Deutsche Anwälte zwischen Demokratie und Diktatur - Eva Douma - E-Book

Deutsche Anwälte zwischen Demokratie und Diktatur E-Book

Eva Douma

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Beschreibung

Eva Doumas Untersuchung über die Rechtsanwaltschaft von der Weimarer Republik bis in die Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland mit Schwerpunkt auf dem Dritten Reich befördert Kontinuitäten und andere Sachverhalte ans Licht, die von der Berufsgruppe und ihren Repräsentanten nach 1945 ignoriert worden sind. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Eva Douma

Deutsche Anwälte zwischen Demokratie und Diktatur

1930–1955

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Zeit des Nationalsozialismus [...]EinleitungI. Selbstverständnis und Selbstorganisation der AnwaltschaftAnwaltliches Selbstbild und Grundprinzipien beruflichen HandelnsAnwaltskammer und Anwaltsverein, die etablierten BerufsorganisationenZusammenfassungII. Qualifikation und Sozialstruktur der AnwaltschaftAnwaltliche QualifikationenEinkommen und wirtschaftliche LageDie soziale und regionale HerkunftDie HeiratskreiseKonfessionelle BindungPolitische OrientierungZusammenfassungIII. Der Berufszugang und die Ausgrenzung unerwünschter Juristengruppen aus der AnwaltschaftZulassungsbeschränkungen und AuswahlkriterienDie Ausgegrenzten»Berufsfremde« QuereinsteigerVertriebene und SBZ-FlüchtlingeFrauen im AnwaltsberufJüdische Rechtsanwälte»Kommunistische« JuristenEntnazifizierung und Wiederzulassung aktiver NationalsozialistenZusammenfassungIV. Arbeits- und BüroorganisationFormen der BerufsausübungDie SimultanzulassungDie Spezialisierung – der FachanwaltDie SyndicustätigkeitDas NotariatDie BüroorganisationBeschaffung und Ausstattung des BürosEffizienz durch KooperationDas PersonalZusammenfassungV. Anwaltstätigkeit unter außerordentlichen BedingungenMandantenvertretung im »Dritten Reich«Verschärfte Arbeitsbedingungen für RechtsanwältinnenZunehmend eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten jüdischer RechtsanwälteRechtsanwälte als freiwillige Helfer der JustizZusammenfassungSchlußbetrachtungAnhangAbkürzungsverzeichnisVerzeichnis der verwendeten QuellenVerzeichnis der verwendeten LiteraturTabellen und statistische Materialien

Die Zeit des Nationalsozialismus Eine Buchreihe

Herausgegeben von Walter H. Pehle

 

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf

Einleitung

Vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten betonten die deutschen Anwälte und insbesondere ihre Standesvertreter immer wieder, daß die Anwaltschaft eine Berufsgruppe von ehrenwerten Bürgern sei, die in erster Linie die Interessen ihrer Mandanten gegenüber anderen Bürgern und dem Staat vertrete und damit zugleich zum Wohle der Allgemeinheit und der Rechtspflege beitrage. Als Freiberufler waren die Anwälte zwar für die Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz selbst verantwortlich. Konkurrenz, Gewinnmaximierung und Selbstdarstellung sollten dennoch nicht das Maß ihrer Handlungen sein. Zugleich waren sie als »Organ der Rechtspflege« zu einer gewissen Loyalität gegenüber dem Staat verpflichtet. Wer diese Prinzipien achtete und über die fachlichen Qualifikationen verfügte, sollte unabhängig von Religion und Geschlecht, Herkunft und politischer Orientierung den Beruf des Anwalts ausüben dürfen.

Die konträren Anforderungen – Loyalität gegenüber dem Staat, Interessenvertretung für den Mandanten, Kollegialität und selbständige Sicherung der ökonomischen Existenz – waren in der Realität zum Teil nur schwer in Einklang zu bringen. Insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten sah sich die Anwaltschaft in ihrer ökonomischen Existenz gefährdet. Das theoretische Ziel, jeden Menschen ohne Ansehen der Person unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung und seiner wirtschaftlichen Potenz zu vertreten, wurde von dem Bestreben, die eigene berufliche Existenz zu sichern, überlagert. Der andere Anwalt war nicht nur Kollege, sondern auch Konkurrent. Mandanten waren nicht nur rechtsuchende Bürger, sondern auch mehr oder minder finanzkräftige Kunden anwaltlicher Dienstleistungen.

Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden die Berufsprinzipien der Anwaltschaft grundsätzlich in Frage gestellt. Der Zugang zur Berufsgruppe sollte nicht mehr nur aufgrund fachlicher Qualifikation erfolgen, die »persönliche Eignung« gewann an Bedeutung, wobei Frauen, Juden und »Kommunisten« per se als »ungeeignet« angesehen wurden. Nationalsozialistisch engagierten Juristen wurde eine besondere Eignung unterstellt, auch wenn ihre fachlichen Qualifikationen eher unterdurchschnittlich waren. Das nationalsozialistische System sprach bestimmten Bevölkerungsgruppen (v.a.Juden und »Kommunisten«) die Existenz und die Wahrnehmung der Freiheitsrechte grundsätzlich ab. Ein Anwalt, der mehr oder minder »politische« Mandate übernahm – »politisch« war beispielsweise auch jede zivilrechtliche Auseinandersetzung, in die ein Jude involviert war –, mußte mit staatlichen Sanktionen rechnen. Loyalität wurde zunächst gegenüber dem Staat und erst in zweiter Linie gegenüber den Mandanten erwartet. Zeigten die Rechtsanwälte gegenüber dem NS-Staat die erwartete Loyalität, so blieben die Opfer und Verfolgten des nationalsozialistischen Systems ohne anwaltliche Vertretung. Das Verhältnis der Anwälte zu ihren Mandanten wurde auf die Probe gestellt.

Wie sich der »Anwaltsstand« gegenüber den Zumutungen des Nationalsozialismus verhielt, an welche Traditionen die Berufsgruppe in der Nachkriegszeit anknüpfte und inwieweit und in welcher Weise sie die an sie gestellten Anforderungen – Ökonomie, Berufsethos, Kollegialität – in Einklang brachte, ist Thema der hier vorliegenden Untersuchung.

Die Materialgrundlage bilden – neben der veröffentlichten Verbandsliteratur, die Einblick in das berufliche Selbstverständnis gibt – vor allem die Personal- und Generalakten zur Anwaltschaft der Oberlandesgerichte Hamm und Düsseldorf. Die vollständige Erfassung aller zwischen 1930 und 1950 am OLG Hamm zugelassenen Anwälte, ergänzt durch vergleichende Stichproben aus Düsseldorf, gibt einen genaueren Einblick in die soziale Herkunft, die politische Orientierung und den beruflichen Werdegang der Anwaltschaft dieser Zeit. Neben dem Schicksal jüdischer Anwälte läßt sich durch die Auswertung von Personalakten der Land- und Oberlandesgerichte der Bezirke Düsseldorf und Hamm erstmals die Situation zweier weiterer Minderheiten innerhalb der Anwaltschaft – Flüchtlinge und Frauen – erschließen. Die Personalakten der zwischen 1930 und 1950 aktiven Vorstandsmitglieder der Anwaltskammern Hamm und Düsseldorf, die Generalakten der Oberlandesgerichte Hamm und Düsseldorf zur Anwaltschaft und die Sitzungsprotokolle der Vorstandssitzungen der Düsseldorfer Anwaltskammer ermöglichen Aussagen zur sozialen Zusammensetzung der Kammervorstände und zur durch sie gestalteten Anwaltspolitik. Hier erwies es sich als großes Glück, daß die Düsseldorfer Anwaltskammer ihre Protokollbücher noch besitzt und zudem zur Verfügung stellte. Der am schwierigsten zu erschließende Bereich war die Mandantenvertretung, die eigentliche anwaltliche Arbeit. Sie fand in der Regel mündlich statt und wurde nicht aktenkundig. Prozeßakten der Gerichte, welche die Korrespondenz zwischen Gericht und Anwalt hätten enthalten können, sind in der Regel nicht archiviert, die Handakten der Anwälte ebenfalls zumeist vernichtet. Hier wurde auf Justizakten, die allerdings meist nur von der Norm abweichendes Anwaltsverhalten aufzeichneten, auf Selbstzeugnisse von Anwälten und Hinweise der Sekundärliteratur zurückgegriffen.

