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Andreas Matlé

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Beschreibung

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in 75 Objekten – von Bestsellerautor Andreas Matlé Ein Dreivierteljahrhundert nach Gründung der Bundesrepublik blickt dieses Sachbuch zum Erscheinen im Oktober 2024 zurück auf die Geschichte Deutschlands – und erzählt sie anhand von 75 Alltagsobjekten.  Ein Jahr – ein Objekt Mal sind es Klassiker wie die Birkenstock-Sandale, im Osten die sogenannte Fußgymnastik-Pantolette, mal vergessene Dinge wie die einst beliebten Brokatbezüge für Wählscheibentelefone oder das Transistorradio Sternchen. Mit seinen pointierten Betrachtungen zeichnet Bestsellerautor Andreas Matlé ein kulturgeschichtliches Panorama von Ost- und Westdeutschland. Mehr noch: Wenn er der Geschichte des Toasts Hawaii, des gelben Sacks und des Weber-Grills nachgeht, kommt er einem gesamtdeutschen Lebensgefühl auf die Spur. Für alle, die mehr über die Geschichte der Bundesrepublik wissen möchten. Durchgehend vierfarbig mit 75 Abbildungen.

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Seitenzahl: 345

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Andreas Matlé

Deutsche Dinge

Eine Geschichte in 75 Objekten

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in 75 Objekten

Ein Dreivierteljahrhundert nach Gründung der Bundesrepublik blickt dieses Buch zum Erscheinen im Oktober 2024 zurück auf die Geschichte Deutschlands – und erzählt sie anhand von 75 Alltagsobjekten.

Ein Jahr – ein Objekt

Mal sind es Klassiker wie die Birkenstock-Sandale, im Osten die sogenannte Fußgymnastik-Pantolette, mal vergessene Dinge wie die einst beliebten Brokatbezüge für Wählscheibentelefone oder das Transistorradio Sternchen. Mit seinen pointierten Betrachtungen zeichnet Bestsellerautor Andreas Matlé ein kulturgeschichtliches Panorama von Ost- und Westdeutschland. Mehr noch: Wenn er der Geschichte des Toasts Hawaii, des Gelben Sacks und des Weber-Grills nachgeht, kommt er einem gesamtdeutschen Lebensgefühl auf die Spur.

Für alle, die mehr über die Geschichte der Bundesrepublik wissen möchten.

Durchgehend vierfarbig mit 75 Abbildungen.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Vorwort

1949 – Schellackplatte »Capri-Fischer«

1950 – Henkelmann

1951 – Lebertran

1952 – Nierentisch

1953 – Jukebox

1954 – Parkuhr

1955 – Toast Hawaii

1956 – Höhensonne

1957 – Transistor 1

1958 – Hula-Hoop-Reifen

1959 – T-Shirt

1960 – Pelikano-Schreiblernfüller

1961 – Flamenco-Püppchen

1962 – Die Pille

1963 – Fettecke

1964 – Karnevalskostüm

1965 – Bungalow

1966 – Super-8-Film

1967 – Kinderladen

1968 – Flokati-Teppich

1969 – Mädchen-Berufe-Quartett

1970 – Trimmy

1971 – Mainzelmännchen

1972 – Prilblume

1973 – Brokathaube

1974 – Kassettenrekorder

1975 – Handgelenktasche

1976 – Fototapete

1977 – RAF-Fahndungsplakat

1978 – Plaste und Elaste

1979 – Billy-Regal

1980 – »Atomkraft? Nein Danke«–Button

1981 – Videorekorder

1982 – Stirnband

1983 – Trabant

1984 – Trivial Pursuit

1985 – Nike-Sportschuh

1986 – Geigerzähler

1987 – Kratzstamm

1988 – Selbstladepistole Colt Modell Government

1989 – Mauerstein

1990 – Ampelmännchen

1991 – Gelber Sack

1992 – Stolperstein

1993 – Rollator

1994 – ICE 3

1995 – Reichstag, verhüllt

1996 – Latte macchiato

1997 – Tamagotchi

1998 – Viagra

1999 – Euro

2000 – Telefonsäule

2001 – Dirndl

2002 – Arschgeweih

2003 – Rotes Herz

2004 – TomTom-Navigationssystem

2005 – Poledance

2006 – Deutschlandfahne

2007 – iPhone

2008 – Brief »DIN lang«

2009 – Traumfänger

2010 – Nordic-Walking-Stöcke

2011 – Lastenfahrrad

2012 – Weber-Grill

2013 – Birkenstocksandale

2014 – Selfiestick

2015 – Doppelstockbett

2016 – Schockbilder

2017 – Drohne

2018 – Thermometer

2019 – E-Scooter

2020 – Corona-Maske

2021 – Regenbogenfahne

2022 – Waschlappen

2023 – Sekundenkleber

2024 – Wahlzettel

Bildnachweis

Vorwort

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist auf mancherlei Weise erzählt worden. Am Beispiel von Menschen und Ereignissen, aufgeblättert in Fotobänden und natürlich in der klassischen Form einer Zeitgeschichte.

Dieses Buch skizziert die Geschichte des Landes zu seinem 75-jährigen Bestehen mithilfe von Objekten, die jeweils in einem bestimmten Jahr prägend für viele Menschen waren. Es erweckt diese Gegenstände zum Leben, rückt über deren Aneignung, Gebrauch und Ablehnung die Menschen in den Mittelpunkt, spricht über deren Wünsche und Bedürfnisse, erinnert an Haltungen und Gesinnungen und wird so zur Chronik sich wandelnder Mentalitäten. Dabei versucht es, bis 1990 stets auch einen Blick auf Entwicklungen in der DDR zu werfen. Herausgekommen ist ein gesellschaftliches Panorama, das abbildet, wie sich das Land in den vergangenen 75 Jahren verändert hat, es dokumentiert Zeitläufe, Umbrüche und Kontinuitäten.

Wir begegnen den Objekten in Küchen, Schlaf- und Wohnzimmern, in Gärten und Garagen, auf Straßen und in Fußgängerzonen, im Kaufhaus und im Supermarkt, im Büro, im Wald, im Urlaub, in öffentlichen Gebäuden. Wir scheuen uns nicht vor dem Boulevard und dem Alltag in seiner Trivialität, denn gerade dort tauchen viele dieser Objekte auf, verknüpft mit vielfältigen Erinnerungen.

Es ist ein Schlendern durch die Jahre des Aufbaus und des wachsenden Wohlstands, unterhaltsam, augenzwinkernd, gespickt mit Fakten, die möglicherweise nicht jedem bekannt oder in Vergessenheit geraten sind. Ein Buch also zum Erinnern, zum Entdecken, beim einen oder anderen Objekt Neugierde weckend für das Nachlesen an anderer Stelle. Es ist gut für manche Überraschung, wie der Griff in eine prall gefüllte Wundertüte. Denn prall gefüllt ist dieses Buch. Zwar präsentiert es »nur« 75 Objekte, aber in den einzelnen Kapiteln verbergen sich weitaus mehr Dinge, die zum festen Erinnerungsschatz der letzten sieben Jahrzehnte gehören.

Manche Objekte sind dem Jahr zugeordnet, in dem sie tatsächlich erfunden oder aus anderen Ländern kommend in Deutschland auftauchten und Schlagzeilen machten oder begannen, Wirkung zu entfalten. Und manche Objekte stehen für technologische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Entwicklungen, die weit über das genannte Jahr hinausreichen.

