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Der "Deutsche Novellenschatz" ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 10 von 24. Enthalten sind die Novellen: Alexis, Willibald: Herr von Sacken. Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.
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Seitenzahl: 292
Deutscher Novellenschatz
BAND 10
Deutscher Novellenschatz, Band 10
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783849661137
Das Korpus „Deutscher Novellenschatz“ ist lizenziert unter der Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0) Lizenz und Teil des Deutschen Textarchivs. Eine etwaige Gemeinfreiheit der reinen Texte bleibt davon unberührt. Näheres zum Korpus und ein weiterführender Link zu den Lizenzbestimmungen findet sich unter https://www.deutschestextarchiv.de/novellenschatz/. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht.
www.jazzybee-verlag.de
INHALT:
Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte.1
Herr von Sacken.48
Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.103
Joseph Schreyvogel.
Joseph Schreyvogel, der abwechselnd als Thomas und K. A. West geschrieben hat, ist geboren zu Wien 1768, hielt sich in den neunziger Jahren zu Jena auf, wo er anonym in Schillers Thalia ein Lustspiel und in die Jenaer Literaturzeitung Rezensionen lieferte; wurde 1802 in Wien an Kotzebues Stelle Hoftheatersekretär, vertauschte jedoch diese Stelle mit einer geschäftlichen und einer publizistischen Tätigkeit und kehrte erst 1814 zu ihr zurück, wo er unter Dietrichstein seine bekannte Leitung des Burgtheaters antrat, das ihm seine Blüte und seinen Ruhm zu danken hatte. Dietrichsteins Nachfolger in der Intendanz, Graf Czernin, vertrug sich nicht mit der Alleinregierung des Sekretärs-Dramaturgen, der im Mai 1832 pensioniert wurde und am 28. Juli desselben Jahres als eines der ersten Opfer der Cholera starb.
Die Liebesgeschichte seines "Samuel Brink" ist nicht bloß die beste Erzählung, die wir von ihm bieten können, sondern sie verdient wohl auch eine der musterhaftesten Leistungen aus der Epoche der älteren Erzählungsweise genannt zu werden. Die Einfachheit, mit welcher sie sich bewegt, ist nicht so künstlerisch vollendet, wie man dies von der heutigen Novelle erwarten darf: es ist vielmehr eine Schlichtheit, die sich unbedenklich gehen lässt, ohne übrigens im rasch dahin gleitenden Fluss des Erzählens jemals an das Gewöhnliche anzustreifen. Die Herzenskämpfe, die sich ergeben, sind mit edler Wahrheit geschildert, und es ist dem Verfasser, Angesichts der Zeit, worin er schrieb, besonders anzurechnen, dass sich in seine Darstellung kein falscher Blutstropfen ungesunder Sentimentalität eingeschlichen hat. Vielmehr schwebt über dem Selbstbekenntnisse des Helden fortwährend ein leiser Humor, der im Voraus die Entwicklung vorbereitet, so dass zuletzt nur ein leichter Anflug von Wehmut, der die Heiterkeit nicht trüben kann, zurückbleibt. Die Lebensrettung am Schlusse möchte man fast entbehren; aber in diesem Falle würde denn doch ein vertiefteres Seelengemälde erforderlich sein, und so wird man sie als zur Lösung des Knotens dienlich gelten lassen müssen.
***
1.
"Die Achse hält den Weg noch zweimal aus", schrie Paul, "macht nur den Riemen geschwind zurecht, dass wir fortkommen!" – "Ei, wenn er's besser versteht", brummte der Schmied, "meinetwegen!"
"Was gibts denn, Paul?" sagte ich, aus der Kalesche zurücksehend. – "Unnötigen Aufenthalt", erwiderte Paul, "der Schaden könnte längst ausgebessert und wir schon auf der Station sein, wenn der wunderliche Mann nicht so viele Bedenklichkeiten hätte." – "Nun, nun, wir haben so große Eile nicht", sagte ich, indem ich aus dem Schlag stieg; "mach Er seine Sache fein ordentlich, Meister Schmied!" – "Das ist etwas anders!" hörte ich jetzt Paul brummen; "sonst währt dem Herrn gleich alles zu lange."
