Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Deutsche Winterreise: Liederzyklus mit Texten über Menschen im Abseits. Ein neuer Zugang zu Franz Schuberts Meisterwerk und zum Leben von Menschen am sozialen Abgrund. Zwischen 2008 und 2020 hat Autor Stefan Weiller in über 30 Städten obdachlose und sozial ausgegrenzte Männer und Frauen getroffen und ihre Gedanken, Gefühle und Geschichten in kurze Texte gefasst, teils kantig und hart, teils lyrisch, manchmal lakonisch, oder grotesk, immer eindringlich und ohne Pathos. Diese Miniaturen hat der Künstler mit dem Liederzyklus Winterreise verwoben. Das daraus entstandene Hörbuch »Deutsche Winterreise» (Speak Low Berlin, 2019) wurde in deutschen Feuilletons hochgelobt und für den »Deutschen Hörbuchpreis« und den »Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik« nominiert. Auf dem Hörbuch interpretierten namhafte Sprecherinnen und Sprecher Weillers Texte - Eva Mattes, Jens Harzer, Wolfram Koch, Helmut Krauss und Birgitta Assheuer. Vorliegend werden die Texte der »Deutschen Winterreise« erstmals als Buch veröffentlicht und mit weiteren Geschichten der Recherche-Reise -von Aachen bis Zwickau - ergänzt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 95
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
VORWORT
GUTE NACHT
DIE WETTERFAHNE
GEFRONE TRÄNEN
ERSTARRUNG
LINDENBAUM
WASSERFLUT
AUF DEM FLUSSE
RÜCKBLICK
IRRLICHT
RAST
FRÜHLINGSTRAUM
EINSAMKEIT
DIE POST
DER GREISE KOPF
DIE KRÄHE
LETZTE HOFFNUNG
IM DORFE
DER STÜRMISCHE MORGEN
TÄUSCHUNG
WEGWEISER
DAS WIRTSHAUS
MUT
DIE NEBENSONNEN
DER LEIERMANN
NACHWORT
Deutsche Winterreise: Liederzyklus mit Texten über Menschen im Abseits. Ein neuer Zugang zu Franz Schuberts Meisterwerk und zum Leben von Menschen am sozialen Abgrund.
Zwischen 2008 und 2020 hat Stefan Weiller in über 30 Städten obdachlose und sozial ausgegrenzte Männer und Frauen getroffen und frei nach seinen gewonnenen Eindrücken kurze Texte verfasst: teils kantig und hart, teils lyrisch, manchmal lakonisch oder grotesk, immer eindringlich und ohne Pathos. Diese Miniaturen hat Weiller mit dem Liederzyklus Winterreise verwoben.
Das daraus entstandene Hörbuch »Deutsche Winterreise« (Speak Low Berlin, 2019) wurde in deutschen Feuilletons hochgelobt und für den »Deutschen Hörbuchpreis« und den »Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik« nominiert. Auf dem Hörbuch interpretierten namhafte Sprecherinnen und Sprecher Weillers Texte: Eva Mattes, Jens Harzer, Wolfram Koch, Helmut Krauss und Birgitta Assheuer.
Vorliegend werden die Texte der »Deutschen Winterreise« erstmals als Buch veröffentlicht und mit weiteren Geschichten der Recherche-Reise – von Aachen bis Zwickau – ergänzt.
Berlin | 19:07 Uhr. Ein Dienstag im Winter. Gleich ist es soweit. Ich stehe mit Koffer vor der Unterkunft. Ich laufe nochmal die Straße entlang und überlege. Wie fange ich an? »Ich bin Herr sowieso. Ich bin arbeitslos. Meine Frau hat sich gehen lassen. Und ich mich auch. Seit heute bin ich wohnungslos. Ich war noch nie an einem Ort wie diesem. Und ich will hier eigentlich gar nicht sein.« Das alles könnte ich sagen. 20:09 Uhr. Ich stehe wieder vor dem Obdachlosenheim und suche immer noch die Worte. Nur ein Schritt, dann bin ich einer von denen. 20:11 Uhr. Ich drücke die Klingel. Jemand öffnet die Tür, ich hole tief Atem und höre meine Stimme sagen: »Guten Abend, ist hier wohl der Platz für einen wie mich?« Schon war ich drin. Und fand seither nicht wieder hinaus.