Bevor wir uns auf die Reise durch die Zeit begeben, gilt es noch Danke zu sagen. An Marianne Mosebach für Ideen und Inspiration. An meine Lektoren Denise Schweida und Jürgen Bolz für die vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit.

Ich danke Mara Mijolović von der Literaturagentur Meller, die dieses Buch zum richtigen Verlag vermittelt hat.

 

Friedberg/Hessen, im Mai 2024

Andreas Matlé

1949

Schellackplatte »Capri-Fischer«

Das Land lag in Schutt und Asche. Krater gähnten auf den Straßen, sklerotische Gebäude und Geröllfelder prägten das Bild der Städte. Narben an den Fassaden, an menschlichen Körpern und ihren Seelen. Immerhin füllten sich die Schaufenster der Geschäfte nach der Währungsreform ein Jahr zuvor wieder mit Waren, die es davor nur unter der Ladentheke zu ergattern gab. Dennoch schien die Lage auf Jahre hinweg aussichtslos.

Die Deutschen sehnten sich nach Normalität, nach ein wenig Glück, die Vergangenheit sollte ruhen. Da deutete aus der Tristesse heraus der Unterhaltungstenor (er selbst bezeichnete sich als Schnulzensänger) Rudi Schuricke die Sterne, die für die geschundenen Seelen galaxienweit entfernt waren, und er entlockte dem Volk mit seinem Gesang ein kollektives Seufzen des Wohlbefindens. Ein gern erblickter Hoffnungsschimmer am vom Mörtel des Aufbaus angestaubten Firmament.

»Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt, und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt, ziehen die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus, und sie legen im weiten Bogen die Netze aus. Nur die Sterne, sie zeigen ihnen am Firmament ihren Weg mit den Bildern, die jeder kennt …«, nährte Rudi Schuricke die deutsche Sehnsucht, gepresst auf schweren Schellackplatten, abgespielt mit 78 Umdrehungen pro Minute.

Millionen hockten in beengten Verhältnissen in notdürftig hergerichteten Wohnungen, teils zur Untermiete, teils in Notunterkünften, oder hausten als Flüchtlinge in Lagern. Und Rudi Schuricke wedelte mit seinem Gesang alle Tristesse nonchalant zur Seite, ließ Augen glänzen, belebte die Fantasie, die sich nach jedem noch so schummrigen Glühwürmchenschimmer sehnte. Hatte nicht jeder Hörer diese Ansicht vor Augen? Die bleiche Sichel des Mondes über der für ihre Höhlen bekannten Felseninsel im Golf von Neapel, deren Popularität sich später die Automobil- (Ford Capri), die Getränke- (Capri Sun), die Speiseeis- (schmeckte wirklich lecker), die Modeindustrie (Caprihosen, Capritaschen) und die Gastronomie (Salat Caprese) zunutze machten.

Rudi Schuricke gelang der erfolgreichste Nachkriegsschlager allein schon deshalb, weil er die Italiensehnsucht der Deutschen neu entfachte. Dieser Sehnsucht hatte schon der Beitritt Italiens zur Entente im Ersten Weltkrieg nichts anhaben können, auch nicht die Kapitulation im Zweiten Weltkrieg (über Jahre hinweg Zündstoff für chauvinistisches Geplapper an deutschen Stammtischen à la »Die haben die Absätze vorn«).

Bereits 1943 hatte die Sängerin Magda Hain das Capri-Lied aufgenommen, kurze Zeit darauf folgte Rudi Schuricke mit dem Orchester des Plaza-Varietés Berlin. Den Text ersonnen hatte der Operettenschreiber Ralph Maria Siegel, der Vater des späteren Schlagerkönigs. Als im Juli 1943 die Alliierten auf Sizilien landeten und sich Italien noch im selben Monat nach dem Sturz Mussolinis vom »Stahl-Pakt«, der mindestens tausend Jahre hatte Unheil stiften sollen, lossagte, wurden die Boote der Capri-Fischer kurzerhand leckgeschlagen, das heißt, die Aufführung des Liedes im Rundfunk wurde untersagt.

Dabei konnte der Text neben den Sehnsuchtsmomenten durchaus auf einer zweiten Ebene verstanden werden, auf der, poetisch verkleistert, der mahnende Zeigefinger in die Luft stach. »Bella, bella, bella Marie, bleib’ mir treu, ich komm’ zurück morgen früh’, bella, bella, bella Marie, vergiss’ mich nie.« Stand hinter dem Aufbruch der italienischen Fischer zur Nachtschicht nicht gleichzeitig der Appell an die deutsche Frau zur Treue? Weil sich der Gatte vom Nordkap bis zur Cyreneika, vom Atlantik bis Stalingrad zu bewähren hatte und die Rückkehr keineswegs ausgemacht war?

Für die Capri-Fischer erhielt Rudi Schuricke 1949 als einer der ersten Interpreten Deutschlands nach dem Krieg eine Goldene Schallplatte. Was lag näher, als auf der Erfolgsspur weiter zu singen und das Italien-Klischee weiter zu bedienen. »O mia bella Napoli«, »Lass uns träumen am Lago Maggiore« und »Frühling in Sorrent« ließen Rudi Schuricke weiter auf der Erfolgswelle schwimmen. Kein Wunder, dass auch zahlreiche Kollegen trillernd und musizierend jenseits der Alpen ihr Glück suchten – wie René Carol, Gerhard Wendland, Lys Assia und Vico Torriani. Ebenso wenig überrascht es, dass zahllose Kollegen die Capri-Fischer nachsangen, von Vico Torriani über Peter Kraus bis hin zum Neue-Deutsche-Welle-Interpreten ZaZa. Nicht ausbleiben konnten bei einem derartigen Erfolg mannigfaltige Parodien. René Carol persiflierte das in der Nachkriegszeit populäre Kohlenklauen mit den Zeilen: »Bella, bella, bella Marie, halt den Sack hoch, der muss voll wie noch nie«.

Deutsche Touristen standen bald schon Porträt für neue Abziehbilder. Sie bevölkerten Italien ab den 1950ern in der Urlaubszeit. In den ersten Jahren nach dem Krieg war es – wenn überhaupt – nur an Nord-, Ost- und Titisee oder nach Ruhpolding gegangen. Mit Motorrädern, Wohnwagen und Omnibussen, später in vollgestopften Zügen, stürmten sie nun über die Alpen: an den Gardasee, nach Riva und Jesolo, nach Venedig und natürlich in die Blaue Grotte von Capri. Feinsandige Strände und die nicht unterzukriegende Sonne, neue kulinarische Abenteuer wie Spaghetti, Pizza, Brokkoli und Zucchini, ein wenig Pflichtkultur, Dolce Vita und die Aufmerksamkeit, welche die deutschen Fräuleins bei den Papagalli genossen, von denen so mancher seiner bella donna beim tränenreichen Abschied ins Ohr gehaucht haben dürfte: »Bella, bella, bella Marie … Heidrun … Gabriele … Helga … vergiss mich nie.«

Die Italiener gewöhnten sich schnell an die Devisen. Die Wirte versprachen in ihrer Trattoria »Man spricht Deutsch«, man nahm hin, dass die Tedeschi im Ausland sich nicht unbedingt an Verbotsschilder hielten, modisch eigenwillige Wege wählten, so geschildert in einer Reportage des Hessischen Rundfunks von 1959: »Bunte Hemden und kurze Hose. Wie sie darin aussehen, ist ihnen gleichgültig.« Verschiedentlich erreichten sie nicht unbedingt entspannt den Ferienort. (Eine deutsche Reiseführerin in genannter Reportage: »Wenn 300 ankommen, sind 280 genervt«).