Ich ließ meinen Paul stehen und ging in den Hof der Dorfschenke, wo ich ein hübsches, ziemlich wohlgekleidetes Mädchen mit der Wirtin sprechen sah. Das Mädchen trug ein kleines Bündel unter dem Arme und schien ihren Weg, den sie dem Ansehen nach zu Fuß gemacht hatte, eben fortsetzen zu wollen. "In anderthalb Stunden", hörte ich die Wirtin zu ihr sagen, "können Sie auf der Station sein; ob Sie aber den Postwagen noch antreffen werden, weiß ich nicht; er geht gewöhnlich früher durch." – Das Mädchen erwiderte einige Worte, die ich nicht verstehen konnte, und kehrte sich dann mit dem Gesichte gegen mich. Ich war überrascht, denn jetzt erst sah ich, wie schön sie war. Mehrere junge Leute, die sich an einem Seitentisch bei schlechtem Wein lustig machten, schienen nach ihrer Art nicht weniger Wohlgefallen an dem Mädchen zu finden. Zwei von ihnen waren aufgestanden und machten Miene, sich dem schönen Kinde zu nähern. Sie hatte es bemerkt und suchte ihnen auszuweichen; aber die mutwilligen Burschen vertraten ihr den Weg und einer fasste sie ziemlich tölpisch an. Unwillig riss sie sich los und verdoppelte ihre Schritte, um über den Hofraum zu kommen. Als sie an mir vorbeiging, sah ich Tränen in ihren großen blauen Augen; ihre Wangen glühten, sie wandte das Gesicht hinweg, als schäme sie sich, einen Zeugen der ihr widerfahrenen Beleidigung zu haben. Unwillkürlich folgte ich der anziehenden Erscheinung, die, durch das Tor an meinem Wagen vorbeieilend, meinen Blicken bald entschwand. Paul als er sie gewahr wurde, stutzte und sah sich schalkhaft lächelnd nach mir um. "War's das? Ja, dann freilich!" hörte ich ihn murmeln, als ich ihm näher kam.
"Nun, ist der Wagen fertig?" fragte ich. – "Das geht so geschwind nicht, Herr! Aber der Meister macht es recht ordentlich." – "Sieh, wo der Postillon ist", erwiderte ich ernsthaft. Paul ging mit drollig-bedenklichem Kopfschütteln. – Ich sah mich nach den zwei Burschen um, deren ungeschliffenes Betragen das schöne Mädchen erröten gemacht und mir, ohne ihr Verdienst und Wissen, einen so reizenden Anblick verschafft hatte. Sie waren zu ihrem Tische zurückgekehrt und riefen lärmend die Wirtin. Nach einem kurzen Wortwechsel warfen sie Geld auf den Tisch und taumelten an mir vorbei, denselben Weg einschlagend, auf dem sich das Mädchen entfernt hatte. Sie schienen ziemlich betrunken; ihre erhitzten Gesichter hatten einen Ausdruck von Rohheit, der mir sehr widrig auffiel.
"Wo bleibt denn der Postillon?" rief ich meinem Paul entgegen, indem ich in die Kalesche stieg. – "Er kommt schon, Herr, und der Meister Schmied ist auch bald fertig, wie ich sehe. Wir holen die flinke Dirne schon noch ein." – "Ich glaube, du träumst, Alter?" sagte ich, "aber mach fort! Hier ist Geld; und knickere mit dem Schwager nicht! Er soll fahren, wie recht ist." – Es war angespannt. Paul schwang sich mit etwas steifer Hastigkeit auf den Sitz des Postillons und fort rollte der Wagen in der Richtung hin, welche "das flinke Mädchen" und die zwei wilden Burschen genommen hatten.
2.
Es war ein herrlicher Sommerabend. Die untergehende Sonne übermalte den leichtbewölkten Himmel mit ihren schönsten Farben. Die fruchtbare Landschaft, von Hügeln und Tälern durchschnitten, ruhte wie ihre Bewohner von dem Geräusch und den Mühen des Tages. An beiden Seiten der Straße lagen in ziemlicher Ferne einige Dörfer, zu denen die Herden und hin und wieder einzelne Arbeiter zurückkehrten. Kein Fuhrwerk war auf der Straße zu sehen, kaum von Zeit zu Zeit ein Fußgänger. Wir fuhren eine Anhöhe hinauf, deren bewachsene Spitze der Anfang eines ziemlich beträchtlichen Waldes ist. Als wir die Höhe erreichten und die Straße selbst durch das dichter werdende Gehölz bedeckt wurde, sah Paul etwas besorgt zurück. – "Fahr zu, Schwager!" rief ich, Pauls besorgtem Blicke gleichsam antwortend. Die Rosse liefen bergab, was sie konnten.
Jetzt lichtete sich das Gehölz; ein Teil der Straße wurde sichtbar. Mir deuchte, ich erblicke die Gestalt die mein unruhiges Auge suchte: aber Baumgruppen deckten die flüchtige Erscheinung wieder. Bald schien mir, ich sehe die Gestalt noch einmal nicht weit von uns, und die zwei rohen Gesellen hinter ihr. – "Sie sind's!" schrie Paul, als wir sie beinahe erreicht hatten. – Die Burschen mochten den Wagen bemerkt haben; sie blieben ein wenig zurück, desto rascher ging das Mädchen vorwärts. Ich rief dem Postillon zu, seine Pferde etwas anzuhalten, was ihm aber nicht sogleich gelang. Als wir an dem Mädchen vorbeifuhren, schien sie mich und Paul zu erkennen; sie verdoppelte ihre Anstrengung, um uns nachzukommen. Da wendete sich der Weg und ein Gebüsch verbarg sie uns aufs neue.
