischen Elrod und dem Elfen hin und her. Dann stemmte sie eine Hand in die Hüfte und bedachte den Elfen mit einem strengen Blick, der einer Gamora würdig gewesen wäre. »Echt jetzt, Rallion? Wir lassen niemanden zurück, verstanden?«
»Schon klar, ich gucke nur, wer Hilfe braucht«, erwiderte der Elf mit einem verschlagenen Lächeln. »Ich bin übrigens Rallion«, sagte er an die zerschundene, noch immer schweigende Gruppe gewandt und verbeugte sich schwungvoll. »Halunke, Haudegen und Harlekin. Hier entlang.«
Als hätten Rallions Worte einen Bann gebrochen, hasteten sie los, vorbei an Trümmern und Leichen, immer dem hageren Schatten des Elfen hinterher weg vom Krater. Immer wieder durchbrachen Schreie oder wimmernde Rufe nach Hilfe die tonnenschwere Stille, die über diesem schrecklichen Szenario lag. In einiger Entfernung ertönten Sirenen, wurden lauter und als milchig bunte Punkte in einer Seitenstraße sichtbar. Konzentriert versuchten Elrods Füße, die richtigen Steine zu treffen. Wie in Trance und mit malmenden Zähnen ignorierte er die Hilfeschreie um ihn herum. Es verlangte ihm alles ab.
Im düsteren Gewirr flüchtender Passanten folgten sie Rallion durch die Einkaufsstraße in Richtung Hauptbahnhof, immer auf der Hut vor herumstreunenden Dustern. Niemand achtete auf die acht unterschiedlich gekleideten Figuren. Zu sehr waren sie damit beschäftigt, ihr eigenes Leben in Sicherheit zu bringen. Es war bereits tiefschwarze Nacht, als sie nach einem schweigsamen, strammen Fußmarsch eine verlassene Seitenstraße nahe dem Hauptbahnhof erreichten.
»Sind wir bald wo auch immer?«, fragte ein erschöpfter Mkhai mit Blick auf Ela’ines schwindende Atmung. Düstere Schatten und Schweiß triumphierten auf ihrem Gesicht.
»Fast. Die U-Bahn-Tunnel sind sicherlich geflutet und ich möchte so schnell es geht in unseren Unterschlupf. Also gibt es nur eine Möglichkeit«, antwortete Rallion und ging neben einem graublauen Van in Deckung. In seinen Händen blitzte silbrig etwas Metallisches auf. »Los geht’s«, sagte der Elf und öffnete die Schiebetür des VW Multivans.
»Klauen wir ein Auto? Nein, wir klauen kein Auto. Meine Güte, wir klauen ein Auto«, murmelte Anna und kletterte auf die hintere Bank, gefolgt von Jack und Yvea. Mkhai schob Ela’ine zusammen mit Elrod auf die freien Sitze.
»Lasst mich bei ihr sitzen, ich kann versuchen, die Blutung zu stillen«, sagte Sunna und scheuchte Mkhai und Elrod entschlossen nach vorne. Mkhai fuhr sich müde durchs Haar.
»Tu, was du kannst«, erwiderte er und kletterte mühsam auf die Vorderbank. Rallion hatte es sich bereits hinter dem Lenkrad bequem gemacht und hantierte mit ein paar silbern glänzenden Stangen am Zündschloss herum. »Moment, ich hab’s gleich«, nuschelte er und reckte jubelnd beide Fäuste in die Luft, als der Wagen ansprang. Ohne die auf ihm liegenden ungläubigen Blicke zu beachten, fuhr er rückwärts aus dem Parkplatz heraus und lenkte den Van zielsicher durch Hamburgs Straßen.
»Mist, das riecht nach Gift. Elrod, kannst du mir bitte helfen?«, fragte Sunna. Sie hatte Ela’ines Gewand mit einem von Yveas Dolchen aufgetrennt. Elrod zog scharf die Luft ein, als er sich umdrehte und die klaffende Wunde an ihrer Seite sah. Die Wunde befand sich unter dem Schulterblatt und breitete sich mit hungrigen Krallen aus. Blut und eine durchsichtige Flüssigkeit rannen in feinen Rinnsalen Ela’ines Rücken hinab und versickerten in der grauen Sitzfläche. Sunna hatte ein paar Kräuter aus ihrem Beutel geklaubt und in ein Tuch gelegt, welches sie nun Elrod entgegenhielt. »Hast du noch Wasser? Ich brauche es warm und dampfend.«
Elrod fischte in seinem Beutel nach einer letzten Wasserflasche, in der sich noch ein paar Milliliter des kostbaren Guts befanden. Vorsichtig tröpfelte er den restlichen Inhalt auf die Kräuter. Es bedurfte nur eines kleinen Gedankens und das Wasser erwärmte sich und ließ die ätherischen Öle des Krauts entweichen.
»Arunblatt«, stieß Mkhai erleichtert aus, während er sich angespannt über die Rückenlehne beugte.
»Ja, aber nur eine geringe Menge. Ich habe nicht viel dabei. Es wird die Blutung etwas stillen, aber es vermag nichts gegen das Gift auszurichten.«
»Bastard«, zischte Elrod beim Gedanken an Ariel zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Das ist höchstwahrscheinlich elfisches Gift, dagegen brauchen wir etwas Starkes«, sagte Yvea. »Oder kannst du da helfen, Elrod?«
»Nein. Ich kann Blut nur wittern, nicht heilen. Meine Talente beschränken sich auf das Reisen und ein paar Kampftricks. Tut mir leid. Ariels Dolch hätte uns vielleicht mehr Informationen geben können, aber er ist in den Fluten untergegangen.«
»Dann muss die Wunde zumindest gesäubert und ausgewaschen werden. Wann sind wir da?« Sunna ließ ihren konzentrierten Blick durch die Fenster hinaus ins nächtliche Hamburg gleiten.
