Descent – Legenden der Finsternis: Die Tore von Thelgrim - Robbie MacNiven - E-Book

Descent – Legenden der Finsternis: Die Tore von Thelgrim E-Book

Robbie MacNiven

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Beschreibung

Ein widerwilliges Trio muss eine geheimnisvolle Stadt zu untersuchen und dabei gegen ein dämonisches Unwesen kämpfen – ein atemberaubender Roman aus dem Descent-Universum.   Als drei verschiedene Abenteurer angeheuert werden, um die Versiegelung von Thelgrim, der großen Zwergenstadt, zu untersuchen, haben alle drei Bedenken. Einer von ihnen ist ein gesuchter Verbrecher und die beiden anderen wollen nicht zusammenarbeiten – aber bei so einer Bezahlung kann man schlecht ablehnen. Als sich die drei auf einem geheimen Weg nach Thelgrim begeben, ahnen sie nicht, was sie dort erwartet. Terrinoth befindet sich im Umbruch und neue Bedrohungen lauern in der Dunkelheit.

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Seitenzahl: 470

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ROBBIE MACNIVEN

Ins Deutsche übertragen vonKatrin Aust

Die deutsche Ausgabe von DESCENT: DIE TORE VON THELGRIMwird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.Inh. Andreas Mergenthaler; Verlagsleitung: Luciana Bawidamann; Übersetzung: Katrin Aust; Programmleitung Romane: Markus Rohde; Lektorat: Jana Karsch; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Jeff Chen, Layout: Sina Keller; Karte: Francesca Baerald; Leitung Vertrieb: Peter Sowade; Marketing: Jana Rahders; Druck: Printausgabe gedruckt von CPI book GmbH, Leck. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:DESCENT: THE GATES OF THELGRIMFirst published by Aconyte Books in 2021Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

Copyright © 2021 Fantasy Flight Games. All rights reserved.Descent: Journeys in the Dark and the FFG logo are trademarks of Asmodee Group or affiliates.

German translation copyright © 2023 Cross Cult.

Print ISBN 978-3-98666-076-5 (Februar 2023)E-Book ISBN 978-3-98666-077-2 (Februar 2023)

WWW.CROSS-CULT.DE

Inhalt

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

EPILOG

DANKSAGUNGEN

Dieses Buch ist Adela gewidmet, meinem Ein und Alles.

PROLOG

»Bleib dicht bei mir«, mahnte Tiabette Sarra.

Sie wusste, dass es dumm war, das zu sagen, denn in diesem Moment umklammerte sie Sarras Hand, so fest sie konnte. Das kleine Mädchen hatte gar keine andere Wahl, als dicht bei ihr zu bleiben.

Insgeheim war sich Tiabette bewusst, dass diese Worte ebenso sehr zu ihrer eigenen Beruhigung dienten wie dazu, ihre Tochter zu beschwichtigen. »Bleib dicht bei mir« war in den letzten Monaten eine Art Mantra geworden, seit sie ihre Heimat im Westen von Kellar verlassen hatten, sich auf den langen und beschwerlichen Marsch durch die Hügel der Heulenden Riesen begeben und in den eisigen Straßen von Frostgate Schutz gesucht hatten, bevor sie schließlich weiter nach Nordosten gewandert waren, über den Rand der Welt hinaus. »Bleib dicht bei mir« fühlte sich manchmal an, als sei es das Einzige, was Tiabette noch geblieben war, die einzige Form von Kontrolle, die sie überhaupt noch über ihr Leben hatte, während ihr der Rest davon vollkommen entrissen worden war.

»Ich bin müde«, beschwerte sich Sarra.

Tiabette bemühte sich, nicht zu schimpfen. »Es ist nicht mehr weit, Süße«, sagte sie stattdessen und hielt den Blick geradeaus gerichtet.

Sie glaubte nicht, dass sie es schaffen würde, Sarra noch einmal auf dem Rücken zu tragen. In den Monaten, die sie mit den anderen Flüchtlingen unterwegs gewesen waren, um den Uthuk-Kriegerverbänden zu entkommen, die sich wie die Pest im östlichen Terrinoth ausbreiteten, hatte sie unglaubliche Taten von Eltern beobachtet, die sich bemühten, ihre Kinder am Leben zu halten. Sie hatte das Gefühl, sie selbst hätte Sarra durch halb Terrinoth getragen, durch widerlichen Schlamm, Sumpfgebiete und Dornenwälder. In Frostgate hatte sie das Leder ihrer Schuhe geopfert, um die ihrer Tochter zu flicken – seither war sie barfuß unterwegs und ihre Fußsohlen bestanden nur noch aus rauer, tauber Haut. Die beiden waren so weit gekommen und doch war sie nicht sicher, ob sie Sarra noch einen weiteren Schritt würde tragen können. Sie wusste, wenn sie jetzt hinfiel, würde sie nicht wieder aufstehen können.

»Du sagst immer, es ist nicht mehr weit«, maulte Sarra.

Tiabette schloss im Gehen für einen Moment die Augen und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. »Dieses Mal meine ich es auch so. Da. Du kannst das Ziel sehen. Es kommt mit jedem Schritt näher.«

Sie öffnete die Augen und streckte die Hand aus, deutete über die gebeugten Köpfe derer, die vor ihr hertrotteten. Vor ihnen ragte das Dunwarr-Gebirge auf, es wirkte wie eine gewaltige Ringmauer mit seinen glatten Flanken aus grauem und violettem Gestein, die sich zu zerklüfteten, schneeweißen Zinnen erhoben. Es hatte den Anschein, als wären sie erbaut worden, um das Himmelszelt selbst zu schützen, eingerahmt von einem wolkenlosen Himmel, der sich von einem äußersten Gipfel zum anderen erstreckte wie eine riesige azurblaue Kuppel.

»Wollen wir wirklich da hin?«, fragte Sarra und folgte mit dem Blick Tiabettes ausgestrecktem Finger. Direkt vor ihnen, den felsigen Pfad hinauf, dem die Karawane durch das Vorgebirge folgte, befand sich etwas, das in der Ferne golden und silbern glänzte. Von Weitem sah es aus wie eine Wand, die in den Fuß des Berges eingelassen war, ein glatter Block, der mit großer Kunstfertigkeit in den nackten Fels gehauen worden war. Tiabette wusste jedoch, dass es keine Wand war. Es war ein Tor.

»Ja, da gehen wir hin«, versicherte sie Sarra und brachte ein Lächeln zustande. »Und inzwischen sind wir so nah, dass wir es sogar mit bloßem Auge sehen können! Es ist also nicht mehr weit!«

Wie oft hatte sie diese Worte schon gesagt? Wie oft waren sie eine Lüge gewesen, die sie sich selbst genauso wie ihrer Tochter eingeredet hatte? Jetzt endlich wurden sie wahr. Nur noch ein kleines Stück weiter.

Die Karawane trottete dahin. Als sie vor drei Wochen aus Frostgate aufgebrochen waren, waren sie um die hundert gewesen. Jetzt waren nur noch halb so viele übrig. Einige hatten aufgegeben und waren nach Hohenburg gegangen, als sie an den südlichen Grenzen des Finsterbruchwalds vorbeigekommen waren. Andere waren umgekehrt oder am Wegesrand zusammengebrochen. Manche waren einfach über Nacht verschwunden. Tiabette versuchte, nicht zu viel über sie nachzudenken.

Sie hatte schnell gelernt, hier draußen zu überleben. Man konnte den Leuten in den Karawanen nicht trauen. Sie alle waren verzweifelt und verzweifelte Leute taten verzweifelte Dinge. Diejenigen, die ihre Hilfe anboten, waren die Schlimmsten – sie wollten immer eine Gegenleistung oder versuchten unter dem Deckmantel der Freundlichkeit, die Schwachen und Verwundbaren ausfindig zu machen. Sie suchten nach Beute unter den verlorenen Seelen, die der Krieg, der die Baronate erfasst hatte, auf die Straßen von Terrinoth getrieben hatte. Sie waren wie Wölfe, die um die Herde herumschlichen und mit stets hungrigem Blick alles beobachteten.

Sie hatte das am eigenen Leib erfahren, als ein älterer Mann, der einige Male auf Sarra aufgepasst hatte, während sie um Essen gebettelt hatte, sie im Schlaf ausgeraubt hatte. Jetzt mied sie die Hilfsbereiten, diejenigen mit entrücktem Blick und alle, die permanent vor sich hin murmelten. Sie sprach mit niemandem und hatte Sarra angewiesen, es ihr gleichzutun.

»Bleib dicht bei mir«, ermahnte sie sie einmal mehr. Sarra klammerte sich an sie, doch Tiabette konnte sehen, dass die Schritte ihrer kurzen Beine immer unsicherer wurden. Nicht jetzt, flehte sie lautlos. Nicht wenn sie ihrem Ziel so nah waren.