Plötzlich vernahmen wir einen Schrei hinter uns. Der Postillon hatte die Pferde eben zum Stillstehen gebracht. Ich sprang aus der Kalesche und flog dem Orte des Angriffes zu, den mir ein wiederholtes Zuhilferufen bezeichnete. Als ich durch das Gebüsch gedrungen war, sah ich das Mädchen mit den zwei Buben ringen. Meinen Knotenstock in der Faust, stürzte ich auf die Elenden los. Sie wurden mich nicht gewahr, bis meine wiederholten Streiche sie aus ihrer brutalen Zerstreuung aufweckten. Die Schurken waren in Begriff, sich zur Wehre zu setzen, als ich sie plötzlich, von einem panischen Schrecken überfallen, entfliehen sah. Paul, mit meinen Pistolen bewaffnet, und der Postillon waren mir zur Seite; drohend und lärmend setzten sie den Flüchtigen nach. Das Mädchen, jetzt erst seiner Rettung gewiss, warf sich in heftiger Bewegung an meinen Hals. Wie aufgelöst von Angst und Freude, lag sie einen Augenblick in meinen Armen; aber schnell schien sie sich zu besinnen, und indem sie, über und über errötend sich aus meiner Umarmung wand, drückte sie meine Hand an ihre glühenden Lippen.
Paul und der Postillon kamen lachend auf uns zu. Sie hatten die Flüchtlinge nicht erreichen können und mussten sich begnügen, sie waldeinwärts verjagt zu haben. Das Mädchen ward nun erst ihren zerstörten Anzug gewahr; verschämt entfernte sie sich von uns, um ihn ein wenig zu ordnen und ihr zerstreutes Bündel zu suchen, das etwa fünfzig Schritte zurück am Wege lag. Paul sah ihr mit innigem Vergnügen nach und der Postillon, dessen glotzende Augen der schlanken Gestalt gleichfalls nachstarrten, murmelte schmunzelnd: "Blitz! 's ist eine hübsche Dirne!" – "Ich dächte, Herr", sagte Paul, "wir hingen dem lieben Kinde Ihren Staubmantel um; sie scheint sehr erhitzt und könnte bei dem kühlen Abend sich im Fahren leicht erkälten." – "Du meinst also, Paul –?" – "Dass Sie das Mädchen nicht in Nacht und Wald schutzlos zurücklassen werden, wohl mein' ich das, oder ich müsste Herrn Samuel Brink nicht mehr kennen. Ich will nur gleich vorausgehen und den Staubmantel aus dem Magazin hervorsuchen." – "Tu das, guter Paul, und du, Schwager, sieh zu deinen Pferden; ich komme gleich nach." – "Heißa, Schwager!" rief Paul, ihn mit sich fortziehend, "jetzt gibt es eine lustige Fahrt und Extra-Trinkgeld!"
Ich ging dem Mädchen, das sich langsam näherte, einige Schritte entgegen und bot ihr meinen Arm. Sie hatte sich ziemlich gefasst und nahm meinen Antrag, sie auf die nächste Station zu führen, mit bescheidenem Danke an. Paul stand schon mit seinem Staubmantel da, als wir zu der Kalesche kamen, und nötigte ihn meiner Begleiterin ohne Umstände auf. Dafür nahm er ihr das Bündelchen ab und brachte es in dem Wagensitze unter. Von dem Postillon hörten wir jetzt zum großen Schrecken des Mädchens, dass die Diligence, auf welcher sie einen Platz nach der Hauptstadt hatte nehmen wollen, schon vor mehreren Stunden weiter gefahren sei; sie war umso mehr bestürzt darüber, weil sie ihren Koffer vorausgesendet hatte und dieser, wie sie fürchtete, verloren sein möchte. – "Das wird sich alles finden", rief Paul in bester Laune. ""Wer weiß, Mamsellchen, wozu der kleine Unfall gut ist!" Hierauf hob er sie zierlich in den Schlag und hüpfte selbst ganz behände auf den Kutscherbock. Der Postillon trieb seine Pferde an und blies ein munteres Stückchen dazu.
3.