Durch das deutsche Reisewunder war Italien schon bald nichts mehr Besonderes, ja, geriet wegen des Teutonengrills sogar ein wenig in Verruf. Neue Sehnsuchtsorte blühten auf – auch musikalisch: »In der Mitte von Samoa«, »Auf Cuba sind die Mädchen braun«. Bis auch Pauschalreisen in die DomRep eher mitleidig belächelt wurden. Dann ging es wieder zurück nach Mallorca – siehe, das Gute liegt so nah.

Doch die Capri-Fischer durchpflügten über die Jahrzehnte hinweg unermüdlich das Meer unter der bleichen Sichel des Mondes. Nur Rudi Schuricke, der später in München einen Waschsalon betrieb, geriet in Vergessenheit. Bis er 1970, drei Jahre vor seinem Tod, tatsächlich noch einmal die Hitparade erklomm mit »Und wenn Schnee fällt auf die Rosen«. Doch auf ewig wird er unter der bleichen Sichel des Mondes vor Capri segeln.

1950

Henkelmann

Müsste man sich bloß nicht jeden Tag entscheiden. Gemeinsam um die Ecke zum Italiener oder eine Sushi-Box vom Asiaten? Vielleicht doch in die Kantine? Ach nee, schon wieder die Krautwickel an Zwiebelsoße. Dann doch lieber das Huhn-sauer-Fertiggericht aus der Mikrowelle. Und wenn gar nichts geht, das geht immer: die Sammelbestellung über Lieferando, Foodora oder Deliveroo. Stärkt nebenbei das Zugehörigkeitsgefühl der Abteilung.

Mit gut gefülltem Magen zurück in die Arbeitswelt – in den 1950ern entsprach die Auswahl an kulinarischen Möglichkeiten der Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen. Ingenieure und Konstrukteure waren damals am weißen Kittel zu erkennen. Büroarbeiter am gediegenen Anzug mit Krawatte. Für Sekretärinnen war das Kleid Pflicht. Monteure und Fabrikarbeiter schlüpften in den von der Firma zur Verfügung gestellten blauen oder grauen Overall, Straßen- und Bauarbeiter gingen ihrer Maloche in Privatkleidung nach.

Diese Unterschiede setzten sich nahtlos in der Mittagspause fort. War keine betriebseigene Kantine vorhanden, öffneten die Büroangestellten auf ihrem Schreibtisch die nierenförmige Brotdose aus Blech, in welche die Gattin morgens belegte Brote verstaut hatte. Je nach Wunsch bestückt mit einem gekochten Ei, Radieschen, Gurkenscheiben, Apfelschnitzen. Um den Durst während des achtstündigen Arbeitstags (sechs Tage in der Woche) zu stillen, war die Thermoskanne mit Kaffee oder Tee gefüllt und die heute kaum zu befriedigende Lust auf Wasser, die dadurch zum Ausdruck kommt, dass viele Menschen stets eine volle Flasche mit sich herumtragen, unbekannt.

Jene, die außerhalb des Büros ihr Brot verdienten, griffen zwecks Nahrungsaufnahme am Arbeitsplatz auf den von Grubenarbeitern erfundenen Henkelmann zurück (in Österreich Menagereindl genannt, in der Schweiz Gamelle). Ein Blechbehälter, teilweise emailliert, manche Exemplare ausgestattet mit mehreren übereinander stapelbaren Behältnissen. Henkelmänner gehörten schon seit vielen Jahrzehnten zur Standardausrüstung des Militärs, dort Kochgeschirr genannt.

Auch im Arbeiterhaushalt trug die Hausfrau Verantwortung für die Versorgung des Mannes, des »Ernährers«. Da jene, die nicht den Stift in der Hand führten oder auf der Schreibmaschine tippten, sondern mit Hammer, Schaufel und Hobel schufteten und viele Kalorien verbrauchten (51 Prozent der Erwerbstätigen waren Arbeiter), füllte die Hausfrau den Henkelmann mit Deftigem: Suppen, Kartoffeln, gehaltvolle Soßen, Eintöpfe und dergleichen. Lagen Wohnung und Arbeitsplatz nicht weit voneinander entfernt, brachten Kinder oder Gattin Papa den Henkelmann zur Mittagspause ans Fabriktor, zwecks besserer Isolierung mit Zeitungspapier oder Stoff umwickelt. Mit der Zeit boten größere Betriebe ihren Arbeitern an, ihre morgens abgegebenen Speisen in der Fabrikkantine zu erwärmen. Einige Unternehmen verfügten über Wärmeapparate zum Erhitzen der Henkelmänner im Wasserbad.

Der Henkelmann war auch ein wichtiges Utensil für die Schulkinder, die in diesen kargen Zeiten zuweilen versuchten, das Hungergefühl mit »Brot lutschen« zu überlisten. Wo Schulspeisungen angeboten wurden (und sei es nur Milch oder warmer Kakao), mussten sie das Essgeschirr mitbringen.

Ebenso Bestandteil der »mobilen« Ernährung, ob am Arbeitsplatz oder im Urlaub: der Tauchsieder. Von einem isolierten Griff führte ein kurzer Metallstab zu der elektrischen Heizspirale, die es ins Wasser zu tunken galt, um es für Tee oder Instantkaffee zu erhitzen. Die heute gebräuchlichen Wasserkocher funktionieren nach dem gleichen Prinzip, nur wird die kein Mensch in den Betrieb oder mit in den Urlaub schleppen wollen. Ein wenig außer Mode gekommen ist die Kühltasche. Heute brutzelt an jeder Ecke ein Imbiss vor sich hin. Kein Freizeittreffpunkt ist ohne das Minimalangebot einer Futterkrippe denkbar, ja, würde Empörung unter den Ausflugshungrigen hervorrufen. In den 1950ern hielten die Menschen das sauer verdiente Geld trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs beisammen. Außerdem standen Kioske und Imbisse noch nicht Spalier. Stattdessen wurde die mit Kühlelementen versehene Kühltasche gepackt, wenn es ins Freibad oder auf den Fahrradausflug ging. Nudel- oder Kartoffelsalat, gekochte Eier, belegte Brote und die Thermoskanne. Süßgetränke für die Kinder. Coca-Cola oder Bluna? Da musste einiges zusammenkommen, dass der Vater für derartigen Luxus sein Portemonnaie öffnete.

Die Zahl der Kantinen nahm stetig zu, nicht selten mit zweifelhaftem Ruf, was Geschmack und Qualität betraf. Die berühmteste ihrer Art war jene des Magazins Der Spiegel im Verlagsgebäude an der Brandstwiete in Hamburg, eröffnet 1969. Die in kräftigen Orange-, Violett- und Rottönen gehaltenen Räume mit eigens entworfenen Möbeln, Leuchten, Wandobjekten und Kassettendecken verursachten bei einigen Besuchern Aquaplaning im Auge, da geriet das Essen fast zur Nebensache. Beim Umzug in einen Neubau stellte der Verlag 2011 die Reste der ursprünglichen Einrichtung der Stadt Hamburg zur Verfügung, die sie einem Museum übergab.

Ein Novum, fristet doch kaum eine Kantine ihren Ruhestand in einem Museum.

