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Legendäre Helden im Kampf gegen Untote und dunkle Magie! Der erste Band einer neuen, spektakulären Romanreihe zu dem beliebten epischen Fantasy-Brettspiel Descent – Die Reise ins Dunkel. Als die Tochter der Baronin von Forthyn verschwindet, bittet diese den legendären Orkhelden Durik, sie wiederzufinden. Durik rekrutiert seine alten Kampfgefährten und gemeinsam reisen sie ins furchtgeplagte Falbhain. Doch statt Hinweise auf den Verbleib der jungen Adligen finden sie Anzeichen von Nekromantie: Auf den Friedhöfen sind die Toten verschwunden und Fußspuren führen in den verderbten Trübwasserwald … Und dann stoßen Durik und seine Gefährten auch noch auf eine grausige Plage aus riesigen, mordlüsternen Ungeheuern. Descent: Journeys in the Dark is a registered trademark or trademark of Fantasy Flight Games. © 2021 Fantasy Flight Games.
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Seitenzahl: 480
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DESCENT
DIE REISE INS DUNKEL
ROBBIE MACNIVEN
Ins Deutsche übertragen vonKatrin Aust
Die deutsche Ausgabe von DESCENT: DIE VERDAMMUNG VON FALBHAIN
wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Katrin Aust; verantwortlicher Redakteur und
Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Jana Karsch; Korrektorat: Peter Schild;
Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Jeff Chen, Karte: Francesca Baerald
Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice. Printed in the EU.
Titel der Originalausgabe:
DESCENT: THE DOOM OF FALLOWHEARTH
First published by Aconyte Books in 2020
Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd
Copyright © 2021 Fantasy Flight Games. All rights reserved.
Descent: Journeys in the Dark and the FFG logo are trademarks of Asmodee Group or affiliates.
German translation copyright © 2021 Cross Cult.
Print ISBN 978-3-96658-187-5 (April 2021)
E-Book eISBN: 978-3-96658-288-9 (April 2021)
WWW.CROSS-CULT.DE
PROLOG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
EPILOG
DANKSAGUNGEN
Dieses Buch ist allen gewidmet,die meinen verrückten Traumvom Schreiben unterstützt haben –und immer noch unterstützen.
Finsternis im Herzen des Lichts, Licht im Herzen der Finsternis.
Wo vor einer halben Sekunde noch niemand gewesen war, stand plötzlich eine Gestalt im Reiseumhang. Der Nebel, der sie hierhergebracht hatte, zog sich zurück, kroch an ihrem Körper herab und löste sich in nichts auf.
Sie schnappte nach Luft. Die Nachtluft brannte eisig und rein in ihren Lungen. Sie weckte ihre Lebensgeister und vertrieb die letzten Überbleibsel des Nebelschleiers aus ihrem Kopf. Ihr Herz raste und ihr war schlecht. War es immer so?
Sie blickte sich um und nahm zum ersten Mal ihre Umgebung richtig wahr. Augenblicklich wusste sie, wo der Nebel sie hingebracht hatte: zum Friedhof. Gemeißelte Grabsteine erstreckten sich in ordentlichen Reihen um sie herum. Sie waren mit Zweigen, Schädeln und anderen morbiden Ikonen des Todesgottes verziert. Noch vor ein paar Monaten hätte ihr ein solcher Ort mitten in der Nacht einen Schauer über den Rücken gejagt. Aber jetzt hatte er etwas Aufregendes an sich. Auch aus diesem friedlichen und stillen Hort des Todes konnte noch etwas Gutes entstehen. Davon war sie überzeugt.
Sie schlug ihren Umhang zurück und hob das schwere Buch, das sie im Arm hielt. Sie hatte geschworen, es seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Und das wollte sie heute Nacht tun. Deswegen hatte sie den Hex Nebulum, den Nebelschleier, heraufbeschworen und ihn benutzt, um sich unbemerkt an den Wachen vorbei und durch das Tor und die Stadt zu schleichen. Aber erst brauchte sie Gewissheit. Sie musste es ausprobieren. Nur ein Zauber, dann würde sie es zurückgeben und um Vergebung bitten. Sie fand die richtige Seite, während sie einen simplen Oculus-Spruch murmelte, der es ihr möglich machen würde, die Worte in der Dunkelheit zu lesen.
Die Schwarze Zauberformel.
Sie zögerte. Nach dieser Tat gab es kein Zurück mehr. Wenn sie das hier durchzog, würde ihr Leben nie wieder so sein wie vorher.
War sie voreilig? Vielleicht. Aber etwas stimmte nicht in dieser Stadt, irgendetwas trieb hier sein Unwesen – etwas Schleichendes, Verheerendes und Kriechendes, etwas Bösartiges. Etwas, das keine Gnade kannte. Mit dieser Macht würde sie es allerdings bekämpfen können. Sie würde nicht einmal ihre Wachen mobilisieren müssen oder die Stadtbewohner, diese aufrichtigen Leute, von denen erwartet werden würde, für sie zu sterben. Sie müsste nur die Körper derer, deren Geist längst weitergezogen war, wiederbeleben. Das Böse würde vernichtet werden, ohne dass auch nur ein einziges Leben verschwendet würde. Das war der Preis, den sie dafür zahlen müssen würde, doch bestimmt wert, oder? Sicherlich war das Ganze es wert, ihr Erbe aufzugeben und die uralten Gesetze zu brechen. Die Natur selbst zu verzerren.
Außerdem gab es keinen anderen Weg, um mit ihrer Meisterin zusammen zu sein. Sie liebte sie. Und das war ein Gefühl, das sie nicht aufgeben würde, nicht jetzt, wo sie endlich wusste, was es bedeutete. Das Leben, das ihr gegeben war, war nicht das, das sie wollte. Heute Nacht würde sie sich ein neues schaffen, gemeinsam mit ihr. Sie würde ihr privilegiertes Dasein, das ihr ohnehin nie etwas bedeutet hatte, aufgeben und von vorne beginnen. Ihre Meisterin würde es verstehen. Sie wusste, dass sie ebenso für sie empfand.
Sie wandte sich der Gruft zu.
Es war eine von mehreren auf dem Friedhof des Schreins, ein niedriger Steinbau mit einem schmiedeeisernen Tor, dessen Gitterstäbe wie blanke Knochen geformt waren. Das Tor war mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. Sie trat darauf zu und hob mit geschlossenen Augen die Hände. Sie spürte die nächtliche Kälte, nahm sie in sich auf und sprach leise die Worte, die sie sich sorgfältig eingeprägt hatte – zum Teil Gebet, zum Teil Beschwörung. Jeder Atemzug verwandelte sich in eine eisige Wolke, der die Luft vor ihr erfüllte.
Eiskristalle bildeten sich an ihren Fingerspitzen, hüllten das Schloss ein und formten einen harten Panzer. Ein leises Knacken ertönte, als das Metall gefror und sich verbog. Schließlich erklang ein Krachen, gefolgt vom dumpfen Aufschlag gefrorenen Metalls auf weicher Erde. Das Schloss war aufgesprungen und auseinandergebrochen.
Vorsichtig öffnete sie das Tor und bemühte sich, das rostige Quietschen zu ignorieren. Im Inneren standen fünf Steinsärge. Die Begründer der Fulchard-Familie lagen hier gemeinsam begraben. Offenbar war ihre Ruhe bisher von niemandem gestört worden. Statt einzutreten, wich sie einen Schritt zurück, hob das Buch und klemmte es sich in die Armbeuge.
Was sie hier tat, mochte eine Form der Grabschändung sein, aber es war notwendig. Sobald sie sicher war, dass sie die Schwarze Zauberformel beherrschte, würde sie das Buch nicht mehr brauchen. Sie würde eine Armee erwecken und die Stadt retten können. Dann würde ihre Meisterin ihren wahren Wert erkennen. Selbst in der am strengsten verbotenen Magie lag etwas Gutes. Licht in der Finsternis. Das würde sie allen zeigen.
Sie begann, mit gesenkter Stimme zu sprechen, und achtete auf jede Silbe. Die Worte auf der Seite vor ihr schienen zu erzittern und sich zu winden. Sie spürte einen Windstoß, der zwischen den Grabsteinen entlangstrich und klagend durch die enge, offene Gruft pfiff. Die Macht von Mortos, dem elementaren Tod, erhob sich, um sie zu grüßen.
Aber etwas stimmte nicht. Sie brauchte nur ein paar Zeilen, um das zu erkennen. Sie geriet ins Stocken. Ein falsch ausgesprochenes Wort. Sie verzog das Gesicht, hielt inne. Erinnere dich an das, was man dich gelehrt hat, mahnte sie sich. Bleib ruhig. Ein falsches Wort ist nicht das Ende der Welt. Mehrere vielleicht schon.
Sie machte weiter. Und wieder ein falsches Wort. Und noch eins. Panik stieg in ihr auf, verstärkt durch die Tatsache, dass das schwere Buch in ihren Händen leichter zu werden schien. Mit Schrecken stellte sie fest, dass es sich auflöste. Noch während sie so hastig wie möglich versuchte, die arkanen Zeilen aufzusagen und die Magie um sie herum an die Worte zu binden, verblassten die Seiten und wurden in ihren Händen substanzlos.
