Heitere Himmel - Stefan Weiller - E-Book

Heitere Himmel E-Book

Stefan Weiller

0,0

Beschreibung

Auch wenn der Tod nicht immer unerwartet kommt, als Trauernde trifft er uns aus heiterem Himmel. Stefan Weiller schildert anhand von dreizehn ungeschminkten Porträts die unterschiedlichen Versuche, mit Sterben und Verlust geliebter Menschen umzugehen, den absoluten Abschied zu ertragen. In zwölf Kapiteln wandern wir durch die vielen Monate eines Trauerjahres, mit all dem Schmerz im Gepäck, der unvermeidlich ist, aber auch mit einer Skizze von Hoffnung und Glück. So spendet das Buch Trost durch Geschichten, die – von leichter Hand geschrieben – den Blick aus den Tiefen der Trauer immer wieder Richtung Himmel lenken.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 151

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Übersetzung Psalm 30: Lars Kessner, auf Grundlage der Biblia HebraicaÜbersetzung Hiob 3,17 – 18: Lars Kessner; 1. Korinther 15,28: Luther, 1912

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Illustrationen: Yani Wang

Coverdesign, Satz und Gestaltung: Sandra Hacke, Dachau

Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN E-Book (epub): 978-3-451-82863-8

Print ISBN: 978-3-451-03333-9

Menü

Buch lesen

Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Juli – die Phase, in der man verzweifeln möchte

Februar – die Phase, in der man mit Toten spricht

April – die Phase, in der man Tote idealisiert

Dezember – die Phase, in der man schreien möchte

Juni – die Phase, in der man seine Trauer versteckt

September – die Phase, in der man sich dreht

(Schon wieder) September – die Phase, in der beschuldigt und gesühnt wird

Januar – die Phase, in der einen die Vergangenheit einholt

August – die Phase der Rituale und falschen Schlüsse

November – die Phase, in der man sich neu erfinden muss

März – die Phase, in der die Trauer es bunt treibt

Oktober – die Phase, in der man heimlich weitertrauert

Mai – die Phase, in der man sich an das letzte Wort erinnert

Die Phase, in der vielleicht alles nur eine Phase war

Paradisi Gloriae – die Herrlichkeiten des Paradieses

Morgens um fünf klingelte das Telefon. Ich kniff die Augen zusammen und dachte: »Ich will nicht.« Dem Telefon war das egal. Als ich den Anruf endlich annahm, hörte ich, was ich innerlich schon wusste: Mama ist tot. 72 Jahre. Herzinfarkt. Aus heiterem Himmel. Es gab zwar keinerlei Vorzeichen, die wir als Familie hätten lesen können, aber ich wusste es beim ersten Klingeln. Keine Ahnung, warum. Also doch so was wie eine Ahnung.

Meine Mutter wohnte 200 Kilometer weit weg. Zeitweise trennten uns Lichtjahre. Wir sahen uns vielleicht vier Mal im Jahr. Telefoniert haben wir einmal in der Woche. Sie hasste Ärzte. Man konnte sie nicht zwingen. Sie starb einfach.

Eine Lektion meiner Trauer: Man fühlt sich schuldig und muss lernen, sich zu vergeben.

Bei mir kam das Schuldgefühl nach einem Artikel in einer Zeitung, ein paar Monate nach ihrem Tod: »Mehr Frauen sterben an einem Herzinfarkt als Männer. Frauen spielen ihre Beschwerden als Hysterie herunter und behalten sie für sich. Männerherzen nimmt man ernster.« Zu spät.

Mamas Beerdigung war seltsam. Vom Schicksal überrumpelt, stimmten wir den Vorschlägen der Bestatterin zu und begingen eine Trauerfeier, die rückblickend wohl nur eine rundum gelungen fand: die Bestatterin.