Wiesbaden | In mir hatte er die perfekte Gefangene: still, ängstlich, duldsam. Schon immer wollte jeder über mich bestimmen und mich ändern – und ich ließ es zu. Bis ich es schließlich nicht mehr ertrug. Schlimmer als dort kann es auf der Straße nicht sein. Das begriff ich endlich und ging.
Kassel | Es war so: Ich hatte 1100 Euro Stromschulden und ein offenes Bein. Das fing schon an zu stinken. Aber ich blieb Optimist. Dann landete ich schließlich doch im Krankenhaus. Nach ein paar Wochen war das Bein oberflächlich verheilt. Ich wurde entlassen. Mein Briefkasten quoll über. Der Schlüssel passte nicht mehr ins Schloss der Wohnungstür.
Ich fragte mich, warum? Die Antwort lag in der Post: »Sobald Sie bezahlt haben, kriegen Sie alles wieder.« Meine Bücher, dachte ich. Aber ich konnte immerhin noch ins Gebäude hinein. Im Trockenraum machte ich mir ein Nachtlager, gebaut aus den Krankenhaussachen, die ich in der Tasche bei mir trug. Zu allem Unglück stand Weihnachten vor der Tür – genau wie ich. Spät nachts schlich ich ins Haus. In der Frühe stahl ich mich davon, damit mich keiner sieht. Donnerstags bis samstags wusch ich mich in der Markthalle. Ich saß in der Einkaufsgalerie und dämmerte bis Ladenschluss vor mich hin, ehe ich mich wieder in den Trockenraum wagte.
Einmal war die Polizei im Haus. »Ich habe mich ausgesperrt und will erst morgen einen Schlüsseldienst holen. Die Kosten, verstehen Sie?«, sagte ich und zeigte meinen Personalausweis, auf dem noch diese Adresse eingetragen war. Die Polizistin schaute ernst und sagte schließlich: »Na dann. Gute Nacht.«.
Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh' ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
Das Mädchen sprach von Liebe,
Die Mutter gar von Eh' –
Nun ist die Welt so trübe,
Der Weg gehüllt in Schnee.
Berlin | Ich bin neu in der Stadt, mit ein bisschen Fieber und ein bisschen Fußbrand. Ich komme frisch aus Hamburg. Eine Wohnung habe ich nicht. Ich leiste mir ein Schließfach für meine Habseligkeiten in Berlin. Ein Rucksack, ein Koffer. Da drin ist alles, was mir nach der Räumung geblieben ist. Schweres Zeug aus leichtsinnigen Zeiten: Bilder, Briefe und andere Sentimentalitäten, die ich behalten will. »Maximale Mietdauer: 72 Stunden. Nicht eingeschlossen werden dürfen übelriechende Stoffe«, sagt ein Schild. Gilt mein Rucksack als übelriechend?
Maximal 72 Stunden. Wo bin ich in 72 Stunden? Mein linker Fuß antwortet mit einem Pochen. Ich weiß nichts von dieser Stadt. Was will ich hier eigentlich?
Ich lese weiter: »Nach Ablauf der maximalen Mietzeit wird der Schließfachinhalt bei der Schließfachaufsicht gelagert. Nach längstens drei Monaten werden nicht abgeholte Gegenstände einer Versteigerung zugeführt.« Na, die werden sich freuen. Da biete ich doch glatt mit. Der erste Euro fällt in den Schlitz. Wie damals beim Glücksspielautomaten. Glück aus dem Automaten. Daran habe ich fest geglaubt. Der Gepäckautomat schluckt mein geschnorrtes Geld und die Anzeige leuchtet auf. Jetzt gilt es. Ab jetzt läuft die Zeit.