Die vorliegende Studie ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation an der Geschichtsfakultät der Universität Bielefeld 1996. Das Projekt auf den Weg brachte die Bielefelder Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Hannes Siegrist im Rahmen eines Teilprojektes des Sonderforschungsbereiches »Bürgertum«. Fortgesetzt wurde es im Graduiertenkolleg »mittelalterliche und neuzeitliche Rechtsgeschichte« an der juristischen Fakultät der Universität Frankfurt; das hierdurch vermittelte Stipendium der Volkswagenstiftung erleichterte die Fertigstellung der Arbeit sehr.

Daß die Auswertung der datenschutzrechtlich sensiblen Personalakten der Anwälte überhaupt zu realisieren war, ist dem Engagement und der Unterstützung von Prof. Dr. Christoph Kleßmann und Prof. Dr. Bernhard Diestelkamp sowie der Düsseldorfer Landtagspräsidentin a.D. Ingeborg Friebe zu verdanken. Schließlich überwanden der Justizminister Nordrhein-Westfalens, das Oberlandesgericht in Hamm und auch das Oberlandesgericht in Düsseldorf ihre Bedenken, vertrauten mir und erlaubten den Zugang. Der Rechtsanwaltskammer in Düsseldorf sei an dieser Stelle für die Bereitschaft, ihre Kammerprotokolle zur Verfügung zu stellen, ganz herzlich gedankt. Ihre großzügige finanzielle Unterstützung erleichterte zudem die Publikation der Forschungsergebnisse. Die unermüdliche finanzielle und ideelle Förderung meiner Mutter Renate Douma ermöglichten es mir, die Erforschung zeitgeschichtlicher Fragestellungen voranzutreiben. Für die angenehme Beherbergung während des monatelangen Aktenstudiums in Westfalen sei Familie Krill an dieser Stelle gedankt. Das stete Nachhaken und die konstruktiven Diskussionen nicht nur meiner Bielefelder Freunde und Kollegen, genannt sei hier pars pro toto Dr. Georg Wagner, trugen die Sache entscheidend voran. In Frankfurt waren es Dr. Thomas Ormond und Professor Dr. Joachim Rückert, die mir mit Rat und Tat beistanden. Abschließend möchte ich mich noch bei Herrn Dr. Walter Pehle ganz herzlich für die Aufnahme der Untersuchung – trotz ihrer für die porträtierte Berufsgruppe nicht immer schmeichelhaften Aussagen – in die »schwarze Reihe« des Fischer Taschenbuch Verlages bedanken. An der Erstellung dieser Arbeit, die mich nicht nur viel Mühe kostete, sondern mir ebensoviel Spaß bereitete, waren somit viele beteiligt, und mir bleibt die Hoffnung, daß noch mehr von ihr profitieren, sich gut unterhalten und neue Erkenntnisse erlangen werden.

I. Selbstverständnis und Selbstorganisation der Anwaltschaft

Die »Freiheit der Advokatur« ist ein Schlüsselbegriff in der Diskussion und der Darstellung des anwaltlichen Selbstverständnisses. 1867 hatte Rudolf Gneist die Schrift »Freie Advocatur. Die erste Forderung aller Justizreform in Preußen«[1] veröffentlicht. Am 1. Oktober 1879 trat die Rechtsanwaltsordnung zusammen mit dem Gerichtsverfassungsgesetz und den Prozeßordnungen für das Deutsche Reich in Kraft und gab den Anwaltsberuf »frei«. Vorher waren Rechtsanwälte in weiten Teilen des Deutschen Reiches staatliche Beamte gewesen, nicht anders als Richter oder Staatsanwälte. »Freie Advokatur« hieß und heißt die Unabhängigkeit des Anwalts von staatlicher Hierarchie und Disziplin, wie auch die Vertretung individueller Interessen und Rechte durch den Anwalt, gegründet auf die Überzeugung, daß nur ein unabhängiger Advokat diese Aufgabe erfüllen kann[2].

Unabhängig und »frei« zu sein hieß und heißt jedoch nicht, nach eigenem Belieben handeln zu können. Als ein »Organ der Rechtspflege« ist der Anwalt Teil des Justizapparates im weitesten Sinn. Der Begriff »Organ der Rechtspflege« wurde nach 1878 durch die Ehrenrechtsprechung entwickelt und definiert. Die Rolle des Anwalts ist dabei eine komplizierte. Er ist freiberuflich tätig und auch kein Beamter. Insoweit ist er »unabhängig«. Zugleich hat er im Rahmen des Gerichtsverfahrens eine amtsähnliche Stellung inne und nimmt öffentlich-rechtliche Funktionen wahr. Jeder Anwalt ist an einem bestimmten Gericht zugelassen und im Gerichtsverfahren den Richtern und Staatsanwälten nebengeordnet. Er soll die Rechtsprechung bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unterstützen. Als »Organ der Rechtspflege« genießt er das Recht auf Akteneinsicht in einem laufenden Ermittlungsverfahren, ist aber auch zur Wahrheit verpflichtet. Neben der individuellen Interessenvertretung ist die anwaltliche Tätigkeit damit zugleich die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe[3].

Die »Freiheit der Advokatur« war und ist eng verknüpft mit der Selbstorganisation des Berufsstandes. Eigene Berufsgerichtsbarkeit und berufliche Selbstverwaltung waren und sind die hierfür unabdingbaren Voraussetzungen. Anwaltskammer und Ehrengericht bilden die beiden wichtigsten Institutionen, in denen anwaltliche Politik verbindliche Gestalt annimmt und wo die Definitionsmacht über das als ehrenhaft verstandene Verhalten des Anwalts liegt. Hier konkretisieren sich Berufsethos und berufliches Selbstverständnis. Der »Stand« wurde und wird durch aktive Standespolitik seiner Repräsentanten gestaltet.

Anwaltliches Selbstbild und Grundprinzipien beruflichen Handelns

Um die berufliche Autonomie sowohl gegenüber den privaten Auftraggebern als auch gegenüber der staatlichen Regierung sicherzustellen, war es seit dem 19. Jahrhundert erklärtes Ziel der Anwaltschaft, unehrenhaftes Verhalten der Berufsangehörigen selbst zu disziplinieren und diese Aufgabe nicht dem Staat zu überlassen[4]. Die Disziplinierung der Rechtsanwälte befand sich zwar zu keinem Zeitpunkt allein in den Händen der Berufsgenossen, doch gelang es der Anwaltschaft, ihre Beteiligung an dem Verfahren sukzessive zu erweitern.

Mit dem Inkrafttreten der Rechtsanwaltsordnung im Jahr 1879 wurden zur beruflichen Selbstdisziplinierung und Reglementierung der anwaltlichen Existenz bei den Anwaltskammern sogenannte Ehrengerichte eingerichtet, vor denen die Staatsanwaltschaft Anklage gegen einen die Berufspflichten verletzenden Anwalt erheben konnte[5]. Diese Gerichte wurden in jedem Oberlandesgerichtsbezirk mit fünf aus dem Vorstand der Anwaltskammer gewählten Mitgliedern besetzt[6]. Die Berufungsinstanz, der Ehrengerichtshof beim Reichsgericht in Leipzig, setzte sich zunächst aus drei Rechtsanwälten und vier Richtern zusammen[7]. Im »Dritten Reich« kehrte sich das Verhältnis von Richtern zu Anwälten um. Ab 1934 waren es vier Anwälte und drei Richter, die das Ehrengericht bildeten. Am 1. März 1943 wurde die Ehrengerichtsbarkeit in ihrer bisherigen Form völlig beseitigt und die berufsgerichtliche Disziplinierung der Anwälte den Dienstgerichten für Beamte übertragen[8]. Nach dem Zweiten Weltkrieg existierte zunächst kein zentraler Ehrengerichtshof mehr. In den sich bildenden Ländern der späteren Bundesrepublik einschließlich des Landes Berlin entstanden als Berufungsinstanz der wieder eingerichteten Ehrengerichte in den Oberlandesgerichtsbezirken neun Ehrengerichtshöfe[9]. Seit Oktober 1946 setzte sich der Ehrengerichtshof der Britischen Zone aus vier Rechtsanwälten und einem Richter zusammen[10]. Bundeseinheitlich wurde das Anwaltsrecht schließlich in der Bundesrechtsanwaltsordnung im Jahr 1959 geregelt[11]. Zum ersten Mal durften jetzt die Ehrenrichter nicht mehr zugleich Mitglied des Kammervorstandes sein, wie dies zuvor üblich gewesen war. Der sich konstituierende Ehrengerichtshof wurde die für das gesamte Bundesgebiet zuständige Berufungsinstanz und besteht aus zwei Richtern und drei Rechtsanwälten[12].