Wir wussten nicht, dass wir eines Tages über diese seltsame Beerdigung sogar lachen können: über die auftoupierte Frisur, die dicke Schminke im Gesicht einer Frau, die zu Lebzeiten keinen Lippenstift kannte, über die niedlichen Putti rund um ihren Sarg und die ausgestreuten Täfelchen aus Kunststein, auf denen Sinnsprüche standen. »Liebe bleibt« war noch einer der besseren. Erbauliche Kalendersprüche für den Moment, wenn die Zeit stillsteht. Jede Menge Sakro-Kitsch. So kommt es, wenn man sich nicht vorbereitet.

Heute, Jahre später, mag es okay sein und Mamas Trauerfeier ist immerhin ein Fest der Anekdoten geworden.

Noch eine Lektion meiner Trauer: Ich weiß, dass ich tot bin, wenn ich mal gar nicht mehr lachen kann. Aber dazu muss ich nicht gestorben sein.

Liebe bleibt und auch die Trauer: über versäumte Gesten, unausgesprochenen Dank, den letzten Streit, verpasste Chancen, entgangene Vergebung, schlechte Vorbereitung. So ist das Leben: nie perfekt.

Der plötzliche Tod der Mutter war für mich Auslöser einer Recherchereise, der stärkste einer ganzen Reihe. Ich wollte von dem, was in unser Leben aus heiterem Himmel einbricht, eine Himmelskarte der Trauer zeichnen. Und ich wollte Ausschau nach Paradiesvorstellungen halten.

Seit Jahren besuche ich Sterbende, um mit ihnen über Musik zu reden. Für mein Kunstprojekt »Letzte Lieder«. Sie können das googeln, wenn es Sie interessiert. In mehr als zehn Jahren, in denen ich mich mit Sterbenden treffe, habe ich gemerkt: Der Tod ist kein Tabu. Gut so. Er fasziniert uns, weil er jeden begleitet und irgendwann einholt. Egal, wohin wir uns flüchten: Der Tod ist da. Da kann man wohl nichts machen.

Das eigentliche Tabuthema ist die Trauer. Man würde ja darüber reden. Aber wie? Auch Trauer begleitet dich überallhin. Sie rennt hinter dir her, tippt dir auf die Schulter oder haut dir in die Magengrube und verlangt, dass du dich ihr stellst. Schwer, sie zu ignorieren. Für Angehörige ist sie unangenehm. Sie fordert. Man will sie lindern, aber sie stellt Fettnäpfchen auf, in die man in bester Absicht hineintappt, wenn man Trostworte sucht, aber nur Phrasen findet.

Als Betroffener soll man die Trauer irgendwie selbst in der Hand haben. So scheint es, und so erzählen es mir viele Trauernde.

Man bekommt nach dem Tod eines Angehörigen ein paar Tage Urlaub gratis. Das ist Gesetz. Tradiert ist auch eine Schonzeit in Form eines Trauerjahres. Besser, man kriegt sein Leben schon vorher wieder auf die Kette, sonst verliert mancher Angehörige und Freund dann doch die Geduld und überweist den Trauernden an einen Facharzt weiter. Nicht alle machen das. Aber manche. Und alle ohne Böswilligkeit. Sie gehen mit bis zur Reiß-dich-endlich-zusammen-Grenze. Man muss auch ihre Grenzen respektieren. Darüber gehen Freundschaften zu Bruch. Trauer impliziert Machbarkeit. Ich spüre Druck.

Mancher verbirgt sich hinter Floskeln und bestimmten Vokabeln. Einige davon machen mir Angst. Ich denke an einen ganz gängigen Begriff: »Trauerarbeit«. Das klingt nach einem Job, den ich nie haben wollte, aber machen muss, und für den morgens um fünf der Wecker klingelt. Jeden Tag. Wie an dem Tag, an dem meine Mutter starb.

Was ist mit dem Menschen, der diesen Job einfach nicht packt? Und wie macht man ihn richtig? Gibt es ein Richtig?

»Trauerprozess« ist noch so ein Wort, das mich stresst. Ich fühle mich wie ein Angeklagter vor Gericht. Am Ende steht ein Urteil.