Der Locus Reditus! Sie war so dumm! Nachdem sie das Buch gestohlen und in ihrem Schlafgemach versteckt hatte, hatte sie es mit einem Ortsbindungszauber versehen, einem einfachen kleinen Spruch, der es an den Ort zurückbringen würde, an dem sie es verborgen hatte. Sie hatte befürchtet, dass ein Diener oder eine Magd es entdecken und mitnehmen könnte. Als sie ihre Entscheidung getroffen hatte, es heute Nacht seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben, hatte sie völlig vergessen, den Zauber aufzuheben. Und jetzt verschwand das Buch vor ihren Augen.
»Nein«, murmelte sie, dann lauter: »Nein, nein, nein!«
Ihre Konzentration war dahin. Aber es war noch nicht zu spät. Sie kannte den Hex Nebulum auswendig. Sie konnte sich zurück in die Burg schleichen, das Buch holen, den Bindungszauber brechen und wieder verschwinden. Sie konnte es ihrer Liebsten zurückbringen, sich für alles entschuldigen. Als die letzten Reste des Buchs sich auflösten und ihre Finger ins Leere griffen, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen.
Aber dafür war es bereits zu spät. Das wusste sie in dem Moment, als sie etwas in der Nähe hörte – ein kaltes, keuchendes Geräusch. Was geschehen war, war geschehen. Sie hatte ihr Schicksal selbst gewählt und nun gab es kein Zurück.
Aus dem Inneren der Gruft vernahm sie ein leises, langsames Scharren – das Mahlen von Stein auf Stein, gefolgt von einem Knacken, das über den plötzlich stillen Friedhof hallte.
Einer der Särge in der Gruft war gerade geöffnet worden.
Jahrelang war Logan Lashley der festen Überzeugung gewesen, dass die Tage, in denen er nichts als Ärger gehabt hatte, endgültig hinter ihm lägen. Er hatte sich selbst – im Normalfall die einzige Person, der gegenüber er solche Versprechen einhielt – geschworen, dass sich die Unglücksfälle, die seine Jugend geprägt hatten, nicht wiederholen würden. Das alles lag in der Vergangenheit, abgeschlossen, nichts weiter als Geschichten, um in der Schenke einem leicht zu beeindruckenden Händler oder Ratsherrn ein Gratisbier aus den Rippen zu leiern. Er hatte sich zur Ruhe gesetzt und war froh darüber.
Die anderen Versprechen hingen größtenteils mit diesem ersten zusammen. Dass er seinen Reichtum genießen würde. Dass er sein Schwert nie wieder im Zorn ziehen würde. Dass er niemals sein Leben riskieren würde, um ein anderes Wesen zu retten, ob es nun lebendig oder dem Tode nahe war. Dass er endlich seine Angst vor Spinnen überwinden würde. Dass es keine weiteren Abenteuer geben würde.
Abenteuer, Unglücksfälle – Logans lebenslanger Erfahrung nach waren die Übergänge fließend. War seine gegenwärtige Situation – er gab sich redlich Mühe, empört zu wirken, während die Stadtwache sich mit der Kontrolle seines Geleitbriefs Zeit ließ – ein Abenteuer oder ein Unglücksfall? Er befürchtete Letzteres. Seit er vor drei Wochen vom Klappern des Briefboten draußen geweckt worden war und einen Zettel gefunden hatte, der unter der Haustür seines Stadthauses hindurchgeschoben worden war, hatte ihn ein ungutes Gefühl verfolgt. Dieses Zeichen, hastig auf ein Stück Pergament gekritzelt, bedeutete immer Ärger.
Der Soldat am Stadttor blickte erneut von dem Geleitbrief zu Logan und wieder zurück. Der Kerl war typisch für diese kalte, raue Ecke von Terrinoth, ein pockennarbiger Schläger in einem alten Kettenhemd und ledernem Brustpanzer mit verkniffenem Blick und schütterem Haar. Logan war ihm nah genug, um den Gestank zu riechen, der von ihm ausging – schaler Schweiß und noch schalerer Alkohol, vermischt mit dem Öl, mit dem seine Rüstung und die grob geschmiedete Spitze seines Rossschinders, den er über der Schulter trug, kürzlich eingerieben worden waren. Der Mann zog die Nase hoch, hielt inne, um sich wie ein Hund hinter dem Ohr zu kratzen, und reichte Logan schließlich seine Papiere zurück.
»Willkommen in Hohenburg, Meister Gelbin«, grunzte er und klang dabei alles andere als freundlich. Er gab der zweiten Wache neben sich ein Zeichen und der Mann ließ das Zaumzeug von Logans Pferd los. Er hatte es festgehalten, als hätte er Angst, Logan könnte seiner stämmigen Schecke plötzlich die Sporen geben und am Torhaus vorbei in die Gassen der Stadt preschen. Das musste man sich mal vorstellen: Logan Lashley, Held von Sudanya, Herr von Sechsjoch, wurde verdächtigt! Wäre er unter seinem richtigen Namen gereist, wäre das ein Skandal gewesen – und wenn er nicht tatsächlich darüber nachgedacht hätte, sich einfach aus dem Staub zu machen.
Aber zumindest für den Moment war das nicht nötig. Die Soldaten traten beiseite und Logan zog seinen Umhang enger um sich, um sich vor der kühlen Morgenluft zu schützen, bevor er Ishbel sanft antrieb und unter dem Fallgitter hindurchritt. Dahinter lag eine schmale, staubige Straße, die sich den Hang hinaufwand. Hier herrschte reges Treiben, unzählige Stadtbewohner schlenderten zwischen den mittäglichen Marktständen hin und her. Schiefe Gebäude drängten sich zu beiden Seiten der Straße aneinander. Es handelte sich größtenteils um helle Fachwerkhäuser mit dunklen Balken, die drei oder vier Stockwerke hoch waren. Viele waren mit Reet gedeckt, einige wenige mit Schindeln. Über den niedrigen Eingängen hingen Schilder, die die Dienste anpriesen, die im untersten Stockwerk angeboten wurden – ein Schneider, ein Schuster, ein Milchgeschäft, ein Arzt.
Verglichen mit den weitläufigen Arkaden von Greyhaven oder der monumentalen Stadt Archaut war es nicht viel, aber Logan vermutete, dass so was hier in diesem Teil von Terrinoth als Zivilisation durchging. Hohenburg war die Hauptstadt von Forthyn, dem nordöstlichsten Baronat, und Sitz seiner Regentin, Baronin Adelynn. Logans Meinung nach war das hier, wie ganz Forthyn, ein kalter, zugiger, dreckiger Ort und kein Vergleich zu seinem Stadthaus in Greyhaven oder seinem Landsitz am Rand des Breitwalds. Das Kaff erinnerte Logan an die Orte, an denen er sich in seiner Jugend oft rumgetrieben hatte, was die Frage aufwarf, warum er überhaupt hergekommen war. Das Stück Papier ruhte schwer in seiner Tasche.
Er lenkte Ishbel die Straße hinauf und die Stadtbewohner machten ihm eilig Platz. Größtenteils wirkten sie befremdlich, zumindest verglichen mit den Leuten aus dem westlichen Terrinoth, an deren Anblick er gewöhnt war. Sie waren kleiner, stämmiger und besaßen eine offensichtliche Vorliebe für dicke Pelze und kurz geschorenes Haar. Selbst hier, im Herzen des Baronats, war der Einfluss der nördlichen Clans deutlich zu spüren. Hohenburg vermittelte Logan den Eindruck eines Außenpostens am Rande der Wildnis. Nur die Götter wussten, wie es in Ober-Forthyn aussehen mochte.
Er kam an einer Reihe von Marktständen vorbei und der Duft von frischem Gemüse stieg ihm in die Nase. Mehrere Händler, denen offensichtlich seine vornehme Kleidung aufgefallen war, riefen ihm zu, doch er ignorierte sie. Jenseits der Stände musste er sich unter dem tief hängenden Schild eines Gerbers hinwegducken. Vor ihm ragten die Türme und Zinnen der Zitadelle von Hohenburg, die auf dem höchsten Felsen über der an den Berg gebauten Stadt thronte, geradeso über die Dächer. Hinter der Werkstatt des Gerbers bog er nach rechts in eine Seitenstraße ein und passierte mit Ishbel ein halbes Dutzend menschlicher Wirte und mehrere Dunwarr-Zwerge, die Fässer von zwei Wagen luden. Viel weiter kam er jedoch nicht.
Die enge Passage wurde von sieben oder acht Gestalten blockiert und es wurden immer mehr. Sie schienen aus der Hintertür einer reetgedeckten, dreistöckigen Taverne zu kommen. Laute Stimmen hallten von den Wänden der Gebäude wider, die sich über die Straße beugten. Er zog sanft an Ishbels Zügeln. Er war erst seit knapp zehn Minuten in Hohenburg. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, in einen Streit verwickelt zu werden, der sich von der Taverne auf die Straße verlagert hatte.
Die meisten der Gestalten waren Soldaten in Kettenhemden, Brustpanzern und offenen Eisenhelmen, die man Schaller nannte. Sie hatten verschiedene Stangenwaffen bei sich. Einer, wahrscheinlich der Anführer, trug einen Waffenrock, der das Wappen von Baronin Adelynn zeigte – ein wütender Vogel Roc auf azurblauem Hintergrund. Seine goldenen Klauen und Federn hoben sich deutlich von der Eintönigkeit der stinkenden Gasse ab.
