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Die Liebe und das Lied dazu - nicht selten sind Gefühle unwiderruflich mit bestimmten Songs und Liedern verknüpft. Viele Paare haben »ihr Lied«, das für ihre Liebe steht. Über die Frage nach den Liedern ihres Lebens, steigt Stefan Weiller mit Sterbenden tief in Gespräche über das Leben und die Liebe ein. In seinem Buch erzählt er ihre Geschichten. Die authentischen Beispiele zeigen, wie höchst unterschiedlich Menschen den Abschied gestalten und empfinden. Die Lektüre wirft zudem existenzielle Fragen auf: Wie will ich sterben? Wie will ich weiterleben? Was bereue ich, was nicht? Was ist am Lebensende wichtig – der berufliche Erfolg, weltlicher Besitz oder Freunde, Partner*innen und Familie? Beim Lesen von Weillers manchmal geradezu kuriosen Liebesgeschichten wird deutlich, dass die letzte Lebensphase keinesfalls nur Trauer, Stille und Krankheit enthält, sondern auch Humor, Zuversicht, Menschlichkeit und Liebe.
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Stellen Sie sich vor, Sie wüssten, dass Sie sehr bald sterben müssen, und ein Fremder wollte mit Ihnen ausgerechnet über die Liebe reden. Und das dazugehörige Liebeslied wollte dieser Fremde auch noch kennenlernen, so Sie eines hätten. Zudem wollte er etwas über Ihre Strategien, mit dem Sterben umzugehen, erfahren. Nur eine Stunde, verspricht er. Für ein Kunstprojekt und als Impuls für ein Buch mit Kurzgeschichten über Liebe und Musik, auf dass der Tod kein Tabu mehr sei. Weil kein Aufzeichnungsgerät mitlaufen und er auch nicht mitschreiben würde, hätten Sie dem Fremden Ja gesagt. Sie müssten nicht fürchten, dass Ihr Name oder der Ihrer Angehörigen genannt wird. Und den fremden Autor müssten Sie nie mehr wiedersehen. Was würden Sie erzählen?
Ich bin der Fremde. Und tatsächlich fanden sich Menschen, die sich auf diese Blind Dates über die Liebe am Rand des Lebens eingelassen haben. Für meine hier vorgelegten Erzählungen und Kurzgeschichten habe ich Sterbende in Hospizen und an anderen Orten getroffen, um mit ihnen über Musik, Liebe und den Tod zu sprechen – Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Hochbetagte. Ebenso habe ich Angehörige aufgesucht. Die Recherchen fanden in Deutschland, Schweden und der Schweiz statt und umspannten zehn Jahre. Alle Namen und Geschichten in diesem Buch wurden verfremdet. Eine Ähnlichkeit mit realen Personen ist nicht beabsichtigt. Meine Erlebnisse und Eindrücke habe ich literarisch frei verarbeitet. Ich habe das Gesehene und Gehörte mit Unsichtbarem und Unsagbarem verbunden. Fehlendes habe ich achtsam ergänzt, weitergedacht und in Bilder gebracht. Dieses Buch ist ein Familienalbum. Doch keines, das nur wie üblich lachende Menschen an Feiertagen zeigt: Hochzeit, Geburtstage, Weihnachten, Urlaub. Dieses Buch blickt aus der Perspektive des Sterbens hinter die Fassade, zeigt schöne und ungeschönte Geschichten über Sehnsucht und Liebe am Lebensende – und stellt die Musik vor, die sich in Lebensgeschichten hineingewoben hat.
Liebe ist vielfältig. Ich traf Sterbende mit Lebenslust. Ich lernte liebevolle Familien kennen, fröhliche Paare und glückliche Singles. Ich begegnete Menschen mit Gewalterfahrungen und Schuldgefühlen sowie Sterbenden mit schrägem Humor, mit Angst und Zuversicht. All diesen Erfahrungen verleiht der Tod letzte Größe und Ausweglosigkeit, gibt ihnen Milde, Trauer und Verzweiflung bei, lässt Dankbarkeit am Ende stehen, manchmal Erlösung oder das Gefühl, dass vieles unerfüllt bleibt. Und mancher macht sich noch im Sterben frei oder stellt sich unbequemen Fragen.
Den Tod haben wir nicht in der Hand, das Leben häufig schon, bis wir sterben. Das lehren uns Menschen am Lebensende.
Und überall ist die Musik.
Und überall ist die Möglichkeit der Liebe, man muss sie nur entdecken.
Stefan Weiller
Dank allen Menschen und Institutionen,
die mir zur Recherche die Türen öffneten.
Eigentlich findet Henri toll, dass Papa Krebs hat. Welcher Papa ist schon so viel zu Hause? Früher hat Papa ganz oft vom Büro aus angerufen und gesagt, dass es heute wieder spät wird. Henri hat den Papa dann abends gar nicht mehr gesehen. Ganz schön blöd fand Henri das.