Die Tore waren nun deutlicher zu erkennen. Tiabette versuchte, sich auf diesen Anblick zu konzentrieren; sie hätte sich an alles geklammert, um sich von der Erschöpfung in ihren steifen, zitternden Gliedern oder dem schmerzhaften Hunger in ihrem Magen abzulenken. Sie konnte einen Bogen aus gemeißeltem Stein ausmachen, der sich über den riesigen Durchgang spannte. Wie gewaltig seine wahren Ausmaße waren, wurde erst nach und nach ersichtlich, je näher sie ihm kamen. Türme und Wehrgänge waren direkt in die steilen Hänge zu beiden Seiten geschlagen worden. Sie schienen aus dem Fels herauszuwachsen und waren so clever gestaltet, dass schwer zu sagen war, wo der Berg aufhörte und die Festung begann. Die Tore selbst standen halb offen und das Sonnenlicht funkelte auf dem polierten Metall, mit dem sie beschlagen waren. Als die Karawane langsam näher kam, erkannte Tiabette, dass die Oberfläche der beiden Torflügel zwei riesigen Dunwarr-Kriegern nachempfunden war, die Rücken an Rücken standen, als würden sie Feinde abwehren, die den Bergpass umstellt hatten. Obwohl sich der Eingang noch ein gutes Stück entfernt befand, brachten die schieren Dimensionen der Architektur sie beinahe aus dem Tritt.

Sie bemerkte, dass der zerfurchte, unebene steinige Pfad, der sich durch das Vorgebirge schlängelte, einer festeren, aufwendig gepflasterten Straße gewichen war, die von unzähligen Füßen glatt geschliffen worden war. Auch die Schlucht schloss sie jetzt enger ein, ihre Flanken ragten so hoch neben ihnen auf, dass sie das Sonnenlicht aussperrten. Die Strahlen fielen jedoch weiterhin auf das große Tor vor ihnen, sodass es wie ein Leuchtfeuer im Zwielicht erstrahlte.

»Werden wir Zwerge sehen, Mama?«, fragte Sarra. »Die, die unter dem Berg leben?«

»Ja, Süße«, murmelte Tiabette, zu abgelenkt, um richtig zu antworten. Das Tempo der Kolonne verlangsamte sich oder genauer gesagt, es kam vollständig zum Erliegen. Die fünfköpfige Familie direkt vor ihnen – Mann und Frau, ihre Eltern und ihr kleiner Sohn – war stolpernd zum Stehen gekommen, weil ein Planwagen mit Vorräten ihnen den Weg versperrte.

Etwas irgendwo weiter vorne hatte sie aufgehalten. Das an sich wäre wohl kaum ungewöhnlich gewesen. Auf ihrer Reise schien es fast jede Stunde vorzukommen, dass ein Wagen ein Rad verlor oder einer der Ochsen zusammenbrach. Die gesamte Prozession musste dann Halt machen, während die Leute stritten und sich gegenseitig beschimpften. Schließlich wurde das, was auch immer die Verzögerung verursacht hatte, entweder repariert oder einfach von der Straße geschleppt und zurückgelassen und der schwerfällige Tross setzte sich erneut in Bewegung.

Tiabette hielt sich stets abseits, wenn es zu einer Verzögerung kam. Die Gemüter erhitzten sich in solchen Situationen jedes Mal und sie hatte in den letzten Monaten oft genug gesehen, dass Blut in sinnloser Wut vergossen wurde, um zu wissen, dass es nicht klug war, sich unter die Menge zu mischen, die sich immer rasch bildete, wenn etwas den Weg versperrte. Heute war es jedoch anders. Heute war das Ziel zum Greifen nah, so dicht vor ihnen, dass es kaum zu ertragen war. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, die Tore selbst sehen zu können – es war einfach zu viel.

Sie spürte, wie der Zorn in ihr hochkochte.

»Bleib dicht bei mir«, wiederholte sie und hielt Sarras Hand fest, während sie sie zum Straßenrand führte, in den kalten Windschatten der steilen Wände der Schlucht. Sie wollte einen Blick darauf erhaschen, was die Karawane aufgehalten hatte, doch andere hatten diese Idee schon vor ihr gehabt. Körper blockierten den Weg zum Tor und Stimmen erhoben sich, als eine Welle der Unruhe durch die dicht gedrängte Gruppe von Flüchtlingen ging.

»Warum halten wir an?«, fragte Sarra, die auf den Zehenspitzen stand, um besser sehen zu können.

»Tun wir nicht«, korrigierte Tiabette sie und führte sie am Straßenrand entlang. Von Kellar zum Fuß des Dunwarr-Gebirges – sie hatte sich nicht durch halb Terrinoth gekämpft, um sich jetzt von der gebrochenen Wagenachse eines fetten Marketenders aufhalten zu lassen.

Das Gedränge wurde immer dichter. Das Tor ragte nun direkt vor ihnen auf. Die Narben Tausender Belagerungen zeichneten sich auf den riesigen, aufwendig geschmiedeten Metallbändern ab, die den Durchgang verstärkten. Die Leute um Tiabette herum erhoben die Stimme und kämpften gegen das Geschrei an, das von vorne kam. Es schien von jenseits des Tors selbst zu kommen.

Es gab kein Hindernis, erkannte sie schließlich, zumindest nicht auf der Straße. Die Karawane war auf eine weitere Flüchtlingskolonne gestoßen, die offenbar vor dem Tor aufgehalten worden war. Auf dem letzten Stück stieg der Weg noch einmal an und die Erhöhung ermöglichte es Tiabette, über die Köpfe der Menge vor ihr hinwegzublicken.

Das Tor stand offen, doch der Weg hindurch war blockiert. Eine unüberwindbare Formation von Dunwarr-Kriegern stand in Keilformation im Durchgang zwischen den beiden Torflügeln, ihre polierten Helme und die Metallbeschläge ihrer Schilde reflektierten das Sonnenlicht. Eine von ihnen war ein paar Schritte vor die erste Reihe getreten. Sie schien mit einer Gruppe von Flüchtlingen zu sprechen, vermutlich mit den Anführern der Karawane, die vor Tiabettes eigener eingetroffen war. Sie diskutierten mit lauter Stimme, doch über das Raunen der Menge waren die Worte nicht zu verstehen.

»Sie wollen das Tor verriegeln«, rief eine alte Frau in einem zerschlissenen Schal neben Tiabette. »Sie wollen uns aussperren!«

»Unsinn«, keifte ein untersetzter Mann in der fellbesetzten roten Tunika eines Händlers und funkelte die Frau böse an. »Die Dunwarr nehmen seit Monaten Flüchtlinge auf. Sie werden wohl kaum gerade heute damit aufhören!«

»Was macht dich da so sicher?«, rief eine andere Stimme, deren Ursprung in der Menge nicht auszumachen war.

Diese Aussage zog weitere Rufe nach sich, die sich zu einem wütenden, verwirrten Aufschrei vermischten. Tiabette verspürte den gleichen Anflug von Panik, der alle um sie herum ergriffen hatte, gleichzeitig aber auch die verzweifelte Hoffnung, dass sie sich vielleicht geirrt hatte. So etwas konnte doch nicht wirklich passieren.

»Was ist los, Mama?« Sarra zog flehend an Tiabettes Hand. Sie bedeutete ihr, still zu sein, um verfolgen zu können, was am Tor vor sich ging. Einer der Flüchtlinge, ein Elf, riss wütend die Arme in die Höhe. Er drehte sich um und stapfte wieder auf die Menge zu, während die menschliche Delegation offenbar versuchte, sich an der Zwergin vorbeizudrängen, mit der sie diskutiert hatten.

Eine Woge ging durch die Menge um Tiabette herum. Sie spürte, wie sie vorwärtsgeschoben wurde, als die Flüchtlinge weiter vorandrängten und die ersten Reihen den Hang hinauf und auf die Dunwarr-Krieger zu zwangen.

»Halt dich fest«, rief Tiabette ihrer Tochter zu und versuchte, sie an sich zu drücken. Es hatte den Anschein, als wollte die Menge die Zwerge überrennen, die ihnen den Weg versperrten.

Da erklang eine Stimme, tief und Ehrfurcht gebietend. Begleitet wurde sie von einem einzelnen Ton aus einem unsichtbaren Berghorn, der durch das Tal schallte.

Die Zwerge vor ihr reagierten sofort. Schilde wurden gehoben und zusammengeschlagen, was als Antwort ein schreckliches Echo erzeugte, das von den Hängen widerhallte. Gleichzeitig bewegte sich die zweite Reihe. Tiabette erblickte Armbrüste, die erhoben wurden und zwischen den überlappenden Schilden der Dunwarr vor ihnen hindurchzielten. Sie waren geladen, die scharfen Pfeilspitzen funkelten bösartig.

Ein Aufschrei ging durch die Menge, als die vordersten Reihen zurückwichen und gegen jene stießen, die von hinten nach vorn drängten. Sarra schrie auf, als sie um ein Haar Tiabettes Griff entrissen worden wäre. Mit beiden Händen klammerte sie sich an ihre Tochter und zog sie an sich, während sie von den gegensätzlichen Strömungen beinahe von den Füßen gerissen wurde.

