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Stefan Weiller besucht Sterbende. Er spricht mit ihnen über das Leben, das Sterben – und über die Musik, die sie in ihrem Leben und an dessen Ende bewegt hat. Die Geschichten, die Weiller aufschreibt, und die Lieder, die er mit seinen Gesprächspartnern hört, sind so vielfältig wie unsere Gesellschaft. Sie zeugen von Lebensfreude, aber auch von der Angst vorm Sterben – und offenbaren, dass die letzte Lebensphase nicht immer nur Trauer, Stille und Krankheit, sondern auch Zuversicht, Liebe und Menschlichkeit bedeutet. Die Vermächtnisse seiner verstorbenen Gesprächspartner bringt Weiller in der Konzertreihe "..und die Welt steht still" auch erfolgreich auf die Bühne: bei seinen viel besuchten Veranstaltungen lesen prominente Schauspieler mit musikalischer Begleitung durch ein Orchester – so entstehen sehr persönliche, bewegende Erinnerungen. Mal lustig, mal nachdenklich oder melancholisch. Immer wertvoll.
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Seitenzahl: 292
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Sterbende erzählenvon der Musik ihres Lebens
Aufgeschriebenvon Stefan Weiller
Alle Namen und Geschichten indiesem Buch wurden verfremdet.Eine Ähnlichkeit zu realen Personenist nicht beabsichtigt.
Edel BooksEin Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright © 2017 Edel Germany GmbH,Neumühlen 17, 22763 Hamburgwww.edel.com1. Auflage 2017
Projektkoordination: Gianna SlomkaLektorat: Matthias MichelCoverabbildung: i-stock / AvesunLayout und Covergestaltung: Groothuis.Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.deLithografie: Frische GrafikePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH Berlin, Projektmanagement schaefermueller Publishing Berlin
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise –nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Printed in GermanyeISBN 978-3-8419-0550-5
In »Hospiz« steckt das lateinische Wort »Hospes«, das übersetzt sowohl »Fremder« als auch »Gast/Freund« bedeutet. Diese Sichtweise faszinierte mich schon zu meiner Schulzeit, genauer, seitdem ich mich auf einem »humanistischen Gymnasium mit altsprachlichem Schwerpunkt« mit toten Sprachen konfrontiert sah. Ein Fremder ist also immer auch Freund und es versteht sich von selbst, mit ihm »hospitium«, Gastfreundschaft, zu schließen.
Welch ein Menschenbild! So zugewandt, neugierig, selbstverständlich.
Wie sinnstiftend wäre es, wenn wir uns alle in diesem Sinne um ein wenig mehr Rückwärtsgewandheit bemühten, in Zeiten, in denen wir zwar vom »globalen Dorf« reden und in nie dagewesener Geschwindigkeit Nähe herstellen können, in denen uns aber auch Follower mindestens so wichtig sind wie Freunde, die wir dann zwar nicht kennen, aber zählen können.
In den späten Siebzigern – ich pubertierte nolens volens vor mich hin – beeindruckte mich dann eine Person, die sich selbstlos für die Schwächsten, die Abgeschobenen, die Ignorierten einsetzte, die diese zu Wort kommen ließ, in die Mitte rückte und selbst zu deren Speerspitze wurde: die Schweizerin Elisabeth Kübler-Ross. Die Medizinerin traute ihren Augen nicht, als sie mit ansehen musste, dass Sterbende in amerikanischen Krankenhäusern in ihren Betten auf Gängen lagen, unbeachtet, würdelos. Sie ist diejenige, an die man spontan denkt, wenn man von der »Hospizbewegung« redet. Denn die mit 23 Doktortiteln vielleicht meistausgezeichnete Frau der Welt hat eine Gesellschaft, die so sehr mit sich beschäftigt war statt mit dem anderen, die ihr Leben lebte, indem sie das Sterben verdrängte, wieder sensibilisiert. Sie hat, unbequem wie sie war, durch Reibung eine Wärme erzeugt, die selbst dem rationalsten Schulmediziner vor die geöffneten Augen führte, dass man den Schwerpunkt öfter mal auf das Sinnvolle statt auf das Machbare legen sollte. Zuhören, zuhören und noch mal zuhören, da sein in den letzten Stunden des Daseins, die Fürsorge zum Prinzip erklären. Ihr erstes Buch »Interviews mit Sterbenden« wurde auch ihr erster Bestseller.
Die Saat in meinem Leben war also gesetzt und das sooft verhasste »humanistische Gymnasium« machte auf einmal in seiner wörtlichen Übersetzung Sinn als »Spielplatz, der den Menschen in seinem Zentrum« hat.
Musik war eines meiner Lieblingsfächer. Brahms, Strauss, Pfitzner – alles sog ich auf. Und dann kam Gustav Mahler und alles war anders. Ihn sog ich nicht auf, sondern er mich. Auf einmal sah ich mit den Ohren und hörte mit dem Herzen. Noten gewordener Schmerz, in Musik gegossene Freude – ich lernte musikalische Affekte in einer Amplitude kennen, die ich nicht für möglich gehalten hatte – zart und gewaltig, wehklagend und triumphal – und es ist überliefert, dass bei einem Konzert in der historischen Stadthalle meiner Heimatstadt Wuppertal im letzten Satz von Mahlers Neunter plötzlich ein Mann auf dem Balkon aufsprang und schrie: »Ich bring mich um!«, wozu es zum Glück nicht kam.