Wenn es das Budget erlaubt, versucht der moderne Arbeitgeber ohne psychedelische Experimente seinem Arbeitnehmer ein Wohlfühlambiente zu bieten, damit er Kraft tanken kann für den Rest des Arbeitstages. Trotz aller Bemühungen, aller Aufklärung, trotz der selbst auferlegten Pflicht, »gesundes« Essen anzubieten – vegetarisch, vegan, glutenfrei, proteinreich –, die Kantinenfavoriten sind nach wie vor unbestritten: Currywurst könnte es für viele jeden Tag geben, gefolgt von Spaghetti Bolognese und Wiener Schnitzel. Ebenso gern verspeist: panierter Seelachs und Pizza.

Als Retter der Currywurst in den Kantinen trat 2021 Altbundeskanzler Gerhard Schröder auf den Plan. VW wolle die Wurst aus den Kantinen verbannen, hatte es geheißen (tatsächlich war nur von einer von vielen Kantinen die Rede). Vegetarische Ernährung sei gut, räumte Schröder ein, offenbar unter dem Einfluss seiner fünften, aus Südkorea stammenden Frau. »Ich selbst mache das phasenweise auch.« Aber: »Currywurst mit Pommes ist einer der Kraftriegel der Facharbeiterin und des Facharbeiters in der Produktion. Das soll so bleiben.« Basta! Medienwirksam hatte Schröder hinter die Forderung den Hashtag #rettetdieCurrywurst gesetzt. Zu den »Ärmsten der Armen« hatte er, nach eigenem Bekunden, in Kindheit und Jugend gezählt. Offenbar jedoch keine guten Erinnerungen an den Henkelmann. Ansonsten hätte Schröder, der Sozialdemokrat im Brioni-Anzug, längst schon den Hashtag #rettetdenHenkelman in die Welt posaunt. Allein schon, weil der 1979 von VW – wo er viele Jahre im Aufsichtsrat gesessen hatte – vorgestellte Golf Cabrio wegen seines massiven Überrollbügels augenzwinkernd Henkelmann oder Henkelmännchen genannt wurde.

1951

Lebertran

Das Wohl des Kindes stand auf dem Spiel, da gab es keine Nachsicht. Armes Kind! Die Tortur im Angesicht, verpuffte der elterliche Appell »Das ist nur zu deinem Besten«. Kopf wegdrehen, Augen schließen, Gesicht verzerren – keine Ausflucht möglich. Mund auf, Löffel rein. Der Geruch unverdächtig, süßlich. Aber dann: ölig, tranig, fettig. Der Abgang derart ekelerregend, dass er sich Stunden im Mund hielt. Die Erinnerung daran bleibt ein Leben lang im Gedächtnis und erzeugt bis heute eine Mischung aus Übelkeit und Schaudersüße bei den Betroffenen. Ein Löffel Lebertran – täglich – sei so nahrhaft und stärkend wie ein Liter Milch, hieß es. Es hatte sich herumgesprochen, dass sich schon die Wikinger mit Lebertran für den Kampf gegen Natur und fremde Völker gestärkt hatten. Im 18. Jahrhundert empfahlen Ärzte das Öl zur Behandlung von Nachtblindheit, Rheumatismus und Rachitis, einer Knochenkrankheit, auch genannt »englische Krankheit«, zurückzuführen auf einen Mangel an Vitamin D.

Spillrige Kinderkörper waren das Resultat der Mangelernährung in der Nachkriegszeit. Um die kindlichen Körper zu stärken und Kinderkrankheiten vorzubeugen, setzte man auf den Wikingertrank. Das Kinderhilfswerk UNICEF schipperte den aus der Leber von Kabeljau, Dorsch oder Hai gewonnenen Extrakt in riesigen Metallbehältern herbei. Allein 1948 schwappten 416 Millionen Tonnen – »Gut für die Knochen« – nach Deutschland, dazu 56 Millionen Vitaminpillen, 96 Millionen Lebertrankapseln und neuntausend Kilogramm Milchpulver. Einiges wurde unternommen, um die Kinder auf den Damm zu bringen. Je nach Besatzungszone boten die Behörden zu unterschiedlichen Zeitpunkten Schulspeisungen an. In der DDR trotz schwieriger Ernährungslage bereits 1945, in der britischen Zone ab 1946, in der amerikanischen ab 1947 und in der französischen erst ab 1949. Regelmäßig wurden die Kinder gewogen und gemessen.

In den Erinnerungsknäueln dieser Generation ist neben Glücksmomenten wie den Rosinenbombern, Chewinggum und Cadbury-Schokolade mindestens genauso reißfest der Tran aus der dunkelbraunen Flasche eingewebt. Die Abneigung war derart nachdrücklich, dass sie Eingang in eine Parodie einer Strophe aus Schillers »Lied von der Glocke« fand: »Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken, verderblich ist des Tigers Zahn. Jedoch der schrecklichste der Schrecken – das ist dem Kind der Lebertran.«

Die Wissenschaft hat gewisse Vorteile des Lebertrans herausgestellt; er soll dazu beitragen, Entzündungen zu dämmen, Angstzustände zu lindern, die Blutfette zu normalisieren, allerdings besteht bei Überdosierung die Gefahr einer Überversorgung mit Vitamin A. Mittlerweile wird Lebertran in geschmacksneutralen Kapseln verabreicht.

Zu Beginn der 1950er-Jahre löste die tägliche Lebertrangabe eine Schreckensvorstellung aus, ähnlich wie die regelmäßigen Besuche des Zahnarztes in der Schule, wo alle in einer Reihe antraten, um sich vor Mitschülern und Lehrern dem Urteil des Experten zu stellen: brav geputzt oder Karies.

Die Zahnbeschau blieb, Lebertran wurde abgelöst durch den dickflüssigen, in einer dreieckigen Glasflasche abgefüllten Sirup Multi-Sanostol. »Das kindgerechte Multi-Vitamin-Präparat für die Aufbaujahre«, trommelte das Unternehmen 1976. »Schmeckt Kindern gut.« Vom Geschmack her bekömmlich, brannte sich auch der Werbejingle ein: An dessen Ende sangen Kinder, die Stimmen hochgezogen, den Produktnamen »Saanoostooool«. Um am Gewissen der Eltern zu scheuern, zeigte der Werbefilm auffallend aktive Kinder im Gegensatz zu solchen, denen die Lebenslust abhandengekommen schien: »Wenn ein Kind lustlos ist, wenig Appetit hat und oft erkältet ist, braucht es Multi-Sanostol.« Allerdings stellte die Stiftung Warentest 2008 fest, dass Saft und Lutschtabletten wegen der zu hohen Dosierung von Vitamin A »nicht geeignet« seien.

Während die Einnahme derartiger Nahrungsergänzungsmittel mutmaßlich mittlerweile entbehrlich war, lauerten in den Nachkriegsjahren und darüber hinaus ernst zu nehmende Gefahren für die Gesundheit der Kinder. Zu erkennen sind Nachkriegskinder an der Pockennarbe am Oberarm, verursacht durch das Anritzen der Haut mit der Impfpistole. Impfgegnern hielt das Bundesgesundheitsamt 1957 vor: »Die persönliche Freiheit hat dort eine Grenze, wo lebenswichtige Interessen der Allgemeinheit überwiegen.« 1976 wurde die Impfpflicht in der Bundesrepublik abgeschafft, 1982 in der DDR.

Kollektiver Aufmarsch war auch wegen einer anderen Bedrohung angesagt: Tbc, Tuberkulose (früher Schwindsucht). Allein 1950 meldeten die Behörden 137721 Neuinfizierte. Klassenweise traten die Schüler zur Schirmbildreihenuntersuchung im Röntgenbus an – bis 1983 das obligatorische Röntgen des Brustkorbs eingestellt wurde.