»Bald, wenn die Straßen weiterhin so leer bleiben«, antwortete Rallion. In diesem Moment kam ihnen eine Armada aus Feuerwehrwagen und Ambulanzen entgegen und beendete die Unterhaltung mit ihren wehklagenden Sirenen. Elrod verfolgte ihre schwindenden Lichter im Rückspiegel. Dann war erneut alles ruhig. Selten kam ihnen ein Auto entgegen, dann wieder war die Straße menschenleer. Elrod rieb sich die müden Augen und warf immer wieder einen Blick auf Ela’ine. Und auf die Bissmale an Sunnas Hals. Während Anna und Yvea die blutigen Tücher hielten, versorgte die Hexe notdürftig Ela’ines Wunde.
»Mehr Tücher habe ich nicht«, raunte Sunna schließlich und ließ die Schultern hängen.
»Hey Jack«, rief Rallion nach hinten, nachdem er erfolglos im Handschuhfach gekramt hatte, »guck mal unter euren Sitzen oder im Kofferraum, ob du einen Kasten findest.«
»Einen was?«
»Einen Kasten, in der Regel schwarz oder rot, mit Verbänden drin.«
»Wieso sollte hier ein Verbandskasten sein?«, fragte Jack, schaute kurz unter seinen Sitz und ließ sich dann ungelenk mit dem Oberkörper in den Kofferraum hinab.
»Der hier?«, rief er und reichte einen Plastikkoffer an Sunna weiter.
»Spitze«, sagte Rallion nickend und fuhr weiter, den Blick konzentriert auf die Fahrbahn gerichtet. Elrod musterte den Elfen mit wachsendem Interesse und sandte seine Witterung aus. Wie er sich gedacht hatte, unterschied sich Rallions Blut kaum von dem Yveas. Er konnte Talente wahrnehmen, die sich jedoch, ebenfalls wie jene Yveas, außerhalb von Magie befanden. Rallion bemerkte Elrods Blick und lächelte ihn wissend an. »Nein, ich benutze keine Magie. Meine Talente liegen in der Täuschung, der Sammlung und dem Handel von und mit Informationen. Sie haben mich zu einem äußerst guten Schmuggler gemacht.« Mit Blick auf die Straße fuhr er fort: »So weiß ich über jedes Land und seine Kultur Bescheid, in das mein Weg mich führt. In diesem Sinne: Ein Hoch auf die deutsche Bürokratie und ihre Vorliebe für Verbandskästen in Autos.«
Der Van bremste quietschend an der roten Ampel einer Kreuzung. In der Ferne durchbohrten die Flutlichter für die Landebahnen des Flughafens das schwarze Tuch des Himmels.
»Fliegen wir in den Unterschlupf oder sind wir bald da?« Ein angespannter Unterton hatte sich in Sunnas Stimme geschlichen. Sie waren schon fast eine halbe Stunde unterwegs und Ela’ines Gesicht war mittlerweile weiß wie der Hintern eines Nachtgängers.
»Wir sind gleich da. Unser Unterschlupf befindet sich in der Nähe des gleichen Alsterlaufs, an dem euer Hotel liegt«, antwortete Yvea.
»Unser Hotel? Du weißt von unserem Hotel?«, erkundigte sich Anna.
Ein Lächeln stahl sich für einen Moment federleicht auf Yveas Züge und zerfaserte dann in den immergleichen elfischen Ausdruck.
»Wie ist es dir eigentlich ergangen, Yvea?«, reihte sich Elrod in das Gespräch ein. Er hatte sich in den letzten Minuten die Ereignisse der letzten Stunden und Tage durch den Kopf gehen lassen und vermutete, dass Yvea ganz genau gewusst hatte, wann sie sich wo aufhielten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Sunna sich versteifte. Wahrscheinlich hatte er mit seiner Frage die Erinnerung daran wachgerufen, weshalb Yvea die Gruppe verlassen hatte.
Nach einer Weile, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, antwortete Yvea leise: »Rallion und ich sind euch gefolgt. Im Hotel haben wir euch knapp verpasst. Wir mussten uns dann durch eine Horde wilder Duster kämpfen.« Elrod lächelte in sich hinein. Wie immer war Yvea äußerst knapp in der Wahl ihrer Worte. Er stellte fest, dass er das irgendwie vermisst hatte.
Sunna schaute durch das Fenster auf die verlassene Straße, so als überlegte sie, Yvea die für sie vermutlich wichtigste Frage zu stellen. Sie schien sich dagegen zu entscheiden und wisperte nur ein leises »Schön, dass du wieder dabei bist.« Yvea nickte knapp. Beiden war anzusehen, dass ihnen der Kopf vor lauter Gedanken fast explodierte, doch keine von ihnen sprach aus, was sie dachte. Nun denn, irgendwann würde es zur Sprache kommen. Elrod schüttelte unmerklich den Kopf.
»Ich freue mich auch, dabei zu sein, wie du so schön formuliert hast«, durchbrachen Rallions geckenhafte Worte die Stille. »Und noch mehr freut es mich, euch in meinem trauten Heim begrüßen zu dürfen. Okay, besser gesagt, einem meiner zahlreichen trauten Heime.« Er bog in eine Seitenstraße ab, um dann links auf einen kleinen, mit Garagen gesäumten Parkplatz zu fahren. Zu ihrer Linken hoben sich die toten Gesichtszüge einer Handvoll Reihenhäuser vom Nachthimmel ab. Die mit Verlusten geschlagenen Gewinner hatten ihr vorläufiges Ziel erreicht.