Mein Wunsch, katholischer Priester zu werden, fiel der Fleischeslust zum Opfer, mein Klarinettenunterricht wurde abgelöst vom Auswendiglernen irgendwelcher Formeln im Rahmen einer kaufmännischen Lehre, die Aussicht, ein brillanter Banker zu werden, zunichtegemacht von meinen ersten zaghaften Schritten auf den Brettern einer Hinterhofbühne, und der Versuch, eine Bühnenkarriere anzustreben, von dem Angebot, fürs Fernsehen zu arbeiten. Da spielte ich dann Sketche, bekam eine eigene lustige Serie, drehte Komödien und die Menschen lachten und ließen sich ablenken. Ja, und abgelenkt war auch ich. Von mir.
Vorbei war das Interesse, selbst Musik zu machen, auf kleinster Flamme köchelte die Beschäftigung mit »den letzten Dingen« und mein Ego wuchs. Noch etwas anderes aber war geschehen. Ich war auf einmal prominent, was die eine oder andere Begehrlichkeit weckte. Und so kam es, dass Deutschland ältestes Kinder- und Jugendhospiz, das im sauerländischen Olpe ansässige »Balthasar«, an mich herantrat und mich fragte, ob ich nicht mal einen Blick riskieren wolle. Spontan dachte ich: »Nö, mir geht’s doch gut«, aber irgendetwas in mir gab nach, wurde weich, und mittlerweile bin ich seit fast sechs Jahren Botschafter und Pate des Hospizes. Der erste Gang war kein einfacher. Zu laut bellte mein innerer Schweinehund und ließ mich Angst haben, dem, was mich erwartet, nicht gewachsen zu sein. Was ich dann aber im »Balthasar«, dieser zeitweiligen Heimstatt für Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden Krankheiten, das aber auch für Eltern und Geschwister ein kraftspendendes Labsal ist, erlebte, verkehrte meine Sicht komplett. Ich erlebte einen heiteren Ort, ein sonnendurchflutetes Refugium, in dem Rückzug und Austausch, Trauer und Freude sich die Hand reichen dürfen. Ja, auch dort wird gelitten, gehadert und gestorben, aber in erster Linie – so mein Eindruck – wird hier nicht der Tod vorbereitet, sondern das Leben gefeiert.
Regelrecht verwandelt, auf eine tröstliche Weise geerdet, weil ich ein Stück Himmel erlebt hatte, ging ich zurück in mein Leben. Am liebsten hätte ich spontan den größten Kölner Anbieter für Kopfbedeckungen überfallen, so viele Hüte wollte ich vor denjenigen ziehen, die tagein, tagaus dort arbeiten, ehrenamtlich oder angestellt, um mit unglaublicher Empathie denen zur Seite zu stehen, die sich auf der Zielgerade ihres Lebens befinden.
Dann starben meine Eltern. Kurz hintereinander. Nicht überraschend und doch so plötzlich, dass ich um Luft rang. Und auf einmal befand ich mich auf der Seite derjenigen, die begleitet wurden, die Kraft bekamen von jemandem, der einfach da war, zuhörte, tröstete, im richtigen Moment schwieg, jemandem, mit dem ich »hospitium schloss«.
Das Leben, mein Leben, lehrt mich schon lange, dass alles für irgendetwas gut ist, dass alles Sinn ergibt, manchmal erst im Rückblick, dass wir uns in einem Kosmos (griechisch für »Ordnung«) befinden, der verwirrend wirken mag und doch entwirrend tätig ist. Und gemäß der Plattitüde »Es gibt keine Zufälle!« bekam ich genau in dieser dunklen und verstörenden Zeit über meine Agentur die Anfrage von Stefan Weiller, ob ich willens sei, Geschichten Sterbender zu lesen, unter dem Titel »Letzte Lieder«.
Auf welch wunderbare Weise schloss sich in diesem Moment für mich ein sehr persönlicher Kreis.
Ja, das war ich, das bin ich.
Dass ich dem, was uns alle so sprachlos werden lässt, meine Stimme geben durfte, dass mir letzte, persönlichste Sätze anvertraut wurden, war und ist eine große Verantwortung, eine süße Last, vor allem aber eine unglaubliche Ehre. Zudem habe ich niemals bei der Vorbereitung von Texten so viel über mich selbst und das Leben gelernt, das es bis in seine letzten Winkel auszuloten, bis zu seinen letzten Tropfen auszutrinken gilt.
Elisabeth Kübler-Ross hat in ihren letzten Stunden gesagt, sie habe in ihrem Leben zu viel gearbeitet und zu wenig getanzt.
Kommt, lasst uns tanzen, hier ist die Musik dazu.
Christoph Maria Herbst Köln, im September 2016
Gabriele, Mitte 60, im Hospiz
Ein Frühlingstag, wie er im Buche steht, und der erste Tag im Hospiz. Eine Frau hat sich bereit erklärt, für einen Zeitungsbericht aus ihrem Leben zu erzählen. In der Reportage soll es darum gehen, wie sterbenskranke Menschen den Einzug ins Hospiz empfinden.
Sie hat Krebs im Endstadium und ist seit etwa zwei Wochen im Hospiz. Ab vier empfängt sie Besuch. Vorher will sie ruhen. Auch eine kurzfristige Absage behält sie sich vor. Am Morgen vor der Begegnung lässt sie aber ausrichten, dass es geht.
Wie wird die Begegnung mit ihr sein? Wie wird sich die Umgebung anfühlen? Liegt über allem ein grauer Schatten? Wie wird es riechen im Hospiz? Wie gegenwärtig ist der Tod? Wie fühlt es sich an, in einem Haus, in das Menschen nicht freiwillig, sondern zum Sterben kommen? Wie beschreibt man diese Menschen überhaupt richtig: als Sterbende? Gäste? Bewohner? Patienten? Worüber kann man reden? Worüber besser nicht? Gibt es auch handfeste Tabus?