Bei Weitem nicht so schlimm wie der Geschmack von Lebertran liegt den Nachkriegskindern der Geschmack der Schluckimpfung im Mund. Tausende Deutsche waren in den 1950ern an Polio erkrankt, der Kinderlähmung. Zu erkennen waren diese Kinder etwa an einem dünnen Bein oder dem mühsamen Fortbewegen. Um geschmacksbedingten Abwehrreaktionen wie beim Lebertran entgegenzuwirken, verabreichten die Ärzte den Impfstoff mit einem Stück Würfelzucker auf einem Teelöffel. »Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß«, wurde Eltern und Kindern eingehämmert. Fotos von Kindern, die sich nur mithilfe von mitleiderregenden Gehhilfen vorwärtsbewegen konnten, begleiteten die jahrelange Kampagne. Erst die Einführung eines Lebendimpfstoffs drängte den Erreger entscheidend zurück. 1998 wurde die Schluckimpfung abgeschafft und durch einen weiterentwickelten Totimpfstoff ersetzt.

Schauen wir noch einmal auf das Regal, in dem die Flasche mit dem Lebertran drohte. Daneben stand ab 1953 vielerorts kumpelhaft die Flasche Frauengold, angeblich beruhigend und stimmungshebend. Im Gegensatz zu ihren Kindern verzogen Mütter bei der Einnahme des Herz-Kreislauf-Tonikums nicht den Mund. »Prösterchen« hieß es angesichts von mindestens 16,5 Volumenprozent Alkohol. Bei vielen Frauen kam Frust auf (das Wort war allerdings noch nicht bekannt), weil sie in ihre stereotype Rolle als Hausfrau in den eigenen vier Wänden zurückgedrängt wurden: »Lebensfroh mit Frauengold« und »Nimm Frauengold und du blühst auf!« Auch für den Gatten sollte ein Nutzen abfallen: »Durch eine Kur mit Frauengold wirst du glücklich gemacht – und wirst glücklich machen!« Die Trendwende kam in den 1960ern, als die Doppelbelastung zunahm: In einer Werbung ärgert sie sich über den Chef. »Frauengold nehmen, und man kann über den Dingen stehen und objektiver urteilen«, wurde als Lösung empfohlen. 1981 beendete ein Verbot die goldene Zeit – zu viele krebsfördernde und nierenschädigende Aristolochiasäuren wurden dem alkoholischen Heilmittel attestiert.

So baute sich jeder auf seine Weise auf, vermeintlich. Die Kinder zwangsweise, die Erwachsenen gern den verführerischen Versprechungen der Werbung Glauben schenkend. Tranken Buben und Mädels mehr oder weniger tapfer ihren Lebertran, nahm Vati gerne einen Schluck Eidran zu sich, eine Art Pendant zu Frauengold. »Männer von heute wissen, dass sie auf ihren Kopf bauen müssen, und greifen regelmäßig zu einem Kräftekonzentrat, das das Gehirn und alle seine Leistungen schärft.« Allerdings hielt sich dieses Produkt nicht lange. Weil Getränke mit mehr als 16,9 Prozent Sprit letztlich glücklicher machten.

1952

Nierentisch

Der Konzert-Veranstalter Fritz Rau beschrieb 1986 den mit Kriegsende populär werdenden Jazz als »Entnazifizierung an Leib und Seele«. Statt Marschmusik und Gleichschritt nun Individualität, Improvisation, Spontanität und die Verschmelzung unterschiedlicher Elemente. Dieser Drang nach Neuem setzte sich auch in den heimischen vier Wänden durch. Früher war die »gute Stube« oft nur an Sonntagen oder für den Empfang von Besuch zugänglich, überladen mit schweren Möbeln, düster, mit der Anmutung einer Weihestätte. Wer konnte, warf den alten Plunder raus, lüftete sein Wohnzimmer, gestaltete es hell, freundlich und bunter, vermied alles Zackige und Starre, umschiffte Ecken und Kanten, fand Gefallen am Kurvigen, Bauchigen, Asymmetrischen, an Formen, die der Ordnung nicht entsprachen, der bisherigen zumindest.

Stellvertretend dafür, ja stellvertretend für die 1950er-Jahre an sich steht der Nierentisch. Die Gestaltung des nierenförmigen Möbels kam einer kleinen Revolution gleich. Die Platte gefertigt aus unterschiedlichen Materialien – Glas, Metall, Holz, Kunststoff. Unifarben, kunstvoll bemalt oder mit Mosaiken aus Spiegelelementen und bunten Glassteinchen versehen. Er stand, wie zum Hohn auf die gerade untergegangene Welt, nur auf drei Beinen, nicht im rechten Winkel zur Tischplatte, sondern schräg gestellt, diente sowohl als Couch- wie auch als Beistelltisch. Eine Zeitschrift von 1952 beschrieb das so: »Die Moderne regiert. Zweckmäßigkeit ist Trumpf, Wärme und Heimeligkeit geben den Ton an. Nichts soll mehr überfüllt sein. Formschöne und geschmackvolle Objekte haben altertümliche Ungeheuer vertrieben.«

Neben dem Nierentisch schickte die genauso populäre Tütenlampe ihr Licht aus drei tütenförmigen bunten Lampenschirmen. Der Ständer, aus Messing oder messingfarben, eingelassen in einem runden oder nierenförmigen Fuß. Die Lampen selbst waren gefertigt aus Kunststoff, versteiftem Stoff oder Papier und an beweglichen Armen befestigt, die der Wohnzimmerbewohner zur indirekten oder direkten Beleuchtung drehen konnte. Lediglich ein Fleck, ein runder oder ovaler brauner Fleck, verunstaltete nach einiger Zeit die Schirme, da durch die Hitze die Glühlampen schnell schmorten, nicht ohne Gefahr für Heim und Mensch.

Von diesem Makel einmal abgesehen – man wollte es endlich wieder gemütlich haben, auch oder gerade ohne den schweren Prunk der Vorkriegszeit. Zumindest jene, die über eine eigene Wohnung verfügten. Immerhin fehlten nach Kriegsende rund 5,5 Millionen davon. Viele Obdachlose fanden zunächst Unterkunft in den von Amerikanern und Briten aufgestellten Nissenhütten, halbrunde in Fertigbauweise hergestellte Wellblechunterkünfte. Dort kamen bis zu zwei Familien jeweils in einem Raum unter, getrennt durch eine dünne Wand. Der Wohnraumnot wirkte die Regierung 1949 entgegen und erließ ein faktisches Verbot der Kündigung von Bestandsmietern, verfügte die staatliche Vergabe von in Privateigentum befindlichem Wohnraum an Wohnungssuchende und begann mit einer massiven Intervention auf der Angebotsseite – ab 1950 wurden im Laufe des nächsten Jahrzehnts 3,3 Millionen Wohnungen gebaut, 2,7 Millionen entstanden zusätzlich durch private Investoren.