Eigentlich heißt Henri Henrik, mit »k« am Ende, genau wie sein Opa aus Norddeutschland, der schon tot ist. Zu Hause wird er von allen nur Henri gerufen, weil alle das cooler finden. Henri ist das eigentlich egal, denn es gibt Wichtigeres in seinem Leben als ein k am Ende. Und das Alphabet lernt er gerade erst, sein Papa bringt es ihm bei. Henri freut sich, dass Papa immer da ist. Und Mama fand früher auch doof, dass Papa so oft weg war. Manchmal hörte er sie streiten. Als Papa nicht mehr immer bei der Arbeit, sondern oft im Krankenhaus war, merkte Henri erst gar keinen Unterschied, nur dass es darüber keinen Streit gegeben hat. Und dass Mama seitdem öfter weint. Henri mag es nicht, wenn die Mama weint, weil er manchmal auch gar nicht versteht, warum. »Hab’ ich was angestellt, Mama?«, fragt Henri dann. »Aber nein«, sagt Mama dann. Und meistens sagt sie noch »Alles gut«, so zur Beruhigung. Fast jedes Mal ist das so. Aber Henri weiß es besser. Nichts ist gut. Er fühlt sich schuldig. Er will besonders artig sein und er nimmt sich vor, dass er nur noch weint, wenn es gar nicht anders geht. Henri weint, wenn er hingefallen ist. Henri weint, wenn er sich ärgert. Und Henri weint, wenn er ungerecht behandelt wird, zum Beispiel von Paul, seinem älteren Bruder.
Paul war mal Henris großes Vorbild. Jetzt findet Henri Paul vor allem gemein. Als Henri neulich beim Mittagessen sagte, dass er eigentlich toll findet, dass Papa Krebs hat, weil Papa jetzt so viel zu Hause ist, hat Paul gesagt, dass Henri der blödeste Idiot der Welt ist. Henri war wieder mal hilflos, weil sein Bruder so fies reagiert hat und viel mehr Worte kennt, um gemein zu sein. Henri ist dann in der Aufregung nur ein Wort eingefallen, von dem er wusste, dass man es nicht sagen soll. Und dann sind diese ganzen doofen Gefühle mit ihm durchgegangen und er hat es also doch gesagt: »Und du bist ein Arschloch. Ihr seid alle Arschlöcher.« Jetzt war es raus, leider viel lauter, als er es sagen wollte, und dabei hat er genau gewusst, dass dieses furchtbare Wort zu Hause streng verboten ist – auch wenn manche Kinder das auf der Straße dauernd sagen. Mama hat groß geschaut. Paul hat zu Mama geguckt und gefragt: »Was hat der gesagt?« Henri ist dann vor lauter Aufregung so schnell aufgestanden, dass sein Stuhl nach hinten umgekippt ist. Mit lautem Scheppern. Auch das noch. Der umgekippte Stuhl, der mitten im Zimmer lag, machte alles noch viel peinlicher. Es ging nicht anders, er musste wegrennen. Mamas Reaktion hat er nicht gesehen, vor lauter Tränen, die in seine Augen geschossen sind. So wie Paul das verdreht hat, war das ja gar nicht gemeint, mit dem Krebs. Auch wenn Henri immer noch nicht richtig weiß, was Krebs alles macht, er weiß sehr wohl, wie schlimm das ist, wenn jemand Krebs hat. Aber warum darf er sich nicht darüber freuen, dass er jetzt jederzeit zu Papa gehen kann und dass Papa immer da ist?
Seit diesem blöden Abend steht für Henri endgültig fest: Paul ist der Blöde in der Familie und versteht überhaupt nichts. Wie gut, dass Mama auch dieses Mal zu Henri rausgekommen ist, um ihn zu trösten und sich neben ihn zu hocken, auf die Treppe, wo Henri immer hingeht, wenn er traurig ist. »Das schlimme Wort sag aber nicht mehr«, hat sie gesagt. »Verrätst du es Papa?«, wollte Henri wissen. »Aber nein«, hat sie versprochen. Auf Mama kann man sich verlassen.
Aber so ganz richtig verstanden fühlt sich Henri vor allem von seinem Papa. Henri legt sich gern zu Papa ins Bett. Papa liegt ganz viel in seinem großen Bett, weil er oft müde ist. Jeden Tag ist er ein bisschen müder. Am liebsten liegt Henri quer zu seinem Papa auf der großen Matratze und legt den Kopf auf Papas Bauch. Vom Himmel aus betrachtet würde das aussehen wie ein T mit einem großen Dach, glaubt Henri. T ist einer von Henris Lieblingsbuchstaben. Er mag das T, weil man es zu zweit im Liegen nachformen kann und weil Papas Vorname mit T anfängt. »Du kannst auch ganz alleine ein T machen«, hat Papa neulich erklärt. Henri hat ihm das nicht gleich geglaubt. »Wie?« »Stell dich mit dem Rücken vor die Stehlampe neben das Bett«, hat Papa dann gesagt. Und Henri ist aufgestanden und hat sich vor die Lampe gestellt. »Noch ein bisschen weiter weg. So ist es gut. Nun breite die Arme aus, als wenn du fliegen würdest«, sagte Papa, hat den Lampenschirm in Henris Richtung gedreht, das Licht angeknipst und den Lichtkegel ein bisschen ausgerichtet. »Jetzt schau zu Boden.« Henri hat aber nichts Besonderes erkannt, nur seinen Schatten, der hat wie ein Kreuz ausgesehen. »Siehst du, Henri, das ist ein kleines t. Und das kannst du ganz alleine machen.«
»Da fehlt das Dach«, hat Henri dann gesagt und beschlossen, mit Papa noch ganz viele richtige Ts zu formen. Große. Überhaupt: Dass es kleine Buchstaben gibt, war Henri noch nicht ganz klar, und es ist schwer genug, die großen zu lernen.