Ein weiteres Mal zerriss der Ruf des Horns die kalte, klare Luft. Die Leute um Tiabette herum weinten und schrien jetzt, vollkommene Panik überkam die Flüchtlinge, als das Knarren der riesigen Torscharniere erklang.

Mit einem scheppernden Krachen setzte sich die Dunwarr-Formation in Bewegung. Sie trat einen Schritt zurück. Dabei blieb der Schildwall intakt und die Armbrüste wankten nicht einmal. Ein weiterer Schritt, noch einer und die Dunkelheit hinter den Torflügeln verschluckte sie. Während sie zurückwichen, schlossen sich die riesigen Tore langsam und das Sonnenlicht glitzerte auf dem zerkratzten Metall.

»Nein«, schrie Tiabette, als sie von der Menge weiter nach hinten gedrängt wurde, ihre Hoffnungen zerschmettert wurden und vollkommene Hilflosigkeit sie übermannte. Sie versuchte, sich aus dem Gedränge zu befreien, doch es war vergebens. Sie konnte sich nur an ihre Tochter klammern und versuchen, sie vor der schiebenden, stolpernden, brüllenden Masse zu schützen.

Mit einem Knall, der die gesamte Bergkette zu erschüttern schien, schlugen die Tore von Thelgrim zu.

1

Der Mann namens Slevchek schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass die Münzen sich über das zerkratzte, klebrige Holz verteilten.

»Betrüger«, bellte er und funkelte Raythen wütend an. Der Zwerg erwiderte seinen bösen Blick und sein eines dunkles Auge blitzte im schwachen Kerzenlicht des Schankraums.

»Kleiner Rat, Menschling«, sagte er. »Es ist nicht sonderlich klug, jemandem Betrug beim Kartenspiel vorzuwerfen, der einen gerade geschlagen hat. Lässt einen wie einen schlechten Verlierer aussehen, was du zugegebenermaßen wahrscheinlich auch bist. Aber für die Zukunft: Wenn du mit Beleidigungen um dich werfen willst, solltest du das tun, solange du vorne liegst. In der zweiten Runde vielleicht oder in der dritten, als du noch gewonnen hast. Das macht es glaubwürdiger.«

Raythen hatte keine Ahnung, ob irgendwas von dem, was er gerade gesagt hatte, Slevcheks zugegebenermaßen unterentwickeltes Hirn erreicht hatte. Der stämmige Händler kochte vor Wut; er hatte die Fäuste geballt, sein Kiefer mahlte und sein Gesicht hatte einen noch hässlicheren puterroten Ton angenommen. Seine Gefährten, zwei weitere menschliche Händler, die rechts und links von ihm saßen, schienen hin- und hergerissen zwischen ihrem Wunsch, ihrem Freund beizuspringen, und ihrem Unwillen, mitten in der Schenke eine Szene zu machen.

Raythens Einschätzung nach war es dafür ein bisschen spät. In der Schankstube im Untergeschoss von Skelligs Schenke war es totenstill geworden, nachdem die Säufer ihre Aufmerksamkeit voller Erwartung auf den Tisch gerichtet hatten, an dem Raythen und seine Mitspieler saßen. Der Streit brodelte schon den ganzen Abend vor sich hin und Slevchek war immer betrunkener und angriffslustiger geworden. Er hatte sich über Raythens anfängliche Niederlagen lustig gemacht, dann jedoch zunehmend aggressiv reagiert, als der Zwerg seine Verluste erst zurückgewonnen und schließlich seinen Vorsprung ausgebaut hatte.

Natürlich hatte der dümmliche Mensch recht – Raythen hatte betrogen. Nichts Besonderes, aber selbstverständlich waren die Karten gezinkt. Raythen hatte ein paar doppelte Karten im Ärmel und eine zusätzliche Baronatskönigin, die er unter einem Teller mit halb aufgegessenen gebratenen Hühnerflügeln versteckt hatte, mit denen er sich ganz bewusst viel Zeit gelassen hatte.

»Trau keinem Dunwarr, wenn es um Gold geht«, spie Slevchek über den Tisch hinweg und musste sich anschließend Speichel vom stoppeligen Kinn wischen. »Vor allem einäugigen, einhändigen!«

Normalerweise hätte eine solche Bemerkung einem Zwerg gegenüber dafür gesorgt, dass dem Menschen der Schädel mit einem Barhocker oder einer Axt eingeschlagen wurde, doch Raythen hatte das alles schon öfter gehört. Außerdem war er kein normaler Dunwarr. Er lächelte. »Komm schon, Menschling, es steht drei-drei. Wenn ich betrüge, stelle ich mich offensichtlich nicht sehr geschickt an«, sagte er.

»Du hast all die großen Pötte gewonnen«, jammerte einer von Slevcheks Gefährten, ein wehleidiger kleiner Mann mit eingesunkenen Augen, dessen Name Raythen sich gar nicht erst gemerkt hatte.

»Ich war nicht derjenige, der die Einsätze erhöht hat«, erinnerte er ihn. »Das wart ihr drei.«

Er konnte spüren, dass die Aufmerksamkeit der gesamten Schenke auf ihnen ruhte, eine Tatsache, der sich Slevchek und seine Freunde nicht bewusst zu sein schienen. Im Moment war das die einzige Variable, die Raythen nicht ganz behagte. Mit diesen drei Idioten könnte er die ganze Nacht so weitermachen, aber was, wenn sich einer der anderen einmischte? Was, wenn einer der anderen Gäste seine Tricks bereits kannte oder einfach nur einen schärferen Blick und einen klareren Verstand als das menschliche Trio besaß? Früher am Abend waren ihm zwei Elfen aufgefallen und einer der Schankwirte hatte ihn eine gute Stunde lang angestarrt, und das noch bevor Slevcheks Gebrüll die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit erregt hatte. Und er fürchtete, dass das wohl nichts mit seinem guten Aussehen zu tun hatte.

»Die Hand«, verkündete Slevchek und zeigte energisch darauf. »Die Hand ist nicht echt!«

Raythen seufzte betont schwer. »Das hatten wir doch schon«, sagte er und sprach dabei absichtlich laut genug, dass der gesamte Schankraum ihn hören konnte. »Ja, die Hand ist nicht echt. Nein, ich habe keine Karten oder Münzen darin versteckt. Siehst du?«

Er packte die hölzerne Prothese mit der anderen Hand, löste sie und zog sie aus dem Ärmel seines grünen Mantels.

»Massive Schöneiche«, erklärte er und schleuderte sie über den Tisch. »Untersuch sie selbst. Noch mal.«

Slevchek schnappte sich das geschnitzte Teil und musterte es mit zusammengekniffenen Augen. Er blinzelte heftig, um seinen alkoholgetrübten Blick zu klären. Dann stieß er ein frustriertes Grunzen aus und warf sie dem Komplizen zu seiner Rechten zu, der sie in alle Richtungen drehte und nach Anzeichen für einen Schwindel suchte.

»Wenn ihr dann fertig wärt, hätte ich sie gern zurück«, sagte Raythen und streckte seine gesunde Hand aus. »Und vielleicht könnten wir auch aufhören, einen alten Zwerg zu beleidigen und zu erniedrigen, und uns wieder dem Spiel widmen. Oder wollt ihr Menschlinge lieber aufgeben?«

»Ich will mein Geld wiederhaben«, knurrte Slevchek und schlug erneut auf den Tisch, während sein Freund Raythen widerwillig seine Armprothese zurückgab.

»Du kannst es zurückgewinnen«, meinte der Zwerg fröhlich und befestigte seine Hand. »Was hältst du von einer neuen Runde? Alles oder nichts?«

»Lügner«, bellte Slevchek und versuchte, sich von seinem Platz zu erheben, landete jedoch sofort wieder auf dem Hintern. Er fummelte an seinem Gürtel herum und zog einen langen, schmalen Nierendolch. Das Kerzenlicht funkelte auf der schlanken Klinge. »Gib mir mein Geld!«

Mit seiner guten Hand packte Raythen die Vorderseite von Slevcheks Wams. Er ignorierte das Messer und zog ihn nach vorn, sodass er gegen die Tischkante gepresst wurde. Dabei stieß er einen Bierkrug um und verstreute Karten und Münzen.

»Ich habe nicht gelogen, was die Hand angeht, du dümmlicher Menschling«, knurrte er. »Sie ist massiv. Zufällig habe ich allerdings noch eine dritte, und die zielt gerade unter dem Tisch mit einer geladenen Armbrust auf deine Kronjuwelen. Also beruhige dich, lächle und spiel noch eine Runde, sonst verbringst du den Rest der Nacht damit, einen Pfeil aus deinem wertvollsten Schatz zu ziehen. In Ordnung?«

Raythen sah Slevchek unverwandt in die Augen. Ihre Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt und der Geruch des ungewaschenen, betrunkenen, idiotischen Menschlings war beinahe mehr, als der Zwerg ertragen konnte. Er beobachtete die langsam einsetzende schmerzliche Erkenntnis in Slevcheks trübem Blick, die einem wütenden Aufblitzen wich.