Wer solcher Sorgen ledig war und darüber hinaus in Lohn und Brot stand, der wollte sich auch zu Hause wohlfühlen. Neben Nierentisch und Tütenlampe gefiel ein Arrangement aus Cocktailsesseln, Sofa, Couchtisch, Bücherschrank mit nur wenigen Büchern, dafür im unteren Teil des schlanken, aufwendig behandelten und farbig lackierten Schrankes aus Kiefer, Buche oder Eiche das gute Geschirr für Gäste oder Familienfeiern. Auf dem Nierentisch plätscherte neckisch ein beleuchteter Zimmerspringbrunnen; quasi die Lavalampe des erwachenden Bürgertums. Auf dem Teewagen rollte die Hausfrau Brezel- und Salzlettenhalter aus farbigen Gläschen herein, diese wiederum von dünnen Metallstangen gehalten. Der Mosel lag in einer Flaschenwiege aus Messingdraht oder Korbgeflecht, wenn nicht ein Bowlengefäß auf den Tisch kam und der Hausherr dieses beliebte Getränk in eine einfach gehaltene Henkeltasse schöpfte: Kalte Ente (Zitrone, Weißwein, Sekt) oder Bismarckbowle (dieselbe Mischung zuzüglich Rum). Wichtig: eine Abstellbank, gern als Etagere, für Gummipflanzen, Flamingoblume (wie die Anthurie damals genannt wurde), Känguruwein oder Zimmerrebe. Wer eine solche Pflanze besaß, galt als Kosmopolit und fühlte sich als solcher. Das galt ebenso für den Wandschmuck. Gemälde mit dunkelhäutigen Frauen; Reproduktionen von Künstlern wie Miró und Chagall qualifizierten den Haushalt für die aufgeklärte Moderne, die Nase rümpfend über gängige Bilder wie den röhrenden Hirsch oder bukolische Landschaften.

Was ebenso auffallen würde, beträten wir heute ein solches Wohnzimmer: die Tapeten, die die Wände schmückten. Ins Auge stachen geometrische Muster, oft der modernen Malerei nachempfunden. »tapeten machen die mode mit«, warb 1952 die Gemeinschaft der Tapetenindustrie. Die elegant gekleidete Hausfrau betrachtete sich im Spiegel und konnte nun nicht mehr nur Kleid, Handtasche, Schuhe und Hut farblich abstimmen, sondern auch die passende Tapete zu ihrer Kleidung wählen. Die modebewusste Familie der 1950er wohnte tapeziert und gestaltete ihr Heim in Pastellfarben. Rosa, Türkis, Beige, Hellgrau, Zitronengelb, Olivgrün. Wie bei den Möbeln, so zeigte sich auch bei der Wanddekoration der Wunsch nach Leichtigkeit und Zartheit, ein Ausdruck von Optimismus. Die eigenen vier Wände zu tapezieren, das brachten die meisten Hausmänner hin, damals noch zumindest. Doch warum nicht auch die Decke schmücken? Auf einem Werbeplakat steht eine gezeichnete junge Frau mit Regenhut und Regenschirm: »Ewig unter einem grauen Himmel? Die weiße Decke ist – grau. Ersetzen Sie die graue Eintönigkeit durch freundliche Farben! Tapezieren Sie doch mal diese ›fünfte Wand‹! Das schafft eine neue großartige Raumwirkung! Warum auf die lange Bank schieben?«

Nicht nur der Stil der Möbel war neu, sondern auch ihre Ausrichtung. Zuvor hatte sich die Familie um den Küchen- oder Esstisch gruppiert und lauschte im Radio einem Hörspiel oder zum Sonntagsbraten Franz von Suppès »Leichter Kavallerie«. Nun saß sie andächtig im Halbrund auf Sesseln um den Couchtisch und guckte nach vorn – in die Röhre. 1950 war die ARD gegründet worden und sendete ab 1952. Das Fernsehen gewann rasch an Popularität. Erst recht durch »Straßenfeger« wie die erste Familienserie (»Unsere Nachbarn heute Abend – Familie Schölermann« 1954 und »Die Firma Hesselbach« ab 1960), Roman-Verfilmungen wie »Soweit die Füße tragen« und »Am grünen Strand der Spree« sowie Kriminalistisches wie ab 1958 »Stahlnetz«.

Blick geradeaus, Salzlette in der einen, Bowlenglas in der anderen Hand. Konnte es nicht immer so behaglich bleiben?

1953

Jukebox

Sind die weißen Segel gesetzt? Fahren wir jetzt, fahren wir jetzt? Sind die schlanken Boote so weit? Sind sie zur Fahrt bereit? Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein und Italiens blaues Meer im Sonnenschein. Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein laden uns ein, laden uns ein«, hatte René Carol im Vorjahr erfolgreich geschmachtet. Verschwitzte Erotik in Verbindung mit »Fernweh«, von Lale Andersen gesungen, bis hin zum »Strande von Havanna«, wo ein Mädchen stand, das René Carol dort gesichtet hatte. Gesellschaftliche Zwänge, zerstörte Städte, harte Arbeit, Kriegstraumata, Kriegsangst: Die Hälfte der Deutschen fürchtete, gerade nach dem Koreakrieg, eine atomare Auseinandersetzung. Sozialwissenschaftler beobachteten in den 1950ern einen starken Drang zum »Eskapismus«.

Beliebteste Flucht aus der Wirklichkeit: das Auflegen einer Schallplatte. Bereits 1953 wurden in der Bundesrepublik 30 Millionen Schallplatten gekauft – fast so viele wie 1929 im gesamten Reichsgebiet. Allerdings mit einer Umkehrung der Genres: nunmehr 90 Prozent Unterhaltungsmusik. »O mein Papa« von Lys Assia, »Sag, wie heißt du, süße Kleine« von Gerhard Wendland und Jupp Schmitz selig schwelgend und liebäugelnd: »Wir kommen alle, alle in den Himmel« – selbst nach der befürchteten Atomapokalypse.

Eine weitere Flucht führte ins Kino. Vom Trümmerlichtspielhaus hin zum Kinoboom mit dem Bau grandioser Häuser, die gern »Gloriapalast«, »Palast Theater« oder »Weltspiele« hießen. Heile-Welt- und Heimat-Filme, harmlose Komödien wie »Briefträger Müller« mit Heinz Rühmann, der das Kunststück fertigbrachte, sowohl in der Nazi- als auch der Nachkriegszeit zum Leinwandstar zu avancieren. Schock-Filme wie »Gefahr aus dem Weltall« und »Invasion vom Mars« durften durchaus als Reflex auf die Angst um den Weltfrieden verstanden werden.

Der Ausbruch aus dem Alltag führte auch zu »Bunten Abenden«, bestritten von tingelnden Truppen. Kleinkünstler, Stepptänzer, Sänger, Artisten, ein Witze erzählender Conférencier. Die Abende trugen Titel wie »Eine Schlager- und Humor-Parade« und »Lass die Sorgen Sorgen sein«. Das Radio übernahm das Konzept, als es noch nicht zum Hintergrundmedium degradiert war (»Wer zuletzt lacht« mit Peter Frankenfeld), später zog das Fernsehen nach: »1:0 für Sie«, nochmals mit Frankenfeld, und »Hätten Sie’s gewusst« mit Heinz Maegerlein.

Ein viel und gern besuchter Ort, um dem alltäglichen Trott zu entfliehen, war die Kneipe. Galt in den Familien ein stillschweigendes Übereinkommen, nicht darüber zu sprechen, was geschehen, was gesehen, was getan worden war, so war die Kneipe der Ort für jene, die unausgesprochen wussten, was sie einte. Wut, Selbstmitleid, Scham, Heldenkitsch, mitunter eskalierend im Absingen von Liedern, die die in Schutt und Asche liegende Zeit glorifizierten. Alkohol als Betäubung: Der Konsum stieg in den 1950ern von drei auf zwölf Liter pro Kopf, wobei es sich in der Hauptsache um männliche Köpfe handelte; der Verdauungsschnaps nach dem Mittagessen bei der Arbeit oder das Feierabendbier waren gängig. Das typische Inventar der Kneipe: Soleier, Automaten mit dragierten roten Erdnusskernen, an der Wand hängende Automaten für Geschicklichkeitsspiele wie der O-Bajazzo. 1952 rotierten erstmals die drei Drehscheiben des legendären Rotamint-Spielautomaten. Zeigten die drei Scheiben dieselbe Nummer, ratterte es im Münzauswurf. Die erste, 1953 erlassene Groschenspielverordnung bestimmte, dass jedes Spiel mindestens 15 Sekunden dauern müsse und der Höchsteinsatz zehn Pfennige nicht überschreiten dürfe.