Wenn Henri und Papa so daliegen wie ein großes T, krault Papa ihm durch die Haare, wie nur Papa es kann. Ein bisschen fest, aber nicht zu fest. Ein bisschen wild, aber nicht zu wild. Ein bisschen kreisend, aber manchmal auch in Linien, die Henris Papa mit den Fingerkuppen auf Henris Kopfhaut entlangzieht. Das tut gut. Unheimlich gut sogar.
In der Familie gibt es noch jemanden, der Streicheln genauso gerne mag wie Henri: Gonzo. Gonzo ist ein schwarzer Labrador und auch er liebt es, hinter den Ohren gekrault zu werden. Wie Henri. Konkurrenz kann Henri gar nicht leiden. Deshalb sagt er meistens: »Gonzo, raus!« Der trottet dann brav aus dem Zimmer, um es später wieder zu probieren. Aber Henri ist meist schneller. Und im Gegensatz zu Gonzo darf Henri sogar ins Bett.
Henri stellt oft Fragen an Papa: »Liest du mir was vor, Papa?« Papa liest dann etwas vor. »Tut dir was weh, Papa?« Papa verneint. »Schauen wir auf dem Tablet einen Film, Papa?« Papa ruft dann einen Film im Internet auf, wo Henri alleine nicht reindarf. »Hören wir dein Lied, Papa?«, dann ruft Papa über sein Handy sein Lied auf. »Hören wir jetzt aber wieder mein Lied, Papa?«, dann verdreht Papa die Augen, ruft aber Henris Lied auf. Ein tolles Lied, sein Lieblingslied, es geht darin um ein kleines Krokodil. »Geht es dir gut, Papa?«, fragt Henri und wippt dazu mit den Füßen zu seinem Lied. Und Papa nickt. Aber Henri ahnt, dass es Papa nicht immer gut geht. Papa ist dünn. Papa hat manchmal rote Augen. Papas Haut hat komische Flecken. In Papas Zimmer riecht es anders als in allen anderen Zimmern. Papa kriegt Medizin gegen Bauchweh und gegen alles andere auch. Henri mag die Farben von Papas Pillen, weiß aber, dass er auf gar keinen Fall von ihnen naschen darf. Papa kriegt Besuch von Ärzten. Papa klagt nie vor Henri. Und Henri klagt nie vor Papa. »Wollen wir nachher etwas spielen, Papa?« Papa verspricht es. Meist schlafen sie vorher ein. Henri zuerst, unter Papas Händen, an seinen Bauch gelehnt. Das ist das Schönste für Henri. Und auch für Papa.
Henris Mama kommt manchmal und sagt, dass Henri doch zu schwer sei für den Papa und dass er doch bitte den Kopf von Papas Bauch nehmen soll. Henri sieht dann hoch zu Papa. Papa schüttelt ganz leicht den Kopf, und Henri weiß, dass er ruhig liegen bleiben kann. Henri will ewig so liegen bleiben, hat er beschlossen, auch wenn er nicht weiß, was ewig ist. Henri kann Zeit noch nicht so sicher einschätzen. Eine Stunde ist manchmal ewig. Auf Weihnachten zu warten ist noch ewiger. Das ganze Leben ist am ewigsten. Und trotzdem hört es irgendwann auf.
Dass Papa nur noch wenig Zeit haben wird, hat Henri vor ein paar Tagen von Mama gehört. »Wird Papa bald sterben?«, hat Henris Bruder Paul gefragt, der, seit Papa krank ist, gar nicht mehr so gerne in Papas Zimmer gehen will. »Müssen wir dann ausziehen?«, hat Paul die Mama gefragt. Er hat einmal belauscht, wie die Eltern von Schulden gesprochen haben. »Vielleicht werden wir eines Tages umziehen, aber noch ganz lange nicht«, hat Mama geantwortet. »Wann müssen wir ausziehen?«, hat Paul dann gedrängelt. Der benimmt sich manchmal echt so kindisch und weinerlich, als wäre er der kleinere Bruder. »So genau weiß ich es nicht«, hat Mama dann gesagt. »Und wann stirbt der Papa?«, hat Paul weitergefragt. »Bald«, hat Mama dann geflüstert. Ehrlich sein macht die Stimme leise und Angst nimmt sie fast ganz weg. »Bald«, hat Paul flüsternd wiederholt. Mama hat genickt und Paul zu sich herangezogen, weil der plötzlich angefangen hat zu zittern. Henri hat in dem Moment hinter Paul gestanden. Er konnte das Gesicht von Paul nicht sehen, aber er hat geglaubt, dass Paul wieder einmal heulte. Typisch. Mama hat den schluchzenden und bebenden Paul in einem Arm gehalten, und mit dem anderen ausgestreckten Arm und einem tröstenden Lächeln hat sie den einsam stehenden Henri zu sich herangewunken. Henri hat gezögert, ist aber doch lieber aus dem Zimmer gelaufen und hat sich still auf seine kalte Steintreppe gesetzt, die hoch zu Papas Zimmer führt. Dort hockte er dann, das Kinn auf seine Fäuste gestemmt, und wunderte sich, warum Mama so schlimme Sachen sagt. Und warum Paul so dumme Fragen stellt. Und überhaupt: Warum ist alles gerade so blöd? Die kalte Treppe hat ihn beruhigt. Ganz leise über seinen Bruder »Arschloch« zu sagen und es ganz laut zu denken, hat ihn noch mehr beruhigt. Dann ist Gonzo gekommen und hat gehechelt, als sei nichts geschehen.