Der Vollmond stieg aus dem Waldesgrund empor und erhob die Abenddämmerung zu einem zweifelhaften Tageslichte. Ich lehnte behaglich in meiner Wagenecke, aus der ich von Zeit zu Zeit einen Blick auf meine schöne Nachbarin warf, welcher ihr Staubmantel den Reiz einer drolligen Vermummung gab. Da ich darüber scherzte, sah sie sich flüchtig an und lachte sehr anmutig ein paarmal auf. Allmählich ward sie heiter und ziemlich gesprächig. Ich erfuhr nun, dass sie Margarete Berger heiße und die Tochter eines Forstbeamten auf den Gütern des Grafen von ** sei, wo sie bis in ihr vierzehntes Jahr eine recht glückliche Jugend verlebt habe. In diesem Alter habe sie ihren Vater und ein Jahr später auch ihre Mutter verloren, ohne dass ihre Eltern ihr einiges Vermögen hinterlassen hätten. Die Schwester ihrer Mutter, selbst Witwe eines herrschaftlichen Rentmeisters, habe sie dann zu sich genommen und ihre Erziehung mit Liebe und Sorgfalt vollendet. Da jedoch ihre Tante selbst nur von einer geringen Pension gelebt und mit den Verwandten ihres verstorbenen Mannes in Erbschaftsstreitigkeiten verwickelt worden, habe sie Gretchen, zu ihrem besseren Fortkommen, in einem anständigen Hause der Hauptstadt unterbringen wollen. In dieser Absicht habe die Tante vor vierzehn Tagen mit ihr die Reise nach der Residenz angetreten, sei aber auf halbem Wege in eine gefährliche Krankheit verfallen und in dem nahen Landstädtchen, wo sie liegengeblieben, am siebenten Tage gestorben.
Ein Strom von Tränen unterbrach hier Gretchens Erzählung. Sie verbarg das Gesicht an der Seite des Wagens und weinte eine Zeitlang heftig. "Verzeihen Sie, mein Herr!" sagte sie dann; "ich besitze die Kunst noch nicht, mich vor Fremden gehörig zu benehmen. Wiewohl eine vater- und mutterlose Waise, fand ich doch in dem Hause meiner Tante die mütterliche Nachsicht und Zärtlichkeit wieder; ich durfte weinen und mich laut freuen; – unter fremden Menschen, weiß ich wohl, schickt sich das nicht." – "Was ein so gutgeartetes Geschöpf empfindet", sagte ich, indem ich Gretchens Hand ergriff, "darf es auch äußern. Und bin ich Ihnen denn fremd, liebes Kind? Mir sind Sie es nicht mehr." – Mein Ton oder meine Worte mussten Gretchens Herz getroffen haben, denn sie sah mir mit ihren großen blauen Augen so mild und vertrauensvoll ins Gesicht, dass ich versucht war, das holde, hilfebedürfende Wesen an meine Brust zu drücken. Aber ich bezwang mich, indem ich sie fragte, warum sie nach dem Unglücke, das ihr begegnet, nicht in ihre Heimat zurückgekehrt sei, wo sie doch noch einige Bekannte haben müsse? – – "Keine, die etwas für mich tun könnten oder wollten", erwiderte Gretchen. "Die Verwandten meines Oheims kamen auf die Nachricht von dem wahrscheinlichen Tode der Tante in dem Städtchen an, wo diese krank geworden und eben gestorben war. Sie ließen die Leiche schnell begraben und legten Beschlag auf den Nachlass der Verstorbenen. Mir wurden meine wenigen Kleider und ein karges Reisegeld verabfolgt. Was blieb mir übrig, als nun allein den Weg nach der Residenz anzutreten, wo ich einige Hoffnung habe, in dem Hause aufgenommen zu werden, für das meine gute Tante mich bestimmt hatte?"
Ich fragte um den Namen der Familie, an welche sich Gretchen in der Residenz wenden wollte. Sie nannte mir eine Frau von Reichard, Bankierswitwe, welche ich einige Mal gesehen und von der ich viel Gutes gehört hatte. "Das Haus hat den besten Ruf", sagte ich; "vielleicht, Gretchen, finden Sie da einen Teil dessen wieder, was Sie verloren haben. Ich will Sie in die Stadt bringen, liebes Kind; seien Sie guten Mutes!" – Die lebhafteste Freude glänzte in Gretchens Augen; sie drückte fühlbar meine Hand und war im Begriff, sie noch einmal gegen ihre Lippen zu führen. Das verwirrte mich; mit einiger Hast zog ich meine Hand zurück, so dass Gretchen mich betroffen ansah. Ich glaube, ich ward rot; unwillkürlich schlug ich die Augen nieder. Zum Glücke fuhr der Wagen eben in das Posthaus und Paul stand schon vor dem offenen Schlage. – "Wir bleiben doch hier?" sagte er, indem er mir heraushalf. – "Ja, Paul; besorge ein abgesondertes Zimmer für Mamsell Berger." "Kommen Sie, Mamsellchen!" rief der Alte; "wir wollen uns gleich nach Ihrem Koffer umsehen." – "Sie werden doch nicht böse, Herr", setzte er leise mit einer Schalksmiene hinzu, "wenn auch ich ein wenig mit dem hübschen Mädchen charmiere?" – "Geh, Narr!" sagte ich, ziemlich verdrießlich, dass der Alte meinen Empfindungen so nahe auf der Spur war.