Der Mann in dem Waffenrock ergriff das Wort und wandte sich an eine Gestalt in der Mitte der Gruppe: »Denkst du, ich bin ein Narr? Das ist offensichtlich eine Fälschung! Ich sollte dich auf der Stelle verhaften lassen, du dreckiger Abenteurer!«
Logan musste nicht viel näher heran, um zu erkennen, mit wem der Waffenrockträger sprach. Er überragte die meisten Männer um ihn herum um gut einen Kopf, trug einen groben Pelz über den breiten Schultern und seine grobschlächtigen Züge wirkten resigniert. Ein Speer hing in einem Holster auf seinem Rücken und ein langer Krummdolch steckte in einer Scheide an seiner Hüfte. Logan bemerkte sofort, dass es sich um einen Ork handelte.
»Ich weiß, deine Art ist ein bisschen langsam, aber bist du auch noch taub?«, blaffte der Typ im Waffenrock und schubste den Ork an der Schulter. Die massige Gestalt hielt dem Blick des Mannes stand, zeigte aber sonst keine Reaktion. Herr Waffenrock lachte und die anderen Soldaten fielen mit ein. Ein paar der Tavernenbesucher waren herausgekommen, um die Konfrontation zu beobachten, und die Wirte hinter Logan unterbrachen ihre Arbeit. Der Waffenrockträger, der die zunehmende Aufmerksamkeit sichtlich genoss, wedelte mit dem Papier, das er in einer Hand hielt, und warf es dem Ork vor die Füße.
»Typen von deiner Sorte sind hier nicht willkommen, Abenteurer«, spie er. »Weder in Hohenburg noch in Forthyn. Überall, wo ihr hinkommt, macht ihr nur Ärger. Einen solchen Ruf kann Hohenburg in Zeiten wie diesen nicht gebrauchen. Wir bringen dich zum Haupttor und du gehst schön brav deiner Wege. Es sei denn, du hast andere Pläne?«
Die Drohung war offensichtlich, genauso wie die Antwort des Orks, die er mit einer so deutlichen Aussprache der allgemeinen Sprache gab, dass die Wachen sichtlich überrascht waren. »Wenn ich kämpfe, töte ich. Und ich will euch nicht töten.«
Eine Sekunde lang waren alle still. Dann lachte Herr Waffenrock. Die anderen stimmten mit ein, als er sich halb herumdrehte und sich an sein Publikum wandte: »Na, da soll der große Kellos mir doch die Augen ausbrennen! Du bist mir ja ein schöner Abenteurer! Wohl eher ein Feigling!«
Der Ork blieb stumm. Der Waffenrockträger wirbelte plötzlich wieder herum und hob seinen Handschuh, um ihn zu schlagen.
Logans Stimme hielt den Mann davon ab, den Schlag auszuführen. »Kruk, bei allen Göttern, was, glaubst du, tust du da?
Die Versammelten erstarrten und Logan, den bisher niemand bemerkt hatte, spürte, wie sich die Anspannung in der engen Gasse auf ihn verlagerte, als ihre Blicke auf ihm landeten. Fortuna möge über ihn wachen, denn jetzt war es zu spät für einen Rückzieher. Er funkelte den Ork an. »Komm sofort her, Kruk«, bellte er und machte eine wütende Geste. Niemand rührte sich.
»Kennt Ihr diesen Gauner, Sir?«, fragte Herr Waffenrock langsam.
Logan musterte ihn, als hätte er ihn gerade erst bemerkt. »Bei den Göttern, Mann, ob ich ihn kenne? Kruk hier ist mein Lastenträger. Ich schicke ihn mit meinem Geleitbrief auf eine einfache Besorgung und was macht er? Treibt sich in Schenken rum. Typisch! Ich hoffe sehr, er hat keinen Ärger gemacht, Hauptmann …?«
»Kloin«, antwortete der Mann mit dem Waffenrock zögerlich und musterte ihn von oben bis unten. Ganz recht, dachte Logan. Sieh dir alles genau an. Die kniehohen Reitstiefel, die Kniebundhose aus weißem Hirschleder, der pelzbesetzte Reiseumhang: Logans Kleidung mochte hier und da schon ein bisschen abgetragen sein, aber ihre Hochwertigkeit war nicht zu übersehen. Er war ganz offensichtlich ein Mann von Geld und Rang. Nicht die Art Reisender, mit der man sich anlegte. Hoffentlich.
»Habe die Ehre, Hauptmann Kloin«, sagte er und schlug dabei den einstudierten arroganten Tonfall und den Akzent eines Adligen aus dem westlichen Teil von Terrinoth an. Er hatte sie überrumpelt und so musste es auch bleiben. Beiläufig warf er einem der Soldaten die Zügel zu und ließ sich von Ishbels Rücken gleiten. Mit gekräuselten Lippen trat er durch die Menge und hob mit spitzen Fingern das Papier auf, das Kloin dem Ork vor die Füße geworfen hatte. Während er sich bückte, stellte er sicher, dass jeder den juwelenbesetzten Knauf seines Schwerts und die Silberborte am edlen blau gefärbten Stoff seines maßgeschneiderten Rhynn-Wamses sehen konnte.
»Ich hätte wissen sollen, dass er das verlieren würde«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete und dem Ork das dreckige Papier vor die Nase hielt. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst vorsichtig sein!«
Der Ork regte sich nicht und starrte Logan mit stoischer Miene an.
Der wandte sich an Kloin: »Mein Geleitbrief, falls Ihr ihn sehen wollt. Auch wenn ich fürchte, dass er nun vollkommen unleserlich ist. Ich werde mir beim städtischen Aufseher einen neuen besorgen müssen.« Er machte viel Aufhebens um das schlammverschmierte Papier, sodass die Soldaten sich unweigerlich fragen mussten, ob er gesehen hatte, wie Kloin den Gleitbrief zuvor in den Dreck geworfen hatte. Es schien zu funktionieren.
Kloin nickte. »Ich bitte um Verzeihung, Sir. Uns war nicht bewusst, dass er Euer Lastenträger ist. Wir dachten, er sei nichts weiter als ein Vagabund, der nach Ärger sucht. Davon hatte wir hier eine Menge in letzter Zeit.«
»Ein verständlicher Fehler«, entgegnete Logan schroff. »Mein Dank, dass Ihr ihn für mich gefunden haben, Hauptmann.«
Während er sprach, stellte er kurz Blickkontakt mit dem Ork her, dann stieg er wieder auf Ishbel und nahm die Zügel an sich. Er schnippte mit den Fingern, um den von Soldaten umringten Ork zu sich zu rufen. »Komm, Kruk! Wir haben genug Zeit verschwendet. Wenn ich zu spät zu meiner Verabredung mit dem Leiter der Roc-Zucht komme, musst du dir für den Rest der Woche wieder das Futter mit dem Pferd teilen!«
Nach kurzem Zögern stellte sich der Ork neben Ishbel. Logan griff in eine schwer aussehende Börse am Knauf seines Sattels und warf Kloin eine Silbermünze zu, die der Hauptmann sicher auffing.
»Eine kleine Anerkennung für Eure Hilfe«, erklärte Logan und presste die Waden sanft in die Flanken seines Pferds. »Seid versichert, dass ich bei der Baronin ein gutes Wort für Euch einlegen werde, wenn ich das nächste Mal mit ihr speise.«
Er war gut zehn Schritte gekommen, der Ork immer noch an seiner Seite, als Kloin antwortete: »Sir?«
Logan kämpfte den Drang nieder, seinem Pferd die Sporen zu geben, und fragte sich, ob er es zu weit getrieben hatte. Er drehte sich im Sattel um. »Hauptmann?«
»Seid vorsichtig«, sagte Kloin und begutachtete die Münze. »Dies sind schwere Zeiten in Forthyn. Einige der guten Bürger von Hohenburg sind vielleicht nicht so … aufgeschlossen gegenüber Fremden wie ich. Abenteurer sind hier nicht willkommen.«
Logan brachte ein Lächeln zustande und verfluchte innerlich den arroganten, unfreundlichen Mistkerl. »Keine Sorge, Hauptmann. Wir haben nicht vor, die Gastfreundschaft hier überzustrapazieren.«
•
Er sagte kein Wort zu dem Ork, bis sie in die nächste Straße eingebogen waren und im Schatten einer Gasse anhielten. Logan stieg ab, band den Führstrick der geduldigen Ishbel an eine Anbindestange am Eingang der Gasse. Dann stellte er sicher, dass auf der Straße alles ruhig war, bevor er sich dem Ork zuwandte, der hinter ihm aufragte. »Ich glaube, das gehört dir«, sagte er und griff in seine Tasche. Er zog seinen Geleitbrief hervor, dann den dreckigen, den er Kloin abgenommen hatte, und fand darunter das Papier, das ihn quer durch Terrinoth geführt hatte. Darauf stand in einer behäbigen, aber leserlichen Handschrift eine kurze Nachricht: Erinnere dich an Sudreyr. Wirtshaus Zum Weißen Roc, Hohenburg. Darunter war eine Signatur: ein X, geteilt durch eine vertikale Linie – das Zeichen der Kundschafter der Zerbrochenen Ebene. Logan hielt dem Ork das Papier hin.