»Trauergestaltung«, das Wort fände ich schöner, denn darin steckt, dass sich die Trauer formen wird, um mich herum und aus mir heraus. Manches geschieht einfach.

Es gibt derzeit geschätzt acht Milliarden Arten der Trauer, genauso viele wie Menschen auf diesem Planeten. Meine Prognose: Die Zahl wird proportional zur Weltbevölkerung steigen. Sicher zeigen sich Überschneidungen und Ähnlichkeiten in der Art, wie wir trauern. Trotzdem: Jeder macht es anders.

In der Trauer der anderen sind wir immer nur zu Gast. Allein in der eigenen sind wir zu Hause.

Trauer darf kein Tabuthema bleiben. Sie erlaubt es nicht, sondern stößt uns in ein Meer aus Gefühlen. Jedes offene Wort kann ein Rettungsboot sein und leider auch einen neuen Sturm entfachen, der uns taumeln lässt. Aber wenn wir sie totschweigen, gehen wir sicher unter. Reden wir also über unsere Trauer und lernen sie kennen, denn sie ist die dunkle Schwester der Liebe. Wir trauern nur um das, was wir lieben.

Deshalb, liebe Trauergäste: Dieses Buch ist eine Einladung in dunkle Räume. Kommt mit in die Trauer der anderen und versteht vielleicht eure eigene ein wenig besser. Das Buch ist kein Ratgeber, versammelt aber Impulse und Gedanken, die den Trauernden auf meiner Reise geholfen haben – oder eben auch nicht.

Das muss der Himmel sein

Ich habe eine zusätzliche Perspektive gesucht, eine fantastische, spirituelle, eine, die an das anknüpft, was man in jedem christlichen Gottesdienst – Sie erinnern sich, da war mal was – murmelt: »Wie im Himmel, so auf Erden.«

Wie im Himmel? Himmel und Paradies liegen locker und oft unhinterfragt im Volksmund: Man fühlt sich wie im siebten … blabla … Man bekommt Menschen von selbigem geschickt. Man kauft sich das Paradies als Instantpulver von Dr. Oetker, der mich für diese Nennung leider nicht bezahlt. Aber was ist der Himmel, was das Paradies? Muss man dazu gläubig werden? Oder noch schlimmer: fromm? Muss man dafür etwa sterben?

Suchen wir also Antworten. Ich habe Menschen in der Hölle ihrer Trauer getroffen und mit ihnen in das geblickt, was ihnen der Himmel wäre. Wo war ich überall? Man hat mir an zugigen und behüteten Orten die Türen geöffnet. In Hospizen, Trauerberatungsstellen, Obdachsloseneinrichtungen und in Privatwohnungen habe ich Menschen und ihre Trauer kennengelernt. In meinen Worten, Gedanken und Bildern habe ich irdische Abgründe und paradiesische Welten beschrieben. Sehnsuchtsorte, die hinter den Tränen liegen. Sehr frei nach Platon lade ich dazu ein, sich neue, ideale Himmelsbilder vorzustellen, um sich zu einer besseren Welt inspirieren zu lassen. Ich bin kein Philosoph. Leider. Nicht, dass ich es nicht mal versucht hätte … Vorsichtige nehmen also auf dem Weg durch die heiteren Himmel besser einen Schirm mit und wehren manche meiner Gedanken ab, wenn es ihnen zu viel wird. Bücher darf man schließen und später wieder öffnen. Und um eins bitte ich Sie schon jetzt: um Verzeihung.

Lektion der Trauer: Wer wagt, über Trauer zu reden, wird Gefühle verletzen. Aber: Reden hilft! Immer! Man merkt es nur nicht gleich.