Wenn Gonzo hechelt, sieht es immer aus, als würde er grinsen. Henri grinst dann mit. Gonzo und Papa benehmen sich ganz normal. Paul und Mama irgendwie nicht.
»Gonzo, was machen wir bloß?«, fragt Henri Gonzo manchmal. Gonzo grinst dann treu. Wie immer. Sogar wenn jeder traurig ist, fängt Gonzo an zu grinsen. Und dabei kann man doch gerade gar nicht anders, als immerzu traurig sein. Gonzo ist der Beste.
Heute ist das Erlebnis von neulich schon fast vergessen. Heute ist ein guter Tag. Henri hat den Labrador aus dem Zimmer geschickt und liegt mit dem Kopf an seinen Papa gelehnt und lässt sich kraulen. »Hinter dem Ohr«, navigiert Henri Papas Hand. Papas Hand wandert hinter Henris Ohr. »Mehr an der Stirn.« Papas Hand wandert mehr an die Stirn. »Jetzt mal mit beiden Händen, mehr dahinten.« Henris Papa fragt besser mal nach: »Im unteren Halswirbelbereich?« Heißt das so? Wahrscheinlich heißt das so, also sagt Henri Ja und hat ein neues Wort gelernt. »Ja, bitte mehr im unteren Halswirbelreich, Papa.«
Papa ist heute noch müder als sonst. Er hatte gerade Geburtstag, das hat ihn wohl angestrengt. Auf dem Tisch neben dem Bett liegen Grußkarten. »Alles Gute zum 39. Geburtstag« steht auf einer, das weiß Henri, weil Papa ihm das vorgelesen hat. Die Blumen, die mit der Karte gebracht wurden, mussten weg aus dem Zimmer. Papa kriegt von Blumen ein bisschen schwer Luft. Papa kriegt viel Besuch, damit kriegt also auch Henri Besuch, weil er so gerne bei Papa liegt und den Papa am liebsten gar nicht alleine lassen will. Dann sitzt Oma da und fragt, wie es so geht. Dann sitzt Tante Barbara da und fragt, wie es so geht. Dann sitzt der beste Freund Michael da und fragt, wie es so geht. Henri fragen sie dann auch, wie es so geht. Das findet Henri nett. Er will schließlich auch gefragt werden.
Papas Freund Michael bittet Henri manchmal, ein bisschen draußen spielen zu gehen. Auch Frau Doktor Dingsbums mit dem komplizierten Namen und die Pfleger, die ab und zu kommen, schicken Henri meistens sofort raus. Einmal hat Frau Doktor Dingsbums gefragt, was Henri denn da für ein Lied gesungen habe, sie habe das auf der Treppe gehört. Henri fand aber, das gehe nur ihn und Papa etwas an, deshalb hat er nicht geantwortet. Er mag Frau Doktor Dingsbums nicht. Sie guckt immer so komisch.
Eben ist Frau Doktor Dingsbums wieder zu Papa und Henri gekommen und heute guckt sie irgendwie noch komischer als sonst. Und sie lächelt noch falscher, sie lächelt wie der Nachbar, wenn er den Ball rüberreicht, der aus Versehen im Blumenbeet seines Gartens gelandet ist. Frau Doktor Dingsbums verzieht die Mundwinkel und Henri weiß schon, dass er wieder einmal rausmuss, ausgerechnet Gonzo huscht zur Tür rein. Er tut es einfach und nimmt auf seinem Teppich in der Ecke von Papas Zimmer Platz. Das findet Henri nicht in Ordnung. Er würde Gonzo jetzt eigentlich brauchen. »Gonzo«, ruft Henri und klatscht sich energisch mit den flachen Händen auf die Oberschenkel. »Komm!« Gonzo kommt nicht mit. Vielleicht meint Gonzo, dass Papa ihn jetzt noch dringender braucht.
Die Tür schließt sich. Henri schmollt und geht.
Spielen mit anderen Kindern, das will Henri seit einiger Zeit nicht mehr so gerne. Von ihnen wird Henri manchmal gehänselt. Davon und von manchen Wörtern, die er dort lernt, erzählt er daheim lieber nichts. Im Kindergarten verrät er auch nicht, was zu Hause so los ist. Die verstehen doch sowieso nichts. Und er könnte es nicht erklären.