»Du bist gekommen«, knurrte der Ork und blickte auf die Nachricht hinab, die er selbst verfasst hatte, nahm sie aber nicht entgegen.
»Dein Glück«, erwiderte Logan. »Gegen sieben Soldaten auf einmal zu kämpfen wäre in deinem Alter ein bisschen übertrieben, Durik.«
Der Ork stürzte sich auf ihn. Bevor er reagieren konnte, fand sich Logan in einer knochenbrecherischen Umarmung wieder. Er japste nach Luft und atmete versehentlich den Moschusgeruch aus der Achsel des Orks ein. Keuchend klopfte er dem großen Kundschafter auf den Rücken. »Das reicht, Kruk«, brachte er hervor.
Durik ließ ihn los und hielt Logan auf Armeslänge von sich, während seine goldenen Augen ihn im düsteren Zwielicht der Gasse musterten. »Du bist alt geworden, kleiner Dieb«, sagte er. »Und du bist immer noch ein halbes Hemd.«
»Für dich immer noch reiches halbes Hemd, Kundschafter«, korrigierte Logan und steckte den Brief wieder in seine Tasche. »Bevor deine kleine Nachricht kam, habe ich gemütlich meinen Ruhestand genossen. Und jetzt bin ich den ganzen Weg hierhergekommen, nur um mich beleidigen zu lassen. Ich sehe, du hast dich nicht verändert!«
Durik lachte über seine gespielte Verärgerung und schlug ihm deftig auf die Schulter. »Und du redest immer noch zu schnell! Ganz wie in alten Zeiten – das wird genauso sein wie früher.«
»Genau das hatte ich befürchtet«, bemerkte Logan. »Verrätst du mir, was ›das‹ ist? Warum schleifst du mich hier raus? Und wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Wie Kundschafter Durik, oberster Fährtenleser des Guk’gor-Stamms und Großmeister der Wildnis, dich gefunden hat?«, wiederholte Durik und bleckte seine beeindruckenden Hauer zu einem Grinsen.
Logan schmollte. »Dann sag mir wenigstens, dass ich nicht in diese miese Gegend gekommen bin, nur um alte Geschichten aufzuwärmen, oh großer Kundschafter. Oder nein, sag mir bitte, dass das genau der Grund ist, warum ich den ganzen Weg hergekommen bin, und dass kein total verrücktes Abenteuer auf uns wartet, das uns am Ende beide umbringen wird.«
»Es geht um einen Auftrag«, antwortete Durik.
»Das hatte ich befürchtet.«
»Wenn du Furcht hättest, wärst du nicht hier, kleiner Dieb.«
»Worum geht’s?«
»Ich zeig’s dir. Steig auf dein Pferd.«
Logan seufzte, folgte aber dem Vorschlag des Orks und band Ishbel los, während Durik ihre weichen Nüstern streichelte und sie mit einem Apfel fütterte, den er aus einer Tasche aus Keilerfell hervorzauberte. Als Logan in den Sattel stieg, kaute sie geräuschvoll darauf herum.
»Falls wir von weiteren erbsenhirnigen Soldaten belästigt werden sollten, überlass mir das Reden«, mahnte er. »Wie du es überhaupt in so eine Stadt geschafft hast, ist mir ein Rätsel.«
»Die Ebenen und Wälder und Berge sind mein Reich«, sagte Durik und trat zur Seite, damit Logan Ishbel zurück auf die Straße reiten konnte. »Aber selbst in so einer Stadt ist es leichter, sich unbemerkt fortzubewegen, als du denkst. Wir müssen Richtung Burg.«
»Zur Burg?« Logan war überrascht. »Du konntest nicht mal in einer Taverne am Osttor untertauchen, ohne von einer Bande Wachen aufgemischt zu werden. Was glaubst du, wie weit du es auf der Esplanade schaffst?«
»Ich habe einen Brief«, sagte Durik.
»Der, von dem der idiotische Hauptmann angenommen hat, dass er eine Fälschung ist? Der, der jetzt zerknüllt und schlammverschmiert in meiner Tasche steckt? Wie bist du innerhalb dieser Mauern überhaupt an einen Geleitbrief rangekommen? Die Stadtwache ist schon Menschen gegenüber nicht besonders gastfreundlich, ganz zu schweigen gegenüber einem alten Nomaden aus der Zerbrochenen Ebene mit mehr Narben als Zähnen.«
»Ich wurde hergerufen«, erwiderte der Ork schlicht.
»Du wurdest nach Forthyn gerufen?«, wunderte sich Logan. Sie folgten dem Lauf der ansteigenden Straße und kamen an einem kleinen Hof vorbei, in dem die Lehrlinge eines Radmachers Eisenplanken bearbeiteten. Logan musste sich zwingen, seine Stimme gesenkt zu halten. »Wer hat dich hergerufen?«, wollte er wissen.
»Baronin Adelynn.«
»Die Regentin eines der zwölf Baronate von Forthyn hat dich, einen Ork aus der Zerbrochenen Ebene, zu ihrer Zitadelle beordert?«
»Sie hat einen Meisterfährtenleser und Helden der verlorenen Stadt von Sudanya gerufen«, korrigierte ihn Durik.
»Tja, kein Wunder, dass diese Soldaten dachten, das Schreiben wäre eine Fälschung. Bei Kellos Flammen, auf was hab ich mich da eingelassen?«
Durik erwiderte nichts, während er neben Ishbel herging.
Logan kam plötzlich ein Gedanke, der eine Mischung aus Sorge und Hoffnung in ihm aufsteigen ließ. »Ist Desra hier?«, fragte er. »Oder Ulma?«
»Ich habe euch allen die gleiche Nachricht geschickt«, antwortete Durik. »Die kleine Alchemistin hat als Erste geantwortet. Sie ist vor drei Tagen angekommen und ist gestern nach Ober-Forthyn aufgebrochen. Sie reist uns voraus.«
»Bei der Liebe aller Götter, was wollen wir denn in Ober-Forthyn? Das ist der einzige Ort, den ich mir vorstellen kann, der noch unwirtlicher ist als das hier. Und was ist mit Desra?«
»Die Zauberin hat nicht geantwortet«, erwiderte Durik. »Ich fürchte, mein Brief hat sie nicht erreicht.«
»Bist wohl doch kein so großer Fährtenleser, was?«, stichelte Logan.
Durik schwieg.
Zu ihrer Linken öffnete sich die Straße zu einem ebenerdigen Platz, der sich vor den Spitzbogenfenstern und dem beeindruckenden Uhrenturm eines Gebäudes erstreckte, bei dem es sich nach Logans Vermutung um die Hauptgildenhalle von Hohenburg handeln musste. Auf dem Platz war der Nachmittagsmarkt in vollem Gange, der wie eine künstliche Miniaturstadt wirkte – Wagen mit offenen Seitenflächen und bewegliche Stände bildeten ein Netz aus kleinen Straßen und Gassen, geschmückt mit Fellen und Teppichen und dazwischen bunte Seide und exotische Stickereien. Der Geruch von frischem Fleisch und Fisch, Gewürzen und Dung hing schwer in der Luft, die erfüllt war vom Geplapper der Feilscher, den Rufen der Verkäufer und dem Muhen des Viehs in den Verschlägen. Es war, überlegte Logan, die perfekte Darstellung einer lauten, stinkenden, dreckigen Provinzstadt.
Sie waren gezwungen, einer Herde von Keilern Platz zu machen, die die Straße herabgetrieben wurde. Das struppige rote Fell an ihrem Bauch war mit Dreck verkrustet und ihr heißer Atem bildete kleine Dampfwolken im kalten Sonnenlicht. Sie wurden von zwei Mitgliedern der nördlichen Clans getrieben. Beide waren jung und ihre Stirn war mit blauer Waidasche bemalt. Sie scheuchten die Tiere mit Stöcken vor sich her und brüllten sie in einer Sprache an, die Logan nicht verstand. Er sah, dass die drei Stadtwachen, die den Eingang zum Platz bewachten, die Viehtreiber finster musterten, und mit einem Mal war er dankbar, dass die Jungs da waren – solange die Soldaten von Hohenburg mit ihrer Abneigung gegen die nördlichen Clans beschäftigt waren, achteten sie wenigstens nicht auf Durik. Logan lenkte Ishbel wieder auf die Straße, nachdem die Herde vorbeigezogen war, und verzog das Gesicht, als er bemerkte, dass ihre Hufe den Schlamm und den Mist zu glitschigem Morast zertrampelt hatten.