Mehrere Himmel spannen sich über dieses Buch. Verteilt auf Menschen und zwölf Monate. Ich ordne die Trauer in Phasen ein und verteile die Phasen auf Monate. Feste Phasen sind ja allseits beliebte Leitplanken auf dem Weg durch die Trauer. Leider tauchen die Monate und damit auch die Phasen in meinem Buch aber nicht in der gewohnten Abfolge auf. Auf Juli folgt in diesem Buch der Februar. Erstarrung kommt auf Wut. Verzweiflung folgt auf Akzeptanz, die vielleicht in Verleugnung mündet. Psychotherapeuten stehen die Haare jetzt schon zu Berge. Astronomen vielleicht auch. Denn der Mai ohne Wonnen geht hier in einen Oktober ohne Gold über und der September verdoppelt sich. So ist das mit der Trauer, wie ich sie sehe: Sie kommt, wann sie will, hebelt Naturgesetze aus und raubt manchem das Zeitgefühl. Monate, Jahre und Gefühle sind in diesem Buch wie vom Wind zerfetzt und auseinandergewirbelt.

Lektion der Trauer: Trauer ist nicht messbar. Zwölf Monate sind noch lange kein Trauerjahr, sondern nur die Anhäufung von Zeit unter wechselnden Himmeln.

Komischer Einstieg, finden Sie? Das respektiere ich, zumal wir uns schon mittendrin befinden. Aber noch können Sie, liebe Trauerreisebegleiter:innen, an dieser Stelle einfach aussteigen. Falls nicht: Dankeschön und herzlich willkommen! Steigen Sie mit hoch, manchmal bis hinter die Sterne, wo manche ihre Liebsten wähnen.

Wenden wir uns der allerallerersten Lehre der Trauer zu:

Trauer ist ein unfreiwilliger Einzug in ein finsteres Haus, in dem man sich ganz neu einrichten muss, aber die Lichtschalter nicht findet. Ein Rätsel, wie man da hineingeraten konnte.

Man sucht die Wände ab und nirgendwo scheinen Fenster zu sein. Es braucht Zeit, sich zu orientieren. Aber dunkel bleibt es lange. Und die Seele ist wie eine Art viel zu großer Zeh, mit dem man überall anstößt.

Fangen wir die Reise bei den drückenden Hundstagen und bei Kathi an.

JULI – die Phase,in der man verzweifeln möchte

Kathi fällt unter das Seuchenschutzgesetz, sagt der Einrichtungsleiter, der das Treffen kurzfristig vermittelt hat. Man gibt Kathi besser nicht die Hand. Multiresistente Keime, Viren und Bakterien bedrohen jeden, der sie anfasst; Kathi beschützen sie aber auch: Keiner wagt, ihr zu nahe zu treten. Gegen eines ist Kathi definitiv resistent: gegen gute Ratschläge.

Es ist heiß, als ich Kathi kennenlerne. Stahlblauer Julihimmel, die Sonne bestrahlt ihn wie poliertes Metall. Ich schmelze und sehne mich nach einer Wolke und dem nächsten November. Kathi trägt schon jetzt die passende Garderobe dazu. Sie kleidet sich in Schichten, die sie auch in der sozialen Einrichtung nicht ablegt. Wenn Kathi sich bewegt, scheint der Stoff ihres alten Trenchcoats nicht zu rascheln, sondern zu knacken und zu brechen. Aus den Bruchkanten lösen sich mit jeder Regung unzählige Partikel aus dem erstarrten Gewebe heraus. Staub und Schmutz der Straße tanzen im Sonnenlicht wie zu einem traurigen Fest.

Sonne fällt direkt auf Kathis Gesicht. Es macht ihr nichts aus. Kathi ist Ende 50. Wollte man ihr schmeicheln, würde man sie immer noch zehn Jahre älter schätzen, als sie eigentlich ist.

In diesem Teil des Bahnhofgeländes, wo sich die Obdachlosen treffen und in den sich andere Reisende höchstens verirren, lässt Kathi sich nur ab und zu blicken. Auch heute ist sie eher zufällig hier und stimmt einem spontanen Gespräch zu.