Ich kann zu meiner Reisen
Nicht wählen mit der Zeit:
Muss selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.
Es zieht ein Mondenschatten
Als mein Gefährte mit,
Und auf den weißen Matten
Such' ich des Wildes Tritt.
Neunkirchen Saar | Stellen Sie sich vor, für die Abschiedsworte reicht Ihrer Frau die Rückseite eines Einkaufszettels. Stellen Sie sich vor, es ist ab sofort keiner mehr da, wenn Sie heimkommen. Stellen Sie sich vor, es steht kein Essen mehr auf dem Tisch. Und Sie können nicht kochen. Stellen Sie sich vor, Sie werden nicht mehr gewollt. Stellen Sie sich vor, Sie kommen mit der Arbeit nicht mehr klar und werden deshalb entlassen. Stellen Sie sich vor, Sie können Ihre Miete nicht mehr bezahlen. Stellen Sie sich vor, Sie können von Ihrem bisherigen Leben nur so viel mitnehmen, wie in eine Tasche passt. Stellen Sie sich vor, Sie laufen so durch die Stadt und kommen immer wieder an Ihrem ehemaligen Haus vorbei. Haben Sie das? – Willkommen in meinem Leben.
Was soll ich länger weilen,
Bis man mich trieb hinaus?
Lass irre Hunde heulen
Vor ihres Herren Haus!
Die Liebe liebt das Wandern, –
Gott hat sie so gemacht –
Von einem zu dem andern –
Fein Liebchen, gute Nacht!
Leipzig | Ich habe die Stadt verlassen, weil ich meine Familie nicht in meine Sorgen hineinziehen wollte. Viele Freunde haben sich abgewendet. Um die Restlichen nicht auch noch zu verprellen, bin ich vorsorglich gegangen. Ich glaube nicht, dass mich jemand sucht. Deshalb kehre ich auch nicht zurück.
Will dich im Traum nicht stören,
Wär' schad' um deine Ruh',
Sollst meinen Tritt nicht hören –
Sacht, sacht die Türe zu!
Schreib' im Vorübergehen
An's Tor dir: Gute Nacht,
Damit du mögest sehen,
An dich hab' ich gedacht.
Aachen | In der Einrichtung habe ich einen Spint. Ich schreibe mit Kreide meinen Namen darauf. Man kann mich wegwischen, spurlos beseitigen. Das Spintfach ist so groß wie eine Box bei der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof. Mein Fach ist trotzdem nicht voll. Im Zimmer schlafen acht Männer, sofern sie schlafen können. Das macht unter Umständen 16 Käsefüße, es sei denn, einer hat eine Beinprothese. In jeder Nacht gibt es mindestens einen Schnarcher. Bis zu 16 Füße teilen sich zwei Duschen und zwei Klos. Bis 24 Uhr dürfen wir fernsehen. Um 6:45 Uhr wird geweckt. Im Frühstücksraum gibt es Nuss-Nougat-Creme, so viel man möchte. Kostenlos. Um 7:15 Uhr müssen wir raus. Um 3 Uhr öffnet die Einrichtung wieder. In der Zwischenzeit lese ich in der Bibliothek. Ich darf kein Buch mit hinausnehmen.
Ohne Adresse kein Bibliotheksausweis und keine Ausleihe. Aus Angst, der Roman könnte entliehen werden, bevor ich ihn auslesen konnte, lese ich Gedichte und spiegle mein Leben in kurzen lyrischen Sprachbildern.