Nun erhoben sich die obersten Hänge der Stadt vor ihnen. Hohenburg lag an einem steilen Berg, dem die Stadt ihren Namen verdankte. Die Straßen ganz unten an der Mauer, die den Fuß des Berges säumte, waren erwartungsgemäß die ärmsten. Je höher ein Reisender kam, desto wohlhabender wurde seine Umgebung. Hier, im Schatten des Gipfelfelsens, auf dem die Zitadelle der Stadt thronte, waren die Häuser breiter und regelmäßiger, mit Schieferdächern und verzierten Außenwänden, in die Rocs, Drachen, Jagdhunde und Rehe geschnitzt waren. Einige waren sogar aus Stein erbaut. Außerdem waren weniger Leute unterwegs und ihr vornehmer Kleidungsstil fiel Logan sofort ins Auge – natürlich kamen ihre Gewänder nicht an die Qualität seiner eigenen Kleidung heran, doch was er sah, entsprach eher dem, was man von den Bewohnern der Hauptstadt eines Baronats von Terrinoth erwarten würde. Einige Passanten nickten ihm sogar zu, auch wenn sie einen weiten Bogen um Durik machten. In Nieder-Forthyn dienten Orks hauptsächlich als Leibwachen, gedungene Schläger oder Lastenträger. Aber das lieferte ihnen zumindest eine glaubwürdige Geschichte. Schließlich waren Gerüchte, die die Runde machten, dass Durik der Kundschafter in Forthyn in Begleitung eines gut aussehenden alten menschlichen Diebs gesichtet worden war, nun wirklich das Letzte, was er gerade gebrauchen konnte.
Logan hatte gerade angefangen, sich zu entspannen, und warf zwei jungen Frauen, die den Ork mit großen Augen anstarrten, ein Lächeln zu, als er die Esplanade der Burg erblickte. Eine offene, gepflasterte Fläche führte hinauf zu der Felsklippe, auf der die Zitadelle thronte – ein Paradeplatz oder eine Todeszone, je nachdem, was gerade erforderlich war. Rechts davon stand ein gedrungener Turm, der als Wachhaus und Hauptquartier der Stadtwache diente. Vor ihnen ragte die Zitadelle selbst auf: Glatte graue Wände ragten über dem glatten grauen Fels auf, flankiert von zwei runden Türmen, zwischen denen sich ein hölzerner Wehrgang mit Pechnasen erstreckte. Wimpel mit den Wappen von Hohenburg, Forthyn sowie denen der Gilden und Ratsmitglieder der Stadt wehten auf ihren Mauern, während über dem Wohnturm, der den Felsen krönte, ein Seidenbanner mit dem persönlichen Wappen der Baronin Adelynn im herbstlichen Sonnenlicht erstrahlte. Am Ende der Esplanade führte eine herabgelassene Zugbrücke über den Abgrund, der in den Steilhang gegraben war, zum Torhaus, das Fallgitter dahinter war hochgezogen. Zwischen ihnen und dem offenen Tor befand sich jedoch eine ganze Reihe Soldaten und Wachen.
Logan schluckte. »Mein Geleitbrief reicht nicht, um in die verdammte Zitadelle zu gelangen«, murmelte er Durik zu. »Wie sollen wir mit nichts weiter als einem zerstörten Stück Papier da reinkommen?«
»Ich dachte, du könntest uns mit deiner Silberzunge den Weg frei machen«, erwiderte Durik, als wäre es das Offensichtlichste auf der Welt.
»Bei der Liebe von Fortuna«, knurrte Logan. »Du bist derjenige, der persönlich von der Baronin herbeordert wurde, nicht ich! Ich bin nur ein sehr reicher, sehr im Ruhestand lebender Mann. Ich weiß nicht mal, was ich hier soll … Ah, Hauptmann!«
Die letzten Worte galten dem Soldaten, der gerade aus dem Wachhaus getreten war, als sie vorbeikamen. Es war Kloin. Er trug ein Lächeln zur Schau, das alles andere als freundlich wirkte.
»So trifft man sich wieder, Lord Durik«, grüßte er und ging neben ihnen her die Esplanade hinauf. »Durik stimmt doch, oder? Ich meine, mich an diesen Namen von Eurem Geleitbrief zu erinnern. Ihr habt gesagt, Ihr hättet ihn dem Ork gegeben, aber er gehört Euch, nicht wahr? Das habt Ihr doch gesagt?«
Der Hauptmann sprach weiter, bevor Logan antworten konnte. Bei seinem arroganten Tonfall musste der Dieb den Drang niederringen, auf ihn loszugehen. »Komischer Name, wenn ich das so sagen darf, Sir. Klingt in meinen Ohren ein bisschen … orkisch. Wenn ich das so sagen darf.«
Logan versuchte, seine Angst hinter einem finsteren Blick zu verbergen, während er in seiner Tasche nach dem Geleitbrief angelte. Er tat so, als hätte er Mühe, den Zettel zu finden, während er sicherstellte, dass der Dreck Duriks Namen vollständig überdeckte. Seit er in Hohenburg angekommen war, hatte er es bereut, unter einem falschen Namen zu reisen – mehrere zügellose Banden von Schuldeneintreibern auf der Straße nach Osten hatten diese Finte notwendig gemacht. Doch jetzt verkomplizierte sie die Dinge nur unnötig.
»Der Name ist Dur-Roc, Hauptmann«, sagte er gebieterisch. »Einen solchen Namen solltet Ihr nicht vergessen. Meine Mutter ist eine Cousine zweiten Grades der Baronin. Nicht dass man den Namen jetzt noch lesen könnte, dank Eurer Ungeschicklichkeit vorhin.« Er wedelte mit dem zerstörten Dokument vor Kloins Gesicht herum.
Der Hauptmann lächelte weiterhin. »Mein Fehler, Sir. Aber es ist schon seltsam. Ausgesprochen ungewöhnlich. Ich bin vor ein paar Minuten in die Offiziersmesse zurückgekehrt. Und wie es der Zufall so will, war auch die letzte Wachschicht am Stadttor gerade zurück. Ein paar der Jungs meinten, vor Kurzem wäre ein Gentleman in der Stadt angekommen, merkwürdiger Typ. Laut seinem Geleitbrief war sein Name Gelbin. Auch nicht von hier. Vom Typ her aus West-Terrinoth. Reich, aber offenbar nicht aus altem Geldadel. Ein wenig vulgär, Ihr wisst schon. Hatte ein bisschen was von einem Gauner. Wenn ich so darüber nachdenke … Die Beschreibung passt ziemlich gut auf Euch, Sir.«
Die Zugbrücke war kaum ein Dutzend Schritte entfernt und die Fangzähne des Fallgitters hingen bedrohlich darüber, als sei das Torhaus ein riesiges Maul. Kloin legte eine Hand auf Ishbels Zaumzeug und zwang sie zum Anhalten. Drei Soldaten in schweren Plattenpanzern und mit Streitkolben bewaffnet kamen durch das Tor auf sie zu.
»Das ist eine Unverschämtheit«, empörte sich Logan, der zu dem Schluss gekommen war, dass die Nummer mit dem aufgebrachten Adeligen wohl seine einzige Hoffnung war.
Doch Kloin unterbrach ihn: »Ich glaube nicht, dass dein Name Durik ist«, sagte er. »Das ist vielleicht der Name deines Ork-Freunds, aber nicht deiner. Und tatsächlich glaube ich auch nicht, dass du Gelbin heißt.«
»Gibt’s Probleme, Hauptmann?«, fragte einer der gepanzerten Soldaten, als er näher kam.
Kloins Lächeln wurde breiter und er ließ Logan nicht aus den Augen, als er antwortete: »Das will ich doch hoffen.«
»Hört mal, Hauptmann«, sagte Logan. Er gab sein Schauspiel auf, lehnte sich fast schon verschwörerisch im Sattel zur Seite und senkte die Stimme. »Ihr steht kurz davor, einen sehr bedauerlichen Fehler zu machen. Bedauerlich für Euch, nicht für mich, damit wir uns richtig verstehen. Lasst uns passieren und wir vergessen sowohl diesen als auch den kleinen Zwischenfall vorhin unten in der Stadt.«
»Einschüchterungsversuche kann ich noch weniger leiden als Tricksereien«, entgegnete Kloin und sein Lächeln verschwand wie der Frost im Frühling. »Ich weiß nicht, wer ihr beide seid oder was ihr damit erreichen wollt, euch in die Zitadelle zu schleichen, aber ich werde es herausfinden. Vorzugsweise so langsam und qualvoll wie möglich.«
Er drehte sich zu den Soldaten, die angerückt waren, und deutete auf Logan. »Verhaftet die beiden!«
Logan legte die Hand auf den Griff seines Schwerts und Durik griff mit gebleckten Stoßzähnen nach seinem Dolch. Weiter kamen sie jedoch nicht, bevor ein wütender Ruf die Luft zerriss. »Kloin!«
Logan beobachtete, wie der Hauptmann mit einem Ausdruck purer Frustration die Augen schloss, und musste sich zusammenreißen, seine eigene Erleichterung nicht zu zeigen, als der Mann sich zum offenen Tor der Zitadelle umdrehte. Dort stand, umgeben von einigen weiteren Soldaten, eine ältere Frau. Sie war groß und hager, eingehüllt in den dicken Pelz eines Keilers, den sie über mehreren Schichten hauchzarter Seide trug. Wie ihre Kleidung war ihr Haar silbergrau und sie trug es lang, fast bis zur Taille. Ihre Züge waren streng, hochmütig und hatten etwas Adeliges an sich. Logan vermutete, in ihrer Jugend war sie sehr schön und außerdem daran gewöhnt gewesen, dass man jedes Wort von ihr befolgte. Er hatte jedoch keinen Zweifel, dass Letzteres immer noch der Fall war.