Hinter Henris Haus ist ein Garten, den man von der Vorderseite und von der Rückseite aus betreten kann. In diesem Garten hat Henri eine Schaukel, die hat Papa aufgestellt. Henri schaukelt lustlos, mit den Gedanken woanders. Paul ist beim Sport. Henri denkt darüber nach, dass Paul es so blöd findet, dass Henri das mit dem Krebs gesagt hat, wo es aber doch stimmt: Es ist schön, dass Papa da ist. Und das macht doch der Krebs. Zumindest auch. Also hat der doch sein Gutes, der Krebs. Henri schämt sich und weiß gar nicht so richtig, warum.
Henri hat ja genau gehört, als Mama neulich gesagt hat, dass Papa bald nicht mehr da ist, aber er weiß immer noch nicht, was das eigentlich bedeuten soll und wie sich das dann anfühlen wird. Dass Papa nicht mehr da sein könnte, das ist so komisch wie die Vorstellung, dass die Sonne nicht mehr scheint oder Gonzo nicht mehr grinst. Das kann Henri sich nicht vorstellen. Bisher hat Henri mit allen Menschen zumindest jederzeit telefonieren können und ihre Stimme gehört, wann immer er das wollte. Man trifft sich, oder man telefoniert, wenn man sich mal nicht treffen kann. So kennt er es. Und er will, dass alles so bleibt, wie es ist. Henri überlegt, dass er Papas Stimme vielleicht mit seinem alten Spielzeugrekorder aufnehmen sollte. Dann wäre Papa immer da und Henri könnte ihn einfach anschalten. Papa soll etwas vorlesen und Henri nimmt es auf. Oder Mama leiht ihm ihr Handy, mit dem man auch aufnehmen kann. Henri will Papa aufnehmen. Jetzt sofort. Er will wieder zu Papa, der wartet nämlich bestimmt schon, aber Mama steht vor der Tür und sagt, dass Frau Doktor Dingsbums noch bei Papa ist und Henri noch ein bisschen spielen gehen soll. Oder fernsehen. Warum? »Henri, dem Papa gehts gerade nicht gut.« Das versteht Henri. »Geh raus, noch ein bisschen spielen. Ich komme gleich zu dir.« Henri geht raus und hockt sich auf seine Schaukel. Abendsonne fällt in den Garten, die Schatten der Bäume werden ganz lang. Da kommt Mama, und Henri sieht etwas in ihrem Blick, das er nicht kennt. Mama geht vor Henri in die Hocke. Mamas Gesicht ist jetzt auf einer Höhe mit Henris Gesicht. Jetzt fängt Henri an zu zittern, wie neulich sein Bruder Paul.
»Ich will nicht, dass Papa traurig ist. Ich will nicht, dass Papa nicht mehr da ist. Und ich will jetzt zu Papa.«
»Komm mal her, kleiner Henri.« Dieses Mal lässt er sich gerne in den Arm nehmen, weil jetzt fast die Tränen darüber kommen, dass Krebs ganz und gar nicht toll ist. Henri schluckt seine Tränen weg. »Henri, wie wäre es, wenn du ein paar Tage bei Oma Ferien machst? Oma würde sich freuen.« Henri und Ferien? – Kommt nicht infrage. Henri kann nicht. Wer wäre dann bei Papa? Henri will schon absagen. »Ich übernehme dann«, sagt Mama. Henri überlegt. Bei Oma riecht es gut. Er überlegt weiter. Oma hat Kuchen und ein Tablet mit Filmen und Spielen drauf. Und Henri merkt, dass er gehen sollte, der Mama zuliebe. »Du darfst den Kopf aber nicht auf Papas Bauch legen. Das darf nur ich. Deiner wäre zu schwer«, sagt Henri schließlich. »Das verspreche ich dir«, sagt Mama und drückt ihn noch näher an sich und streichelt ihm über den Kopf. Jetzt kann Henri die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er wollte doch nicht weinen. Henri macht sich deshalb von seiner Mutter los. Zwei Schritte neben ihr bleibt er stehen und starrt auf seinen Schatten. Die Sonne steht tief in seinem Rücken. Henri breitet die Arme aus, als wolle er fliegen. »Da fehlt das große Dach«, sagt Henri. Mama versteht nicht ganz und lächelt. »Lass uns reingehen und ein paar Sachen für dich zusammenpacken, dann kannst du morgen zu Oma«, sagt sie. Henri geht mit. Paul kommt vom Sport. Frau Doktor Dingsbums ist wahrscheinlich schon längst vorne zur Haustür rausgegangen. Gonzo steht in der Küche und hat Hunger. Paul schaltet den Fernseher an. Mama verspricht, gleich zu kochen. Alles ist wie immer. Da kommt Frau Doktor Dingsbums aus Papas Zimmer in die Küche. Henri erschreckt sich fast ein bisschen. Wenn sie doch nur nicht immer so falsch lächeln würde. Doch gerade lächelt sie gar nicht, sondern sie bittet Mama, mal mitzukommen.