Ich spazierte über den Hof zum Tore hinaus, um mich noch ein wenig im Freien zu ergehen. Es war inzwischen Nacht geworden. Der Arktur stand am nordwestlichen Himmel, im Zenit funkelte die Lyra und ostwärts strahlte, wie zu ihr aufschwebend, der Adler. Aber vor mein Gemüt traten zwei milde Augensterne und meine Blicke wandten sich von dem Glanz der Himmelslichter dem sanften Scheine des irdischen Gestirnes zu, das mir so unvermutet aufgegangen war. "Wie steht es mit dir, Samuel?" sagte ich zu mir selbst. "Bist du nicht zu Jahren gekommen und halb und halb ein Philosoph? Doch hier unten wie dort oben wirkt die Natur nach ihren ewigen, einfachen Gesetzen. Die Bahn der Gestirne altert nicht, ebenso wenig der mächtige Trieb der Herzen. Was haben wir voraus mit unserer Erfahrung und Weisheit als die Fähigkeit, unsere Wünsche und Neigungen früher zu verstehen und – darüber zu lächeln? – Bedenke deine Jahre, Samuel, bedenke deine Jahre!" –
Als ich langsam gegen das Posthaus zurückging, kam mir Paul daraus entgegen, um mir zu sagen, dass Gretchen mit dem Essen auf mich warte. Sie wendete sich mit großer Heiterkeit zu mir, da ich ins Zimmer trat. Ihr Anblick ergriff mich aufs neue. Das Herz schlug mir merklich; ich winkte Gretchen, neben mir Platz zu nehmen, und setzte mich selbst geschwind, um meine Unruhe weniger auffallend zu machen. Das harmlose Mädchen erzählte mir sehr vergnügt, dass sich ihr Koffer gefunden habe, was ihr besonders ihrer Papiere wegen lieb sei. Überhaupt sprach sie gern und lebhaft, auch von der Stadt, von deren Verhältnissen sie ziemlich unterrichtet schien, denn ihre Tante war dort geboren und erzogen worden. Ich hörte meist schweigend zu, während ich ziemlich eifrig aß und mich mehr und mehr in das Anschauen der lieblichen Gestalt vertiefte. Da ich abgespeist hatte und Gretchen mich eine Weile still sitzen sah, stand sie auf, um sich zu entfernen. – "Morgen um vier Uhr die Pferde, Paul!" fuhr ich endlich aus meiner Zerstreuung auf. – Mit einem freundlichen "Gute Nacht, lieber Herr!" schlüpfte sie aus der Tür. "Gute Nacht, Gretchen!" rief ich ihr nach.
"Bedenke deine Jahre, Samuel!" sagte ich noch einmal zu mir selbst, nachdem ich meinen Paul stumm verabschiedet und mich, halb ausgekleidet, auf das Bett geworfen hatte, worin endlich der Schlaf meinen umherschwärmenden Gedanken ein Ziel setzte.
4.
"Wieviel ist die Uhr, Paul?" fragte ich, indem ich aus dem Bette sprang, so leicht wie ein Fahnenjunker, der die erste Parade beziehen soll. – "Gleich sechs, Herr!" sagte Paul. – "Was?" rief ich. "Und warum hast du mich nicht um vier Uhr geweckt, wie ich dir befahl?" – "Ei, Herr", erwiderte Paul, "Sie schliefen so wunderfest, dass ich Sie noch vor einer Stunde nicht wecken mochte, wo ich schon zum zweiten Mal hereinkam". – "Ich glaube, du treibst deine Kurzweil mit mir, alter Träumer!" – "Ich träume nicht, Herr!" – "Da schläft wohl Gretchen auch noch?" fuhr ich nach einer Weile fort, indem ich meine übernächtige Figur im Spiegel betrachtete. – "O", sagte Paul, "die treibt sich schon seit anderthalb Stunden im Garten, im Hühnerhofe und draußen im Felde herum; das Mädchen ist lauter Leben und die Wirtschaft scheint recht ihr Element zu sein. Das wäre ein anderes Ding, Herr, als unsere alte Sibylle im Hause." – "Meinst du?" sagte ich zerstreut. "Aber lass das Frühstück bringen, Paul, und bitte Gretchen, dazu heraufzukommen."