»Was tut Ihr da, Hauptmann Kloin?«, verlangte sie mit fester Stimme zu wissen und schritt aus den Schatten des Torhauses über die Zugbrücke.
»Lady Damhán!«, rief Kloin und rang sich ein Lächeln ab. »Ich dachte, Ihr würdet der Mittagsversammlung der Gilde beiwohnen.«
»Ihr klingt, als hättet Ihr nicht erwartet, mich zu sehen, Kloin«, stellte die Frau fest. »Oder als würdet Ihr Euch wünschen, mir nicht begegnet zu sein. Warum haltet Ihr die Gäste der Baronin auf?«
»Mir war nicht bewusst, dass es sich um Gäste der Baronin handelt«, erwiderte Kloin und seine Miene verfinsterte sich. Es war offensichtlich, worauf das Ganze hinauslief. Logan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Habt Ihr ihm den Geleitbrief gezeigt, den ich Euch gegeben habe?«, fragte die Frau Durik. Sie hatte die Zugbrücke überquert und trat zu ihnen. Trotz ihrer scheinbaren Zerbrechlichkeit blickte sie dem Ork direkt in die Augen, während sie sprach. Sie war fast so groß wie er.
»Der Hauptmann hatte Schwierigkeiten, uns zu glauben, dass wir die sind, für die wir uns ausgeben«, erklärte Logan mit einem Seitenblick auf den hilflosen Kloin.
Die Frau richtete ihren Blick auf ihn und er konnte ihm nur mit Mühe standhalten. »Es ist schwer zu beurteilen, wie schwer dieses Vergehen wiegt, da ich selbst nicht weiß, wer Ihr seid«, sagte sie. »Auch wenn die Anzeichen darauf hindeuten, dass Ihr Logan Lashley sein müsst, ehemaliger Dieb, jetzt der Herr von Sechsjoch. Liege ich richtig?«
»Zu Euren Diensten, Mylady«, erwiderte Logan mit einer leichten Verbeugung, während er sich fragte, was ihn verraten hatte. Er würde mit Durik ein Wörtchen darüber reden müssen, seinen Auftraggebern nicht dermaßen leichtfertig seinen Namen zu verraten. Schließlich wollte er auf keinen Fall, dass einer dieser verdammten Schuldeneintreiber seine Fährte wieder aufnahm.
»Mein Name ist Lady Damhán«, stellte die Frau sich vor. »Und wenn Ihr dann fertig wärt, Euch vom Hauptmann hier schikanieren zu lassen, haben wir ein Ratstreffen zu unterbrechen.«
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Damhán um und stakste über die Zugbrücke davon. Logan wechselte einen Blick mit Durik, der nur mit den Schultern zuckte.
»Logan Lashley«, stutzte Kloin. »Der Logan Lashley von Sechsjoch? Einer des Grenzmark-Quartetts?«
»Wenn Ihr ein paar meiner Abenteuergeschichten hören wollt, wisst Ihr ja, wo Ihr mich findet«, sagte Logan und tätschelte Kloins Helm, bevor er Ishbel über die Brücke trieb. Durik folgte ihm.
»Wir werden uns wiedersehen, Logan«, rief Kloin ihm mit finsterer Stimme hinterher.
Logan drehte sich nicht um, machte aber eine obszöne Geste über seine Schulter. Dann verschluckten ihn die Schatten des Torhauses.
Durik wartete im Torhaus der Zitadelle, während Logan abstieg. Der Burghof war ein kleines Rechteck aus platt gestampfter Erde, das zum Gipfelfelsen führte, auf dem der zentrale Wohnturm thronte. Rechts befanden sich hölzerne Verschläge, die Duriks Vermutung nach als Pferdeställe und Pferche fürs Vieh dienten. Links an der Innenseite der Ringmauer standen Holzbaracken aus Forthyn-Kiefer.
Ein Stalljunge nahm Logans Pferd entgegen. Durik wartete, bis Logan unter Lady Damháns wachsamem Blick seinen Umhang gerichtet hatte.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Kundschafter Durik Euch unterrichtet hat, warum Ihr hier seid, Meister Lashley?«, fragte sie.
»Eigentlich nicht«, antwortete Logan und rückte die teuer aussehende Schnalle seines Umhangs zurecht. »Bisher hat mir leider niemand irgendetwas erzählt.«
»Ich dachte, es wäre besser, wenn es von derjenigen käme, die mich ursprünglich angeheuert hat«, erklärte Durik.
»Das mag sein«, entgegnete Lady Damhán, die einen Moment über die Worte des Orks nachzudenken schien, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und auf den Wohnturm zumarschierte.
»Kommt!«, rief sie ihnen über die Schulter zu. »Jetzt, da Euer Gefährte eingetroffen ist, Kundschafter, wird die Baronin Euch persönlich empfangen wollen.«
»Meinte dieser schreckliche Hauptmann nicht, sie säße in einer Ratsversammlung?«, fragte Logan, während er hinter ihr hereilte.
»Das hat er und das tut sie«, erwiderte Damhán, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. »Und ich sollte bei ihr sein. Aber ihre Anweisungen waren eindeutig. Ich sollte nach Eurer Ankunft Ausschau halten und sie sofort informieren, Ratsversammlung hin oder her. Wir haben schon eine ganze Weile auf Euch gewartet, Meister Lashley.«
»Ich will nicht leugnen, dass ›Meister‹ gut klingt, aber bitte, nennt mich einfach Logan«, sagte er und schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln.
Damhán reagierte nicht darauf.
Durik folgte den beiden den kurzen, steilen Weg zum Eingang des Wohnturms hinauf und fragte sich dabei, ob er das Richtige getan hatte. Briefe an Logan, Ulma und Desra zu schicken war ein Risiko gewesen. Die Aufgabe, für die man ihn engagiert hatte, erforderte schnelles Handeln – von der zweiwöchigen Verzögerung war die Baronin gar nicht erfreut gewesen. Aber Durik hatte die Einbeziehung seiner alten Freunde zu einer nicht verhandelbaren Bedingung seiner Anstellung gemacht und dankenswerterweise hatte sich Lady Damhán dafür ausgesprochen, seine alten Wegbegleiter miteinzubeziehen. Es hatte den Anschein, dass Baronin Adelynn, wenn sie schon bereit war, den berühmtesten Ork-Kundschafter in Terrinoth anzuheuern, auch froh war, das gesamte Grenzmark-Quartett in ihren Diensten zu wissen. Sie hatte Durik bereits erklärt, dass sie bei dieser Aufgabe weder Kosten noch Mühen scheuen würde.
Damhán führte sie in die Eingangshalle des Wohnturms der Hohenburg, einen zugigen Raum aus Stein, der sich weit bis nach oben erstreckte und dort von sich kreuzenden Sparren und hölzernen Laufgängen durchzogen war. Zwei Bedienstete eilten mit Körben voll dreckiger Wäsche an ihnen vorbei. Damhán ging weiter zu einer hölzernen Treppe am gegenüberliegenden Ende der Halle und hinauf in den ersten Stock. Hier erwartete sie ein Holzfußboden, der mit Fellteppichen ausgelegt war. Durch drei Schießscharten in der Außenwand fiel Tageslicht herein. Gegenüber der Treppe befand sich eine Tür. An der Rückwand des Raumes dahinter befand sich ein großer Kamin, dessen Feuer schon fast heruntergebrannt war. Darüber hing ein aus Stein gemeißelter Roc, über die Jahrhunderte vom Rauch geschwärzt.
»Wartet hier«, befahl Lady Damhán. Sie öffnete die gegenüberliegende Tür und Durik konnte einige Gesprächsfetzen auffangen, bevor die Tür hinter ihr zufiel.
»Die ist ja wirklich charmant«, kommentierte Logan und stellte sich ans Feuer.
»Sie ist der Grund, warum wir hier sind«, erwiderte Durik. »Es war Lady Damhán, die der Baronin meine Fähigkeiten angepriesen hat.«
»Und wer hat mich angepriesen?«, fragte Logan.
»Ich. Und Lady Damhán hat mir zugestimmt.«
»Heißt das, die Baronin nicht?«
»Ich denke, das werden wir gleich rausfinden.«
Logan knurrte und blickte bedauernd auf seine schlammbespritzten Stiefel. Unbemerkt stahl sich ein Lächeln auf Duriks Lippen. Er mochte vielleicht ergraut und ein bisschen dünner und gebeugter sein, aber Logan Lashley war immer noch derselbe Dieb, den der Ork während seiner Abenteuer in Terrinoth kennengelernt hatte. Diese Tage in Sudanya, in den sonnenverbrannten Ruinen und den dunklen, gruseligen, wimmelnden Tunneln darunter hatten sie zusammengeschweißt, die Fäden ihres Schicksals zu einem einzigen stabilen Seil verwoben. Durik hatte gewusst, dass er kommen würde, sobald die Nachricht ihn erreicht hatte. Dennoch freute er sich insgeheim, ihn wiederzusehen. Ihre letzte Begegnung war lange her und jedes weitere Jahr hatte sich länger angefühlt als das letzte.