Schon die Vorstellung von einem Hospiz ruft bei manchem Unbehagen hervor. Als das Haus seinerzeit eröffnet wurde, haben Anwohner sogar dagegen protestiert. Ein Hospiz, ja aber im Wohngebiet? Das ging manchen zu weit. Und dann sollte auch noch ein Kinderhospiz dazugebaut werden! Trotzdem: Der Streit ist verraucht, die Gebäude fallen höchstens durch ihre – im Vergleich zur spröden Umgebung – gefühlvolle Architektur angenehm auf, und das Erwachsenenhospiz ist für Besucher tagsüber offen und frei zugänglich.
Im Flur steht eine Schale mit Sand, darin brennende Kerzen. Daneben liegt ein aufgeschlagenes Buch, in das Angehörige schreiben können, was sie bewegt. Abschiedsworte, Gebete, Dank. Überall stehen Sitzgelegenheiten, Ledersessel und kleine Tische. Die Wände im Flur sind geschmackvoll gestrichen, die Bildauswahl ist freundlich dezent und gefällig wie in einem Möbelhaus. Es sieht nicht aus wie in einem Krankenhaus, eher wie in manchem Wohnzimmerflur, der den Zeitgeschmack aufgreift.
Es riecht nicht nach Tod, es riecht gar nicht. Ein grauer Schleier weht auch nicht durch den Gang. Es sind keine Spiegel verhängt, es läuten keine Glöckchen, es hängen keine Sinnsprüche an der Wand, auch keine religiösen Symbole, aber ein Verweis auf den »Raum der Stille«.
Ein großer Hund läuft über den Gang, er gehört zur Hausleitung, hat heute Streichelstunde und scheint sich auf die Begegnungen zu freuen – arglos und unbedarft, wie wohl nur Tiere es sein können. Hund müsste man sein, zumindest manchmal.
Eine Mitarbeiterin weiß von der Verabredung mit der Frau aus Zimmer 1. Bis zur Zimmertür kommt sie mit. Schon ein paar Schritte davor hört man etwas, das jeder Vorstellung von Hospiz und Sterben widerspricht: Cindy und Bert, »Immer wieder sonntags« – echt jetzt? Schlagermusik. Banal, beiläufig, penetrant und gleichzeitig mitreißend gut gelaunt?
Was folgt, sind zwei Stunden Gespräch. Tiefgründig, ernst, traurig, leicht, manchmal erstaunlich lustig bis brüllend komisch – und am Anfang steht die Musik. Sie wird die ganze Zeit hindurch anbleiben und ist verknüpft mit Lebensgeschichte, zu der jetzt auch die Zeit im Hospiz hinzukommt.
»Nehmen Sie Platz. Stört die Musik?«
Cindy & Bert, »Immer wieder sonntags«, D. Holten, J. Halvey
Dieses Gespräch im Jahr 2009 war der Auslöser für das Projekt »Letzte Lieder und Geschichten«, für das sterbende Menschen in Hospizen gebeten werden, aus ihrem Leben zu erzählen und eine Musik zu nennen, die für ihr Leben von besonderer Bedeutung ist. Daraus entwickelte sich die Konzertreihe »und die Welt steht still … Letzte Lieder und Geschichten«, in der ausgewählte Begegnungen zum Live-Erlebnis mit Musik verarbeitet wurden – und parallel dazu entstand auch dieses Buch.
In Hospizen von Schleswig-Holstein bis Bayern ließen sich Menschen im Alter von Anfang 20 bis Mitte 90 für die Letzten Lieder interviewen. Auch Familien mit schwerstkranken und sterbenden Kindern waren bereit, ein Gespräch über die Bedeutung von Musik zu führen. Die Begegnungen fanden in der Vermittlung von stationären Hospizen, ambulanten Palliativ- und Hospizdiensten und nur auf ausdrückliche Einladung der Interviewten statt. Vorab wurde jeder Gesprächspartner genau über das Projekt informiert. Die Begegnungen wurden nicht aufgezeichnet. Es gab für die Interviews keine festgelegten Fragen. Jeder durfte erzählen, was ihm wichtig war, wie er sich und das eigene Leben sah und darstellen wollte. Die Gespräche dauerten zwischen 15 Minuten und drei Stunden – je nach Kondition der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner.
Alle Texte sind freie Nacherzählungen, die vom Autor aus dem Gedächtnis geschrieben wurden. Die Geschichten sind nach wahren Motiven und tatsächlichen Begebenheiten verfasst worden, zum Schutz der Personen wurden jedoch wesentliche Merkmale verfremdet. Für das Buch haben alle Menschen einen Vornamen erhalten, der zu ihrer Persönlichkeit passt, aber nicht dem tatsächlichen Namen entspricht. Unter dieser Voraussetzung war es möglich, dass Menschen offen erzählten, beispielsweise vom Lied ihrer Scheidung.
Ähnlichkeiten zu realen Personen sind nicht beabsichtigt, die Geschichten wurden zwar behutsam, aber dennoch so sehr verändert, dass alle Ähnlichkeiten Zufälle sind.
Johannes, Anfang 70, im Hospiz
Es kommen ihm Tränen, wenn er daran denkt, wie seine Tochter an diesem Abschiedssonntag im Hospiz an seinem Bett saß und fast unhörbar leise »Mensch, Papa« sagte. Und fast habe es ihm das Herz zerrissen, als sich seine Freunde am Abend noch mal zum Skat versammelten, und er dann aus Erschöpfung und Unwohlsein doch nicht mitspielen konnte. Damit war der Abschied von Familie und Freunden also gemacht. Der Tod kann, wenn es denn also sein muss, kommen, so dachten alle. Auch die Ärzte.