Kathi spricht zeitweise in Rätseln. Sie fühle sich manchmal wie ein Dachs. Inwiefern? Das erklärt Kathi nicht. Der Sozialarbeiter, der Kathi seit drei Jahren kennt, fasst ihr Leben zusammen. Kathi nickt dazu. Bis vor ein paar Jahren hat sie ihre alte Mutter gepflegt. Die Mutter war ihr Ein und Alles. »Herzensgut«, sagt Kathi. Kathis Kindheit war schwer. Das lag am Stiefvater. Als Kathi alt genug war, ist sie gegangen.

Eigentlich sollte man nie mehr in die Stadt zurückkehren, die man aus guten Gründen verlassen hat. Das weiß Kathi. Mit dem Weggehen hat sie mehr Erfahrung als mit dem Ankommen oder Bleiben. Sie findet, beendete Beziehungen darf man nicht wieder aufwärmen, im Gegensatz zu ihrem Lieblingsessen. Familie ist kein Eintopf, egal wie viele Würstchen darin herumschwimmen; ihr Stiefvater war so eins, ein besonders armseliges sogar. Er hat sie angefasst. Daran soll man nicht mehr rühren. So viel Elend.

Für Kathis Leben wurde ein Wort erfunden, das fast jeder sagt, wenn er das Leben verflucht, das aber keiner gerne in einem Buch lesen will. »Schreib es mit ›nicht‹ davor«, bittet Kathi. Ich schreibe: »Das Leben ist NICHT SCHEISSE, egal wie viel davon im Laufe der Zeit passiert.«

»Nicht« unterstreiche ich. Kathi ist zufrieden.

Als Kathis Mutter krank wurde und der Stiefvater gestorben war, ging Kathi zurück in die Stadt ihrer Kindheit. Die Mutter bekam Rente. Gerade genug für zwei. Und Kathi hatte keinen Job und niemanden, der gesagt hätte: bleib hier.

Sie richtete sich bei ihrer Mutter ein. Offiziell angemeldet hat sie sich nie. Kathi war einfach da. Heimlich, still und leise. Und solange alle Rechnungen der Mutter bezahlt wurden, hat keiner gefragt. Der Arzt, der die Rezepte ausstellte, schien erleichtert, dass er auf seine einmalige Nachfrage keine langen Antworten bekam. Kathi war nie krank, versichert war sie auch nicht. Im Wohnblock der beiden Frauen stocherte man für gewöhnlich nicht in dem Sumpf herum, den man sich mit der Nachbarschaft teilte. Leben und leben lassen und der Polizei sagen, man habe nichts Ungewöhnliches bemerkt.

Kathis Mutter konnte irgendwann kaum noch sprechen. Aber sie konnte mit den Augen danken. Plötzlich starb Kathis Mutter. Bis zum nächsten Morgen saß Kathi neben der Toten und schaute sie an. »So lächeln die im Paradies«, glaubt Kathi. Dann hat sie doch jemanden gerufen.

Wie ging es weiter? Kathi macht eine Abwärtsbewegung mit der Hand. Der Sozialarbeiter übersetzt die Geste in Worte: Ohne Vertrag konnte sie nicht in der Wohnung bleiben. Kathi wusste nicht, wen sie fragen sollte. Sie war wie erstarrt. Die Mutter kam auf die grüne Wiese. Zu erben gab es nichts. Kathi zog ganz viel Kleidung übereinander an, legte die Schlüssel auf den Dielenboden und zog die Tür hinter sich zu. Damit fing es an.

Kathi schneidet dem Sozialarbeiter wütend das Wort ab. Ja, sie trinkt zu viel und schluckt ab und zu von den hellblauen und den gelblichen Tabletten, die sie von der Mutter übrig hat. Der Arzt hat ja immer viel zu viel aufgeschrieben, Schmerzmittel wie für ein Pferd. Gerade wohnt Kathi bei so einem Kerl. Der verlangt, dass sie tagsüber weg ist. Nachts darf sie kommen. Wovon sie lebt, geht keinen was an. Und sie will kein Geld, das ihr nicht zusteht. Mitleid will sie nicht mal geschenkt. Kathi fasst sich. Das musste aber mal raus.