Die Verletzung anwaltlicher Pflichten wurde seit Bestehen der Ehrengerichtsbarkeit mit einer »Warnung«, einem »Verweis«, einer Geldstrafe oder der Ausschließung aus der Anwaltschaft bestraft. Zudem sprach der Kammervorstand in solchen Fällen, in denen die Einleitung eines Ehrengerichtsverfahrens als übertrieben angesehen wurde, eine – gesetzlich gar nicht vorgesehene – sogenannte »Mißbilligung« aus[13]. Die Höchstgrenze der Geldstrafe lag im Jahr 1878 zunächst bei 3000RM[14] und wurde 1934 auf 5000RM erhöht[15]. Die Rechtsanwaltsordnung der Britischen Zone von 1949 setzte die Summe erneut auf 5000 – diesmal D-Mark – fest[16], welche durch die Bundesrechtsanwaltsordnung von 1959 auf 10000DM verdoppelt wurde[17].

Welches anwaltliche Verhalten wie bewertet werden sollte, war immer wieder streitig, die Beurteilung des anwaltlichen Tuns immer Zeitströmungen und politischen Veränderungen unterworfen und von ihnen abhängig.

Bei der Beratung der ersten Rechtsanwaltsordnung von 1878 war diskutiert worden, im Gesetz das standeswidrige Verhalten enumerativ festzulegen. Da jedoch eine vollständige Aufzählung unmöglich erschien, setzten sich schließlich die Befürworter einer Generalklausel[18] durch[19]. Somit war in der Rechtsanwaltsordnung von 1878 und den nachfolgenden Standesordnungen nur rudimentär bestimmt, welches anwaltliche Verhalten als sanktionswürdig galt. Die Generalklausel der Rechtsanwaltsordnung von 1878 verpflichtete den Anwalt dazu, »seine Berufstätigkeit gewissenhaft auszuüben und durch sein Verhalten in Ausübung des Berufes sowie außerhalb desselben sich der Achtung würdig zu zeigen, die sein Beruf« erfordere[20]. Diese oder ähnliche Formulierungen wurden in der Anwaltsordnung von 1936[21] und auch in den seit 1946 erlassenen Berufsgesetzen der einzelnen deutschen Länder bzw. Besatzungszonen[22] und in der Bundesrechtsanwaltsordnung wiederholt[23].

Offen war und blieb, wie dieser Anspruch inhaltlich auszufüllen war. Hierzu sollte die sogenannte »communis opinio« aller Rechtsanwälte Aufschluß darüber geben, welche Verhaltensweisen innerhalb der Berufsgruppe allgemein anerkannt seien. Diese »communis opinio« im Einzelfall zu definieren war nicht ganz einfach. Die Auffassung, welches Verhalten als »standesgemäß« zu bezeichnen sei und welches nicht, wechselte insbesondere bei der Beurteilung politischer Handlungen der Anwälte häufiger. Andere berufsbezogene Verhaltensweisen, wie beispielsweise Werbemaßnahmen, wurden mit erstaunlich hoher Kontinuität über die politischen Systeme hinweg gleich verurteilt. Konkretisiert wurde das standesgemäße Verhalten anhand von Einzelfällen durch die Rechtsprechung der Ehrengerichte. Die Entscheidungen des Ehrengerichtshofes wurden seit 1885 durch den Deutschen Anwaltsverein, später durch die Reichsrechtsanwaltskammer und schließlich durch die Bundesrechtsanwaltskammer in Entscheidungssammlungen veröffentlicht[24]. Zudem erstellte der Deutsche Anwaltsverein auf der Grundlage der Rechtsprechung des Ehrengerichtshofes seit 1929 sogenannte Richtlinien zur Ausübung des Anwaltsberufes[25]. Diese Richtlinien hatten keinen Gesetzescharakter und sollten nur festhalten, »was im Einzelfall nach der Auffassung angesehener und erfahrener Standesgenossen der Meinung aller anständig und gerecht denkenden Rechtsanwälte und der Würde des Anwaltsstandes«[26] entsprach. Dabei stand es dem einzelnen frei, den Nachweis zu erbringen, daß die betreffende Richtlinienbestimmung nicht mehr die Auffassung der Kollegen widerspiegelte[27]. Die Ehrenrechtsprechung bezog sich wiederum auf diese Richtlinien. Nach der Überführung des Deutschen Anwaltsvereins in den BNSDJ wurden ab 1934 die Richtlinien nicht mehr anhand der Rechtsprechung der Ehrengerichte entwickelt, sondern zentral von der Reichsrechtsanwaltskammer festgelegt[28]. Ehrenhaft war nicht mehr das, was die Mehrheit der tonangebenden Anwälte als solches empfand, sondern wie es die Reichsrechtsanwaltskammer fortan definierte. Mit der Verabschiedung der Bundesrechtsanwaltsordnung im Jahr 1959 ging die im Nationalsozialismus entwickelte Richtlinienkompetenz der Reichsrechtsanwaltskammer auf die Bundesrechtsanwaltskammer über. Dabei nahmen die Richtlinien einen quasi-gesetzlichen Charakter an. Als im Widerspruch zu einem demokratischen Meinungsbildungsprozeß stehend, wurden die Richtlinien 1987 durch das Bundesverfassungsgericht außer Kraft gesetzt[29]. Es dauerte fast zehn Jahre, bis eine überarbeitete und aktualisierte Berufsordnung der Anwaltschaft vorlag[30].

Um zu erfassen, welches anwaltliche Verhalten im Untersuchungszeitraum als »standesgemäß« galt, wurden in dieser Arbeit die veröffentlichten Entscheidungen der Ehrengerichte ausgewertet[31]. Zwei Gruppen von Urteilen lassen sich hier unterscheiden. Ein Teil setzt sich mit den Verhaltensweisen, die in direktem Zusammenhang mit der anwaltlichen Arbeit stehen, auseinander. Ein anderer Teil der Rechtsprechung bewertet dagegen das außerberufliche private und politische Verhalten von Anwälten.

Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik überwogen in den Entscheidungssammlungen die Urteile, welche die berufliche Tätigkeit der Rechtsanwälte betrafen. Die hier formulierten Positionen weisen eine hohe Kontinuität auf. Offensichtlich ökonomisches Verhalten des Anwalts war verpönt, Neuerungen der Berufsausübung und -gestaltung setzten sich in der Regel nur langsam durch. So galt das Einklagen eines Kostenvorschusses als nicht anständig. Auch sollte ein Anwalt maßvoll in der Berechnung seines Honorars sein und die Vermögensverhältnisse seines Mandanten berücksichtigen[32]. Kontakte zu »Winkeladvokaten«[33] waren unerwünscht[34]. Das Anwaltsschild durfte keinen werbenden Charakter haben[35], und der Anwalt sollte auch der Werbetätigkeit Dritter für seine Praxis energisch entgegentreten[36]. Standeswidrig war, öffentlich auf die Übernahme einer Anwaltspraxis hinzuweisen[37]. Auch während des »Dritten Reiches« wurde »das gewinnsüchtige Verhalten gegenüber einer armen Partei«[38] oder das Ausnutzen eines Lehrlings, indem man ihn für die geleistete Arbeit nicht bezahlte, sanktioniert[39]. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bestand man weiterhin darauf, daß ein Anwalt die Termine seiner Mandanten pünktlich wahrnahm und nicht mit »Winkeladvokaten« kooperierte. Ebenso wurde weiterhin an dem Werbungsverbot für die Praxis festgehalten. Durchgehend bestraften die Berufsgerichte auch eindeutige kriminelle Verhaltensweisen wie die Veruntreuung von Mandantengeldern[40].