Nur: Er kam nicht – und das schon seit fünf Monaten und deshalb hat der Mann plötzlich ein Lied, das er eigentlich nie haben wollte:
»Lebt denn der alte Holzmichel noch? Jaa, der lebt noch, lebt noch, stirbt nicht.« Das Lied scheint für mich geschrieben worden zu sein. Und ich fürchte, das ist der erste Gedanke, wenn bei meiner Familie oder meinen Freunden das Gespräch auf mich kommt. Ich schäme mich ja schon fast. Jetzt endlich verstehe ich das Lied. Und ich hätte nie geglaubt, dass ich mich so was einmal sagen höre: Vielleicht liegt eine weise Botschaft in diesem Lied: Leute, lebt so lange, wie es geht. Lamentiert nicht. Mal im Ernst: Wie viele Abschiede kann man gestalten? Sonntag für Sonntag. In Krankenhäusern. Auf Palliativstationen. Zu Hause. Jetzt im Hospiz. Das hält doch keine Familie aus.
Manchmal durchbohren mich die Schmerzen und die Angst und ich denke: Ich bin so weit. Aber dann sammelt sich noch mal Energie – und schwups: Er lebt noch. Dass ich weiterlebe, da müssen wir jetzt alle durch. Wir sind vor lauter Abschiedsworten irgendwie ermattet, aber auch entlastet. Es ist alles gesagt. Abschiedsworte sind schön, wie Sahnetorte mit Buttercremefüllung. Das geht ab und zu im Leben. Aber im Alltag will man doch lieber Salami auf Brot oder Schnitzel mit Pommes. Also jetzt so symbolisch gesprochen, weil mit dem Essen klappt das nicht mehr.
Wir gehen heute entspannter in die Begegnungen. Nicht jedes Treffen ist eine große Zeremonie. Wir können auch mal lachen. Oder schweigen. Und weil man nicht einmal im Hospiz weiß, wann etwas zu Ende ist, müsste man im Konzert meines Lebens eigentlich »Lebt denn der alte Holzmichel noch« spielen. Aber wenn das wirklich jemand tut, dann setzt es was. Mein Liedwunsch ist ganz schlicht und zum Sterben schön. Es sagt nur eins: Wir müssen es nehmen, wie es kommt. Und mein Schicksal ist, dass ich unsterblich bin.
Drei Wochen nach der Begegnung ist der Mann nach vierjähriger Krankheit verstorben. In der Nacht zu einem Donnerstag. Seine Tochter wachte bis zum Morgen an seinem Bett.
De Randfichten, »Lebt denn der alte Holzmichl noch?«,trad., M.: M. Rostig
The Beatles, »Let It Be«, J. Lennon, P. McCartney
Anna, um die 80, im Hospiz
Ist sie die coole Oma, die mancher sich gewünscht hätte, aber vermutlich kaum einer je hatte? Eine wie im Film, mit der man nachts einen Joint baut, um anschließend im Rausch ein systemkritisches Graffiti an die Filiale der Deutschen Bank zu sprühen, oder ein versautes an ein katholisches Nonnenkloster? Auf jeden Fall ist sie kernig und heute mächtig auf Krawall gebürstet. Einmal sagt sie schroff: »That’s small talk, Sweety-boy.« Und auf »Small-Talk-Scheiße« habe sie, nur einmal dürfe man raten, »absolut keine Lust«. Dafür sei ihr das Leben zu kurz, my dear.
Sie liebt Anglizismen. Und ihre Erregung liegt vermutlich nicht nur an ihrer Diagnose, die vor vier Wochen alles auf den Kopf stellte und sie aus heiterem Himmel ins Hospiz katapultierte. Dass sie aufgebracht wirkt, liegt auch in ihrem sperrigen, raumfüllenden Charakter begründet. Sie ist nicht zu fassen.
Obwohl man sich zum Gespräch – auf Anraten des Hospizpersonals und damit die Dame rauchen kann – vorsorglich im Freien trifft, fürchtet man dennoch, hinausgeworfen zu werden. So ungefähr mag sich ein Besuch bei der gereizten Marlene Dietrich in Paris angefühlt haben, oder der letzte Tag im Garten Eden. Für Altersmilde wird sie niemals alt genug sein.
Eine ungeschickte Regung – und zack! Game over! Aber vermutlich würde sie kurz vor dem Finale doch einlenken, denn sie mag den verbalen Schlagabtausch und inszeniert ihn wie eine Screwball-Comedy aus dem Hollywood der Vierziger.
Ihre Erzählungen changieren zwischen ihrer Wahrheit, dem Mythos ihres Lebens und schillernder Übertreibung. Eine Zimmernachbarin, mit der sie sich angefreundet hat, spekulierte angesichts ihrer schrillen Storys schon, ob sie entweder Hirnmetastasen habe oder ob schlicht die Fantasie manchmal mit ihr durchgehe? Darüber konnte sie herzlich lachen. Sie mag direkte Menschen.
Ein zu großer Hut verleiht ihr etwas Mondänes, von der Art, ihre Zigarette zu halten, ganz zu schweigen. Das stahlblaue Spiegelglas ihrer riesigen Brille gibt ihr etwas Unnahbares, geradezu Gefährliches. Auf die Wirkung der Brille angesprochen, erschrickt sie, nimmt die Brille mit beiden Händen ab und sagt durchaus entrüstet: Sie sei doch nicht gefährlich! Es handle sich schließlich um eine Friedensbrille, wie John Lennon sie trug.