Rallion stieg als Erster aus, öffnete galant die Schiebetür und verbeugte sich vor den Frauen. »Willkommen.«
»Du reist mit merkwürdigen Freunden«, meinte Anna stirnrunzelnd zu Yvea.
»Alles nur Show«, antwortete die Elfin und kletterte leichtfüßig aus dem Van.
»Show? Um was zu verdecken?«, raunte Sunna.
Yvea zuckte die Schultern. »Findet es selbst heraus.«
»Elfen.« Jack glitt aus dem Van und hielt Sunna eine Hand hin.
Gemeinsam zogen sie die immer noch bewusstlose Ela’ine aus dem Wagen und ließen sie in Elrods Arme fallen. Elrod schauderte - der ganze Sitz war voller Blut. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er schwören können, dass bald kein Tropfen mehr in Ela’ines Körper übrig war. Ihr zierlicher Leib war jedoch unerwartet schwer, als trüge sie zentnerschwere Galaxien statt Ohrringen an ihren Ohrläppchen. Doch vor Mkhai wollte Elrod sich keine Blöße geben und schleppte die Schwester den kurzen Weg zum letzten Haus in der Reihe.
Das von Rallion so liebevoll betitelte traute Heim war ein backsteinernes Reihenendhaus, an dessen rechte Seite sich eine schmale Baumreihe schmiegte. Der Vorgarten maß nicht mehr als fünf Quadratmeter. Zum Teil verrostete Dekorationen mit orangenen Glaskugeln führten einen vergebenen Kampf gegen die Trostlosigkeit dieser Gegend. Die braune, etwas ausgeblichene Haustür, die Rallion bereits weit geöffnet hatte, führte in einen ebenfalls nicht mehr als drei Quadratmeter großen Flur. Die Wände waren hell vertäfelt und der raue Sisalteppich auf dem Boden schluckte ihre Schritte, als sie eintraten. Linkerhand ging es in eine winzige, moderne Küche, geradeaus in ein geräumiges Wohnzimmer. Elrod wusste nicht, was er erwartet hatte, doch bestimmt nicht eine hell eingerichtete Wohnung mit diversen Orchideen und anderen Pflanzen. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft.
Rallion winkte Elrod heran und bedeutete ihm, Ela’ine auf das ausgezogene blaue 80er-Jahre-Schlafsofa zu legen. Er hatte dort bereits beigefarbene Decken und Kissen hingelegt. Die Einrichtung erinnerte Elrod entfernt an den Stil eines schwedischen Möbelhauses, wobei Rallion die üblichen dekorativen Elemente durch bizarre Gegenstände aus der ganzen Galaxie ausgetauscht hatte. Hinter sich hörte er Anna unterdrückt quieken im Angesicht einer Orchideenhalterung, die aus einem aufgespießten nackten Männerkörper aus Holz bestand.
Elrod ließ Ela’ine sanft in die Kissen gleiten und Sunna machte sich sofort daran, die Wunde richtig auszuwaschen. »Ich brauche frische Tücher«, kommandierte sie Rallion, der sich zurück in den Flur begab und eine breite Schranktür öffnete.
»Kommt her«, rief er den übrigen Talentierten zu. »Das hier ist der Vorratsraum.« Er zeigte in einen kleinen Verschlag unter der Treppe. »Hier oben findet ihr Konserven diverser Art sowie Wasser zum Trinken«, er musterte Elrod verstohlen, »oder für was auch immer. Die Auswahl erstreckt sich von filetiertem Frettchen über belaksches Gulasch zu Nudeln in Gamaschsoße. Darunter sind Verbände.« Er nahm mehrere heraus und drückte sie Jack in die Hand. »Bitte.« Ein wenig irritiert ob Rallions Gebaren verharrte Jack kurz, um die Verbände dann schnell an Anna weiterzugeben, die gebannt hinter den Männern stand und Rallions Ausführungen folgte.
»Hey, gib du die doch Sunna.« Sie drückte Jack die Verbände wieder in die Hände und nahm stattdessen seinen Platz ein, ohne ihre vor Faszination leuchtenden Augen von den Regalen im Vorratsraum zu lösen.
»Daneben findet ihr Kräuter, Salben, Pillen, Ampullen und Tiegelchen, gesammelt in diversen Galaxien. Vor Gebrauch jedoch bitte die kleingedruckten Hinweise lesen. Ich bin mir nicht sicher, ob das alles Medizin ist.« Rallion schürzte spitzbübisch die Lippen. »Ich hoffe, ihr seid in den Sprachen des Universums bewandert.«
Anna schüttelte ungläubig und mit weit geöffnetem Mund den Kopf, als Jack wieder an ihrer Seite erschien. Ein belustigtes Schnaufen drang aus Elrods Kehle, als er sich vorstellte, wie das alles auf Anna und Jack wirken musste. Ohne Pässe des FO konnten sie die verschiedenen Schriftsprachen nicht entziffern und abgeschnitten von tausenden anderen Planeten und Völker musste Rallions Sammelsurium wie Parnassus’ Kabinett erscheinen.
»Hab ich was verpasst?«, raunte Jack Anna zu.