Das ehrengerichtliche Einklagen dieser Verhaltensstandards gegenüber den Rechtsanwälten ist nicht nur funktional zu begründen. Gerade anhand des Werbungsverbotes wird deutlich, daß es bei der ehrengerichtlichen Disziplinierung des Einzelverhaltens auch um die Einebnung von vorhandenen Differenzierungen innerhalb der Anwaltschaft ging. Sowohl die Existenz unterschiedlicher Qualifikationen und Spezialisierungen der einzelnen Anwälte als auch ein Bedürfnis der Klienten nach weiteren Informationen hierüber wurde bestritten[41]. Ein einheitliches Erscheinungsbild der Berufsgruppe war das Ziel. Schon im Jahr 1883 entschied der Ehrengerichtshof der Rechtsanwälte in seiner ersten Entscheidung zur Anwaltswerbung, daß Werbung mit der Würde des Anwalts unvereinbar und deshalb unzulässig sei[42]. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war die öffentliche Hervorhebung einzelner Anwälte, selbst in sachlicher Form, weiterhin verpönt. So wollte der amerikanische Generalkonsul in Bremen 1949 eine Liste der Anwälte erstellen, die in der Lage seien, amerikanische Bürger oder Firmen vor deutschen Gerichten zu vertreten. Die Anwälte sollten neben einschlägigen Rechtskenntnissen vor allem über fundierte Sprachkenntnisse verfügen. Die Düsseldorfer Anwaltskammer lehnte die Erstellung einer solchen Übersicht mit dem Hinweis auf standesrechtliche Bedenken ab[43].

Dem Berufsbild entsprechend wurde das Werbungsverbot damit begründet, daß der einzelne Anwalt keine einfache Dienstleistung verkaufe, sondern als Freiberufler eine für die Gemeinschaft besonders wichtige Aufgabe wahrnehme. Die Förderung der Rechtspflege sollte sein Handeln bestimmen und das materielle Gewinnstreben hinter diese ideelle Motivation zurücktreten[44]. Der Anwaltsberuf war ein »staatlich geregelter Beruf im Dienste des Rechts« und kein Gewerbe. Das marktschreierische Anpreisen der von ihm gebotenen Dienstleistung verbot sich[45]. Statt dessen sollte sich ein Anwalt durch die Qualität seiner Arbeit empfehlen. Dabei wurde angenommen, daß der Anwalt aufgrund seiner beruflichen Leistung seinen Ruf begründe und daß dies genüge, um das Informationsbedürfnis der Bevölkerung im ausreichenden Maße abzudecken[46]. Um auf sich und/oder ihre speziellen Qualifikationen aufmerksam zu machen und sich von den Berufskollegen, die trotz aller »ständischen Verbundenheit« eben auch Konkurrenten waren, abzuheben, verstießen einzelne Anwälte jedoch immer wieder gegen das Werbeverbot und wurden hierfür immer wieder bestraft.

Entsprechend häufig befaßte sich die ehrengerichtliche Rechtsprechung mit dem Werbungsverbot. Die behandelten Probleme blieben vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik weitgehend gleich. Immer wieder wurde die Werbung von Mandanten bei Gefängnisbesuchen, die Gestaltung des Briefpapiers, das Verteilen von Werbematerialien, die Ansprache von potentiellen Mandanten durch den Anwalt selbst oder durch Dritte sowie die Dar- und Herausstellung eines Anwalts in der Presse behandelt[47]. Auch das Anwaltsschild war immer wieder Anlaß zu Auseinandersetzungen. Die Größe des Schildes und seine Plazierung sowie die Schriftgröße waren penibel geregelt, um eventuelle Werbemöglichkeiten zu verhindern[48]. So durften zum Beispiel in der Nachkriegszeit Anwälte und Notare aufgrund fehlender anderer Räumlichkeiten Sprechstunden in Gaststätten abhalten. Dabei sollte die nötige Würde gewahrt werden. An dem betreffenden Gebäude durfte ein entsprechendes Hinweisschild angebracht werden, innerhalb der Gastwirtschaft war dies jedoch untersagt[49]. Auch Presse- und Fernsehberichte über einzelne Rechtsanwälte wurden immer wieder unter standesrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet. Ein Anwalt hatte im Verkehr mit Presseberichterstattern darauf zu achten, »daß nicht der Eindruck entsteht, er wolle sich reklamehaft herausstellen oder Sensation schaffen«[50]. Die bezahlte Aufnahme einzelner Anwaltsadressen in ein kommerzielles Adreßverzeichnis war ebenfalls verboten. Zulässig war hingegen die kostenlose Aufnahme in ein Verzeichnis, welches alle Anwälte beispielsweise eines Gerichtsbezirkes umfaßte. Die Hervorhebung einzelner Anschriften durch Fettdruck war wiederum untersagt[51].

Negiert wurde durch das Werbungsverbot, daß ein Anwalt als Angehöriger eines selbständigen freien Berufes für die Akquisition seiner Mandanten und für seine wirtschaftliche Existenz selbst verantwortlich war. Insbesondere Berufsanfänger – aber nicht nur diese – hatten das Bedürfnis, sich bekannt zu machen und auf das eigene Dienstleistungsangebot hinzuweisen. So hartnäckig auch die Ehrengerichte die Werbemaßnahmen der Anwälte verfolgten, so erfindungsreich waren diese bei der Suche nach immer neuen Reklamevarianten. Hinzu kam, daß die sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse es für den einzelnen Anwalt immer notwendiger machten, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Bei einem raschen Anstieg der Anwaltszahlen und in einer immer mobiler und anonymer werdenden Gesellschaft war der einzelne vermehrt auf moderne Mittel der Massenkommunikation, zu denen letztendlich auch die Werbung gehörte, angewiesen. In einer Kleinstadt mit wenigen Anwälten und hoher sozialer Kontrolle mochte sich die Qualität eines Anwalts noch »herumgesprochen« haben. In einer Großstadt mit Hunderten oder gar Tausenden von zugelassenen Anwälten benötigte der Bürger andere Hilfsmittel, um sich über die Qualitäten eines Anwalts zu informieren. Der »gute Ruf« eines Anwalts wirkte nicht mehr in dem Maße, daß aufgrund dessen automatisch ein guter Mandantenstamm gebildet werden konnte[52]. Zudem bestand das Problem der Werbung nicht nur im Verhältnis der Rechtsanwälte zueinander und zur Mandantschaft. Je mehr Nichtanwälte in Teilbereiche der Rechtsberatung eindrangen (beispielsweise Wirtschaftsprüfer und Steuerberater), desto notwendiger wurde es für die Anwaltschaft, sich gegenüber der potentiellen Klientel zu profilieren, wollte sie nicht ganze Marktsegmente verlieren. Die Werbung entwickelte sich zu einem immer wichtiger werdenden Instrumentarium für die Anwaltschaft, um sich auch gegenüber der nichtanwaltlichen Konkurrenz abzugrenzen[53]. Die im Jahr 1997 erfolgte Aufhebung des Werbungsverbotes trug dem schließlich Rechnung[54].

Die zweite Gruppe der ehrengerichtlichen Urteile betraf den außerberuflichen Bereich. Da das Berufsrecht von der Vorstellung ausging, daß der Anwalt nicht nur die Dienstleistung Rechtsberatung erbringe, sondern mit seiner ganzen Persönlichkeit Anwalt sei, wurde vermeintlich berufsschädigendes politisches und/oder privates Verhalten der Rechtsanwälte sanktioniert. Diese Urteile machen in den offiziellen Entscheidungssammlungen den kleineren Teil aus. Auch sind die veröffentlichten Entscheidungen aufgrund ihres grundlegenden Charakters nicht unbedingt repräsentativ, doch veranschaulichen gerade diese Einzel- und vielleicht Ausnahmefälle, welches anwaltliche Verhalten als abweichend empfunden wurde und im Extremfall zur Ausgrenzung des Betroffenen führte.