Ihre Augen sind die einer freundlichen alten Frau, fast einer liebenswerten Oma. Rasch setzt sie die Brille wieder auf, grinst überlegen und sagt:
Ihr jungen Leute habt doch von nichts eine Ahnung. Wie alt bist du, Sweetheart? Na ja, auch nicht mehr sooo jung. Sieh mal, Darling, ich war vor ein paar Jahren in der Oper. »Butterfly«, Puccini. Kennst du? Wenn nicht, lies es nach.
Stell dir vor: Nagasaki, die arme Butterfly sitzt am Boden, zum letzten Mal hält sie ihr Kind im Arm, bevor sie es seinem Erzeuger nach Amerika mitgeben muss. Dann nimmt sie ein Messer, sticht es sich in den Hals, Blut spritzt über das Kind und bis zur ersten Reihe. Also wirklich! Dieses moderne Regietheater! Was denken sich die Leute bloß? So was tut doch keine Mutter. Wenn deine Mutter dich traumatisieren will, braucht sie dazu kein Messer. Mütter sind subtiler. Du kannst wegen deiner Mutter viele Jahrzehnte zum Therapeuten laufen, ohne dass auch nur einmal Blut geflossen wäre. Believe me, Sugar.
Ich bin kinderlos geblieben. Ich habe übrigens meinen Mann auch deshalb geheiratet, weil ich seinen Namen wollte. Sein Nachname war ein Four-Letter-Word, leicht auszusprechen, international. Nicht so wie mein alter Name, der typisch deutsch klang, etwa wie Grützspotzmbmpf, deutsch halt. Damit kannst du im Ausland nichts werden. Mein sehnlichster Wunsch war: Ich wollte weg; weg aus Nazi-Deutschland, obwohl der Krieg schon vorbei war.
Es gibt keine Liebe in der Welt. Merk dir das, Honey. No love in the world. Just hatred.
Als Kind saß ich irgendwo auf einem Deich, habe aus Angst die Schule geschwänzt und gelesen. Norddeutschland ist übrigens scheiße. Ich weiß das, weil ich dort aufgewachsen bin. Ich habe die Schule geschwänzt, weil da bloß Idioten rumliefen. Für meine Mutter habe ich Geschichten erfunden, was wir in der Schule alles so gemacht hätten. Das schulte meine Kreativität.
Frag nicht wie, aber ich habe mein Abitur und mein Studium geschafft. Dann bin ich ab nach Amerika und hatte Geld für eine Woche. In New York klapperte ich Agenturen nach Jobs ab. Am fünften Tag hat mir einer einen Job gegeben, noch ziemlich weit unten. Und ich habe mich hochgearbeitet. Andy Warhol wollte mir zu Ehren eine Party gegeben. Dann greift doch tatsächlich diese durchgeknallte Valerie Solanas zur Waffe und schießt. Paff, aus war die Party. Glaubst du nicht? Lies nach.
Hier, ein Buch für dich. Take it. Enjoy.
Die USA haben sich verändert. Und weil ich sowieso immer irgendwo Flüchtling blieb, bin ich zurück nach Europa gegangen.
Weißt du, was die letzten Worte von Maria Callas waren? »Es geht mir besser.« Sie soll doch tatsächlich gesagt haben: »Es geht mir besser.«
Mir geht es auch bald besser.
Apropos besser: Keine Musik ist besser als die Richard Wagners. Und komm mir nicht mit diesen Antisemitismus-Vorwürfen. Bullshit. Zu Wagners Zeit waren alle Antisemiten. Wer aber heute immer noch einer ist, macht sich schuldig, weil er es besser wissen müsste. Ich verabscheue Antisemiten und Rassisten.
Aber lass Wagners Musik frei von allen Vorwürfen sein.
Ich wünsche mir zum Abschluss meines Lebens kein Lied von irgendeinem anderen. So weit käm’s noch. Ich schreibe es lieber selber.
Hier, der Text, auf dem kleinen Zettel da.
Ein Tipp fürs Leben: Versau es nicht, Darling.
Richard Wagner, Lohengrin, »Gralserzählung«, 3. Aufzug
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In fernem Land, unnahbar euren Schritten, Liegt eine Burg, die Monsalvat genannt;Ein lichter Tempel stehet dort inmitten,So kostbar als auf Erden nichts bekannt.
Sabine, Anfang 60, im Hospiz
»Forever Strong« verspricht ihr Nagellack. Das kühne Werbemotto passt zu ihr, jetzt, im Hospiz, vielleicht mehr denn je. Außerdem steht noch »Superstay« auf dem Fläschchen, an dessen Rand sie überschüssige Farbe vom Rundpinsel abstreicht, dann zieht sie den Lack geschickt über den Nagel ihres kleinen Fingers. Den Finger hält sie weit abgespreizt, damit er in der kalten Luft dieses Maitages trocknen kann. Den Pinsel steckt sie in die Flasche zurück und verschraubt sorgfältig den Verschluss. Trotz der frischen Temperaturen trägt sie eine kurze Hose und ein sehr leichtes Oberteil, als wolle sie jetzt schon den Wind eines Sommertags spüren, weil sie den Sommer vielleicht nicht mehr erleben wird.
Ihre Haare sind raspelkurz und silbergrau. Ihre Haut ist braun. Die Beine sind an vielen Stellen wund und verschorft. Man sieht, dass sie schwer krank ist, trotzdem ist sie eine aparte Frau.
Sie hustet, zündet eine Zigarette an und meint, sie fühlt sich nun bereit für die ganze Wahrheit. Sie hofft, man habe Geduld mitgebracht. Nach einer Stunde muss sie das Gespräch abbrechen. Sie hätte sich mehr Zeit gewünscht. Der Husten.