Sie schüttelte den Kopf und machte mit ihrer Hand eine Bewegung, als verscheuchte sie eine störende Fliege. »Scht.«
Rallion griff tief in den Vorratsraum hinein. »Hier sind ein paar Dinge, die auf der Erde nützlich sein können, zumindest behauptet das die nette Frau im Survival-Shop: eine Solarlampe, ein Kompass, Werkzeuge, ein Nähset, Vinyl-Reparaturband, Klebeband, Nylonschnur und Karabiner.« Er musterte die Gruppe abschätzend. »Na ja, das meiste werden wir wohl nicht brauchen. Also kommen wir zum untersten und vielleicht nützlichsten Fach mit den Artefakten.«
»Du bewahrst hier magische Artefakte auf?«, entfuhr es Jack im Angesicht der Steine, Edelsteine, Phiolen, Teilen von Waffen, Statuetten, Kästchen und etwas, das nach einem Skalp aussah.
Elrod wurde etwas mulmig im Bauch. Diego, von gleicher Art wie Anna, doch leider nicht so sympathisch, war zumindest klug genug gewesen, die Artefakte unter seiner Festung in sicheren Vitrinen zu verstauen. Hier in Rallions Unterschlupf lag alles unordentlich gestapelt in einem Regalfach. Eine unscheinbare Bewegung fesselte Elrods Aufmerksamkeit. Er hätte schwören können, dass der Skalp von einem konischen Artefakt angezogen wurde. Jedenfalls standen vertrocknete Haare surrend in Richtung des Artefaktes ab wie die Spitzen eines Seeigels. Es erinnerte ihn ein bisschen an Frerk, über den Sunna immer noch nicht so richtig sprechen wollte. Er musste grinsen, als er sich vorstellte, wie auch dieser an seinen Ohrhaaren zu dem Block gezogen wurde.
»Ich habe nichts von magisch gesagt, auch wenn einige wohl magisch sind. Fühlt euch herzlich eingeladen, das eine oder andere Artefakt auszuprobieren. Vielleicht ist etwas Nützliches dabei.«
»Und was ist das?« Mkhai drängelte sich in dem kleinen Flur an den anderen vorbei und deutete auf eine schwarze Box.
»Das ist geheim, nichts für ungut.«
»Hast du was gegen das Gift?«, rief Sunna aus dem Wohnzimmer.
»Nein, leider nicht. Aber ich habe eine Idee, wo wir etwas bekommen.«
»Von Elfen?«, erkundigte sich Elrod vorsichtig.
»Kennst du Elfen, denen du trauen würdest?« Missbilligend betrachtete Rallion Elrod von oben bis unten. »Nein, aber ich kenne andere Quellen für gute Gegengifte.«
»Ich komme mit«, sagte Mkhai sofort.
»Gemach, gemach«, erwiderte Rallion und hob beschwichtigend die Hände. »Ich halte es für keine gute Idee, kopflos und ohne Gewissheit auf Erfolg durch die Straßen zu ziehen. Lass mich erst meine Informanten kontaktieren und dann sehen wir weiter.«
»Wird sie denn so lange durchhalten?« Kaum verhohlene Verzweiflung färbte Mkhais Stimme.
»Ich denke schon. Schau!« Sunna nahm ein Tuch beiseite und deutete auf die Wunde, die aufgehört hatte, Flüssigkeit abzusondern. »Das Arunblatt hat den Blutfluss gestoppt.«
»Kann sie es nicht vielleicht auch selbst neutralisieren?«, warf Jack vorsichtig ein. »Ich dachte, sie wäre so eine Art Heilerin.«
Mkhai trat gebeugt einen Schritt auf seine Schwester zu. »Vielleicht. Das wird die Zeit zeigen.«
»Ich eile schon, ich eile«, näselte Rallion und schnappte sich einen Beutel. »Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, informiert meine Frau und Kinder. Und benutzt bitte Untersetzer!« Mit diesen Worten schmiss er die Haustür geräuschvoll hinter sich zu.
»Der hat Frau und Kinder?«, wunderte sich Anna.
»Nein«, erwiderte Yvea trocken. Sunna seufzte verdrossen. Sie hatte die Wunde ausgiebig gewaschen, einen frischen Verband um Ela’ines Oberkörper gebunden und sie mit einer Decke zugedeckt.
»Was haltet ihr von einem Drink?« Das zustimmende Gemurmel kaum abwartend stand sie auf, ging an den anderen vorbei Richtung Küche und blickte Mkhai entschlossen an. »Und dann möchte ich endlich wissen, was du über den Verbleib meiner Mutter herausfinden konntest.« Elrod und Mkhai wechselten einen langen Blick. Nichts Gutes anscheinend. »Ich sehe mal in der Küche nach, ob ich was Trinkbares finden kann, und wasche mich kurz.« Sunna rieb sich mit ihrem Handrücken die Stirn. Ein roter Blutstreifen blieb auf ihrer hellen Haut haften. Elrod folgte ihr in die Küche.
»Warte.« Er suchte die Arbeitsfläche nach einem Tuch ab. »Du hast Blut an der Stirn.« Sunna seufzte müde und ließ sich an Elrods Brust sinken. Er tupfte ihr Ela’ines Blut sanft ab und nahm die Hexe fest in seine starken Arme. »Wie geht es dir? Bist du müde von Zadiks Biss?«
Sunna vergrub ihre Stirn in Elrods Halsbeuge. »Nein, im Gegenteil. Beltanes Elixier, oder was auch immer das war, hat mich total aufgekratzt. Ich habe einfach nur Angst«, flüsterte sie. »Angst vor Mkhais Schweigen. Angst vor Ela’ines Gestank nach Gift. Angst vor den Dustern.«
»Hab keine, ich bin da.« Sie sah zu ihm auf, zerzauste und staubige Locken umrahmten ihr blutverschmiertes Gesicht. Als er ihre leicht geöffneten Lippen sah, wurden Elrods Knie weich. Er nahm ihren Kopf in seine Hände, als ein plötzlicher Schmerz einem Dolchstoß gleich seinen Schädel durchfuhr. »Autsch«, brach es unromantisch aus ihm hervor.