Nicht nur, aber insbesondere im »Dritten Reich« bot die berufsgerichtliche Beurteilung des anwaltlichen Privatverhaltens die Möglichkeit, unliebsame Anwälte auszuschalten oder zumindest in ihrer Berufsausübung zu behindern.

Der Gedanke, Verhaltensweisen des Privatlebens, die in keinerlei Zusammenhang mit der Berufstätigkeit standen, zu sanktionieren, war dabei keine Erfindung der Nationalsozialisten. Schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik erwartete man von einem Anwalt, daß er im Privatleben »die Würde seines Standes zu wahren« wußte. Ein »unwürdiger Umgang« war ein Ausschließungsgrund[55]. Ausgeschlossen wurde beispielsweise 1930 ein Anwalt, der sich an nächtelangen »Zechgelagen« und Glücksspielen beteiligt hatte[56]. Ein anderer Anwalt verlor seine Zulassung, weil er aus geschäftlichem Eigennutz einen Freund getäuscht hatte[57].

Im »Dritten Reich« wurde allerdings der Begriff des »unwürdigen Umgangs« erweitert. Nunmehr galt vor allem der Kontakt zu jüdischen Bürgern als nicht standesgemäß und konnte für einen »arischen« Anwalt existenzbedrohend werden. Sechs Jahre war beispielsweise ein Anwalt finanziell durch eine jüdische Röntgenassistentin unterstützt worden. Außerdem hatte sie ihm unter Einsatz ihres eigenen Lebens das Leben gerettet. Aus Dankbarkeit hatte der Anwalt diese Frau noch vor der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze im Jahr 1935 geheiratet. Die moralische Verpflichtung gegenüber dem deutschen Volk wurde vom Ehrengerichtshof jedoch höher als die gegenüber der Jüdin bewertet. Der Jurist wurde aus der Anwaltschaft ausgeschlossen[58]. Einem anderen Anwalt wurde die Berufsausübung verboten, weil er im Jahr 1931 einen Briefwechsel mit einem im Ausland lebenden Pazifisten geführt hatte. Die frühere Gegnerschaft zum Nationalsozialismus wurde dem betroffenen Anwalt zwar noch nicht als Standesverfehlung ausgelegt. Aber wegen seiner persönlichen und freiwilligen Verbindung mit diesem »im Ausland befindlichen und gegen Deutschland arbeitenden Landesverräter« galt er des »Vertrauens des deutschen Volkes« nicht würdig. Die Tatsache, daß hier rückwirkend ein in der Weimarer Republik unbeanstandetes Verhalten sanktioniert wurde, versuchte der Ehrengerichtshof mit dem Argument zu rechtfertigen, daß dieses schon zur Tatzeit in den Jahren 1931 und 1932 durch ein Ehrengericht als nicht mit dem Anwaltsstand vereinbar hätte angesehen werden müssen[59].

Auch nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« stand das außerberufliche Verhalten der Rechtsanwälte weiterhin unter der Kontrolle des Standesrechts, eine Kontinuität, die zunächst auch nicht in Frage gestellt wurde. Trunkenheit am Steuer war ebenso ein Fall für das Ehrengericht wie die Verletzung von Unterhaltspflichten[60]. Ehebruch wurde hingegen nicht mehr in jedem Fall ehrengerichtlich geahndet. Nur außergewöhnliche Umstände, wie beispielsweise die Verführung einer minderjährigen Büroangestellten, führten, da sie besonders »nachteilige Folgen für das Ansehen des Standes in der Öffentlichkeit entstehen« ließen, 1956 zu einer berufsgerichtlichen Verurteilung[61]. Erst mit der Novellierung der Bundesrechtsanwaltsordnung im Jahr 1969 verzichtete man weitgehend auf die Sanktionierung außerberuflichen Verhaltens. Geschehnisse, die den Intimbereich des Anwalts betrafen, oder auch Fahrten unter Alkoholeinfluß fielen nicht mehr in die Jurisdiktion der Ehrengerichte. Dennoch wurde nicht vollständig auf die Möglichkeit verzichtet, das anwaltliche Privatverhalten ehrengerichtlich zu beurteilen. Wenn die Umstände des Einzelfalls »in besonderem Maße« geeignet waren, »Achtung und Vertrauen in einer für die Ausübung der Anwaltstätigkeit bedeutsamen Weise« zu beeinträchtigen, sollte weiterhin eine berufsgerichtliche Disziplinierung möglich sein[62]. Diese Möglichkeit der ehrengerichtlichen Bestrafung geriet jedoch zunächst in Vergessenheit. Erst im vereinten Deutschland – als die Zulassung von Rechtsanwälten aus der früheren DDR diskutiert wurde – entzündete sich eine neue Debatte um das standesgemäße »würdige« Verhalten der Rechtsanwälte. Geprüft wurde nun, inwieweit eine Tätigkeit für die Staatssicherheit der früheren DDR als »unwürdiges« Verhalten gelten und zu einer Ausschließung aus der Anwaltschaft führen sollte[63].

Explizit politisches Verhalten wurde ebenfalls über die Systemgrenzen hinaus ehrengerichtlich sanktioniert. So durfte ein Anwalt im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zwar eine eigene politische Meinung vertreten, aber aufgrund seiner Stellung als »Organ der Rechtspflege« war er in der Wahl der Mittel beschränkt. Form und Inhalt hatten moderat zu sein[64]. Unter Hinweis auf seine Rolle als »Organ der Rechtspflege« bestand die Erwartung, daß der Anwalt als Prozeßvertreter vor Gericht ein zurückhaltendes Verhalten zu zeigen habe. Mißtrauisch beäugt wurde vor allem die »Agitation« für sozialistische Strömungen und Organisationen[65].

Im »Dritten Reich« wurde der Begriff des »Politischen« extensiv interpretiert. Nicht mehr nur das explizit politische Engagement für eine Partei wurde ehrengerichtlich beurteilt, sondern auch die anwaltliche Tätigkeit konnte vor allem bei der Strafverteidigung als ein »politisches« Verhalten des Anwalts bewertet werden. Ein Anwalt, der seine Aufgaben als Verteidiger ernst nahm, setzte sich rasch der Gefahr aus, selbst als Staatsgegner angesehen zu werden. Ehrengerichtlich angeklagt wurde beispielsweise ein Anwalt, der im Frühjahr 1933 bei der Verteidigung eines Freundes vor einem Sondergericht »die weitgehende Übereinstimmung seiner eigenen Auffassung« mit der des Angeklagten betont hatte. Er hätte nach Auffassung des Ehrengerichtshofes als ein »vom neuen Staat anerkannter Walter und Wahrer des Rechts (…) insbesondere die Pflicht (gehabt), alles zu tun, um das Ansehen der Staatsgewalt« zu schützen. Pflichtbewußte Zurückhaltung wäre deshalb angebracht gewesen. Die eigenen Belange hätten denen des Staates nachgeordnet werden müssen. Obwohl, wie das Gericht selbst feststellte, zur Tatzeit die Identität von Staat und NSDAP weder eindeutig erkennbar noch gesetzlich festgelegt war – andere politische Parteien waren noch nicht verboten –, wurde der Anwalt mit einem Verweis bestraft[66].

Nachdem sich der NS-Staat etabliert hatte, wurde es für einen Anwalt immer schwieriger, Mandanten, die sich gegen die »Volksgemeinschaft« gewandt hatten, zu verteidigen, ohne selbst als »staatsfeindlich« angesehen zu werden. So hatte ein Anwalt eine Bäckersfrau, die vorsätzlich verdorbene Ware für das Winterhilfswerk gespendet haben sollte, mit den Worten »einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul« verteidigt. Damit setzte er sich dem Verdacht aus, er selbst billige das Verhalten der Bäckersfrau und wende sich damit gegen das Winterhilfswerk, ein »Symbol der deutschen Volksgemeinschaft«. Der Anwalt kam noch glimpflich davon. Da das Gericht davon ausging, daß der Anwalt nicht bewußt das Winterhilfswerk habe verächtlich machen wollen, erhielt er lediglich einen Verweis[67].