»Wähle deine nächsten Worte mit Bedacht, mein Freund«, forderte er. Das war der entscheidende Moment, auf den er gewartet hatte, seit er die drei Händler zu einem Spiel aufgefordert hatte. Entweder würde Slevchek hinnehmen, was gerade geschah, und Skelligs Schenke unverletzt, aber mit leichterer Börse verlassen, oder Raythen würde gezwungen sein, selbst schnell das Weite zu suchen und das Geld mitzunehmen, das er bisher ergaunert hatte. Das Ass in seinem Ärmel – in diesem Fall nicht ganz wörtlich gemeint – war eine falsche Hand, die er manchmal einsetzte, um Gegner zu verwirren. Ein zusätzlicher Ärmel war in seinen schweren grünen Mantel eingenäht, der seinen echten Arm und seine Hand verbarg, während die Aufmerksamkeit seines Gegenübers auf der hölzernen Prothese ruhte. Sein Finger krümmte sich ein klein wenig um den Abzug der Armbrust, die er unter dem Tisch umklammert hielt.

Wenn man seine Karten richtig ausspielte, ging man in neun von zehn Fällen als Sieger hervor.

»Raythen«, sagte eine Stimme und ruinierte den Augenblick.

Raythen, der noch immer die Vorderseite der Tunika des Händlers gepackt hielt, und Slevchek hoben beide langsam den Blick. Während der Zwerg sich bemüht hatte, seinen Standpunkt zu verdeutlichen, war ein Bär von einem Mann an ihren Tisch getreten. Er trug einen fellbesetzten Umhang, hatte den Schädel kahl rasiert und sein gewaltiger, struppiger Schnurrbart hing fast bis auf seine Brust. Er ragte über dem Tisch auf und musterte Raythen eindringlich.

»Du bist spät dran«, grollte er.

Raythen ließ die Tunika abrupt los, sodass Slevchek auf seinen Stuhl zurücksackte. Mit geübten Handgriffen entlud er rasch die unter dem Tisch verborgene Armbrust, während er den großen Mann anlächelte.

»Weißt du, Cayfern, eigentlich war ich zu früh. Ich konnte dich allerdings nirgends finden, also dachte ich, ich leiste diesen netten Herren hier Gesellschaft, bis ich dich entdecke. Ich muss wohl die Zeit aus den Augen verloren haben. Entschuldige bitte.«

Während seiner kleinen Rede hatte er die Armbrust zusammengeklappt und in seinen Rucksack geschoben. Cayfern brummte. Er schien die Aufmerksamkeit, die er in der Schenke erregte, gar nicht zu bemerken – der große Mensch war praktisch eine kleine Berühmtheit in diesen Breiten, ein wohlbekanntes Gesicht in den Tavernen und Gasthäusern, die sich an den vereisten Straßen von Frostgate drängten.

»Wenn du besseres Geld verdienen willst als mit Taschendiebstählen in Tavernen, schlage ich vor, du kommst mit«, sagte er. »Sofort.«

»Absolut«, erwiderte Raythen, stand auf und verbeugte sich knapp vor den Händlern. »Ich fürchte, die Pflicht ruft.«

Slevchek kam unsicher auf die Beine, um dem Störenfried die Meinung zu sagen, und Raythen konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, während er mitverfolgte, wie sich die Wut des Mannes in Verzweiflung verwandelte, als dieser erkannte, dass er Cayfern kaum bis zum Kinn reichte.

»Ich würde mich setzen, wenn ich du wäre, Slevchek«, riet ihm Cayfern. »Genieß den Rest deines Biers und geh dann friedlich nach Hause zu deiner Frau.«

Beim Sprechen legte er Slevchek eine Hand auf die Schulter und tätschelte sie. Erneut sank dieser zurück auf seinen Stuhl.

Raythen vermied jeglichen Blickkontakt mit allen Anwesenden, schob seinen Gewinn in seinen Rucksack, schwang ihn sich über die Schulter und folgte Cayfern durch die Schankstube in einen kleinen Raum hinter dem Tresen. Einst war es eine Vorratskammer gewesen, doch die Regale waren leer und mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Der einzige Hinweis auf ihren früheren Zweck waren ein paar alte Säcke Schrotmehl, die sich in einer Ecke stapelten. Ein einzelner Tisch und vier Stühle füllten den engen Raum aus, der von einer einsamen, rußenden Talgkerze erhellt wurde. Cayfern setzte sich so hin, dass er die Tür genau im Auge behalten konnte; sein Stuhl knarrte unter seinem Gewicht.

Raythen zögerte, bevor er ihm gegenüber Platz nahm. Sie waren nicht die Einzigen im Raum. Eine Frau saß bereits am Tisch und wirkte ganz offensichtlich gelangweilt, während sie einen kleinen Steinsplitter zwischen ihren Fingern hindurchgleiten ließ. Sie trug einen bestickten goldenen Mantel, der sich ab der Taille in langen, fließenden Falten auffächerte. Darunter war ein weißes Hemd mit Trompetenärmeln zu sehen. Ihr langes, dunkles Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihr über den Rücken fiel. Ein rot-goldenes Tuch hielt ihr die Haare aus der Stirn. Armreifen und Armbänder zierten ihre Handgelenke und ein Stab aus geschnitztem Knochen lehnte am Stuhl hinter ihr. Auf dessen Spitze thronte ein blauer Tansanit, der wie die Tiefen des Ozeans zu schimmern schien. Ihr Gesicht war schmal und scharf geschnitten wie das eines Falken. Raythen konnte die Magie, die sie verströmte, praktisch spüren.

»Ich wusste nicht, dass wir Gesellschaft haben«, bemerkte er.

»Setz dich«, knurrte Cayfern.

Er gehorchte. Die Frau ließ den Steinsplitter, mit dem sie gespielt hatte, in die Seitentasche eines Beutels gleiten, der an ihrer Hüfte hing. Raythen musterte sie unverhohlen.

»Darf ich der Erste sein, der sagt, welch eine Ehre es ist, einer Runenhexe zu begegnen?«, fragte er.

»Du kennst mich?«, entgegnete sie mit einem schweren Akzent. Falls sie überrascht war, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Jeder Abenteurer, der es wert ist, angeheuert zu werden, hat von der großen Astarra gehört, der besten Schülerin Greyhavens«, erklärte Raythen und lächelte sie an.

»Ich kann dich schon jetzt nicht leiden«, sagte die Zauberin. Raythen lachte. Nicht gemocht zu werden war für ihn nun wirklich nichts Neues.

»Astarra, das ist Raythen, ehemals aus der Dunwarr-Stadt Thelgrim«, stellte Cayfern ihn vor. »Er wird dich auf deiner Expedition begleiten.«

»Wird er das?«, hakte Raythen nach und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Cayfern zu. »Das ist gut zu wissen. Soweit ich gehört habe, hat Raythen nur mildes Interesse daran bekundet, warum der große Cayfern in den Schenken und Tavernen von Frostgate verkünden ließ, dass er Raythen sucht.«

»Ich kenne dich gut genug, Zwerg«, erwiderte Cayfern. »Ich weiß, wenn du im Skelligs fette, betrunkene Händler abziehst, heißt das, deine Geldbörse ist leer. Mein Auftraggeber bietet an, das zu ändern. Du wirst den Auftrag annehmen.«

»Das hängt ganz davon ab«, schoss Raythen zurück.

»Es ist gutes Geld.«

»Das ist ein Anfang, aber mich beschäftigt eher die Gesellschaft.«

»Wenn du Astarra kennst, weißt du auch über ihre Fähigkeiten Bescheid«, entgegnete Cayfern und nickte knapp in Richtung der Frau.

»Ganz genau«, bestätigte Raythen. »Und ich vermute, dass diese Fähigkeiten nicht billig sind. Also, welche Aufgabe ist dermaßen gefährlich, dass dein mysteriöser Auftraggeber genug Geld lockermacht, um eine Runenhexe anzuheuern? Und was noch viel wichtiger ist: Auf wen warten wir noch?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, schaltete sich Astarra ein.

»Vier Stühle«, fügte Raythen hinzu und deutete mit dem Kinn auf den letzten freien Platz. Der Raum war offensichtlich für dieses Treffen vorbereitet worden und er kannte ihren Gastgeber gut genug, um sicher zu sein, dass er nicht versehentlich einen zusätzlichen Stuhl aufgestellte hatte.

Cayfern schwieg. Er war ein wohlbekannter Unterhändler in den nördlichen Baronaten, ein Mittelsmann zwischen den Einzelkämpfern, Halunken und Draufgängern, die Orte wie die Freie Stadt Frostgate bevölkerten, und jenen, die sie für Aufträge in ganz Terrinoth anonym anheuern wollten. Raythen war zuvor schon viermal von ihm kontaktiert worden, hatte allerdings keine Ahnung, ob derjenige, der ihn bezahlt hatte, jedes Mal derselbe oder ein anderer Kunde gewesen war. Wichtig war nur, dass Cayfern bei der Abrechnung immer die volle Summe zahlte. Es war klar, dass er seine Auftraggeber sorgfältig auswählte, und in dieser Branche war das eine Menge wert.