»Was hast du? Immer noch diese Kopfschmerzen?« Sunna streichelte besorgt seine Brust.
»Ja, die hatte ich schon fast vergessen.« Er kniff die Augen zu, das schummrige Deckenlicht schmerzte ihn. »Lass uns was zu trinken suchen, vielleicht hilft das.«
»Oder das Holliskraut. Du hast es doch noch, oder?« Auch das hatte Elrod fast vergessen. Da auch sein Vorrat an ketahrschem Kraut aufgebraucht war, hatte er seinen Tabak achtlos in seinem Beutel verstaut und nicht weiter daran gedacht.
»Ja, stimmt.«
Sunna öffnete die glänzend weißen Oberschränke und wurde fündig. Mit geübten Händen entnahm sie eine Reihe von Gläsern, während Elrod, dessen Kopfschmerzen sich nun eher wie eine Horde wilder Wasserbüffel anfühlten, die Unterschränke nach Spirituosen absuchte. Nacheinander stellte er Flaschen mit Ratischnaps, Korn, Rum, Whisky, Tequila und Obstler wie stattliche Zinnsoldaten auf den quadratischen Holztisch. Sein Blick fiel auf einen metallenen Korb mit allerlei kostbaren Ölen, Gewürzen und mit grünen Farnen gemusterten Servietten. Und dazu passenden Untersetzern. »Meine Herren, für jeden Geschmack was dabei«, entfuhr es Sunna anerkennend.
»Das ist auch nur das harte Zeug, die Frauengetränke habe ich im Schrank gelassen.«
»Und du kannst deine altmodischen patriarchalen Klischees im Schrank lassen, du Ochse.« Sunnas Stimme grollte gewittergleich durch die blanke Küche. »Wer von uns wohl die Frau ist, Mister Übervorsichtig.« Sie schnappte sich den Whisky und ging zurück ins Wohnzimmer. »Ich brauche kein Frauenglas, ich trinke aus der Flasche. Und vergiss die Untersetzer nicht.«
SEELENGABE, DIE:
Ein zähflüssiges, meist dunkles Fluid, das in vielen Orden oder Priesterschaften zur Heilung von Giften, Schwüren, Flüchen oder Verwünschungen genutzt wird.
Anders, als der Name vermuten lässt, befindet sich in dem Fluid nicht die Seele des Empfängers oder ein Baustein dieser. Die mächtigen Priester und Priesterinnen weben Fragmente ihrer eigenen Seelen in die Flüssigkeit, die sie mit Wünschen, Talenten, Heilkräften oder Gebeten bestücken. Dabei befinden sie sich in einer Trance, in der sie sich gedanklich mit dem Empfänger verbinden. Demnach hat ein Priester, der mit vielen Völkern vertraut ist, mehr Erfahrung und bessere Erfolgschancen als einer, der sich nicht aus seinem Orden hinauswagt.
Manche Orden nehmen die Informationsgewinnung über die Völker so genau, dass sie sich unter anderem die Haut toter Fremdweltler überziehen, um sich besser in deren Leben hineinzuversetzen.
Repositorium des Unnermenschen Frerk
Die Kälte des Türrahmens schlug ihre klebrigen Krallen durch Elrods Hemd hindurch in seinen Körper und erinnerte ihn an Gevatter Tod. Sie saß überall, in seinem Rücken, auf seinen Schultern. Sie thronte sogar auf den Spitzen seiner aufgestellten Nackenhaare. Eine beißende Kälte, die ihren Ursprung in den Begebenheiten der letzten Stunden hatte. Elrod fühlte eine ungewohnte Mischung aus Hetze, Ratlosigkeit und Triumph.
Hetze, weil die Ereignisse der letzten Stunden zu sehr Reaktionen gefordert hatten, wo geplante Aktionen hätten stattfinden müssen. Ihn beschlich das Gefühl, hinterherzurennen, hinter Ela’ines Leben, hinter dem Sieg über die Duster, hinter seinen Talenten, hinter Sunna. Das Gefühl senkte sich auf seinen Nacken und ließ ihn die Schultern hochziehen, als zöge ein Sturm auf. Ratlosigkeit, weil er nicht wusste, ob ihr Kampf erfolgreich war, ob Ela’ine überleben würde, ob er bezüglich seines geliehenen Splitters tätig werden sollte, ob Sunna die Neuigkeiten über ihre Mutter verkraften würde. Von der Sache mit dem Whisky ganz zu schweigen.
Das Gefühl des Triumphes war nur eine hohle, schale Emotion mit bitterem Beigeschmack. Ja, sie hatten die Vorrichtung in Hamburg zerstört, doch hatte es die erhoffte Kettenreaktion ausgelöst? Und was würden die verbleibenden Duster nun tun? Eine Frage, die sie sich vor ein paar Tagen leider nicht gestellt hatten. Doch es war zu spät für Was-wäre-wenn-Gedankenspiele über mögliche diplomatische Bemühungen oder Publikmache vor den gewöhnlichen Menschen.