In besonderem Maße sanktioniert wurden im »Dritten Reich« explizit politische Äußerungen, die als »regimefeindlich« interpretiert werden konnten. Äußerte sich ein Anwalt auch nur im privaten Rahmen, so konnte er dennoch ehrengerichtlich bestraft werden. So führte die Verweigerung des »Deutschen Grußes«[68] zu einem Verweis. Der Betreffende war zuvor noch nicht negativ aufgefallen. Bei der Beurteilung des Verhaltens eines jüdischen Anwalts kannte der Ehrengerichtshof hingegen kein Pardon. Eine unbedachte Äußerung konnte existenzvernichtend wirken. Prinzipiell wurde von einem jüdischen Anwalt absolutes Wohlverhalten erwartet. Allein die Tatsache, daß er überhaupt noch zugelassen war, wurde ihm als Privileg entgegengehalten. So hatte ein jüdischer Anwalt im Gericht länger warten müssen, da sich die zuvor durch das Gericht verhandelten Sachen in die Länge gezogen hatten. Beim Besteigen einer Straßenbahn rief er dem »arischen« Anwaltskollegen die Worte »Na, Sie homerischer Sänger« zu. Er griff damit eine von Göring im November 1934 gemachte Bemerkung auf, mit der dieser die sogenannte »Schwatzhaftigkeit« der Anwälte vor den Gerichten gerügt hatte. Auch wenn die Bemerkung des Anwalts nur scherzhaft gemeint gewesen sei, so ließ der Ehrengerichtshof doch keinen Zweifel daran, daß diese Äußerung eine zersetzende Kritik an den Vorgängen des staatlichen Lebens darstellte, und schloß den jüdischen Anwalt aus der Anwaltschaft aus[69]. Bei einem »arischen« Anwalt wurden in ähnlichen Fällen noch Entschuldigungsgründe, wie beispielsweise bisheriges tadelloses berufliches Verhalten, die Frontkämpfereigenschaft oder bloße Unerfahrenheit im Beruf akzeptiert, so daß er zwar bestraft, aber ihm nicht die Zulassung entzogen wurde[70].

Das politische Verhalten von Rechtsanwälten wurde auch in der Bundesrepublik ehrengerichtlich beurteilt. So durften nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise in Hessen nur solche Anwälte zugelassen werden, die in ihrer politischen Grundhaltung die Gewähr dafür boten, den Anwaltsberuf im vollen Einklang mit den Forderungen einer demokratischen Rechtsordnung auszuüben. Die Beurteilung politischen Fehlverhaltens war in den 50er Jahren jedoch milde. Kaum ein Anwalt wurde aufgrund seiner politischen Aktivitäten im »Dritten Reich« langfristig aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Im Vordergrund stand nicht die nachträgliche Beurteilung eines beruflichen oder privaten Handelns während des »Dritten Reiches«. Statt dessen wurde auf die politische Einstellung des Anwalts oder des Anwaltsbewerbers zum Zeitpunkt der Beurteilung durch das Ehrengericht abgestellt. Das Verhalten während des »Dritten Reiches« fand insoweit Berücksichtigung, als es Aufschluß über die Gesamthaltung des Antragstellers gab[71]. Wer nicht offensichtlich uneinsichtig war, konnte auf eine milde Beurteilung hoffen. Nur mit einem Verweis bestrafte der EGH Stuttgart einen Anwalt, der im Rahmen einer »Arisierung« durch Schreiben an die Gestapo und den Gauwirtschaftsberater versucht hatte, für seine »arischen« Mandanten möglichst gute Kaufbedingungen zu erlangen. Auch hatte dieser Anwalt im »Dritten Reich« in einem Rechtsstreit versucht, durch politische Drohungen einen Prozeßgegner von der Weiterführung eines Rechtsstreites abzuhalten. Da der betroffene Anwalt zum Zeitpunkt des Ehrengerichtsverfahrens jedoch schon älter und kränklich war und nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« einige Jahre mit Berufsverbot belegt gewesen war, erschien dem Ehrengerichtshof ein Verweis als ausreichende Strafe[72]. Auch im Fall eines Anwalts, der im »Dritten Reich« mehrere höhere Ämter innegehabt hatte und deshalb vom hessischen Justizminister 1950 nicht zur Anwaltschaft zugelassen worden war, sprach sich der Hessische Ehrengerichtshof im Jahr 1952 für dessen Zulassung aus. Schließlich habe der Anwalt die Ämter korrekt verwaltet und sich auch beruflich anständig verhalten. Darüber hinaus habe er seit 1945 eine »innere Wandlung« vollzogen, so daß zu erwarten stünde, daß er in Zukunft »seinen Anwaltsberuf in vollem Einklang mit den Forderungen einer demokratischen Rechtspflege« ausüben werde[73].

Anwaltskammer und Anwaltsverein, die etablierten Berufsorganisationen

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche Anwaltskammern und Anwaltsvereine. Während die Vereine vor allem als Ausdruck bürgerlicher Selbstorganisation gegründet worden waren und mit dem Scheitern der 1848er Revolution stark an Bedeutung verloren, wurden in der Folge v.a. Anwaltskammern gegründet. Die Rechtsanwaltsordnung von 1878 schrieb die Kammer als anwaltliche Institution fest. Jeder, der eine Anwaltszulassung erhielt, wurde automatisch Mitglied der Anwaltskammer des entsprechenden Oberlandesgerichtsbezirks[74]. So legten die einzelnen Rechtsanwaltsordnungen seit 1878 fest, daß alle Anwälte eines Oberlandesgerichtsbezirks am Sitz des Oberlandesgerichtes eine Anwaltskammer bilden[75] und einen Kammervorstand wählen[76] – mit Ausnahme des »Dritten Reiches«, wo die Vorstände durch den Reichsminister der Justiz benannt wurden[77]. Aufgabe des Kammervorstandes war es u.a., die Anwälte in ihrer Berufsausübung zu überwachen, sie bei Fehlverhalten zu disziplinieren und auf Antrag der Landesjustizverwaltung zu begutachten[78].

Sowohl an der inhaltlichen Gestaltung der Ehrenrechtsprechung als auch am Zulassungsverfahren zur Anwaltschaft waren die Anwaltskammern beteiligt. Mitglieder der Vorstände der Anwaltskammern saßen in den Ehrengerichten. Die Anwaltskammern gaben Empfehlungen zur Beurteilung der Zulassungsgesuche von Anwaltsanwärtern. Sie nahmen mehr oder minder direkten Einfluß auf die soziale Zusammensetzung der Anwaltschaft und die Gestaltung des beruflichen Handlungsspektrums. Zudem waren und sind die Kammern die offiziellen Organe der Selbstverwaltung der Berufsgruppe und gestalten und beeinflussen die anwaltliche Politik[79].

Neben den Kammern erhoben und erheben die Anwaltsvereine den Anspruch, anwaltliche Interessen zu vertreten. Sie bilden in gewisser Weise das organisatorische Gegenmodell zu den Kammern. Während die Mitgliedschaft in der Kammer für jeden Anwalt Pflicht ist, ist die Vereinsmitgliedschaft freiwillig. Die Organisationsstruktur der Vereine basiert zudem auf dem ehrenamtlichen Engagement ihrer Mitglieder. Im Gegensatz zu den Kammern verfügen sie in der Regel über keine Geschäftsstelle mit hauptamtlich Beschäftigten.

Zwischen den Rechtsanwaltskammern und den Anwaltsvereinen bestanden gewisse Rivalitäten, deren Ursache nicht nur in der unterschiedlichen Organisationsform gelegen haben dürfte. Auch wenn die Kammern in Deutschland selbstverwaltete Körperschaften waren, so haftete ihnen immer etwas Statisches und Staatliches an. Staatlicher Einfluß konnte hier einfacher als bei einem Verein oder Verband geltend gemacht werden. So war die Staatsanwaltschaft in die Disziplinaruntersuchungen einbezogen, und die anwaltlichen Ehrengerichte setzten sich aus Anwälten und Richtern zusammen[80]. Der Verein war hingegen die typische kulturelle und politische Organisationsform des Bürgertums, eine Assoziationsform, die grundsätzlich sowohl innerorganisatorisch als auch nach außen hin Öffentlichkeit anstrebte und durch den freien Zugang Gleichgesinnter geprägt war[81].