Der Mittelsmann antwortete nicht auf Raythens Frage. Stattdessen blickte er an ihm vorbei zur Tür. Raythen drehte sich auf seinem Stuhl um, als sie sich öffnete.

Eine groß gewachsene Gestalt trat ein. Sie musste sich unter dem Türsturz hindurchducken. Im schmutzigen Licht der Kerze wirkte sie auf den ersten Blick wie ein Albtraum. Der Mann wirkte auf schmerzhafte Weise ausgemergelt und blass, seine Haut schien sich zu straff über seinen ausgeprägten Schädel zu spannen. Seine Ohren liefen nicht in einer Spitze zusammen, sondern in drei, seine Augen waren so schwarz wie frisches Pech und lagen tief in den knochigen Höhlen. Er trug zerschlissene dunkle Roben und schwere metallene Ringe um Hals und Handgelenke, als hätte man ihn gefesselt, doch es waren keine Ketten damit verbunden. Sein einziger sichtbarer Schmuck war ein großer, seltsam anmutender Schlüssel, der an seiner Hüfte hing.

Raythen griff nach der Axt unter seinem Mantel, während Astarra auf die Füße sprang. Nur Cayfern reagierte nicht, und als er sprach, klang er völlig gelassen. »Willkommen, Shiver.«

»Was im Namen von Kellos heiligen Flammen ist das?«, wollte Astarra wissen und hob ihren Stab. Ihre Augen waren geweitet und ihre Knöchel traten weiß hervor, weil sie den arkanen Leiter so fest umklammerte. Die Gestalt, die diese Aufregung verursacht hatte – ein Tiefenelf, wie Raythen jetzt erkannte –, musterte sie vollkommen emotionslos; Raythen konnte allerdings spüren, wie die Temperatur in der Vorratskammer sank, als hätte jemand ein Fenster zur eisigen Straße draußen geöffnet. Sein Atem bildete Wölkchen.

»Das ist das dritte Mitglied eurer Expedition«, erklärte Cayfern, als wäre es das Offensichtlichste in ganz Mennara. »Sein Name ist Shiver. Wie der Rest von euch wurde er explizit von meinem Auftraggeber ausgewählt.«

»Er ist ein Dunkelmagier«, zischte Astarra, die offenbar die Aura des Eindringlings wahrnehmen konnte. »Was bist du, Kreatur? Ein Nekromant? Ein Sklave des Ynferneums?«

»Bist du Cayfern?«, fragte der Elf den großen Mann und ignorierte Astarra. Seine Stimme klang heiser und rau, als würde er sie nicht oft benutzen.

Cayfern nickte. »Der bin ich. Mein Auftraggeber dankt dir für dein Kommen.«

»Ich kenne deinen Auftraggeber nicht«, entgegnete Shiver. »Aber ich habe dich oft genug in meinen Träumen gesehen, um zu wissen, dass dies der Weg ist, den ich einschlagen muss.«

Er packte die Lehne des letzten freien Stuhls und zog ihn mit einem lang gezogenen Schaben zurück. Astarra stand noch immer. Ihr Stab glühte in einem kalten Blau.

Raythen räusperte sich, griff nach seiner falschen Hand und löste sie.

»Ich beherrsche auch Magie«, verkündete er, zog die Prothese aus und offenbarte seine echte Hand, die er flach auf den Tisch neben die andere legte. »Seht ihr? Wenn ihr euch ein Zauberduell in einer winzigen Kammer liefern wollt, sollte ich euch beide warnen, dass ich mich nicht zurückhalten werde.«

Cayfern lachte. Astarra blickte von Shiver zu Raythen, doch die Anspannung im Raum war gebrochen. Langsam verblasste das Licht in ihrem Stab. Raythen stellte fest, dass er auch seinen Atem nicht mehr sehen konnte.

»Willst du den Elf nicht dafür tadeln, dass er zu spät kommt?«, fragte er Cayfern. Der Menschling ignorierte ihn, Shiver richtete allerdings den Blick seiner schwarzen Augen auf ihn.

»Ich wurde mehrfach aufgehalten«, krächzte er. »Visionen im Wachzustand.«

»Oh, na dann«, entgegnete Raythen. »Vielleicht kann Cayfern jetzt damit fortfahren, uns zu erzählen, warum wir hier sind, damit ich endlich diesen Auftrag ablehnen kann, bei dem ich mit euch beiden zusammenarbeiten soll.«

Cayfern bedachte Astarra mit einem eindringlichen Blick. Sie setzte sich, behielt aber ihren Stab in der Hand.

»Ich arbeite nicht mit Dunkelmagiern zusammen«, erklärte sie und beäugte Shiver finster. »Ich habe über die Jahre genug gelernt, um zu wissen, dass der Tod jenen folgt, die es tun. Dabei kommt nie etwas Gutes heraus.«

»Shiver ist kein Dunkelmagier«, widersprach Cayfern. »Mein Auftraggeber bezahlt niemanden, der sich den unnatürlichen Künsten hingibt.«

»Er fühlt sich aber an wie einer und er sieht auch so aus«, beharrte Astarra.

»Und ich sehe aus wie ein absolut vertrauenswürdiger, ehrlicher Dunwarr-Soldat, bin ich aber nicht«, warf Raythen ein, der langsam die Geduld verlor. »Also, ich bin nicht in dieses … reizende Etablissement in dieser wundervollen Stadt gekommen, um herumzusitzen und über die Philosophien der Magie zu diskutieren. Könntest du bitte endlich zum Punkt kommen, Cayfern?«

Der Mittelsmann betrachtete ihn einen Augenblick lang schweigend, bevor er das Wort ergriff. »Vor einem Monat hat Thelgrim, die uralte Stadt der Dunwarr, ihre Tore geschlossen. Seither gab es nicht den geringsten Kontakt zu den Einwohnern. Niemand ist hineingegangen oder herausgekommen. Auch sämtliche kleineren Ein- und Ausgänge aus dem Berg scheinen verschlossen zu sein. Die Stadt wurde abgeriegelt.«

»Ich habe gehört, dass die Dunwarr den Kontakt abgebrochen haben«, sagte Astarra. »Wenn du allerdings wissen willst, warum, solltest du vielleicht einfach den Dunwarr fragen, der dir gegenübersitzt.«

Raythen schnaubte. »Ich kann dir versichern, wenn ich auch nur die geringste Ahnung hätte, was im Kopf von Ragnarson und den anderen kurzsichtigen Narren vorgeht, die da das Sagen haben, wäre ich jetzt nicht hier«, log er. Er hatte nicht vor, sein Wissen über die Gedankengänge des Königs weiter auszuführen. »Ich habe seit fast zwanzig Jahren keinen Fuß mehr in die Stadt gesetzt.«

»Niemand weiß, warum Thelgrim abgeriegelt wurde«, fuhr Cayfern fort. »Mein Auftraggeber hat sich überall umgehört und keine befriedigende Antwort erhalten. Deswegen hatte er euch zusammengerufen …«

»Nein«, unterbrach ihn Raythen. Das Trio sah ihn an. Er hielt den Blick auf Cayfern gerichtet. »Wenn dein Herr und Meister glaubt, ich würde je wieder zurück nach Thelgrim gehen, hat er nicht richtig nachgeforscht«, fuhr er fort. »Ich dachte, du kennst mich besser, Cayfern.«

»Du hast dort noch eine offene Rechnung«, erwiderte der Menschling. »Deswegen wirst du hingehen. Und das …« Er warf einen dicken Lederbeutel auf den Tisch. Er klirrte schwer. »Das ist nur die Anzahlung«, erklärte er. »Mein Auftraggeber verspricht mehr, sobald der Auftrag ausgeführt ist. Es wird genug sein, dass du deine Abende nicht damit vertrödeln musst, betrunkene Idioten in stinkenden, dreckigen Tavernen in Frostgate auszurauben.«

»Vielleicht macht mir das ja Spaß«, gab Raythen zurück und weigerte sich, nach der vollen Börse zu greifen. »In welcher Währung wird bezahlt?«

»In echtem Dunwarr-Silber«, erwiderte Cayfern. »Mein Auftraggeber verbürgt sich dafür.«

»Da bin ich mir sicher«, meinte Raythen trocken.

»Und wer genau ist dein Auftraggeber?«, fragte Astarra, die sich von dem prallen Geldbeutel auf dem Tisch herzlich unbeeindruckt zeigte. Shiver, der nicht mehr gesprochen hatte, seit er sich gesetzt hatte, nickte einmal knapp. Raythen hatte sich genau das bereits den ganzen Abend über schon gefragt, doch er hatte so was hier oft genug gemacht, um zu wissen, dass es sinnlos war, einem professionellen Mittelsmann wie Cayfern diese Frage zu stellen. Wer auch immer es war, er hatte auf jeden Fall eine Menge Zwergensilber und ein Interesse an Thelgrim, aber nicht die nötigen persönlichen Kontakte, um herauszufinden, was aus der unterirdischen Stadt geworden war. Raythen hatte überlegt, auf wen eine solche Beschreibung passen könnte, bisher war ihm jedoch niemand eingefallen. Seiner beträchtlichen Erfahrung nach konnte das nichts Gutes bedeuten.