Er stellte sich neben Logan an den Kamin und lächelte noch immer vor sich hin – mit dem Alter waren die physischen Unterschiede zwischen ihnen nur noch deutlicher geworden. Logan war das Abbild eines reichen Terrinothers, der sich sein Vermögen selbst erarbeitet hatte, Durik dagegen war durch und durch ein Fährtenleser der Zerbrochenen Ebene. Er war breitschultrig und muskulös, Knotentattoos der Guk’gor zierten seine kräftigen Oberarme und Oberschenkel. Um die Schultern trug er Felle und Federschmuck. Er fragte sich, ob Logan die Veränderungen aufgefallen waren, die die Jahre mit sich gebracht hatten – seine dunkelgraue Haut war blasser und ledriger und sein Haarknoten war schneeweiß geworden. Und dann waren da noch die Narben. Zumindest auf die war er stolz.
»Wir sind schon ein ungewöhnliches Duo, kleiner Dieb«, sagte er.
Logan blickte auf und seine Augen verengten sich. »Werd jetzt bloß nicht sentimental, Kundschafter. Dieser Ort ist auch so schon deprimierend genug.«
»Du bist verweichlicht.«
»Im Vergleich zu dir ist jeder verweichlicht«, entgegnete Logan und sein Blick wanderte zu der sterbenden Glut vor ihm. Plötzlich wirkte er sehr alt. Durik spürte einen Stich des Bedauerns. Vielleicht war es falsch gewesen, ihn hierherzubestellen, ihn von Haus und Hof wegzuzerren, dem Ort, den er sich mit dem Gold erschaffen hatte, das sie vor all den Jahren erlangt hatten. Durik unterdrückte das plötzliche Schuldgefühl. Allein würde er das nicht schaffen. Es gab Wildnisse, die sogar für ihn zu weitläufig waren, als dass er sie völlig auf sich gestellt hätte durchqueren können. Ganz zu schweigen von den Hindernissen, die ihm in den kommenden Tagen durch Menschen in den Weg gelegt werden würden. In der Gegend, in die sie reisen würden, waren Orks nur selten willkommen.
»Wie geht es Ulma?«, fragte Logan aus dem Blauen heraus, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Ich weiß, wir haben uns nicht gerade im Guten getrennt, aber musste sie wirklich bis nach Ober-Forthyn reisen, statt mich hier zu treffen?«
»Ich habe dir doch schon gesagt, dass sie vor dir eingetroffen ist«, sagte Durik. »Mein Brief hat sie gleich hinter der Grenze, in Dhernas, erreicht.«
»Führt sie immer noch diese lächerlichen Experimente durch? Ich bin ehrlich schockiert, dass sie es noch nicht geschafft hat, sich selbst in die Luft zu jagen.«
»Sie … hat sich nicht sehr verändert. Die Baronin hat verlangt, dass sie mit den Ermittlungen beginnt, während ich hier auf dich warte. Also ist sie schon mal vorgegangen.«
»Und was ermittelt sie?«, wollte Logan wissen.
Bevor Durik antworten konnte, hörten sie eine aufgeregte Stimme hinter der Tür, durch die Lady Damhán verschwunden war. Die Worte waren unverständlich, klangen aber definitiv aufgebracht. Sie tauschten einen Blick aus.
»Klingt, als hätte die graue Dame jemanden wütend gemacht«, murmelte Logan.
»Lady Damhán ist eine wichtige Verbündete«, sagte Durik. »Ohne sie wäre keiner von uns hier.«
»Ich bin nicht so sicher, ob das was Gutes ist, Durik«, entgegnete Logan.
Nur Sekunden später schwang die Tür auf. Eine Wache in der Livree der Baronin trat heraus und nahm Haltung an, während ein Strom von Gestalten an ihr vorbeiging. Es handelte sich um etwa ein Dutzend älterer Herren, ein paar von ihnen recht untersetzt. Alle trugen wattierte, bestickte Hemden oder pelzbesetzte Wämser, Federkappen und Chaperons zierten ihre Köpfe. Logan verbeugte sich vor jenen, die in seine Richtung blickten. Durik dagegen beobachtete sie mit unbewegter Miene. Die Blicke, die sie ihnen zuwarfen, waren finster.
»Ich vermute, dass sind die Ratsmitglieder«, zischte Logan Durik zu, als der letzte von ihnen die Treppe hinunterstieg.
»Sie scheinen … nicht glücklich zu sein«, erwiderte Durik.
»Sie sind sauer, weil ich gerade ihre wöchentliche Ratssitzung mit der Baronin unterbrochen habe«, erklärte Lady Damhán, die in der Tür stand wie ein grauer Geist, der das Heim seiner Ahnen bewacht.
»Ihr dürft eintreten«, fuhr sie fort und bat sie mit einer Geste herein. Logan warf Durik einen Blick zu, bevor er ihm durch die Tür folgte. Die Wache schloss sie hinter ihnen.
Die Kammer dahinter war eindeutig dazu entworfen worden, jeden Besucher zu beeindrucken. Eine gewölbte Decke erhob sich über einem langen Holztisch, flankiert von Stühlen, deren hohe Lehne einem wütenden Roc nachempfunden war. Die Wände waren mit Wandteppichen behängt, auf denen Jagd- und Schlachtszenen sowie Ereignisse aus Forthyns Geschichte abgebildet waren, die Durik nichts sagten – ein Elf und ein Mensch, die unter einem Halbmond getraut wurden, ein Drache, der von einem Bogenschützen mit goldenem Haar niedergestreckt wurde, ein schiefer Turm, der hoch oben in den Bergen thronte. Vom anderen Ende des Raums, wo blaue Vorhänge einen Balkon halb verdeckten, der offenbar aus der Nordseite der Festung herausragte, fiel Tageslicht herein. Durik war schon einmal in diesem Saal gewesen, als er der Baronin Adelynn das erste Mal begegnet war. Er warf Logan einen Seitenblick zu. Der alte Dieb schien sich von seiner Umgebung nicht beeindrucken zu lassen – sein Blick war auf die zwei Gestalten auf der anderen Seite des Tisches gerichtet.
Einer war ein übergewichtiger, bärtiger Mann in einer kurzen roten Jacke, die sich über seinen imposanten Bauch spannte. Ein goldbestickter Umhang hing über seiner linken Schulter und eine kleine Fellmütze saß seitlich auf seinem Kopf. Er sprach mit der zweiten Gestalt, einer Frau so groß und erhaben wie Damhán, die eine Tunika in Dunkelbraun- und Goldtönen trug und Röcke, die bis zum Boden reichten. Um ihre Schultern lag ein schwerer Mantel aus weißen Rocfedern, die im Licht, das durch die Vorhänge hinter ihr hereinfiel, erstrahlten. Ihr Haar, das um ihren Kopf herum aufgesteckt war, war haselnussbraun und mit weißen Strähnen durchzogen. Ihr Gesicht war blass mit vollen Lippen und einem willensstarken Ausdruck. An ihrer Hüfte hing ein Schwert. Ihre grauen Augen richteten sich auf Logan und Durik, als Lady Damhán sie vorstellte.
Durik verbeugte sich und Logan beeilte sich, es ihm nachzutun – mit Sicherheit hatte der Dieb inzwischen erraten, wen er hier vor sich hatte.
»Die Baronin Adelynn«, verkündete Lady Damhán.
»Willkommen zurück in meinen Hallen, Kundschafter Durik«, sagte die Baronin. Ihre Stimme war klar und fest. Wie Damhán schien sie offensichtlich daran gewöhnt, Befehle zu erteilen.
Durik nickte lediglich.
»Und auch Euch heiße ich willkommen, Logan Lashley von Sechsjoch«, fuhr Adelynn fort. »Wie ich höre, seid Ihr gerade erst in Hohenburg eingetroffen? Ich hoffe, Euch gefallen die Stadt und die Zitadelle?«
»Eine angenehme Abwechslung nach der Kargheit der westlichen Baronate, Mylady«, erwiderte Logan und verbeugte sich erneut, dieses Mal mit einem Lächeln. »Ich stehe zu Euren Diensten.«
»Dann kann ich mich wahrhaft glücklich schätzen«, erklärte Adelynn. »Ihr müsst müde von der Reise sein. Essen und eine Unterkunft werden in diesem Augenblick für Euch vorbereitet.«
»Beides ist mehr als willkommen«, versicherte Logan. »Aber, wenn Ihr gestattet, drängt es mich doch, erst über dringendere Angelegenheiten zu sprechen.«
»Ihr sprecht von dem Grund, warum Ihr hier seid«, stellte Adelynn fest. »Stimmt es, dass Ihr nur aufgrund von ein paar Worten des Kundschafters hergekommen seid?«
»Ein paar Worte eines treuen Freunds«, erwiderte Logan. »Für Durik würde ich über das Nebelmeer reisen. Wir haben einander öfter das Leben gerettet, als ich zählen kann.«
Durik versuchte, nicht mit den Augen zu rollen, und überschlug im Kopf, wie oft er von Logan gerettet worden war. Ein einziges Mal. Nun, höchstens zweimal, wenn er den Vorfall mit den Uthuk Y’llan auf den Thalian-Lichtungen mitzählte.