Den GIs folgend tauchte plötzlich in der Kneipe ein neuer Star auf: Die Jukebox, zunächst Musikbox genannt. Das Einwerfen von Münzen erlaubte das Abspielen von Platten aus einem vorgegebenen Sortiment. Wurlitzer und Rock-Ola waren gängige Modelle. Deutsche Hersteller wie Tonomat und NSM-Löwen produzierten ab Beginn der 1950er, die DDR ab 1959. In der Regel erinnerten die ersten Geräte an Möbelstücke im Stil der Zeit, ehe sich Automaten mit Schwung und Schmackes durchsetzten.

Kaum noch zur Ruhe kamen die Tonabnehmer, als die Jukebox ab Mitte der 1950er mit Platten für die Jugend gefüttert wurde, mit Musik, die in den heimischen Radioapparaten kaum zu hören war. Fühlten sie sich durch Freddy Quinn (»Heimatlos«) und Margot Eskens (»Cindy, oh Cindy«) malträtiert, schepperte nun ein rebellischer Sound aus dem Automaten, der alles bisher Gehörte auf den Kopf stellte, den Körper zu anstößigen Tanzfiguren verleitete, weswegen verächtlich vom »Affentanz« die Rede war. Elvis Presley, Bill Haley, Paul Anka. Unbedingt gehörte die Jukebox in die von jungen Menschen überlaufene Milchbar – natürlich aus den USA kommend (ehe das Eiscafé sie Mitte der 1960er ablöste). Nüchternes Ambiente, Tütenlampen an der Wand, Bar, Barhocker, Stühle, Tischchen, Spiegel und Chrom, Treffpunkt von Halbstarken und Rock’n’Roll-Anhängern und Jugendlichen, die sonst nicht wussten, wohin. Ausgeschenkt wurden Milchgetränke, auch neue Kreationen wie der Milchshake. Aber kein Alkohol, denn der durfte erst ab 21 abgegeben werden. Was die Milchbar für Jüngere umso anziehender machte. Hier und in anderen Lokalitäten standen 195712000 Jukeboxes, 1960 waren es schon 50000.

Beinahe obligatorisch war die Tanzstunde, die allerdings ohne Jukebox auskam. Hoffnung auf Anäugeln, eine flüchtige Berührung, Hoffnung, die große Liebe zu treffen. Da Nylonstrümpfe noch sehr teuer waren (Laufmaschen wurden repariert), trugen junge Frauen gerne »flüssige Strümpfe« auf, die Naht mit Augenbrauenstift aufgezeichnet. Nach der Tanzstunde ging es auf einen Shake in die Milchbar oder zu einem in Gaststätten und Vereinsheimen ausgerichteten Tanzabend, wo Musikgruppen, meist Hobbykünstler, auftraten.

In einigen Teilen Deutschlands öffneten in den 1960ern Glastanzdielen. Die Jugend tanzte – die krawattentragenden Jungs in Stoffhose – auf von unten angestrahlten bunten Glasbausteinen. Wenn die Musiker eine Pause benötigten, kam die Jukebox zum Einsatz. Sie kümmerte damals schon ihrem langsamen Tod mit dem Aufkommen der Diskotheken entgegen. Die erste in Deutschland eröffnete wahrscheinlich 1959 in Aachen, die »Jockey-Tanz-Bar«. »Meine Damen und Herren, wir krempeln die Hosenbeine hoch und lassen Wasser in den Saal, denn ein Schiff wird kommen«, präsentierte der dortige DJ das nächste Lied. Ab 1974 löste die neue Disco-Musik eine Diskotheken-Welle aus. Darüber frohlockte das Magazin Stern1976: »Die Jugend driftet nicht nach rechts oder links. Sie sucht den Weg nach oben.«

Eckkneipen gewährten der Jukebox ein letztes Exil. Nach dem Ende der Produktion 2013 war drei Jahre darauf das Aus des Traditionsunternehmens Wurlitzer in Deutschland besiegelt. Mit dem Vertrieb von Verkaufsautomaten für Grillfleisch und Eis hatten die früheren Jukebox-Helden noch einmal durchstarten wollen, doch die Nadel sprang endgültig von der Platte: Insolvenz und Liquidation.

Die wahre Jukebox gibt es weiterhin. In der Hosentasche steckt heute das Smartphone. 100 Millionen Titel, über den Daumen gepeilt. Natürlich immer noch mit »Rote Lippen, rote Rosen, roter Wein«.

1954

Parkuhr

Seine erste Begegnung mit einer Parkuhr erweckte bei dem späteren Literaturnobelpreisträger Peter Handke unerwartet poetische Gefühle, die er in ein Gedicht packte, als er 1966 in Bayreuth vor der Aufführung von »Tristan und Isolde« erstmals eine Münze in einen Parkautomaten warf. Handke war angetan von der neuen Erfahrung und verspürte sogar einen gewissen Stolz.

So rasch also war ein Dichter mit einer Allerweltsbegegnung zu entzücken, bei der viele Nicht-Poeten in Harnisch gerieten.

Eine ganz andere Erfahrung mit der Parkuhr machte am 4. Januar 1954 am König-Heinrich-Platz in Duisburg eine junge Redaktionsassistentin der Lokalzeitung vor dem ersten »Parkographen« Deutschlands. Ihr Chef, so erinnerte sich Regina Hermbusche Jahrzehnte später, wollte selbst aufs exklusive Fernsehbild, drehte den Zündschlüssel seines Autos, ließ die noch führerscheinlose Assistentin einsteigen und wies sie an, auf die Bremse zu treten, sobald er »Halt« rufe. »Ich verwechselte die Pedale und trat aufs Gas.« Die Lokalzeitung titelte anderntags: »Achtung, Aufnahme: Päng!«

Hatte es bei Regina Hermbusche versehentlich »Päng« gemacht, mussten viele andere Parkuhren im Laufe ihres Daseins einiges Unschöne über sich ergehen lassen, wurden getreten, verklebt, abgesägt oder mit Farbe übergossen. Denn es kam ganz anders, als es Fritz Sewydaack vor der Installation der ersten Parkuhr Deutschlands vorhergesagt hatte: »Die Autofahrer werden bald die größten Befürworter der Parkuhren sein.« Da irrte der Verkehrsdezernent der Stadt Duisburg gewaltig. Von »Wegelagerei« war die Rede. Einige Parkrebellen wiesen vor Gericht darauf hin, das Aufstellen der »Groschengräber« verstoße gegen die Straßenverkehrsordnung. Erst 1956 legalisierte eine neue Verordnung die Parkgebühren.