Manchmal, da höre man ihn ein bisschen summen. Weihnachtslieder oder Walzermelodien. Eine Pflegerin hat ihn einmal darauf angesprochen, was er denn da für ein schönes Lied gesungen habe. Aber der Mann wehrte ab. Er und singen? Niemals. Sie müsse es an den Ohren haben.
Er ist ein Kauz, aber ein netter. Und manchmal höre man ihn durch die Tür reden. Aber darauf spricht ihn keiner mehr verwundert an, denn er ist so gut wie nie allein. Er redet mit seiner Frau. Und er erzählt auch gern von ihr.
»Meine Frau liebt Kalendersprüche. Einer der glücklichsten Tage ihres Lebens muss der gewesen sein, als ihr die Idee kam, ihre liebsten Kalendersprüche nicht mehr schweren Herzens wegzuwerfen oder in einer Schublade verschwinden zu lassen, sondern sie mit bunten Magneten an den Kühlschrank zu pinnen. Mit jedem Jahr unseres Lebens kamen mehr kleine Zettel hinzu, manchmal mit Sprüchen eines Abreißkalenders, dann wieder irgendwelche Weisheiten aus Romanen und Frauenzeitschriften.
Der Kühlschrank wirkte mit der Zeit, als hätte er Ausschlag oder eine Art Gefieder aus Papier, das sich bei jedem Luftzug und beim Schließen der Tür aufzuplustern schien. Das Gerät hatte eine Art Eigenleben. Das will man doch nicht von einem Kühlschrank. Oder?
›Anna, kannst du nicht Socken stricken, wie normale Frauen auch? Oder sammle doch mal Kochrezepte.‹ Daraufhin hat Anna eine Woche nicht mit mir gesprochen. Als ich mürbe genug für ihre großzügige Vergebung war, hat sie mir klargemacht, dass ich sie ja liebe – und daher auch ihre Kalendersprüche und ihre schlechte Küche mitlieben müsse. Dazwischen gebe es nichts. Und ich solle froh sein, dass sie überhaupt für uns koche und meine Klamotten mitwasche. Und Strümpfe stricken? – Das ginge dann doch zu weit, meinte Anna. ›Strick du doch‹, sagte sie. Und bei dieser Gelegenheit: Heute sei ein guter Tag, mir die Waschmaschine und den Herd genauer zu erklären. Ich habe nie mehr ein Wort wegen des Kühlschranks gesagt.
Kam man also in die Küche, wurde man mit Sinnsprüchen bedrängt, wie etwa diesem: ›Wer alles mit einem Lächeln beginnt, dem wird alles gelingen. Dalai Lama.‹ Also nichts gegen Tibet, aber so viel gute Laune erträgt man doch nicht an einem Montagmorgen, wenn man um fünf aufstehen muss, um sich in die Arbeitswoche zu quälen. Aber Anna lachte.
Ein Kalenderspruch hat mich regelrecht beunruhigt: ›Wenn dir die Scheune abbrennt, kannst du endlich den Mond sehen und die Sterne. Mizuta Masahide, Dichterin und Samurai.‹ Ich sagte: ›Anna? Schatz? Kannst du bitte einfach das Fenster öffnen, wenn du den Mond sehen willst?‹
Und Anna lachte.
Lachen und Anna, das gehört zusammen:
›Immer wenn wir lachen, stirbt irgendwo ein Problem.‹ Diesen Spruch mochte Anna so gerne, dass sie ihn, wann immer es ging, zitierte: Auto kaputt. Anna lachte und sagte mit erhobenem Zeigefinger: ›Immer wenn wir lachen, stirbt irgendwo ein Problem.‹ Und ich sorgte für die Reparatur.
Einkommenssteuererklärung abzugeben. Mäuse im Keller, aber keine auf der Bank – Anna lachte und ich machte.
So ging das immer.
Einen Kalenderspruch legte Anna sogar in den Kühlschrank hinein, darauf stand: ›Wir können lieben, was wir sind, ohne zu hassen, was wir nicht sind. Kofi Annan.‹ Und Anna ergänzte handschriftlich: ›Friss nicht so viel, dann musst Du Dich später auch nicht hassen. Anna und Kofi.‹
Ich neigte zu nächtlichen Fressattacken. Kofi und Anna haben mir das verleidet.
Eines Tages kam Anna mit einem neuen Spruch in der Hand auf mich zu. Er lautete: ›Planen Sie Ihr Leben so, als ob Sie in einem Jahr sterben müssten.‹ ›Huch, Rainer‹, hat Anna gesagt, ›das trifft mich jetzt. Rainer, es wird Zeit. Wir machen einen Tanzkurs.‹ ›Was?‹, habe ich entsetzt ausgerufen. ›Einen Tanzkurs!? Anna, irgendwo sind auch Grenzen.‹ ›Ja, eben, Rainer, ja, eben. Willst du, dass ich sterbe, ohne je mit dir getanzt zu haben?‹ Anna wartete die Antwort nicht ab, sondern sagte zustimmend und mit rollenden Augen: ›Na also. Aber immer erst mal Diskussionen, der Herr.‹
Mit der Zeit wurde das Tanzen wunderbar und gehörte zu uns wie der mit Zetteln gefiederte Kühlschrank.