Faktisch standen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik beide Anwaltsorganisationen durchaus gleichberechtigt nebeneinander und gingen bei der Vertretung anwaltlicher Interessen arbeitsteilig vor. Die Kammern setzten sich mit eher grundsätzlichen Fragen des Anwaltsberufes auseinander. Die örtlichen Anwaltsvereine kümmerten sich vorwiegend um konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und beruflichen Lage der Berufsgruppe[82]. Maßgeblich wirkten sich ihre unterschiedliche Zwecksetzung und Staatsnähe im »Dritten Reich« aus. Während die Anwaltsvereine noch 1933 aufgelöst wurden, blieben die Kammern zumindest institutionell während der ganzen Zeit der NS-Herrschaft bestehen[83].

Am 26. März 1933 hatte es der Vorstand des Deutschen Anwaltsvereins in Berlin zunächst einstimmig abgelehnt, sich dem Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) anzuschließen, da sich dieser zum Ziel gesetzt hatte, die jüdischen Berufskollegen aus der Anwaltschaft auszuschließen[84]. Aber schon am 7. April 1933, dem Tag der Ausfertigung des Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft[85], forderte der Vorsitzende des Deutschen Anwaltsvereins, Dix, die jüdischen Vorstandsmitglieder auf, unverzüglich ihre Ämter niederzulegen, um den DAV selbst zu erhalten. Seine »arischen« Kollegen rief er auf, sich den hinter der Regierung stehenden Bünden und Parteien anzuschließen[86]. Am 18. Mai 1933 beschloß die Abgeordnetenversammlung des DAV den korporativen Beitritt des DAV zum BNSDJ. Der DAV sollte jedoch als eigene Rechtspersönlichkeit bestehenbleiben, um seine vermögensrechtliche Selbständigkeit zu sichern. Durch den korporativen Beitritt wurden zudem die DAV-Angehörigen Mitglied im BNSDJ, ohne selbst NSDAP-Mitglied sein zu müssen. Für den Einzeleintritt war die persönliche NSDAP-Mitgliedschaft Voraussetzung[87]. Den jüdischen Mitgliedern wurde auf dieser Abgeordnetenversammlung im Mai 1933 durch den neuen Präsidenten Voß »empfohlen«, aus dem DAV und den angeschlossenen regionalen Vereinen auszutreten. Ab dem 30. September 1933 wurde die Vereinsmitgliedschaft auf »arische« Anwälte beschränkt. Die verbliebenen jüdischen Anwälte durften sich nur noch lokal organisieren[88].

Als sich die Repräsentanten des Deutschen Anwaltsvereins im Sommer 1933 noch bemühten, durch Unterwerfungsgesten die Organisation zu retten, wurden sie durch die Justizverwaltungen in der Praxis schon ausgeschaltet. Im Mai 1933 wies der Preußische Justizminister die Oberlandesgerichtspräsidenten an, nur noch mit den Kammervorständen und nicht mehr mit den Anwaltsvereinen zu verkehren. Sie galten als politisch unzuverlässig[89] und wurden ein halbes Jahr später aufgelöst. Die Aufgaben des am 27. Dezember liquidierten DAV sollte die Reichsfachgruppe der Rechtsanwälte im BNSDJ übernehmen. Das bis dahin vom Verein herausgegebene Anwaltsblatt wurde Ende 1933 in »Mitteilungsblatt der Reichsgruppe Rechtsanwälte des BNSDJ« umbenannt. Selbst der Versuch, das Vermögen des DAV zu sichern, scheiterte. Es wurde durch den BNSDJ vereinnahmt. Nach 62 Jahren hörte der Deutsche Anwaltsverein sang- und klanglos auf zu bestehen[90].

Statt dessen wurde der im Jahr 1928 gegründete BNSDJ zur offiziellen Anwaltsvereinigung des »Dritten Reiches« erhoben. Bis zum Ende des Jahres 1930 waren hier lediglich 233 Anwälte organisiert gewesen[91]. Da der BNSDJ nicht nur Anwälte aufnahm, dürften bis zum Beginn des »Dritten Reiches« circa vier Prozent der zugelassenen Rechtsanwälte hier organisiert gewesen sein[92]. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wuchs die Organisation rasch. Im Januar 1935 zählte der Bund 14000 Rechtsanwälte zu seinen Mitgliedern, wovon ungefähr ein Drittel als Einzelpersonen und zwei Drittel durch den korporativen Beitritt des DAV die Mitgliedschaft erworben hatten[93]. Während des »Dritten Reiches« verlor die Vereinigung jedoch rasch an Bedeutung. Berufspolitisch und gesetzgeberisch hatte sie spätestens ab 1942 keinen Einfluß mehr. Hauptaufgabe war die »Menschenführung«, das heißt die politische Schulung[94].

Die Rechtsanwaltskammern blieben zwar im »Dritten Reich« als Institutionen bestehen. Allerdings fanden mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten weitgehende Veränderungen statt. Die Vorstandsmitglieder wurden zum Teil ausgewechselt und ihre Kompetenzen zunehmend beschnitten. So wies am 31. März 1933 der Reichskommissar für die preußische Justizverwaltung, Kerrl, die Oberlandesgerichtspräsidenten an, den Rücktritt der noch amtierenden Kammervorstände herbeizuführen. Gleichzeitig sollte ein Kommissar nationalsozialistischen Vertrauens mit der vorläufigen Wahrnehmung der Geschäfte betraut werden[95]. Die Vorstände wurden durch die Justizverwaltung abgesetzt, sofern sie nicht in vorauseilendem Gehorsam schon zuvor freiwillig zurückgetreten waren. So hatten beispielsweise die Düsseldorfer Vorstandsmitglieder am 25. März 1933 ihre Ämter niedergelegt, um in einer außerordentlichen Kammerversammlung Neuwahlen vornehmen zu lassen[96].

Nicht überall vollzog sich der Rücktritt der alten Vorstände reibungslos. Der Vorstand der Hammer Anwaltskammer weigerte sich beispielsweise, auf Anordnung des Oberlandesgerichtspräsidenten zurückzutreten. Er verwies darauf, daß er durch die Kammerversammlung ordnungsgemäß gewählt worden sei und nur diese ihn abwählen könne. Der Kammervorstand erklärte sich zunächst lediglich dazu bereit, seine Ämter in einer sofort einzuberufenden Kammerversammlung zur Verfügung zu stellen[97]. Erst nachdem durch den in Hamm bestellten Kommissar zur Kammerversammlung eingeladen worden war, kapitulierte der alte Vorstand und trat am 18. April 1933 mit der Erklärung, daß er sich als abgesetzt ansehe, zurück[98].

Die durch das Preußische Justizministerium eingesetzten Kommissare hatten nur wenige Kompetenzen. Ihre Hauptaufgabe war es, die Neuwahlen der Kammervorstände vor Ort zu organisieren, allerdings weitgehend ohne eigene Gestaltungsmöglichkeiten. Selbst der Termin für die Kammerversammlung wurde zentral für das ganze Reich auf den 22. April 1933 festgesetzt. Etwaige vorher durch die Kommissare selbst anberaumte Termine mußten wieder zurückgenommen werden[99]. Der Ablauf der zentral durchgeführten »Neuwahlen« war detailliert durch den Preußischen Justizminister festgelegt worden. Explizit formuliertes Ziel war die »Gleichschaltung« der örtlichen Anwaltskammern. Die Auswahl der in den Kammervorstand zu berufenden Personen oblag vorab dem eingesetzten Kommissar. Seine Vorschlagsliste war im Einvernehmen mit dem Gaurechtsstellenleiter der NSDAP oder dem Vorsitzenden der Gaugruppe des BNSDJ aufzustellen. Die »Wahl« der auf diese Weise ermittelten »Kandidaten« sollte in einer öffentlichen Kammerversammlung ohne Aussprache in einem Wahlgang durch Zuruf mit absoluter Stimmenmehrheit erfolgen[100]. Nachdem dieses »Wahl«-Verfahren schon vorab bekanntgemacht worden war, erhoben einzelne Kammermitglieder hiergegen Einspruch, natürlich ohne etwas verändern zu können. So wandte sich ein Hannoveraner Anwalt am 20. 4. 1933 in einem Schreiben an den Preußischen Justizminister und wies darauf hin, daß die durch den Kommissar der Rechtsanwaltskammer Celle ergangene Einladung, welche die Öffentlichkeit der Versammlung und die »Wahl« des Vorstandes durch Zuruf ankündigte, unrechtmäßig sei[101]. Die eigentlichen »Wahlen« verliefen weitgehend reibungslos und dauerten in der Regel fünfzehn Minuten bis eine halbe Stunde. Allerdings erzielten die Einheitslisten, wie beispielsweise in Köln, nicht immer ein einstimmiges Ergebnis[102].