Ich habe gesoffen wie ein Loch. Jahrelang. Schon morgens Wodka mit Apfelsaft. Meine Absicht, die Sucht zu verheimlichen, war lächerlich. Wie alle Säufer habe ich es probiert. Aber jeder hat gerochen, was ich mir in den Hals gekippt habe. Ist Ihnen meine Sprache zu direkt? Man kann über das Saufen nicht anders reden, da ist nichts Schönes dran. Ich habe meine Familie aufs Spiel gesetzt und den Kontakt zu meinen Töchtern verloren. Es wurden ihnen zu viele Lügen. Sie werden es nicht einmal bemerken, wenn ich tot bin. Mit diesem Gedanken muss ich leben.
Mit den Therapien lief es so: Einmal wurde ich ohnmächtig in der Wohnung gefunden und wiederbelebt. Später sagte der Arzt, in 14 Tagen könne ich einen Therapieplatz bekommen; so lange solle ich saufen, so viel ich will. Nach der Suchtklinik kam ich nach Hause in das alte Leben. Da hab ich wieder gesoffen, erneut entgiftet, kam abermals ins gewohnte Einerlei zurück. So ging das, bis ich als austherapiert und unverbesserlich galt.
Einige Jahre blieb ich trocken. Ich habe nicht einmal getrunken, als mein Mann starb – ein miserabler Tänzer übrigens, aber lieb.
Ich habe nicht gesoffen, wenn die Trauertage schwer waren. Kein Glas habe ich angerührt.
Was mir half, war, dass ich mich gegenüber einer Freundin ehrlich machte. Ehrlich sein, das können Säufer nicht. Sie müssen sich mit ganzer Kraft ehrlich machen. Die Formulierung ist mir wichtig. Verstehen Sie das?
Warum ich zu trinken begann, weiß ich nicht. Ich führte vorher eigentlich ein normales Leben. Erst Hauptschule, das war damals nichts, dessen man sich schämen musste. Dann Ausbildung, Ehe, Beruf, Kinder, alles, was man halt so macht. Nicht das ganz große Glück, nicht das ganz große Unglück. Keine Kriege und sonstige Katastrophen. Die Behaglichkeit der Nachkriegsgeneration in der Wohlstandsgesellschaft.
Wo liegt also der Grund für mein Saufen?
Meine finale Diagnose liegt nicht lange zurück. Lungenkrebs. Nichts zu machen. Der erste Arzt sagte erst »Hmm« und nach einer ekelhaft langen Pause schob er nach: »Sie müssen halt warten.« »Ich kann nicht mehr warten«, sagte ich. »Sie dürfen jederzeit gehen. Ganz wie es Ihnen beliebt«, sagte er und sah nicht mal von seinem Klemmbrett hoch.
Einmal schrieb ich meinem Sohn eine SMS: »Saufe wieder.« Er eilte zu mir und ich fühlte mich schuldig.
Meine Wohnung habe ich selbst geräumt. Am letzten Tag in der Wohnung schrieb ich ein paar Zeilen an den Vermieter, legte meinen Vertrag und einige Formulare auf das Fensterbrett, drehte die Heizung ab und zog die Tür hinter mir zu. Ein komischer Moment, wenn man weiß, dass man nicht wiederkommt. Der Mietvertrag läuft weiter. Ich werde die Wohnung halten, bis ich sterbe. Das dürfte bald sein.
Ich habe eine Kiste mit alten Briefen und Dokumenten bei mir. Ich führte ohnehin ein Kistenleben: eine Kiste für Ramsch und Erinnerungen, eine Kiste für Behördenkram, eine Kiste für Bilder, Wolle, Gummibänder und ausgeschnittene Kochrezepte.
Kennen Sie jemanden, der meine Krebsratgeber brauchen könnte? Die Übersetzung der Fachbegriffe fand ich hilfreich. Ansonsten sind Ratgeber ein großer Mist. All diesen toughen Krebspatienten mit ihren Erfahrungsberichten – gruselig. Ich sage Ihnen, die eigenen Antworten stehen nicht in Büchern.
Angst habe ich keine. Kann vielleicht noch kommen. Aber nicht heute. Schmerzen habe ich auch keine. Nicht heute.
In einer Kiste stecken Unterlagen, die ich für die Zuzahlungsbefreiung für die Krankenkasse brauche. Bis zum Schluss will das Leben verwaltet sein. Aber noch geht es mir gut.
Hören Sie, wie meine Stimme sich verändert? Wie ein Reibeisen. Ich betrete die nächste Stufe. Bald kommt wohl Atemnot.
Erzählen Sie vom Saufen, reden Sie darüber, schweigen Sie nicht.
Und probieren Sie die Nagellackkombination der Farbe 26, Cappuccino von Max Factor, und Farbe 14 von Essence The Gel an einer Hand. Alternativ zu Cappuccino 26 können Sie auch die Farbe 203 von Maybelline nehmen. Wahnsinnig schön.
Das sind meine letzten Tage im Hospiz, an denen ich nicht liegen muss.
Vorgestern Nacht war mir zum Tanzen zumute. Im Radio lief ein Lied aus der Jugendzeit. »Lady in Black«. Uriah Heep. Ich habe mich im Takt der Musik bewegt und mich keine Sekunde lang gefragt, ob mich wohl jemand sehen und beurteilen könnte. Ein schöner Moment.