Ich hatte große Lust, mir selbst ins Gesicht zu lachen, wie ich so vor dem Spiegel dastand – sobald Paul aus der Tür war. "Das hat ein Liebhaber von zweiundfünfzig Jahren vor einem von zwanzig voraus", sagte ich, "dass er mit Appetit essen und, wenn's glückt, seine acht oder neun Stunden schlafen kann. Ich hätte das gestern kaum gedacht, als ich da unten dem Arktur mein Herz eröffnete."
Das Frühstück kam und Gretchen trippelte herein, mir einen guten Morgen bietend. Sie sah aus wie der Morgen selbst nach einer erfrischenden Sommernacht. Fand ich sie gestern lieblich und anziehend, so erschien sie mir heute in dem vollen Glanze des blühendsten Jugendreizes. – "Es ist doch eine köstliche Gottesgabe um ein Alter von achtzehn Jahren!" dachte ich oder sagte es vielmehr laut. "So alt sind Sie wohl eben? Nicht wahr, Gretchen?" – "Bald neunzehn", erwiderte sie. – "Kommen Sie, Kind! Ich will mir einmal einbilden, ich wäre, was das betrifft, Ihresgleichen. Setzen Sie sich zu mir! Sie müssen die Konversation der Stadtherren doch ertragen lernen; ich will Ihnen eine Probe davon zum Besten geben."
Das gute Kind wusste nicht, was sie von meiner Laune denken sollte; aber ich ließ mich nicht irre machen. Ich schwatzte, lachte, tändelte mit so viel Anstand und natürlicher Lebhaftigkeit, dass Gretchen endlich selbst mit fortgerissen wurde. Lachend und schäkernd begleitete sie mich zu dem Wagen, in welchen ich sie diesmal hob, zum sichtbaren Verdrusse Pauls, der sich diese Galanterie nicht wollte nehmen lassen. Meine Stimmung dauerte die halbe Station über zu Gretchens nicht geringem Ergötzen. Ein wenig verliebte Geckerei, mit etwas wahrer Empfindung versetzt, unterhält die Weiber immer, die unerfahrensten wie die klügsten; denn sie ist ein Tribut der Überlegenheit, welche ihnen die Natur in dem Verhältnisse der Geschlechter über uns einräumte. – "Herr Brink kann recht liebenswürdig sein", hörte ich Gretchen mit vieler Unbefangenheit sagen, als mache sie die Bemerkung für sich.
Nach und nach verrauchte indes der galante Humor, der mir mit Gretchens Eintritt an diesem Morgen wie ein leichter Champagnerrausch zu Kopfe gestiegen war. Ich wurde stiller, bemerkte auch wieder, was sonst außer uns vorging, und vertiefte mich endlich in die Betrachtung der herrlichen Landschaft, durch die wir hinfuhren. Gretchen hatte schon früher viel Anteil an den Gegenständen gezeigt, welche uns umgaben. Sie bemerkte die Verschiedenheit des Bodens und der Wirtschaft in Vergleichung mit denen ihrer Heimat und verbreitete sich dabei recht sinnig und lehrreich über die Eigenheiten des Gebirgs- und Forstlebens. Ich fing an, Interesse an dem Geiste des Mädchens zu nehmen, dessen Gestalt und Schicksal mich schon so sehr angezogen hatten. Überall verriet sie eine lebhafte Auffassung und eine Reife des Verstandes, welche ihrem Alter und ihrer einfachen Erziehung vorauszueilen schienen. Zwar kannte sie manches gute Buch, dessen beiläufig erwähnt wurde, aber ihre Urteile waren auf eigene Ansicht und Überlegung gegründet. Wir unterhielten uns auf solche Weise sehr angenehm und ungezwungen von nahen und entfernteren Dingen; ich erfuhr immer mehr von Gretchens früherer Geschichte und das Vertrauen, welches mir das liebenswürdige Mädchen bewies, schien nach und nach erst das rechte Verhältnis zwischen uns herzustellen.