Mit seinem leeren Glas trat er zu Sunna, die anscheinend schon ein paar kräftige Züge aus der Whiskyflasche genommen hatte. Smokehead, welch ein Zufall. Die gleiche Sorte, die er vor ihrer ersten Begegnung im O’Briens getrunken hatte. Hoffentlich kein schlechtes Omen. Er hielt der Hexe sein Glas hin. Sunna bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick, bevor sie ihm einschenkte. Ihre Wangen waren schon leicht gerötet, was aber auch an der melancholischen Stimmung des Augenblicks liegen konnte. Unzählige Teelichter in schlichten Schalen verströmten einen erdigen Geruch und ließen zarte Schatten an den Wänden tanzen. Ein großes Bild über einer weißen Kommode erregte Elrods Aufmerksamkeit: Das Bild zeigte eine Szene aus der letzten großen Schlacht um Belak 5. Es musste sich um eine Karikatur handeln, denn der Kopf des amtierenden Patriarchen Pancratius steckte auf einer gleißenden Lanze, seine Arme und Beine waren auf dem ganzen Bild verstreut. Elrods Augen offenbarten sich mehr und mehr groteske Einzelheiten, bis er sich schließlich angewidert abwandte.
Er nahm Sunna den Whisky ab, schaute in die Runde und hob fragend eine Augenbraue. Yvea verneinte, sie hatte sich eine Flasche Wasser aus der Küche geholt, die zart in ihren Fingern lag und leicht violett schimmerte. Elfisches Wasser vielleicht. Jack erhob sich vom Boden, auf dem er mit Anna gesessen hatte, und hielt Elrod zwei Gläser hin. Das Sofa war fast komplett belegt von Ela’ine, die nur tief zu schlummern schien. Mkhai hatte sich neben sie gesetzt und hielt Elrod ebenfalls sein Glas hin.
»Entschuldige, dass ich dich so lange habe warten lassen, Sunna. Du musst verstehen«, Mkhai blickte seine bewusstlose Schwester zärtlich an, »dass mich das alles sehr mitnimmt. Dennoch ändert das nichts daran, dass wir es uns zur Aufgabe gemacht haben, deine Mutter zu finden.« Er straffte den Rücken. »Ich war gerade in das Kollektiv eingedrungen, als Ariel Ela’ine angriff. Das hat«, er zuckte entschuldigend mit den Achseln, »mein Eindringen abrupt abgebrochen. Ich konnte allerdings einige Bilder sehen. Sie wird hier in Hamburg in einer Wohnung festgehalten. Sie scheint nicht bei Bewusstsein zu sein, wird jedoch medizinisch versorgt. Zumindest konnte ich Schläuche und Apparate erkennen.« Er nippte an seinem Drink. »Wenn ich die richtigen Schlüsse ziehe, wird sie nicht bewacht, zumindest wurden alle Duster zum Rathaus beordert, als unser Angriff startete.«
»Dann müssen wir sie sofort holen. Wo genau ist sie?« Sunna saß kerzengerade auf der Sofakante und knetete ihre Finger.
»Das kann ich leider noch nicht genau sagen. Ich werde sie mit einer Traumreise suchen müssen, denn ich habe die Außenmauern des Gebäudes nur schemenhaft gesehen. Der Duster, aus dem ich diese Information presste, war nicht direkt an ihrer Gefangennahme oder Bewachung beteiligt. Daher habe ich in der Kürze nur bruchstückhafte Bilder bekommen.« Mkhai musterte die Hexe abwartend. Dann holte er tief Luft und die lange zurückgehaltenen Worte stoben wie ein Erdrutsch aus seinem Mund: »Sunna, es ist sinnvoll, wenn wir uns erst um die Versorgung Ela’ines kümmern. In der Zeit kann ich eine Traumreise machen und deine Mutter suchen. In Ordnung?«
Die Atmosphäre im Wohnzimmer war zum Bersten gespannt. Elrod vertiefte sich feige in die Betrachtung seines Drinks. Er konnte Mkhais Worte gut nachvollziehen. In solchen Situationen musste ein kühler Kopf abwägen, wessen Schicksal in gewisser Weise Vorrang hatte und welche Schritte logisch waren. Yvea nippte bedächtig an ihrem Wasser, Anna und Jack bewegten sich keinen Millimeter. Alle warteten auf Sunnas Reaktion, deren stechender Blick Bände sprach. Die Spannung zersprang in tausend kleine, schimmernde Teile, als die Hekatenerin endlich die Worte formte, nach denen sich alle gesehnt hatten.
»In Ordnung.« Sie stand auf und ging zu der mit hellblauen Vorhängen gesäumten Terrassentür, den Blick in die Nacht gerichtet. Nur spärlich durch die entfernten Straßenlaternen beleuchtet, war der kleine Garten in der Dunkelheit kaum auszumachen. Elrod gesellte sich neben sie und streichelte ihr verzagt den Rücken. »Also warten wir auf Rallion und seine Informationen. Falls wir etwas beschaffen müssen, gehe ich an deiner Stelle. Und während wir entweder auf die Wirkung eines elfischen Gegenmittels warten oder es erst noch beschaffen, suchst du mit einer Traumreise meine Mutter.« Sunnas heißer Atem hinterließ einen nebeligen Schleier am Fenster.
Mkhai nickte. »Ja. Ein anderes Vorgehen erscheint mir nicht logisch. Ich werde mich gleich etwas frisch machen und auf die Reise begeben. Hat jemand schon das Bad gefunden?«
»Nein«, antwortete Elrod. »Aber ich schätze, dass es sich oben über der Küche befindet. Lass uns nachsehen, was es hier noch so gibt.« Er gab Sunna einen leichten Kuss auf den Kopf und wartete kurz auf eine Reaktion. Als keine kam, drehte er sich um und fing Annas aufmunternden Blick auf. Er folgte Mkhai in den Flur und zur Treppe. Jack hatte sich ebenfalls erhoben und warf Anna einen fragenden Blick zu.