Es ist warm, kultiviert und ich kann eine Stunde kostenlos im Internet nach einem neuen Leben surfen. Ab 22 Uhr darf ich in den Schlafraum zurückkehren. Einmal versuchte ich, in der Einrichtung einen Brief zu schreiben. Aber es steht dort immer einer um dich herum und fragt, wem du wohl schreibst. Da habe ich es gelassen. Ihr Brief bleibt ungeschrieben.
Jeden Tag denke ich beim Vorübergehen mit Blick auf das Kreidefeld an meinem Spint: Wann kann ich meinen Namen für immer löschen? Wann kann ich fort? Wann ist alles nur noch Erinnerung?
Zwickau | Ich brauchte Tagesstruktur und jemanden, der auf mich aufpasst. So schlecht, wie ich beisammen war, wäre es wohl schlimm ausgegangen. Scheiße, war ich depressiv. Ich musste etwas tun. Dann habe ich den Einbruch begangen und zwar so laut und polternd, dass die Polizei auch garantiert kommen würde. Aber sie kam nicht. Nur deshalb musste ich die nächste Straftat begehen, aber noch lauter. Endlich war ich im Knast und einer schloss die Tür zu jener Welt hinter mir zu, die mir so schreckliche Angst machte. Endlich in Sicherheit, auch vor mir selbst.
Zählt das als Alibi?
Düsseldorf | Ich habe in einem Callcenter gearbeitet. Aber ich kann nicht mehr in diesen Job zurück. Es war die Hölle. Ich wurde von den Kunden am Telefon angeschrien, verhöhnt, beleidigt – und vom Unternehmen ständig kontrolliert. Viele Telefonate wurden digital aufgezeichnet. Das konnte ich nicht mehr verkraften, zumal für so wenig Geld. Ich war der Filter für all die Unzufriedenheit der Kunden eines Unternehmens. Das machte mich fertig.
Und schließlich bekam ich die Kündigung. Seither habe ich noch keinen neuen Job gefunden, sondern lebe von Sozialleistungen und der Tafel. Seit mich auch noch mein Mann verlassen hat, ist die Wohnung zu teuer.
Ich muss eine kleinere Wohnung finden. Wissen Sie, was das in dieser Region bedeutet? Es gibt kaum bezahlbare Wohnungen. Und ich bin keine attraktive Mieterin. Ich durchforste alle Quellen im Internet und in Wohnungsportalen. Sobald ich eine Annonce finde, greife ich zum Telefon und nutze eine Technik aus meiner Zeit im Callcenter: Ich lasse meine Stimme warm klingen. Am Telefon kann ich punkten. Bewerbe ich mich telefonisch um Wohnungen, werde ich eingeladen. Stehe ich dann in der Wohnung und man sieht, wer ich äußerlich bin und was mein Lebenslauf erzählt, heißt es in einem Ton zwischen Hochmut und Bedauern, dass man mir die Wohnung lieber doch nicht gibt. In mir ist es oft kalt, aber meine Stimme, die ist schön warm.
Karlsruhe | Von außen sah die Teigtasche noch ganz super aus. Ich habe reingebissen und sie war innen grün vor lauter Schimmel. Das ist meine Geschichte.
ohne Ortsnennung | Die Presse stürzte sich regelrecht auf mich. Ich war ein Medienstar, gut für eine Sendung. Erst danach fiel mir ein, was ich gerne sagen wollte: »Bemitleidet mich nicht. Bewundert mich doch nicht, weil ich auf der Straße lebte. Ich bin keine Sensation, kein Zirkuspferd. Ich habe wieder eine Wohnung. Und halt eine Vergangenheit. Aber ihr wollt in mir den traurigen Penner sehen.« Für starke Bilder soll ich wieder in ein Zelt ziehen. Das rührt ans Herz. Für Mitgefühl muss ich schon was bieten. »Der Mann von der Straße. Der arme Flüchtling« verkauft sich gut. Da sieht man unsereinen am liebsten. Immer schön in der Rolle bleiben und jeder auf seinem Platz. So läuft das.