Uriah Heep, »Lady in Black«, K. Hensley
Frank, Anfang 50, im Hospiz
Der stille Mann sitzt im Rollstuhl. Auf dem großen runden Tisch des Aufenthaltsbereichs dampft ein Glas Tee, ein bunter Strohhalm lehnt am inneren Rand des Glases. Im offenen Regal lagern ein paar Flaschen Bier. Bier geht nicht mit Strohhalm. Es geht nur noch Tee. Manchmal dreht er den Kopf ein wenig. Schaut er nach links, breitet sich hinter den Panoramafenstern der Friedhof der Stadt aus. Wendet er den Kopf nach rechts, stapeln sich alte Giebelhäuser am gegenüberliegenden Hang pittoresk übereinander. Hier wohnen Menschen, dort drüben liegen sie dereinst begraben. Im Laufe dieses Nachmittags sitzen am runden Tisch einige Besucher, Bewohner und Mitarbeiter des Hospizes. Es herrscht Betrieb. Ein Bewohner wird sagen, dass das Dilemma vielleicht allen Handelns, ja sogar des Lebens sei, dass man ja nie wisse, welche Entscheidung im Leben die richtige war. Und einen Tod, ja den müsse man halt sterben. Statt betreten zu schweigen, fangen alle an zu lachen. Der stille Mann lacht nicht, er lächelt nur. Sein Lächeln ist eine Brücke, die versöhnlich über den Abgrund unangenehmen Schweigens führt, ein Abgrund, der sich manchmal auftut, seit er nicht mehr sprechen kann. Aber er kann sich nicht nur mimisch mitteilen, sondern auch über ein kleines Tablet, das er sich auf den Schoß legen lässt. Auf dem Tablet befindet sich ein Schreibprogramm, die virtuelle Tastatur kann mit der Hand oder einem Touch-Stift bedient werden. Er nimmt den Stift. Der Bewegungsradius seiner Hand, in der er den Stift zur elektronischen Übertragung der angetippten Buchstaben eingeklemmt hält, ist gering. Es ist mühsam, die obere Buchstabenreihe seiner Hilfs-App zu erreichen. Aber es geht. Wenn auch nicht immer. Es braucht Geduld, eine gewisse Fehlertoleranz in der Buchstabenfolge und ein bisschen Fantasie, um die Worte aus den sorgsam eingetippten Buchstaben zusammenzufügen. Wenn das Wort vom Leser erkannt und der Sinn des beabsichtigten Satzes erfasst wurde, schreibt er nicht weiter. Vieles im Leben bleibt Fragment, so eben auch manche Sätze. Und weil jede Sekunde wertvoll ist, wird kein Schreibfehler korrigiert. Wozu? Er will sich mitteilen. Auch wenn dieses vermaledeite Programm immer wieder mal abbricht, weil er sich vertippt hat. Dann flackert durch all seine scheinbare Ruhe eine Ungeduld. Die Zeit drängt ein wenig. »Aber nicht, dass Sie wieder das Trinken vergessen«, mahnt eine Pflegerin. Er lächelt, lässt sich das Glas zum Mund führen und saugt über das Röhrchen ein wenig Tee ein, an dem er sich oft verschluckt. Seit Montag ist er hier. Für das Leben des stummen Mannes steht ein lautes Lied. Vielleicht, weil er und vieles um ihn herum so still geworden ist.
Folgendes tippte er in sein Tablet:
Schools out alice cooper | Beiausbildung gehört nicht so getne zur schule gegan | trotzdem fleissig gebüffel | IT | Leben viele notwendigkeitn | wird nicht immergefragt | in umgebung gebore | heimat hier | Auch toll queen supertramp | Deep purple stairway 2 heaven | Furchtbar volksmus | Heut wenig musik viel ruhe | Schools out zum feiern | Leute sollen feiern fröhlich sein | Blödes schreibprogramm | Gleich kommt frau | später gemeinsame freundi | T? muss ich? | Lied sagt endlich frei, bei sich | das schwere ist vorüb
Alice Cooper, »School’s Out«, A. Cooper, M. Bruce, G. Buxton, D. Dunaway, N. Smith
Monika, Ende 70, im Hospiz
Ein Miniatur-Leuchtturm steht auf einem Tischchen neben dem Bett. Die Balkontür steht offen. Aus einem der umliegenden Gärten brummt ein Rasenmäher. Die alte Dame liegt im Bett und plaudert mit einem Besucher. Im Hintergrund läuft der Fernseher ohne Ton. Sie winkt heran. Sie beiße nicht, auch wenn sie heute richtig Appetit habe. Sie verabschiedet ihren Besucher, der noch sagt, wie sehr sie sich herausgemacht habe in den vergangenen Tagen und dass sie toll aussehe. Sie winkt ab, wie bei einem zutreffenden Kompliment, dem man trotzdem lieber mit demonstrativer Bescheidenheit begegnen will. Bescheiden ist sie in Sachen Musik aber keineswegs. Es gibt vier Lieder mit Geschichte. Sie nimmt den Leuchtturm in die Hand und ist mitten in ihrer Erzählung:
Wussten Sie, dass der Sänger Hermann Prey auf Amrum lebte? An seinem Haus sind mein Mann und ich früher in den Ferien mit den Fahrrädern vorbeigefahren und haben gesagt: »Guck, da wohnt er.« In jedem Jahr haben wir das gemacht: frische Krabbenbrötchen kaufen, am Strand spazieren und auf dem Rückweg gucken, ob bei den Preys noch Licht brennt. Seine Musik mochte ich übrigens gar nicht so sehr, mir gefiel vor allem, dass er auf Amrum lebte. Das reichte, um eine Platte von ihm zu kaufen. Aber viel lieber als den Kunstgesang mochten mein Mann und ich die einfachen Lieder aus dem Norden, ganz schlicht gesungen, vielleicht am Abend, wenn man so beieinander sitzt und jeder mitsingen darf, oder auch nur zuhören.