Eines Nachts hat Anna drei Worte gesagt, ganz leise und blass, sie sagte: ›Rainer, mein Herz.‹ Innerhalb einer Woche starb sie. Und ich suche sie seit Jahren.
Und jetzt sterbe ich. Dann werde ich als alter Mann vor Anna stehen. Und sie wird nichts sagen, sondern wie die viel zu junge Frau, die ich damals loslassen musste, um mich herumtanzen. Wir tanzen Walzer und Anna wird lachen. Dieses Bild kann mir keiner nehmen, weil Anna es mir geschenkt hat. Kurt Tucholsky hat angeblich folgenden Kalenderspruch geschrieben: ›Es gibt vielerlei Lärm, aber nur eine Stille.‹ So war Anna und das Leben mit ihr: einmalig wie die Stille.
Nach ihrem Tod haben wir jeden Tag in Gedanken miteinander geredet, und bald werden wir wieder miteinander tanzen.
An so was glauben Sie nicht? Das täte mir aber leid für Sie.«
»Ist der Tod weniger traurig, wenn man keine Verwandten und Freunde hat, denen man fehlen wird?«, fragte sich die Mitarbeiterin des Hospizes, als sie an diesem Abend die Lebens- und Sterbedaten des alten Mannes in das Gästebuch eintrug und anschließend, nach Tradition und Kultur des Hauses, im Eingangsbereich eine Kerze für ihn entzündete. Es gab niemanden, außer den Behörden, den sie informieren konnte. Zwar meinte eine Pflegerin, der alte Mann habe einmal einen jüngeren Halbbruder erwähnt, aber niemand kannte den Namen oder eine Adresse. Manche Bewohner im Hospiz haben keine sozialen Kontakte mehr, weshalb der weit verbreitete Wunsch vieler Menschen, im vertrauten Zuhause zu sterben, mitunter nicht erfüllbar ist. Damit war der alte Mann also kein Einzelfall. Im Hospiz lebte er in Gemeinschaft. Der Sterbende wollte sich die Einsamkeit des Todes in seinen letzten Monaten ohnehin nicht vorstellen, denn er wusste sich erwartet und bald mit seiner Frau vereint. Das machte ihn fröhlich genug, um zeitweise zu summen.
So sehr er seine Frau vermisste, so wenig sollte er aber vermisst werden. Der Staat stand finanziell und sozial für ihn ein. Die Kommune bezahlte die Trauerfeier. Seine eigenen verbliebenen Mittel wurden zwar herangezogen, reichten jedoch bei Weitem nicht aus. Nach dem Tod seiner Frau hatte der Mann ein paar Jahre Zerstreuung in Spiel und Alkohol gesucht und dabei fast sein gesamtes Hab und Gut verloren. Davon und von den Schuldgefühlen des Versagens sollte er sich nie mehr vollständig erholen.
Obwohl eine Feuerbestattung billiger gewesen wäre, respektierte der zuständige Sachbearbeiter in der Kommune den letzten, sogar schriftlich auf einem Blatt Papier mit Unterschrift fixierten Beerdigungswunsch des Mannes und genehmigte die Bezahlung einer – im Vergleich zu einer Feuerbestattung – teureren Erdbestattung. Blumenschmuck war in diese Sozialbestattung nicht eingepreist.
Mitglied einer Kirche war der Verstorbene nicht. Dennoch gestaltete ein evangelischer Pfarrer auf Bitten des Hospizes, das um die Bedeutung des Glaubens bei dem Verstorbenen zu wissen meinte, eine kurze Liturgie am Sarg, dem günstigsten Modell auf der Preisliste des Beerdigungsunternehmers. Geld erhielt die Kirche für diese Gefälligkeit nicht. Eine Vertreterin des Hospizes legte ein kleines Blumengebinde, das sie privat bezahlt hatte, auf dem kargen Sarg ab. Eine ehrenamtliche Vertreterin der Kirchengemeinde, die einen Beerdigungsbesuchsdienst für alleinstehende Verstorbene gegründet hatte, trug einen kurzen Bibeltext und ein weltliches Gedicht von Rainer Maria Rilke vor, das sie schön fand und das daher viel mehr mit ihr als mit dem Toten zu tun hatte. Man ging den Weg vom Vorraum der Friedhofshalle bis zum Grab, der Pfarrer verlas dort ein Vaterunser und Psalm 23: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln«. Es folgte der Erdwurf der drei Menschen. Die Sargträger beteiligten sich daran nicht, sondern standen abwartend daneben, die Köpfe respektvoll geneigt. Zum Abschluss schloss der Seelsorger mit den Worten: »Der Herr hebe sein Angesicht über dich und schenke dir Frieden.« Nach circa zwanzig Minuten waren alle Wege gegangen, das Amen gesprochen, alles vorbei. Man reichte einander die Hand zum Gruß. Der Pfarrer und die Friedhofsmitarbeiter eilten zu einem der nächsten Bestattungstermine, die an diesem Tag im Halbstundentakt geplant waren.
Schon kurz nach dem Tod des Mannes bereitete das Hospiz sein Zimmer für den nächsten Gast vor.