So kam der Mittag heran, den wir in einem wohleingerichteten Gasthofe auf dem halben Wege unserer Fahrt nach der Hauptstadt zubrachten. Ich speiste mit Gretchen an dem Wirtstische. Es gefiel mir wohl, die Augen der Gäste öfters auf meine schöne Nachbarin gerichtet zu sehen, welche in ihrem einfachen, fast ärmlichen Anzuge als die Königin der Tafel erschien. Ein junger Offizier, der uns gegenübersaß, suchte sie endlich ins Gespräch zu ziehen. Ich bewunderte die Gewandtheit und den feinen Takt, womit Gretchen den nach und nach zudringlich werdenden Fragen und Anspielungen des jungen Kriegsmannes auszuweichen wusste, ohne sich durch ein verlegenes oder auffallend frostiges Betragen zum Augenmerk der Gesellschaft zu machen. Als wir von der Tafel aufstanden und ich mich nach einem abseits liegenden Zeitungsblatte umsah, trat der Offizier ganz dreist zu Gretchen und begleitete seine Anrede mit einer ziemlich vertraulichen Gebärde, indem er sie zierlich an beiden Ellenbogen anfasste. Sie zog sich mit einer Achtung fordernden Miene zurück, worüber der junge Herr, leicht auflachend, sich in die Brust warf. Ich war indessen zwischen sie getreten und sah den Offizier ernsthaft an. – "Steht die junge Person vielleicht unter Ihrem Schutze?" fragte er spöttisch, "Ihre Frau oder Tochter scheint sie nach dem Äußern nicht zu sein." – "Wenn es darauf ankommt, sie gegen Zudringlichkeiten sicher zu stellen", antwortete ich in entschlossenem Tone, "so steht das junge Frauenzimmer allerdings unter meinem Schutze; das kann erfahren, wer Lust dazu hat." – "Gehorsamer Diener!" sagte er, etwas verblüfft, und wandte mir den Rücken zu. – Ich nahm Gretchen unter den Arm und ging mit erhobenem Haupte langsam durch den Saal, mich nach beiden Seiten umsehend, ob jemand hier sei, der gegen meine Erklärung etwas einzuwenden habe.
5.
Wir saßen wieder in unserem Wagen. Der kleine Ärger hatte mein Blut in Bewegung gebracht und ich sah es gern, dass der Schwager, ein munterer Bursch, seine Pferde in scharfem Trabe laufen ließ. Die Straße zog sich durch einen üppigen Getreideboden hin, dessen hochstehende Saaten von einem frischen Winde bewegt wurden. Ich überließ mich dem angenehmen Spiele der Vorstellungen, welches einen solchen Anblick gern begleitet und saß längere Zeit schweigend neben meiner Reisegefährtin, die seit dem Auftritte in dem Speisesaale selbst sehr still und nachdenkend geworden war. Als ich sie aus meiner zurückgelehnten Stellung seitwärts ansah, begegneten ihre Blicke den meinigen. Sie schlug die Augen nieder, in denen ich den Ausdruck einer mehr als gewöhnlichen Aufmerksamkeit gelesen zu haben glaubte. "Woran denken Sie, Gretchen?" fragte ich, mich zu ihr neigend. – "An die großen Verbindlichkeiten, die ich Ihnen habe", erwiderte sie nach kurzem Besinnen, leicht errötend. – "Sie rechnen doch den lächerlichen Auftritt mit dem jungen Bramarbas nicht dazu?" sagt' ich scherzend. – "In der Tat, das tu ich", antwortete sie ernsthaft; "dieser junge Offizier hatte etwas unbeschreiblich Beleidigendes in seinem Blicke und seinem ganzen Wesen. Mein Innerstes empört sich, wenn ich nur daran denke." – Ich hielt Gretchens Hand, welche in der meinigen zu zucken schien; über ihre Wangen flog der Widerschein einer inneren Aufwallung von Scham und Unwillen, der mich auf eine seltsame Weise ergriff. Es war ein Reiz von ganz eigener Art, worin alle Zauber der Weiblichkeit vereinigt schienen.
"Es kann Ihnen", sagte ich mit merkbarer Beklemmung, "im guten wie im schlimmen nicht an Gelegenheit gefehlt haben, den Eindruck zu beobachten, welchen Sie auf Männer von dem verschiedensten Charakter machen müssen." – Gretchen hörte mir etwas zerstreut zu, schien aber die Folge meiner Rede zu erwarten. – "Hat man Ihnen nie gesagt", fuhr ich zögernd fort, "dass Sie – ein schönes Mädchen sind?" – Sie lächelte, als hätte ich etwas sehr Gleichgültiges gesagt. "Das wohl", erwiderte sie; "aber ich habe eben nicht viel darauf gehört." – "Hatten Sie nie einen Liebhaber, Gretchen?" fragte ich lebhafter. – "Was man eigentlich so nennt, – nein!" – "Gretchen!" sagt' ich, indem ich einen Kuss auf ihren Arm drückte; "Sie wissen nicht, wie unendlich liebenswürdig Sie sind!" – Sie wurde rot und zog ihren Arm zurück. – "Gretchen!" wiederholt' ich leise, ihr näher rückend. –
"Haben Sie es donnern gehört?" rief Paul, indem er sich herumwandte; "wir bekommen ein starkes Ungewitter." – "So wollt' ich –!" – "Wie meinen Sie, Herr?" – "Es ist gut!" fuhr ich ihn an; "du fürchtest doch den Donner nicht?" – "Ich nicht, aber die Mamsell vielleicht." – Gretchen versicherte, dass sie das Gewitter vielmehr liebe.