In Düsseldorf war die Versammlung ganz außerordentlich gestaltet worden. Erschienen waren 301 und damit weniger als die Hälfte der »arischen« Kammermitglieder, allerdings zwei- bis dreimal soviel wie zu den Kammerversammlungen der Vorjahre. Anwesend waren außerdem der Oberlandesgerichtspräsident, der Generalstaatsanwalt, fast alle Landgerichtspräsidenten und Oberstaatsanwälte der Landgerichte des Bezirks, der Oberstaatsanwalt des Oberlandesgerichtes, zwei Präsidenten der Düsseldorfer Finanzämter, der Präsident der Industrie- und Handelskammer Düsseldorf, der Düsseldorfer Polizeipräsident sowie der Oberbürgermeister, der Präsident der Oberpostdirektion, der Präsident der Eisenbahndirektion Wuppertal, der Vorsitzende des Langnamvereins, die Vertreter des BNSDJ, die Fachschaft Justiz der nationalsozialistischen Beamtenabteilung, die Gauleitung der NSDAP, der Bund der Frontsoldaten und ein Vertreter der Deutschnationalen Volkspartei. Daneben hatte die SS Düsseldorf einen »Saalschutz« gestellt, ferner waren die SA und die SS jeweils durch eine Abordnung von 25 Mitgliedern und der Stahlhelm mit 15 Personen vertreten. Vor Eröffnung der Sitzung marschierten die Formationen der SA, der SS und des Stahlhelms mit ihren Fahnenabordnungen unter den Klängen einer im Vorsaal aufgestellten Musikkapelle in den Versammlungsraum ein. Sie nahmen hinter dem Vorstandstisch und an den Seitenwänden Aufstellung. Der Saal war durch Hakenkreuzfahnen und Fahnen in Schwarz-Weiß-Rot und Schwarz-Weiß geschmückt. Hinter dem Platz des Vorsitzenden war ein überlebensgroßes Bild des Reichskanzlers angebracht. Der Kommissar begrüßte die Anwesenden, bestimmte einen Schriftführer für die Kammersitzung und dankte den Mitgliedern des bisherigen Vorstandes dafür, »daß sie in Erkenntnis der erfolgten Umwälzung ihre Ämter freiwillig zur Verfügung gestellt« hätten[103]. Die »Wahl« der neuen Vorstandsmitglieder erfolgte nach den Vorgaben des Preußischen Justizministeriums und ergab ein einstimmiges Ergebnis. Mit dem Absingen des Deutschland- und des Horst-Wessel-Liedes schloß die Sitzung[104].

Seit dem 22. April 1933 waren alle Vorstände NSDAP-dominiert[105]. Ausgeschieden waren in Düsseldorf 13 Vorstandsmitglieder[106], die politisch eher zu den Anhängern der die Weimarer Republik befürwortenden Parteien gehört hatten. Abgewählt worden waren unter anderem ein Mitglied der DDP/Staatspartei, zwei Zentrumsanhänger, ein Sozialdemokrat, aber auch ein DNVP-Mitglied. Zwei weitere jüdische Mitglieder waren schon zuvor abgesetzt worden. Eingesetzt wurden 15 neue Vorstandsmitglieder, die zum größten Teil der NSDAP angehörten. Von ihnen waren sechs seit Beginn der 30er Jahre NSDAP-Mitglied gewesen, wiederum vier bekleideten ein Parteiamt. Sieben Mitglieder des alten Vorstandes, die nicht alle der NSDAP angehörten, waren wiedergewählt worden. Da schon der abgesetzte Düsseldorfer Kammervorstand relativ jung gewesen war, fand hier kein Generationswechsel statt[107].

In Hamm wurden ebenfalls sieben Mitglieder des alten Vorstandes wieder aufgenommen, von denen zwei keine NSDAP-Mitglieder waren. Von den 15 neuen Vorstandsmitgliedern war ein Drittel seit 1930NSDAP-Mitglied, vier von ihnen bekleideten ein Parteiamt. Zwei der neuen Vorstandsmitglieder blieben auch während des »Dritten Reiches« parteilos. Mit den Wahlen in Hamm vollzog sich zugleich ein Generationswechsel. Der neue Kammervorstand war im Schnitt 20 Jahre jünger als der alte[108].

Nachdem die Rechtsanwaltskammern im Frühjahr 1933 auf NS-Linie gebracht worden waren und dieser Prozeß schon gezeigt hatte, daß von Selbstverwaltung und Selbstbestimmung der Anwaltschaft keine Rede mehr sein konnte, sah es dennoch zunächst so aus, als ob die neuen Vorstände im gleichen Umfang wie die zuvor frei gewählten tätig werden könnten. Im Jahr 1934 tagte der Düsseldorfer Kammervorstand dreizehnmal und beschäftigte sich wie schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme mit Zulassungs-, Aufsichts- und Beschwerdevorgängen sowie mit der Durchführung von Ehrengerichtsverfahren. Es war das letzte Jahr, welches zumindest im äußeren Ablauf der Kammertätigkeit der Weimarer Zeit ähnelte. Zur Kammerversammlung im Dezember 1934 – der letzten während des »Dritten Reiches« – erschienen immerhin 150 Rechtsanwälte, was ungefähr der Zahl von 1932 entsprach[109].

Sukzessive wurden die Kompetenzen in den folgenden Jahren eingeschränkt, bis die Kammern weitgehend funktionslos waren. Ende des Jahres 1933 wurde das »Rheinisch-westfälische Anwaltsblatt«, das die Kammervorstände der Oberlandesgerichtsbezirke Köln, Düsseldorf und Hamm seit 1930 herausgegeben hatten, eingestellt. »Eine Interessenvertretung durch Herausgabe einer Zeitschrift seitens einzelner oder mehrerer Kammervorstände« galt nicht mehr als zeitgemäß[110]. Ein Eckstein der Selbstverwaltung der Anwaltschaft – die Entscheidung über den Zugang zur Berufsgruppe – entfiel im Januar 1935. Seitdem war die gutachterliche Äußerung des Kammervorstandes zu einem Zulassungsgesuch nicht mehr bindend[111] und wurde damit hinfällig. Da die Kammern nicht mehr am Zulassungsverfahren beteiligt waren, hielten es die Justizverwaltungen zum Teil auch nicht mehr für nötig, sie über die Zulassung eines Anwalts überhaupt zu informieren. Nachdem sich das Präsidium der Reichsrechtsanwaltskammer über diese Mißachtung beim Reichsminister der Justiz beschwert hatte, äußerte dieser immerhin »keine Bedenken dagegen«, eine Abschrift der Zulassungsverfügung der Anwaltskammer durch die Justizverwaltung formlos zukommen zu lassen[112]. Die Änderung der Rechtsanwaltsordnung vom Dezember 1935, die dann im Februar 1936 unter dem Titel »Reichsrechtsanwaltsordnung« neu bekanntgemacht wurde, brachte die Grundpfeiler der selbstverwalteten freien Advokatur endgültig zum Einsturz. Sowohl der Zulassungsanspruch des einzelnen Anwaltsbewerbers als auch die anwaltliche Selbstverwaltung wurden abgeschafft. Die Repräsentanten der Kammer wurden in ihren Entscheidungen an die Weisungen des Reichsjustizministers bzw. der neueingerichteten Reichsrechtsanwaltskammer gebunden. Die Kammermitglieder und ihre Vorstände erhielten damit die Stellung von reinen Befehlsempfängern. Die Kammern der Bezirke wurden gleichgeschaltet und besaßen keine eigene Rechtsfähigkeit mehr. Statt dessen errichtete das NS