»Mein Auftraggeber möchte anonym bleiben«, erklärte Cayfern schlicht. »Alles, was ihr wissen müsst, ist, dass er bezahlen kann, und zwar sehr gut. Dafür verbürge ich mich.«

»Verzeih mir, wenn ich das nicht gerade beruhigend finde«, entgegnete Raythen. »Nicht solange du uns nicht verrätst, was er denn jetzt eigentlich von uns will.«

»Er will, dass wir nach Thelgrim gehen«, erklärte Astarra, als sei Raythen ein Idiot.

Er lächelte sie herablassend an. »Und zu welchem Zweck bitte? Sollen wir ans große Tor klopfen, fragen, wie es Hauptmännin Lyssa Svensdottir geht und ob der alte Ragnarson gesund ist, und dann wieder zurückmarschieren, um unsere Reichtümer einzusacken? Ach bitte! Worum geht es wirklich, Cayfern? Erzähl uns die ganze Geschichte.«

»Sobald ihr in der Stadt seid, werdet ihr zum Hauptquartier der Liga der Erfindungen gehen«, führte Cayfern aus. »Dort gibt es ein Objekt, das ihr der Bitte meines Auftraggebers gemäß einsammeln und hierherbringen sollt.«

»Ich wusste es!«, rief Raythen und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich wusste, du willst, dass ich was stehle!«

»Nicht stehlen«, meinte Cayfern ruhig. »Die Liga weiß, dass ihr kommt. Ihr fragt nach Mavarin und er wird euch bereitwillig geben, was ihr braucht.«

»Und was genau ist dieses Ding, für das wir bis nach Thelgrim müssen, um es abzuholen?«, fragte Astarra.

»Es besitzt magische Eigenschaften«, antwortete Cayfern.

»Ein runengebundenes Fragment?«, mutmaßte Astarra. Raythen bemerkte, wie ein Lichtimpuls durch ihren Stab zuckte, während sie die Worte aussprach.

»Ja«, sagte Cayfern.

»Welches?«, wollte Astarra wissen; die Neugier in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Ich weiß es nicht«, gestand Cayfern. »Das wurde mir nicht gesagt. Aber mein Auftraggeber will, dass er aus dem Besitz der Dunwarr zurückgeholt wird. Er hat bereits einen Handel abgeschlossen und jetzt muss er nur noch abgeholt werden. Bringt ihn her und ihr werdet alle großzügig bezahlt werden.«

»Ich habe keine Verwendung für Geld«, sagte Shiver plötzlich. Der Tiefenelf war eine schweigende, brütende Präsenz gewesen, seit er sich gesetzt hatte, doch nun faltete er seine beängstigend langen schwarzen Klauenfinger vor sich auf dem Tisch und richtete seinen unnatürlich starren Blick auf den Mittelsmann. »Dein Meister hat nach mir gefragt, also muss er das wissen.«

»Mein Auftraggeber sagte mir, dass dies hier von größerem Interesse für dich sein könnte.« Cayfern zog etwas aus der Tasche seines Fellumhangs, legte es auf den Tisch und schob es dem Elf langsam zu.

Es war ein Vorhängeschloss, schwer und rostig an den Kanten. Auf den ersten Blick wirkte es vollkommen unscheinbar. Shiver betrachtete es eine Weile. In seinen schwarzen Augen war keinerlei Reaktion zu lesen. Dann streckte er langsam die Hand aus und nahm es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, als sei es ein seltsames, leicht verstörendes Insekt. Er hielt es sich vor die Augen und dann – sehr zu Raythens Belustigung – schnupperte er daran, bevor er es ebenso vorsichtig, wie er es aufgehoben hatte, wieder hinlegte.

»Gibt es noch mehr?«, fragte er mit seiner kalten, toten Stimme.

»Zwei, beide von größerer Bedeutung als dieses«, antwortete Cayfern. »Wenn du den Auftrag erledigst.«

Shiver schwieg.

»Ich arbeite nicht mit ihm zusammen«, beharrte Astarra, als würde der Tiefenelf nicht im selben Raum sitzen.

»Dann ist das dein Pech«, entgegnete Cayfern mit einem gleichgültigen Schulterzucken. »Sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft. Mein Auftraggeber hat mir mitgeteilt, dass er nach diesem sehr wahrscheinlich noch andere Aufträge zu vergeben haben wird, Aufgaben, die sich um weitere Runenfragmente drehen. Du könntest eine ganze Menge von ihm lernen. Seine Macht ist, in jeder Hinsicht, herausragend.«

Raythen erkannte einen Bluff, wenn er einen sah, und der von Astarra war nicht gerade überzeugend. Cayfern war, wie er wusste, deutlich besser in diesem Spiel.

»Wenn der Auftrag für keinen von euch von Interesse ist, werde ich meinem Auftraggeber Bescheid geben und er wird einen neuen Aufruf starten, um andere geeignete Kandidaten zu finden«, erklärte der große Mann und nahm den Sack mit dem Silber.

»Ich denk drüber nach«, sagte Raythen. Es war spät und er war nicht in der Stimmung für weitere Ablenkungen, nicht heute Nacht. »Nein, weißt du was? Ich mache es. Aber ich brauche eine größere Anzahlung als die … relativ großzügige, die du gerade angeboten hast. Dein Auftraggeber weiß meine Fähigkeiten offensichtlich zu schätzen. Er wird in Frostgate keinen anderen Dunwarr-Zwerg mit meinen Fähigkeiten finden. Niemand ist für diese Aufgabe besser geeignet als ich.«

Cayfern musterte ihn einen Moment lang, im Schein der flackernden Talgkerze war seine Miene nicht zu deuten. Dann griff er in seinen Umhang, zog einen weiteren Beutel heraus und warf ihn mit einem Klirren auf den Tisch.

Ja, er war gut im Bluffen, aber nicht so gut. Raythen nickte und schenkte Cayfern ein Lächeln. »Ich nehme den Auftrag an.«

»Genau wie ich«, sagte Shiver. Raythen merkte, dass er das alte Schloss in seine Roben gesteckt hatte, ohne dass er selbst es mitbekommen hatte.

Er blickte nach links zu Astarra. Die Zauberin starrte Shiver böse an, richtete jedoch langsam ihren Blick auf Cayfern und entspannte ihre Züge. »Sag deinem Auftraggeber«, verkündete sie entschieden, »dass die Runenhexe seine Bedingungen akzeptiert.«

»Das werde ich«, bestätigte Cayfern. »Es gibt keinen schriftlichen Vertrag. Es wird erwartet, dass ihr zum ersten Vollmond nach dem Fest der Flammen mit dem Fragment wieder hier seid. Ich werde euch erwarten.«

»Das sind nur knapp über zwei Monate«, stellte Astarra fest.

»Was ausreichen sollte, um nach Thelgrim zu reisen, das Fragment zu holen und zurückzukehren«, entgegnete Cayfern.

»Und wenn wir keinen Zutritt zum Berg bekommen?«, hakte Astarra nach. »Was, wenn wir aufgehalten werden?«

»Seht zu, dass das nicht passiert.«

»Die werde ich fürs Erste verwahren, nur zur Sicherheit«, verkündete Raythen und unterbrach damit das Schweigen, das sich nach Cayferns Ansage ausgebreitet hatte. Er griff über den Tisch und schnappte sich die zwei Beutel voll Silbermünzen. Zu seiner Überraschung versuchten weder Astarra noch Shiver, ihn aufzuhalten. Er zwang sich, eine ernste Miene zu bewahren, während er sie in einer der geheimen Taschen seines Rucksacks verschwinden ließ. Das würde einfacher werden, als er erwartet hatte.

»Tja, es war nett, mit dir zu plaudern, Cayfern«, meinte er und nickte dem Menschen zu. »Aber ich sollte jetzt zurück in die Schenke gehen. Ich habe Slevchek versprochen, dass er seine Verluste zurückgewinnen kann.«

»Hältst du das wirklich für klug?«, fragte Cayfern.

Raythen erhob sich und verbeugte sich knapp. »Wäre ich würdig, dieses große Unterfangen anzutreten, mit dem du mich beauftragt hast, wenn ich Nein sagen würde?« Er wandte sich an die anderen beiden.

»Es war mir eine Freude, euch beide zu treffen, und es wird sicher schön, euch im Verlauf unserer kleinen Expedition besser kennenzulernen. Wir werden zweifelsohne eine Menge Spaß haben.«

»Morgen früh, vor der Schenke«, entgegnete Astarra eisig. »Ich breche bei Tagesanbruch auf, ob ihr da seid oder nicht. Ich will nicht, dass diese Sache länger dauert als unbedingt nötig.«

»Keine Sorge«, entgegnete Raythen. »Ich denke, da sind wir uns alle einig.«

2

Raythen hielt sich an der Fensterbank fest und erbrach sich gegen die Wand. Der Schwall beißender, stinkender, widerlicher Galle brannte in seiner Kehle. Ohne loszulassen, richtete er sich auf und rang nach Atem.

»Bei Fortunas Glückswürfeln«, brachte er schwach hervor.