»Geh schon,« antwortete sie. »Ich möchte noch einen Moment hier unten bleiben.«
Elrod ließ Sunna mit gutem Gewissen in der Obhut der anderen. Sie alle kannten sich noch nicht einmal eine ganze Woche, doch sie waren so eng zusammengewachsen, dass er mittlerweile für alle sein Leben gegeben hätte, auch für Yvea. Geben werde, korrigierte er sich in Gedanken. Ein kalter Stich durchzog sein Herz, als er an Kelsangs Prophezeiung dachte. Doch nur kurz. Elrod war Meister der Verdrängung.
Der Sisalteppich befand sich nicht nur im Erdgeschoss und auf der Treppe, auch die beiden oberen Stockwerke waren damit ausgelegt. Im ersten Stock befand sich direkt gegenüber der Treppe ein kleines Bad mit einer Badewanne, je ein Zimmer ging links und rechts vom Flur ab. Ein deckenhohes Regal säumte eine Flurwand und war mit Büchern überfrachtet. Das oberste Stockwerk befand sich direkt unter dem Spitzdach und beherbergte zwei enge Zimmer. In jedem der Schlafzimmer befanden sich - mal mehr, mal weniger zusammengequetscht – drei oder vier Betten und Elrod fragte sich, wie groß Rallions Mannschaft eigentlich war. Die Betten wirkten verlassen, aber frisch bezogen, die Nachttische und Regale waren leer. Die Tür zum linken Dachgeschosszimmer stand einen Spaltbreit auf und Elrod lugte vorsichtig hinein. In dem Moment begann eine melonengroße Lampe auf dem Boden zu rotieren und warf sich bewegende Bilder an die Wände: Um die Wette sprintende Kernaks, eine auf Belak 5 beheimatete sechsbeinige Tierart, kaum verhüllte Männer und Frauen, die mit lasziven Blicken ihre Betrachter musterten, Szenen, in denen Fremdweltler Wettspiele spielten wie das auf Belak 5 so beliebte Shakhmaty. Elrod Neugier trieb ihn weiter in das Zimmer hinein.
Die Wände waren ebenso hell tapeziert wie im Rest des Hauses. Mit grünen Farnen bedruckte Jalousien hingen halb heruntergelassen vor den zwei Dachfenstern, durch die Elrod die Sterne sehen konnte. Ein auf dem Nachttisch stehendes Glas mit schimmerndem Wasser zeugte davon, dass hier wohl der König der Elfenschmuggler nächtigte. Elrod wollte schnell die Tür schließen, als ein enormer Kleiderschrank, der rechts neben der Tür thronte und mit rotem Samt bezogen zu sein schien, seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Intuitiv hob Elrod die Hände, um den Stoff der Schrankwände anzufassen, seine Finger liebkosend über die Textur zu führen.
»Was tust du da?«, fragte Jack misstrauisch über Elrods Schulter hinweg. Elrod zuckte zusammen. Als Jack den Schrank entdeckte, drückte er Elrod weiter in den Raum hinein.
»Ich weiß nicht«, murmelte Elrod, den Blick starr auf die beiden samtenen Knäufe des Schranks geheftet. Nur noch ein paar Zentimeter und er könnte nachsehen, was drin war. Der Schrank wackelte und fauchte. Reflexartig zog Elrod seine Hand zurück, schob Jack rücklings aus dem Zimmer und verschloss die Tür.
»Okay, ich denke, die unteren Zimmer sind unsere.« Ohne auf Mkhai zu achten, der sich im anderen Zimmer umgesehen hatte, eilten sie die enge Treppe hinunter.
»Ist es in Ordnung, wenn ich mich als Erster frisch mache und dann das rechte Dachgeschosszimmer für meine Traumreise nutze?«, fragte Mkhai über das Geländer hinab. Elrod und Jack nickten einvernehmlich.
»Ich schlafe eh lieber im ersten Stock«, raunte Jack und durchwühlte den Einbauschrank gegenüber dem Bad, bis er zwei Handtücher und etwas Seife in der Hand hielt. »Hier, leg ich dir ins Badezimmer.« Der Bruder nickte zum Dank und verschwand im Dachgeschosszimmer, während Elrod und Jack weitere Handtücher auf die anderen Zimmer verteilten.
Aus dem Erdgeschoss war helles Lachen zu hören, das Jack und Elrod einen stirnrunzelnden Blick tauschen ließ. Jack hob die Schultern, als wollte er sagen, dass er keine Ahnung habe, was da unten schon wieder vor sich ging. Elrod schmunzelte, als er wenig später, gefolgt von Jack, das Wohnzimmer betrat. Der Unterschied zu vorhin, als er nach oben gegangen war, hätte nicht frappierender sein können. Die ausgelassene Atmosphäre ließ das Wohnzimmer warm erstrahlen.
»Nein, natürlich nicht«, hörte Elrod Sunna sagen.
Die Frauen kicherten, als sie die Männer sahen, und Jack zuckte erneut mit den Schultern. »Ich sehe mal im Kühlschrank nach, ob ich was zu essen finde.«
»Ich komme mit«, meinte Elrod schnell. Worüber auch immer die drei sprachen, es sah nicht so aus, als wären seine Ohren willkommen.