Zu den wenigen Habseligkeiten des Alten zählte eine einzige Schallplatte, er bewahrte sie sogar in schwersten Zeiten in seinem Gepäck auf: Die lustige Witwe, Franz Lehár, eine Aufnahme aus den 1960er-Jahren. Einen Schallplattenspieler besaß er jedoch nicht. Deshalb schlug eine Hospizmitarbeiterin vor, die Schallplatte auf dem Plattenspieler eines neu eingezogenen Zimmernachbarn aufzulegen. Doch der alte Kauz lehnte das Angebot entschieden, ja geradezu empört ab: Die Schallplatte zu hören wäre ohne seine Frau nicht dasselbe gewesen. Eine dumme Idee, attestierte der Mann.
Doch ein paar Tage später brachte ausgerechnet er den Wunsch auf, eine einzige Melodie noch einmal hören zu wollen, vorausgesetzt es bereite keine Mühe. Der Zimmernachbar stimmte gern zu und bot an, dem alten Mann und einer ehrenamtlichen Hospizhelferin sein Zimmer und den Plattenspieler für eine Stunde zu überlassen. Er sei mobil genug und würde sich solange im Garten die Zeit vertreiben. Der alte Mann wehrte ab und sagte, dass seinetwegen niemand das Zimmer verlassen müsse, während seine Musik erklinge. Außerdem wolle er gar nicht allein sein und niemandem Umstände bereiten, was seine größte Sorge zu sein schien. Die Schallplatte wurde also vom Nachbarn aus der Hülle gezogen, deren Bild verblasst und an den Kanten zerschlissen war. Dabei fiel ein vergilbtes, kleines Blatt eines Abreißkalenders heraus, das der alte Mann vom Boden aufheben und sich überreichen ließ, um es, wie ein Vögelchen, die ganze Zeit zwischen seinen Händen verborgen zu halten. Die schwarze Scheibe war wellig. Sie wurde behutsam auf den Plattenspieler gelegt und knisterte beim Abspielen schrecklich. Der alte Mann schien aufgewühlt, von einer sichtbaren Freude und spürbaren Ergriffenheit, die sich auf alle Anwesenden übertrug. Immer wieder hauchte er erregt dazwischen: »Hören Sie es? Haben Sie es gehört?« Die Hospizhelferin und der Nachbar bestätigten, wie schön es sei. Der Alte aber schien mit dieser Antwort unzufrieden und drängte: »Ja, hören Sie es denn nicht?« »Doch«, sagte man, »es klingt ganz wundervoll.« Fast reagierte der alte Mann ungehalten: »Nein, nein, Sie verstehen es nicht. Hören Sie denn nicht, dass man zu dieser Musik eigentlich gar nicht richtig tanzen kann?« Zum Beweis verlangte er, dass man die Nadel erneut in jene Rille setzen solle, in der der Walzer Lippen schweigen begann. Und tatsächlich: Das Tempo unterschied sich während des Stückes immer wieder erheblich, ja manchmal schien sich die Musik so sehr zu verlangsamen, dass Bewegung kaum noch vorstellbar war und die Melodie regelrecht stillzustehen schien. »Das war unsere liebste Tanzmusik, denn es gab darin die Momente des völligen Innehaltens und der Innigkeit und dann wieder die Momente des beschwingten Tanzes.« Das, so erklärte der Mann, passte einerseits zu ihm und andererseits zu seiner Frau. Sie liebte es zu tanzen, doch er liebte es noch viel mehr, seine Frau einfach nur in den Armen zu halten. Wurde er rot, als er das sagte? Fast meinte die Hospizhelferin, einen Farbwechsel in seinem faltigen Gesicht zu erkennen. Dem alten Mann standen kurz Tränen in den Augen, und schließlich forderte er regelrecht mürrisch: »Machen Sie das aus, es ist genug.« Man schaltete das Gerät aus, schob die Platte zurück in die Hülle und überreichte sie ihrem Besitzer. Der steckte das Kalenderblättchen hinein, als würde es zur Schallplatte gehören. Dann dankte er und ließ sich wieder in sein Zimmer bringen, das er bis zu seinem Tod nie wieder verlassen hat.
Der Nachbar mit dem Plattenspieler machte sich daran, mehr über die Musik des alten Mannes zu erfahren. Er fand heraus, dass Komponist Franz Lehár über Lippen schweigen die Tempobezeichungen »Valse moderato, valse lento« geschrieben hatte, also »gemäßigt« und »langsam«.
Die alte Schallplatte steht bis heute in einem Bücherregal des Hospizes, weil es unmöglich geworden war, sie einfach wegzuwerfen, nachdem man ihre Geschichte kannte. Und vielleicht finde sich doch noch der Halbbruder – oder zumindest ein Musikliebhaber, dem man die Platte samt Geschichte eines Tages überlassen könne. Man wisse ja nie, meint die Hospizleiterin. Auch die Kommune bemühte sich anfangs, doch noch einen Angehörigen ausfindig zu machen, der die Kosten der Bestattung übernehmen könnte. Die Suche blieb erfolglos und wurde schließlich eingestellt.