»Hast du letzte Nacht überhaupt geschlafen?«, fragte Astarra hinter ihm. In ihrem Tonfall schwang Ekel mit.

»Ist nur ein kleines Ritual«, log Raythen, der sein Spiegelbild in der dreckigen Fensterscheibe betrachtete und sich klebrige Spuren von Erbrochenem aus dem struppigen schwarzen Bart wischte. »Eine Tradition. Jedes Mal, wenn ich zu einer neuen Reise aufbreche, kotze ich mir vorher die Seele aus dem Leib.«

Er spürte, wie sich sein Magen erneut regte, und kniff die Augen zusammen, ohne dass Astarra es bemerkte. Er versuchte, das Rumoren in seinen Innereien, den kalten Schweiß und das Dröhnen in seinem Schädel mit reiner Willenskraft zu vertreiben. In diesem Zustand war es für ihn eigentlich undenkbar, sich auf eine einmonatige Reise zurück in die Stadt zu begeben, die ihm bereits so viel genommen hatte. Aber er wollte verdammt sein, wenn er das vor seinen neuen Gefährten eingestand.

»Mir geht’s gut«, beharrte er, öffnete die Augen und zwang sich, tief und langsam durchzuatmen. Dann nahm er einen Schluck lauwarmes Wasser aus dem Beutel an seiner Hüfte.

»Das wollte ich gar nicht wissen«, entgegnete Astarra. Ein schwerer Umhang aus geflecktem Leonx-Fell schützte sie vor dem kalten Wind, der die dreckige Straße entlangpfiff. Das weiße Fell bildete einen starken Kontrast zu dem langen schwarzen Zopf, der über ihre Schulter fiel. Ihren Stab hatte sie sich auf den Rücken gebunden, die blaue Spitze schimmerte schwach im Licht der aufgehenden Sonne.

»Wo hast du die Nacht verbracht?«, fragte Raythen, während er seinen Rucksack schulterte und den schlammbefleckten grünen Mantel aus den Trageriemen befreite.

»In einem der Schlafzimmer im oberen Stock«, antwortete Astarra. »Und du?«

»Unter einem der Tische im Keller«, sagte Raythen, »glaube ich …«

Vorsichtig berührte er die Seite seines Schädels und stöhnte, als er die Beule ertastete, die sich dort über Nacht gebildet hatte. Alles, was nach seinem Treffen mit Cayfern passiert war, wirkte völlig verschwommen. Er erinnerte sich an ein weiteres Kartenspiel, hatte aber keine Ahnung, ob Slevchek involviert gewesen war oder nicht. Er erinnerte sich bruchstückhaft an zersplittertes Glas, Schreie und einen Hocker, der durch die Luft geflogen war. Unter einem Tisch in der Ecke des zertrümmerten Schankraums war er wieder zu sich gekommen. Das Erste, was er überprüft hatte, war, ob das Silber von Cayfern und die Münzen, die er gewonnen hatte, noch da waren – alles vorhanden. Das war das Wichtigste. Widerwillig hatte er einer stoischen Schankmaid ein paar Münzen dagelassen, die versucht hatte, das Chaos zu beseitigen, dann war er hinaus ins schwache Licht des anbrechenden Tages gestolpert.

»Die Frage ist, wo unser dritter furchtloser Gefährte steckt«, überlegte er laut und wandte sich von Astarra ab, um die Straße abzusuchen.

Frostgate erstreckte sich vor ihm, grau und trostlos im zunehmenden Licht. Noch hatte der Sommer diesen Teil von Terrinoth im Griff, doch er hatte inzwischen seinen Glanz verloren. Raythen wusste, dass die Händler, Kaufleute und Söldner bald in die berüchtigte freie Stadt zurückkehren würden, um Schutz und eine Verdienstmöglichkeit zu suchen, während die nördlichen Straßen unpassierbar wurden und die Flüsse zufroren. Innerhalb weniger Wochen würde sich die Zahl der Einwohner vervierfachen und eine neue Siedlung aus Jurten, Zelten und Verschlägen würde jenseits der Mauern entstehen. Raythen versuchte immer, die Stadt zu verlassen, bevor das Wetter umschlug – er hatte zu viele Feinde, die sich gern in Frostgate aufhielten, um zu riskieren, in der Hochsaison hierzubleiben.

»Der Elf ist längst hier«, sagte Astarra, woraufhin er sich umdrehte und ihrem Blick folgte.

Still und stumm wie ein Wiederkehrer stand Shiver in der Dunkelheit einer Gasse, die an Skelligs Schenke entlanglief. Raythen wäre fast aus der Haut gefahren und konnte sich einen zornigen Blick nicht verkneifen. Er war es nicht gewohnt, überrascht zu werden.

»Wo in Fortunas Name kommst du denn her?«, wollte er wissen.

Shiver trat hinaus in den Unrat der Straßen, seine verschlissene Robe schleifte durch den Dreck. »Du hast Erbrochenes auf den Stiefeln«, bemerkte er, statt Raythens Frage zu beantworten.

Der Zwerg sah nach unten und erkannte, dass er recht hatte. Ohne sich die Mühe zu machen, sie zu säubern, lächelte er und legte seine Hand auf die Schulter der totenhaften Gestalt. »Du und ich«, sagte er, »wir beide werden gute Freunde werden.«

Shiver zeigte keinerlei Reaktion, außer dass er Raythens Hand musterte, bis der Zwerg sie von seiner Schulter nahm.

Ohne ein Wort ging Astarra an ihnen vorbei in Richtung des Tors.

»Das heißt wohl, wir brechen auf?«, rief er ihr nach, überprüfte noch einmal seinen Rucksack und atmete bewusst langsam und tief, um seinen Magen zu beruhigen. »Ganz ehrlich, wenn ich in Thelgrim wäre und wüsste, dass wir kommen, würde ich die Tore auch verriegeln lassen.«

Shiver hatte sich ebenfalls in Bewegung gesetzt. Die mit den schweren Fesselringen bewehrten Hände hatte er in die langen Aufschläge seiner Ärmel geschoben. Mit einem Seufzen folgte Raythen ihnen.

Die Berge ragten zu beiden Seiten auf und reckten sich dem Himmel entgegen. Ihre weißen Gipfel erstrahlten in der Sonne, während zu ihren Füßen alles im Schatten lag.

Sie standen vor ihm, eine Frau und ihr Kind, von Erschöpfung gebeugt. Ihre Kleidung war zerrissen und dreckig, ihr Haar verfilzt und fettig, ihre Augen leer, ihre Wangen ausgezehrt. Sie starrten in seine Seele wie Totengeister, die ihr eigenes Schicksal verfluchten und das all jener, die sie an diesen Punkt gebracht hatten. Sie schwiegen.

Langsam hob das Kind die Hand und deutete an ihm vorbei auf die Berge. Sein Blick folgte dem ausgestreckten Finger, doch er konnte nichts erkennen. Als er sich wieder umdrehte, hatte auch die Mutter die Hand ausgestreckt und zeigte in dieselbe Richtung. Keiner von beiden hatte den Blick von ihm abgewandt.

Er hörte ein Geräusch, anfangs noch leise, doch es schwoll rasch an. Es war Wasser, erkannte er, das Rauschen einer herannahenden Woge. Es nahm immer weiter zu, bis es zu einem wütenden Tosen wurde. Doch er konnte es nicht sehen. Panisch suchend drehte er sich im Kreis. Es klang, als würde eine Flutwelle durch das Tal branden, allerdings konnte er keinerlei Spur davon entdecken, nichts außer dem Dröhnen in seinen Ohren.

Mit einem Mal erkannte er, dass die Frau und das Kind verschwunden waren. Dann traf ihn das Wasser.

Mit einem stummen Schrei auf den Lippen sprang Shiver auf die Füße, sein Herz raste. Der Wald um ihn herum war vollkommen still. Die ersten Sonnenstrahlen des Morgens stahlen sich durch das Blätterdach, ein sanftes, blasses Licht, das den moosbewachsenen Ästen und den dichten Vorhängen aus herabhängendem Efeu ihre Farbe zurückgab. In der Nähe raschelte es im Unterholz, ein Wanderflügel flatterte zwitschernd auf und flog zu den Baumkronen hinauf.

Er seufzte leise. Einen Moment lang hatte er vergessen, wo er war. Doch als die Vision verklang und sein Herzschlag sich beruhigte, kehrte die Realität zu ihm zurück. Er hatte die Nacht an der südlichen Grenze des Finsterbruchwalds unter den Zweigen eines großen Silberrindenbaums verbracht. Sein Rücken schmerzte, weil er auf einer knorrigen Wurzel gelegen hatte. Er streckte sich und spürte, wie seine verspannten Muskeln sich lockerten und die Gelenke knackten.

Wie er feststellte, war er völlig durchnässt. Seine Robe, seine Haut, alles war klatschnass, als wäre ein Gewitter über ihn hereingebrochen, während er geschlafen hatte. Er verzog das Gesicht. Trotz der Nässe fror er nicht.