Logan redete immer noch. »Ich kann jedoch nicht leugnen, Mylady, dass die Frage, welche geheimen Umstände mich hierhergebracht haben, schwer auf mir lastet.«
Adelynn nickte. »Wenn Ihr noch nicht wisst, worum es geht, kann ich nur davon ausgehen, dass die Gerüchte die Gebiete westlich der Schattenhöhen noch nicht erreicht haben«, sagte sie. »Zumindest das beruhigt mich ein wenig.«
»Die Gerüchte, Mylady?«
Adelynn wechselte einen kurzen Blick mit Lady Damhán und wandte sich dann wieder an Logan und Durik. »Folgt mir.« Sie drehte sich um und trat, begleitet von dem dicken, rot gekleideten Mann, auf den Balkon hinaus.
Durik, Logan und Damhán folgten ihnen, wobei Durik sich unter den blauen Vorhängen hinwegducken musste. Sofort erkannte er, dass es sich bei dem Bereich dahinter weniger um einen Balkon, als vielmehr einen Horst handelte.
Eine riesige, halbkreisförmige Steinplattform ragte aus der Nordseite des Wohnturms der Hohenburg hervor, weit oberhalb des Felsens, auf dem der Turm stand. Unter ihnen wanden sich die Straßen der Stadt den Berg hinab, begleitet von Reihen um Reihen von Dächern und rauchenden Schornsteinen, unterbrochen nur von der gigantischen goldenen Kuppel des Tempels von Kellos. Schließlich endeten sie an der äußeren Mauer, auf der Banner aus blauer und goldener Seide flatterten, und dahinter erstreckte sich der grün-braune Flickenteppich der Felder und Wälder von Zentral-Forthyn. In der Ferne konnte man als schwarzen Fleck die südlichen Ausläufer des Finsterbruchwaldes ausmachen.
Der Wind schlug der Gruppe entgegen, als sie nach draußen trat, und zerrte an ihren Umhängen und Haaren und zerzauste den Federmantel von Baronin Adelynn. Nur Durik zog seinen Pelz nicht enger um die Schultern. Er atmete tief ein und genoss die Kälte. Hier oben war die Luft sauber und klar – Durik hasste das schale Innere jedes Gebäudes, hasste alles, was ihn einengte und ihn von der Wildnis trennte, die sein Zuhause war. Die zwei Wochen, während er auf Logan gewartet hatte, waren schwierig für ihn gewesen, aber hier oben konnte er die Freiheit beinahe schmecken.
»Wisst Ihr, wofür dieser Ort gedacht ist?«, fragte die Baronin Logan.
»Ich könnte eine Vermutung anstellen, Mylady«, erwiderte dieser. »Es ist viele Jahre her, seit ich zuletzt die Kreatur gesehen habe, für die Euer Baronat berühmt ist.«
»Ich gehe davon aus, dass sich das heute ändern wird«, sagte die Baronin und trat an den Rand der Plattform. Durik bemerkte kleine Gegenstände, die auf dem Steinboden verstreut lagen – Knochenfragmente. Er kniete sich hin, um eines davon aufzuheben und es zu betrachten. Eine schmale Hasenrippe, die Krallenspuren aufwies. Oder genauer gesagt Klauenspuren.
»Erkennt Ihr die Kerben, Kundschafter?«
Durik sah auf, als er merkte, dass Adelynn mit ihm gesprochen hatte. Er nickte, legte den Knochen wieder hin und richtete sich auf.
Eine Weile stand die Gruppe schweigend da. Logan schielte zu Durik herüber und versuchte eindeutig, ihn dazu zu bringen, die Baronin zu fragen, wie lange sie noch hier draußen im schneidenden Wind rumstehen sollten. Durik ließ ihn zappeln. Es war offensichtlich, dass die Baronin Eindruck schinden wollte – andernfalls hätte sie die Versammlung mit den reichsten Ratsherren der Stadt sicher nicht abgebrochen. Außerdem gab es in jeder Baronatshauptstadt zahllose lauschende Ohren. Was jedoch hier draußen gesagt wurde, wurde vom Wind davongetragen.
Nach einiger Zeit hörte er einen lang gezogenen Schrei, der auf dem Wind herübergetragen wurde. Er blickte auf. Das Geräusch war zu weit entfernt, als dass die anderen es hätten wahrnehmen können, aber Durik, der nach Jahrzehnten des Fährtenlesens auf die Klänge der Wildnis eingestimmt war, erkannte das Geräusch sofort.
Ein zweiter Schrei durchschnitt den Herbstwind. Dieses Mal hörten ihn auch die anderen. Logan wirkte angespannt und zog sich zurück, bis er neben Damhán und dem dicken Mann stand, die am Eingang zur Ratskammer warteten. Durik erkannte, dass Adelynn lächelte, auch wenn es ein trauriges Lächeln war.
Der Umriss eines Wesens, größer als ein Mensch, schoss blitzschnell um die Ostseite des Turms. Durik hörte, wie Logan erschrocken nach Luft schnappte, als es auf den Balkon zuhielt. Im letzten Moment breitete es die riesigen Flügel aus und das Schlagen der mächtigen Schwingen riss an Duriks Pelzen und zerrte an den Röcken der Baronin. Das kalte Sonnenlicht glitzerte auf den goldenen Federn der riesigen Kreatur, als sie auf der Brüstung des Balkons landete und ihre Krallen sich in den zerkratzten Stein gruben.
»Beim Glanze Kellos’«, stammelte Logan und wich vor dem gefiederten Geschöpf zurück. Vom Aussehen her erinnerte es an einen goldenen Adler und sein Blick war sowohl majestätisch als auch neugierig, als es zwischen Durik und Logan hin- und herblickte. Es war ein Roc und Durik wusste, dass er, obwohl er so groß wie er war, noch nicht ausgewachsen war.
Die Kreatur stieß einen weiteren Schrei aus, ein ohrenbetäubendes Geräusch, das weit über Hohenburg hinwegschallte. Baronin Adelynn trat an ihre Seite und strich mit den Fingern durch das dichte Gefieder an ihrem Hals.
»Ihr Name ist Amara«, sagte Adelynn und blickte zu Durik und Logan zurück. »Nach meiner Großmutter. Sie ist jetzt fast ausgewachsen. In zwei, vielleicht drei Wochen wird sie zu den Horsten in den Hügeln der Heulenden Riesen aufbrechen und dort einen Partner finden. Gerold, komm.«
Die letzten Worte waren an den dicken Mann gerichtet, der mit offensichtlichem Unbehagen näher trat. Erst jetzt fiel Durik auf, dass Amara etwas in ihren Klauen trug – einen zerfetzten Kadaver, aus dem langsam Blut über die Balkonbrüstung rann. Der verfilzten Wolle nach zu urteilen, die sich in den unteren Federn des Rocs verfangen hatte, gehörten die Überreste wohl zu einem Schaf.
Gerold beugte sich mit sichtlicher Mühe vor dem riesigen Vogel herunter und nach einem vorsichtigen Blick nach oben, als hätte er Angst, er könnte mit einem Schnabelhieb enthauptet werden, untersuchte er die Überreste des Schafs. »Durch das Blut ist es schwer zu sagen«, murmelte er. Seine Anstrengungen, sich vorzubeugen, ohne dem Roc zu nah zu kommen, ließen sein Gesicht rot anlaufen. Adelynn wirkte unbeeindruckt, also wagte er sich ein wenig näher heran. »Aber die Wolle scheint blau gefärbt zu sein, Mylady.«
»Wessen Herden sind blau eingefärbt?«, fragte Adelynn.
»Aldermann Dalins, glaube ich«, antwortete Damhán, bevor Gerold das Wort ergreifen konnte.
Während dieses gesamten Austauschs hatte sich Amara nicht bewegt und Gerold vollkommen ignoriert. Unverwandt starrte sie Durik an. Er erwiderte den Blick der Kreatur und nickte dann kaum merklich. Amara klapperte mit dem Schnabel, woraufhin Gerold sich ruckartig aufrichtete und sich zurückzog.
»Mach eine Notiz, Gerold«, befahl Adelynn. »Die nächste Vieherstattung geht an Aldermann Dalin. Zwanzig Kronen und sechs Mutterschafe, nicht zu alt. Du kannst dich am Bestand der Zitadelle bedienen. Geh dabei sicher, dass alle Ausgaben vermerkt sind, sonst beschweren sich die Ratsherren wieder über die Veruntreuung der Marktsteuern der Stadt.«
»Ja, Mylady«, sagte Gerold mit einer Verbeugung.
Wieder streichelte Adelynn den Roc. »Amara, lass es dir schmecken«, sagte sie.
Durik beobachtete, wie der Roc die Überreste des Schafs auf den Stein unter sich fallen ließ und sie dann mit dem Schnabel packte. Sie warf den Kopf zurück und schlang den Kadaver in einem Stück hinunter.
Adelynn trat von ihr zurück und zog Duriks und Logans Blicke auf sich. »Seit ich Baronin geworden bin, habe ich geholfen, acht Rocs vom Küken bis zum Erwachsenenalter aufzuziehen, und damit das Werk fortgeführt, das meine Familie seit Jahrhunderten betreibt«, erklärte sie. »Die Rocs sind heilig in Forthyn. Sie sind unsere Freunde und unsere Beschützer. Diese acht Küken sind wie Kinder für mich. Habt Ihr Kinder, Logan Lashley?«