Auch eine andere optimistische Vorhersage lief ins Leere. »Für den Beamten gibt es keine langen Verhandlungen mehr«, wollte die Duisburger Lokalzeitung wissen. »Er schaut nur auf die Parkuhr und weiß Bescheid« – über das Vergehen von Parksündern. Seit Loriots Sketch »Parkgebühren« von 1978 wissen wir, dass auch das purer Euphemismus war. In einer überdrehten Situation erklärt die Politesse: »Nach Einwurf der Münze in den für den Münzeinwurf bestimmten Münzeinwurf und dem Zurückrasten der im Sichtfenster sichtbaren Kontrollscheibe war der Fahrzeughalter der ordnungswidrigen Unterlassung des rechtzeitigen Münzeinwurfs in den für den Münzeinwurf bestimmten Münzeinwurf …«

Erfunden hatte die Parkuhr Carlton Cole Magee; das erste Gerät, die »Schwarze Maria«, kam 1935 in Oklahoma City zum Einsatz. 1952 stand das erste Modell in Europa, in Basel. Es folgten Stockholm und Duisburg: robuste Uhren auf der stabilen Metallstange mit Münzeinwurf, Drehhebel und Parkzeitanzeige im Sichtfenster, in dem nach abgelaufener Zeit ein roter Warnhinweis erschien, nach dem Motto: »Eine Stunde, ein Groschen.«

Mit dieser neuen Einrichtung versuchte die »Parkraumbewirtschaftung« den zunehmenden Verkehr in den Städten in den Griff zu bekommen. Eine Institution, geboren vom deutschen Amtsschimmel, so wie es die Gebrauchsanleitung der Duisburger Presse von 1954 beschrieb: »Den Groschen müssen Sie in den Schlitz des Apparates werfen, und unverzüglich erscheint unter einer Glasscheibe ein Schild mit dem P auf blauem Untergrund. Ein Uhrwerk dreht die Scheibe nach Minuten …«

Die D-Mark rollte, und mit ihr schoben sich immer mehr Autos in die deutschen Innenstädte. Für all die Lloyd-Leukoplastbomber, VW-Käfer und Borgward Hansas, die durch die Straßen patrouillierten, fehlte es zunehmend an Parkraum (lediglich das Rollermobil BMW Isetta passte in eine große Einkaufstasche). Keine Seltenheit, dass der Gatte ums Karree karriolte, bis die Gattin im Kaufhaus endlich den gewünschten Hut erstanden hatte. Fuhren 1950 bereits 598000 Personenkraftwagen über deutsche Straßen, stieg diese Zahl bis 1960 auf 4,5 Millionen und verdreifachte sich bis zur nächsten Jahrzehntwende auf 13,9 Millionen. Die Parkuhren sollten das Dauerparken einschränken – besonders dort, wo Kaufhäuser und der Einzelhandel auf Kunden hofften. Nebenbei entwickelte sich das zunächst symbolisch Groschenhafte zu einer netten Geldquelle für die Kommunen. So flossen 2022 allein 114 Millionen Euro an Parkgebühren und Bußgeldern in den Berliner Stadtsäckel.

Denn selbstverständlich – die menschliche Natur ist stärker als jede technische Errungenschaft – wurde auch gegen die Parkordnung verstoßen, sei es aus Absicht, sei es aus Nachlässigkeit. Kontrolle war also nötig. Was den Beruf des Parkwächters hervorbrachte, zunächst in der Mehrzahl von Frauen ausgeübt. Ab Mitte der 1960er überwachte die Politesse (eine Zusammenfügung aus Polizei und Hostess) den ruhenden Straßenverkehr und verteile »Knöllchen«, wenn die Parkzeit abgelaufen war. In München beispielweise bewarben sich 1965250 Frauen auf die dort ausgeschriebenen ersten Politessenstellen. Sie mussten zwischen 21 und 30 Jahren alt sein, mindestens 1,60 Meter groß, eine abgeschlossene Berufsausbildung und ein »gepflegtes Äußeres« haben. Polizeipräsident Hubertus Andrä: »Einige hofften, sich an einem Verflossenen rächen zu können, andere wollten in schicker Uniform schneller unter die Haube kommen, manche wollten Morde aufklären.«

Politessen sind immer noch auf den Straßen unterwegs. Allerdings nun zur Kontrolle von Anwohner- und Behindertenparkplätzen sowie von modernen Parkscheinautomaten, die seit den 2000er-Jahren mit der Einführung des Euro weitgehend die mechanischen Parkuhren ersetzten. Heute sind ec-Karte, Handy, Apps angesagt, bei denen das Parken mittels Fingerdruck begonnen und beendet werden kann. Die Verkehrsprobleme von 1954 waren im Vergleich zur Jetztzeit niedlich, als habe es sich damals um ein Playmobil-Land gehandelt – doch schon lange droht den Innenstädten der Infarkt. Für die Parkgebühren werden mittlerweile Preise wie für ein Fast-Food-Mittagessen aufgerufen. Es ist eine Sisyphosarbeit für die Parkraumbewirtschafter, die Interessen von Anwohnern, Geschäftsleuten und -kunden, Radfahrern, Fußgängern und Umweltschützern miteinander zu versöhnen.

Von alldem war in der DDR nie die Rede, derartige »kapitalistische Methoden«, Abzocke auf volkseigenen Parkplätzen, lehnte der Osten rundweg ab. Deswegen konnte sich die dortige Popkultur des Themas nicht annehmen, weil es die Zuhörer schlichtweg nicht wie im Westen juckte. Wie 1984 Herbert Grönemeyer in seinem Song »Mambo«, in dem er klagt, wie er stundenlang seine Runden dreht, ohne Aussicht auf einen Parkplatz, immer die Politessen im Blick, die wie Panther zum Sprung bereit sind, es trommelen die Motoren, es dröhnt in seinen Ohren, er will doch nur zu »ihr«, aber nun steht er hier: »So’n Scheiß« … Und der Hip-Hopper D-Flame schrieb in »Sorry« (vorgetragen von Jan Delay) der Parkuhr eine gänzlich andere Funktion zu: Wenn er mal keinen Bock auf die »Story« eines anderen habe, schicke er ihn einfach zur Parkuhr: »Kostet nur ’ne Mark …« Einquasseln auf eine Parkuhr – womöglich preiswerter und effektiver als ein Therapeut …

1955

Toast Hawaii

An einem Freitagabend im Jahr 1955, zwanzig nach acht – es gibt wohl nicht viele Rezepte, deren Geburtsstunde so exakt zu datieren ist, wie die des Toast Hawaii. Der Vater des Kult-Sandwichs: Fernsehkoch Clemens Wilmenrod, als er eine neue Folge des fünfzehnminütigen Straßenfegers »Clemens Wilmenrod bittet zu Tisch« eröffnete. Wilmenrod war allerdings kein Koch, sondern Schauspieler und hieß eigentlich Carl Clemens Hahn. Seit 1953 ging er anfangs zweiwöchentlich, später einmal im Monat auf Sendung und begrüßte aus der in einem Bunker in Hamburg eingerichteten Studioküche die Zuseher mit den wolkigen Worten »Ihr lieben, goldigen Menschen«, was er später veränderte in »Liebe Freunde in Lukullus« und »Verehrte Feinschmeckergemeinde«. Wenn er kochte und brutzelte, kamen Zutaten zum Einsatz, die er gerade zur Hand hatte und die von ihm neu arrangiert wurden: »Arabisches Reiterfleisch« (eine Frikadelle, mit Paprikapulver internationalisiert), »Päpstliches Huhn« oder die »Gefüllte Erdbeere«. Stets in treuer Bereitschaft an seiner Seite: der Infrarotgrill Marke Heinzelkoch.

Keine seiner Küchenfantastereien übertraf jedoch den 1955