Es war richtig gewesen, diese Aufgabe zu übernehmen. Das redete er sich ein, seit sie Frostgate vor einer Woche verlassen hatten. Unabhängig von der Gesellschaft waren es die Erinnerungen, die ihn hierhergeführt hatten, über den Pfad entlang des Aenlong, entsprungen aus der Empyreumsmagie, von der er nun schon so lange abgeschnitten war. Und die Erinnerungen logen nicht.

Er wusste, dass ein Teil von ihm sich gefürchtet hatte. Deshalb hatte er das Schloss bis gestern Nacht nicht eingesetzt. Er hatte Angst, dass er die falsche Entscheidung getroffen hatte, war besorgt, dass die Hoffnung ihn einmal mehr fehlgeleitet hatte. Die Schlösser hatten alle auf Antworten hingedeutet, und es war so lange her, seit er welche bekommen hatte. So lange schon kannte er nichts anderes als seine Buße.

Doch er war auf dem richtigen Weg. Es war eine Vision gewesen, keine Erinnerung, die der Schlüssel freigesetzt hatte. Er hatte das Dunwarr-Gebirge gesehen. Den Rest konnte er noch nicht so recht deuten. Doch der Weg würde es ihm zeigen, wenn die Zeit gekommen war.

Er blickte hinab auf seine Füße und betrachtete das Schloss, das der Mensch ihm gegeben hatte. Der Schlüssel steckte und war nach rechts gedreht. Er zögerte, dann bückte er sich und griff danach. Als er ihn an herauszog, breitete sich der Rost, der das Schloss verunstaltete, rasend schnell aus. Tausend Jahre vergingen in einem Augenblick, während er das Metall zerfraß und auflöste, bis nur noch Staub übrig war, der von einer Brise davongetragen wurde, die sanft durch die Äste der Silberrinde hinter ihm strich. Lediglich der Schlüssel in seiner Hand blieb zurück.

Diesen band er sich wieder um die Hüfte. Er war müde, doch die Zeit der Ruhe war vorbei. Die anderen beiden waren vermutlich längst auf der Suche nach ihm, während sie wahrscheinlich gleichzeitig hofften, dass er nicht zurückkehrte. Das machte Shiver nichts aus. An ihrer Stelle wäre es ihm genauso gegangen.

»Wo gehst du nachts hin?«, fragte Raythen, als er sich ans Feuer setzte. Eine Woche war vergangen, seit sie Frostgate verlassen hatten, und das Trio hatte Hohenburg längst im Süden hinter sich gelassen. Die Straße war merklich schmaler und unebener geworden und die gelegentlichen Felder und Waldausläufer waren wildem Heideland und schroffen Hügeln gewichen, während sie immer weiter nach Nordosten gereist waren. Der Finsterbruchwald lag links von ihrem Nachtlager, eine dunkle, bedrohliche Masse aus Bäumen und Gestrüpp, die sie permanent zu beobachten schien.

Shiver sagte nichts, während er im Schneidersitz neben dem Lagerfeuer saß und in einer Schüssel mit Haferbrei herumstocherte, den Astarra gekocht hatte.

»Er geht nachts in den Wald wie alle bösen Dinge«, sagte Astarra, die den Elf keines Blickes würdigte. »Ich habe ihn gesehen. Der Finsterbruchwald ist verflucht. Alle wissen das.«

»Wahrscheinlich will er einfach nur nicht riskieren, dass du ihn im Schlaf ermordest«, entgegnete Raythen.

»Ich schlafe besser, wenn ich allein bin«, erklärte Shiver knapp.

Raythen hakte nicht weiter nach. Seit sie Frostgate verlassen hatten, hatte er eine Reihe wichtiger Dinge über seine Gefährten gelernt, nicht zuletzt, dass der hagere, zerlumpte Elf weniger eine finstere Gestalt und mehr ein trauriger Einzelgänger war. Eine Furcht einflößende Aura war nützlich, um andere fernzuhalten, und Raythen hegte keinen Zweifel daran, dass Shiver wusste, wie er sie einsetzen musste. Astarra war definitiv darauf reingefallen – sie war überzeugt, dass er bloß auf eine Gelegenheit wartete, um ihnen die Kehle durchzuschneiden, sie ausbluten zu lassen und ihre Seelen irgendeinem Dämon des Ynferneums zu opfern.

Was die Runenhexe anging, hatte Raythen den Verdacht, dass sie weitaus mächtiger war, als sie vorgab. Er hatte zum ersten Mal miterlebt, wie sie ihre Magie angewandt hatte, als sie einer Karawane begegnet waren, die an einer Furt angehalten hatte. Einer der Karren war ins Wasser gestürzt und hatte eine Mutter verletzt, ihr Kind war im Begriff gewesen, von der Strömung fortgerissen zu werden. Astarra hatte die Energien eines ihrer Steine beschworen, die Tiefenrune, und das Wasser kontrolliert, es geformt wie ein Töpfer seinen Ton und es so gelenkt, dass es das kleine Mädchen in die Arme seiner Mutter zurücktrug.

Raythen wäre beeindruckt gewesen, hätte er sich nicht wenige Augenblicke später gezwungen gesehen, Astarra davon abzuhalten, Shiver anzugreifen. Der Elf hatte der Frau helfen wollen, die bei dem Unfall verwundet worden war, und seine seltsame, eisige Elfenmagie eingesetzt, um den Schnitt in ihrem Arm zu schließen. Astarra schien jedoch zu glauben, er wolle der armen Seele das Leben aussaugen.

Nachdem er die Runenhexe beruhigt hatte, hatten sich die Flüchtlinge mit Brot und Getreide bei ihnen bedankt. Es war die dritte Gruppe dieser Art, der sie in den vergangenen sieben Tagen begegnet waren, und jede wirkte noch verzweifelter und mitgenommener als die letzte. Lange Kolonnen aus Wagen und Karren verstopften die Straße. Sie ächzten unter dem Gewicht der Habseligkeiten und natürlich der Leute – die Alten, die Jungen, die Gebrechlichen. Die, die noch dazu in der Lage waren, trotteten nebenher und ließen vor Erschöpfung den Kopf hängen.

Raythen wusste, diese Straße war nicht die einzige, auf der man solche Prozessionen sehen konnte. Seit seinem letzten Auftrag in Dawnsmoor und auf dem ganzen Weg bis nach Frostgate war ihm die wachsende Zahl der Flüchtlinge aufgefallen. Traurige Gruppen von obdachlosen, mittellosen Familien kauerten sich in den kalten Straßen und Gassen verzweifelt um flackernde Feuer. Er hatte schon oft Vertriebene gesehen, von jenen, die nach dem großen Hautfäulnisausbruch aus Riverwatch geflohen waren, bis hin zu den Enteigneten, die die Grenzmark während der Zeit der Überfälle verlassen hatten. Doch nie zuvor hatte er solche Massen erlebt. Es war, als sei ganz Terrinoth gezwungen, sich nur mit dem, was man auf dem Rücken tragen und auf einen Karren laden konnte, auf den Weg zu machen.

Soweit Raythen das sagen konnte, betraf es auch keine bestimmte Bevölkerungsgruppe. Viele der Flüchtlinge waren Menschen, ihm waren jedoch Gesichtszüge und Dialekte aufgefallen, die aus allen Baronaten bis südlich des großen Waldes von Aymhelin stammten. Unter ihnen waren auch Orks und Zwerge, ein paar Hyrrinx-Katzenmenschen und sogar Elfen. Alle berichteten von Unruhen, Banditenangriffen und Uthuk-Überfällen und vor allem gab es hartnäckige Gerüchte über eine große Schlacht, die gegen die Dämonenanbeter in Kell oder eines der anderen östlichen Baronate geschlagen worden war.

Wortlos erhob sich Shiver und ging davon. Raythen bemerkte Astarras finsteren Blick und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Warum hasst du ihn so?«, fragte er. »Habt ihr zwei eine gemeinsame Vergangenheit, von der ich nichts weiß?«

Abwehrend schüttelte sie den Kopf. »Ich habe in Greyhaven vielversprechende Schüler gesehen, die von der Anziehungskraft der dunkleren Formen der Magie in ihren Bann gezogen wurden. Ich sagte doch, ich erkenne einen Dunkelmagier, wenn ich einen sehe.«

Raythen gab ein unverbindliches Brummen von sich. Insgeheim war er froh, dass Shiver sich für die Nacht zurückgezogen hatte. Er wollte schon seit ein paar Tagen mit Astarra reden und hatte auf den besten Zeitpunkt gewartet. Er hatte Fragen bezüglich ihrer Beteiligung an dieser Angelegenheit und er wollte Antworten, bevor er ihr sein Vertrauen schenkte.

»Etwas beschäftigt mich schon seit Tagen«, begann er so beiläufig wie möglich, während er die Runenhexe über die Flammen hinweg beobachtete. »Seit jener Nacht in Skelligs Schenke, genau genommen. Ich denke Tag und Nacht darüber nach, weil es wichtig ist, aber ich komm einfach nicht dahinter. Was genau willst du in Thelgrim?«

Statt zu antworten, starrte Astarra stur in ihren Haferbrei.