»Dat du min Leevsten büst«, Volkslied
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Dat du min Leevsten büstDat du woll weeßKumm bi de NachtKumm bi de NachtSegg wo du heeßt
Ich habe einen Damenklub. Seit mein Mann tot ist, treffen wir uns seit Jahren jede Woche zu Kartenspielen, Kuchen und Kaffee. Immer donnerstags, immer bei einer anderen. Zweimal im Jahr machen wir einen Ausflug. Wir sind mal acht lustige Witwen gewesen. Als die Erste von uns gegangen ist, sind wir traurig gewesen. Jedes Mal sind wir traurig. Drei sind noch übrig. Und ich so halb. Jetzt, in dieser Stunde, sitzen sie wieder zusammen. Aber die Runde reicht nicht mal mehr zum Bridge. Gestern haben sie mich besucht und viel gelacht und jeden zweiten Satz mit »Weißt du noch …« begonnen.
Heute ist Donnerstag. Jetzt sitzen sie zusammen, meine Mädchen! Es gibt doch so ein Lied: »Ich lade gern mir Gäste ein. Man lebt bei mir recht fein.« Ist das aus der »Lustigen Witwe«?
Johann Strauss, Die Fledermaus, »Ich lade gern mir Gäste ein«, 2. Akt
Gestern Nacht schaute ich Fernsehen. Eine Sendung mit Ina Müller und Ingrid van Bergen. Man plauderte vom Sterben und dann sangen sie ein Lied darüber, dass alle fröhlich sein sollen und heiter bleiben und die Gläser erheben. Diese Ina Müller ist toll, wenn die im Fernsehen kommt, dann muss ich lachen. Erzählen Sie das mal, da liegt diese alte Frau im Hospiz und lacht. Und die Nachbarn denken vielleicht, was ist denn mit der los?
Petra Pascal, »Wie das Glas in meiner Hand«,trad., Bearb. Wilden, Zimber; aus der Fernsehsendung »Inas Nacht«,gesungen von Ingrid van Bergen und Ina Müller
Um mich soll keiner lange weinen, sondern sich freuen, weil ich ein gutes Leben hatte. Ein bisschen traurig darf man bei Beerdigungen natürlich schon sein. Deshalb wünsche ich mir das Lied »So nimm denn meine Hände«, aber weniger für mich, denn die Trauerfeier ist für die, die hierbleiben.
Ich glaube, dass man nicht ins Nichts fällt, wenn man geht. Da kommt noch was. Ob das jetzt ausgerechnet eine Hand ist, weiß ich nicht. Und jetzt gebe ich Ihnen noch einen Tipp: Sammeln Sie Muscheln, so viele Sie können. Oder fällt Ihnen etwas Besseres ein, das man im Leben tun kann? Mir nicht. Machen Sie mal die Schublade auf.
»So nimm denn meine Hände«, J. von Hausmann, F. Silcher
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So nimm denn meine HändeUnd führe michBis an mein selig EndeUnd ewiglich!
Marie, Ende 70, im Hospiz
Vor ihrem Fenster im Hospiz ziehen Kindergartenkinder vorbei. Erst trällern sie »Jingle Bells«, um nahtlos in der musikalischen »Weihnachtsbäckerei« zu landen. Aber statt Schneeflocken treiben Kirschblüten durch die Frühlingsluft. Und Marie wollte eigentlich über eine ganz andere Musik sprechen, doch angesichts der Unstimmigkeit dieser Szene kann sie einfach nicht anders: Sie muss singen und, wie sie sagt, …
… jetzt mal pädagogisch werden. Was bringen die Leute ihren Kindern eigentlich für Sachen bei? »Weihnachtsbäckerei« im April? Ist das ihr Ernst? »Jingle Bells« im Frühling? Was ist deren frühkindliches Bildungskonzept? Ich verstehe die moderne Welt manchmal nicht. Ein Hoch auf die Beliebigkeit und das Ungefähre!
Als Lied meines Lebens würde ich eigentlich ein Stück des bedeutendsten Hamburgers nennen: Johannes Brahms. Von ihm stammt ein Lied, das mir mein Mann zu meiner Hochzeit schenkte. Er hat dafür eine Sopranistin und ein Klavier besorgt. Mein Kleid ist bei der Hochzeitsfeier geplatzt. Ich hatte es ein paar Monate zu früh gekauft, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir waren verliebt und konnten nicht mehr warten. Da war es geschehen und einige Wochen darauf das Kleid zu eng. Eine pikante Situation. Es ist meistens falsch, die Reihenfolge nicht einzuhalten. Alles hat seine Zeit.
Diese Erkenntnis, und die Kinder da draußen, lassen mir keine Wahl: Ich wünsche mir das Gespür für den Moment. Frühlingslieder im Frühling. Sommermusik für den Sommer. Erntelieder im Herbst. Und Weihnachtslieder nicht vor Dezember und nicht nach Epiphanias.
Ich meine, die Kinder sind ja sehr niedlich, aber warum lässt man sie im April »In der Weihnachtsbäckerei« singen? Für mich ist das genauso schlimm, wie sie im Winter nur mit Sandalen raus zu lassen.
Ich wünsche mir, dass gute Musik nicht stirbt, weil nur noch seichte Unterhaltung zählt. Diese Mahnung soll mein musikalisches Vermächtnis sein.
Und ja: Ich war Lehrerin – und das war ich gern. Merkt man das? Umso besser.
Meine Anregung ist, dass wir jetzt alle mindestens fünf Frühlingslieder aufzählen und anschließend gemeinsam singen. Ich fange an:
»Nun will der Lenz uns grüßen«, trad., K. Ströse