»Ciabatta, Pecorino, Parmigiano, Gorgonzola, Oliven und Tomaten. Ist der Typ etwa Vegetarier?« Jack seufzte, als er die Kühlschranktür schloss. »Ich habe einen Bärenhunger«, sagte er und rieb sich demonstrativ den Bauch. »Was würde ich für eine scharfe Peperonipizza geben. Oder mit Thunfisch. Oder Lachs.«
Elrod sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als er sich an die letzte Pizzabestellung erinnerte. »Genau. Lass uns doch eine bestellen. Vielleicht hat der Bote wieder neue Informationen für uns.« Der Bote war ein Duster gewesen und hatte in Sunnas Loft einen schnellen Tod gefunden, nachdem Mkhai Informationen aus ihm herausgepresst hatte.
Jack schaute ihn konsterniert an. »Ist ja gut. Eine Konserve tut es auch.« Etwas mürrisch ging er zum Vorratsschrank und besah sich die verschiedenen Etiketten. »Guck mal, sogar Teufelswurzeln in süß-sauer. Na, wenn das nicht ein Hauptgewinn ist«, rief er entzückt aus und trug die Dose wie eine Trophäe in die Küche. Elrod verzog angewidert das Gesicht, half aber trotzdem bei der Suche nach einem geeigneten Topf. Kurze Zeit später strömte der etwas beißende Geruch süßsaurer Teufelswurzeln durch das schmale Reihenhaus. Jack war gerade dabei, den kleinen weißen Tisch gegenüber der Küchenzeile mit Tellern zu decken, als Yvea naserümpfend im Türrahmen erschien.
»Was macht ihr hier.«
»Wonach sieht es denn aus?«, erkundigte sich Jack in bester Laune und verkündete, als hätte er ein Allheilmittel gegen alle tödlichen Krankheiten gefunden: »Es gibt gleich Essen!«
Yvea rümpfte noch mal die Nase und schürzte die Lippen. »Um die Ecke gibt es einen prima Dönerladen. Wenn ich mich richtig erinnere, haben die bis Mitternacht auf.« Elrod schielte auf die unscheinbare runde Küchenuhr über der Tür: 22:19 Uhr.
»Danke für die Info, aber Teufelswurzeln sind doch prima.«
»Danke für die Info, genau zum richtigen Zeitpunkt. Wie komme ich dahin?«, entgegnete Elrod enthusiastisch.
»Moment, nicht so schnell.« Sie ging zur Fensterbank, auf der ein altmodisches schwarzes Festnetztelefon stand, und drückte umständlich mehrere Knöpfe. Nach einer Weile meldete sich eine tiefe Stimme über den Lautsprecher und fragte nach der Bestellung. »Fünf Jumbo-Döner, einen Falafel-Döner und ein Dutzend Baklava bitte.«
Nachdem Yvea die Telefonnummer und Adresse durchgegeben hatte, fragte die freundliche, aber schwer zu verstehende Bedienung auf der anderen Seite: »Sonst noch etwas?«
Bevor Yvea oder Elrod verneinen konnten, tauchte Sunna mit glühenden Augen in der Küche auf. »Haben Sie auch Currywurst?«
Dazu kamen noch ein Jägerschnitzel und ein Croque.
»Was denn? Ich habe einen riesigen Hunger«, sagte sie, als sie die verblüfften Blicke der anderen bemerkte.
»Ist denn keiner irgendwie nervös, aufgeregt, misstrauisch?«, fragte Elrod nach ein paar Sekunden.
»Wieso?«, hakte Sunna trocken nach.
»Darf ich an den letzten Pizzaboten erinnern?«
Sunna rieb sich den Bauch. »Erstens habe ich ein riesiges Loch im Bauch und zweitens hat Yvea die Nummer gewählt. Ich vertraue ihr.«
»Ach, tust du das?«, merkte Yvea spitz an.
Schweigen. Elrod war froh, dieses Mal nicht mit seinen eigenen Stiefeln in das Fettnäpfchen getreten zu sein.
»Ja, das tue ich. Und eigentlich habe ich das auch immer getan, auch ohne das blöde Band.« Sunna sah betreten zu Boden. Yvea lehnte mit dem Rücken an einem Schrank neben der Fensterbank, auf der das Telefon stand, und musterte die Hexe abwägend. Sunna hatte vor ein paar Tagen ein Blutband zwischen sich und Yvea geknüpft und war immer über den Verbleib der Elfe informiert gewesen. Das Band vermittelte nicht nur den Standort, sondern auch Gefühle und Ahnungen. So hatte Sunna überprüft, ob Yvea vertrauenswürdig war.
»Mach dir keinen Kopf. Ich wusste von Anfang an, dass das Band da war.« Yvea drehte sich um, ging an Jack vorbei zurück ins Wohnzimmer und ließ eine verdutzte Hexe mit offenem Mund zurück.
»Bitte was?«
»Sie wusste von dem Band«, echote Elrod.
»Was?«
»Sie …«
»Ich habe schon verstanden«, fauchte Sunna und stemmte ihre Hände in die Hüften, wie so oft, wenn sie wütend war. »Sie hat mich die ganze Zeit benutzt.« Sie wollte Yvea gerade nacheilen, als Elrod sie aufhielt.
»Moment, kleine Hexe. Bevor du dich künstlich echauffierst, denk mal drüber nach, wer hier wen benutzt hat.« Er funkelte sie an. »Ich bin mir sicher, wenn du sie nach ihren Beweggründen fragst, wird sie dir antworten, dass sie dein Vertrauen wecken wollte, weil ihr die Mission so wichtig ist.«
»Aber …«, zischte Sunna durch zusammengebissene Zähne.