Menschen wie Kathi fühlen sich von vielen beobachtet und von keinem gesehen. Man betrachtet sie, wie man ein angeschossenes Tier anglotzt, das noch zuckt: auf Abstand und mit diesem gewissen Blick.

Kathi fehlt das Einsehen dafür, dass Hilfe keine Bedrohung ist und Vertrauen keine Falle, sagt ihr Sozialarbeiter, als Kathi kurz auf der Toilette ist. Sie sei ein Extrem-, aber kein Einzelfall. Trauer nach dem Tod der Liebe des Lebens führe manchen auf die Straße.

Als Kathi vom Klo kommt, sagt sie, was ihr von der Mutter besonders fehlt: das ganz normale Plaudern. Wer sie heutzutage etwas fragt, tue das in einem bestimmten Ton, werde dafür bezahlt oder mache sich Notizen. »So wie du.«

Trauer von der Sorte mit Zeitungsannonce, Blümchen, Kränzen, Erbschaftssteuer und Ratgeberbüchern ist für Kathi ein »Bessere-Leute-Ding«. Ihre Trauer ist armselig, hemdsärmelig, einsam, roh und mutterseelenallein. Aber sie will nicht ungerecht sein: »Trauer ist bestimmt für jeden hart.«

Kathi wird sauer, wenn jemand sagt: »War doch bloß die Mutter. Stell dich nicht so an.« Als wäre Trauer ein Wettbewerb, und gewonnen hat, wer mehr leidet und etwa ein Kind beweint. Darum redet sie eigentlich mit keinem mehr darüber. Heute sei eine Ausnahme, sagt sie und schaut dabei gnädig.

Weil es für ihre Trauer kein Grab gibt, setzt Kathi sich manchmal einfach so auf eine Bank auf dem Friedhof, drei U-Bahn-Stationen von hier entfernt. Sie stellt sich dann vor, dort drüben läge ihre Mutter. Gleich unter einem knienden Engel, dem steinerne Tränen über die Wangen kullern. Der Tod bringt Steine zum Weinen. Das rührt Kathi.

Kathis Bild vom Himmel zeigt eine neue Perspektive: Es ist im Paradies nicht entscheidend, dass man dort geliebt wird. Viel schöner wird in Kathis Himmel sein, dass man dort die Liebe der Verlorenen, Einsamen, Traurigen, Gescheiterten, der Menschen, die ihre Habseligkeiten in einer Tüte tragen können, nicht zurückweist. Jemanden lieben zu dürfen, wäre ein Glück, auf das Kathi nicht mehr zu hoffen wagt. Was sagt das über ihre Welt?

Kathi glaubt an Gott. Sie habe Gott alles verziehen. Sogar die Schläge. Aber den Tod der Mutter, den habe sie ihm nicht verziehen. Wenn sie ihre Mutter noch einmal sprechen könnte, dann würde sie sagen: »Mama.« Mehr müsste sie nicht sagen.

Und jetzt will Kathi bitte wieder gehen.

Man hat Kathi irgendwann in einem Abbruchhaus aufgefunden. Sie wurde tagelang vermisst, oder besser gesagt: von keinem irgendwo gesehen. Einsperren konnte man sie nicht, sagt der Sozialarbeiter betroffen. Aber helfen kann man nur dem, der sich helfen lässt. Die Hilfe stand vor Kathis Augen. Sie hat sie nicht erkannt.

In die Himmelskarte meiner Trauer verzeichne ich eine Anweisung: Versuche, die Hilfe zu erkennen. Sie ist näher, als du denkst, und will angenommen werden, obwohl du sie manchmal erst viel später verstehst.

Kathi ist kein schlechtes Beispiel, sie ist ein tragisches dafür, dass niemand in seiner Trauer allein bleiben sollte. Die größte Not der vielen Einzelnen und damit der Gesellschaft ist Einsamkeit. Trauer macht Tragödien daraus. Wenn da keiner ist, der einem dabei hilft, den Alltag zu regeln, dann kann ein Mensch abstürzen.