In dem Augenblick hörten wir den Donner von fern rollen. Mächtige Wolkenmassen entwickelten sich auf der ganzen Fläche des Horizonts; der Wind wehte stärker und jagte Staubwolken über die jetzt lebhaft befahrene Landstraße. In kurzem war der Himmel ringsum bedeckt und ein zuckendes Wetterleuchten durchlief das düstere Grau der Wolken. Einzelne Regentropfen fielen auf und neben dem Wagen nieder, da schlängelte sich ein Blitzstrahl weithin durch das Gewölbe des Himmels; rauschend strömte der Regen herab und ein paar schmetternde Donnerschläge hallten mit dumpfem Gerolle aus weiter Ferne wider.
"Ist's so recht?" fragte Paul Gretchen. – "Es wird!" erwiderte sie, indem sie mit sinnigem Ernst in die wohltätig aufgeregte Natur hinausblickte.
Das große, allmählich sich entfaltende Schauspiel der bewegten Außenwelt brachte den kleinen Aufruhr in meinem Innern zum Stillstand. Als die erste Aufwallung vorüber war, lächelte ich selbst über die seltsame Unterbrechung, die meiner unvorsichtigen Zunge, gerade noch zu rechter Zeit, Schweigen auferlegt hatte. Meiner selbst wieder völlig mächtig, genoss ich ruhig des zwiefachen herrlichen Anblickes, der vor mir aufgetan war, und beobachtete mit wechselnder Teilnahme bald die prächtige Naturerscheinung außer uns, bald Gretchens liebliches Angesicht, woraus diese in gemildertem Lichte zurückstrahlte.
"Das tut doch nicht gut", sagte Paul, sich noch einmal zurückwendend; "es regnet gar zu toll! Das Wasser schlägt in die Kalesche. Ich will das Spritzleder herablassen, Herr!" – Er tat es, eh' ich es mit Anstand hindern konnte. Es war, als ob mich Paul oder der Zufall necken und meine Standhaftigkeit auf die Probe setzen wollte.
Die Kalesche war von allen Seiten geschlossen. Das schwache Licht, welches durch ein paar handgroße Fensterchen in den schmalen Raum des Wagens fiel, reichte eben hin, mir Gretchens Gestalt in einem magischen Helldunkel zu zeigen. Der Widerschein der Blitze erhöhte von Zeit zu Zeit den wunderbaren Reiz dieser Beleuchtung. Wir saßen so enge, dass ich nicht die geringste Bewegung machen konnte, ohne ihren Arm, ihren Fuß, die schwellende Fülle ihres jugendlichen Wuchses zu berühren. Ich glaubte, sie atmen zu hören; die Luft, die ich einsog, schien von dem Hauche ihres Mundes durchwürzt. Es war, als säh' ich Funken zwischen uns hin und her gehen, den elektrischen Entladungen ähnlich, welche außerhalb unserer kleinen Welt die Atmosphäre erschütterten. – –
"Ich will", sagte ich nach einem ziemlich langen Kampfe zu mir selbst, "ich will dieser reizenden Versuchung nicht unterliegen!" – und indem ich mich in meinem Winkel zusammenschmiegte, schloss ich die Augen mit dem festen Vorsatze, sie nicht eher wieder zu öffnen, bis sich das Wetter in und außer mir völlig abgekühlt hätte und ich mich ganz so ruhig fühlte als in dem Augenblicke, wo Paul das verwünschte Spritzleder herabgelassen hatte.
– "Das taten Sie wirklich, Herr Samuel Brink?" – "Mit Ihrer Erlaubnis, lieber Leser, ja, das tat ich; und wenn Sie in meinen Fall kommen sollten, so rate ich Ihnen, dasselbe zu tun. Es ist ein einfaches Mittel und hilft gewiss, wenn es Ihr Ernst ist, es zu rechter Zeit anzuwenden." – "Und was tat Gretchen während der angenehmen Unterhaltung, die sie ihr in der verschlossenen Kalesche machten?" – Vermutlich das nämliche, wiewohl aus einer anderen Ursache. Denn als Paul bei unserer Ankunft auf der Station die Kalesche aufmachte, fand ich sie, in ihre Wagenecke gelehnt, so sanft schlafend, als das liebe Kind, seitdem sie aus der Wiege kam, nur jemals geschlafen haben konnte.
6.
Wer auf einer schlüpfrigen Bahn sich einige Mal glücklich aufrecht erhalten und an einer besonders gefährlichen Stelle die Besonnenheit nicht verloren hat, setzt endlich seinen Weg mit Zuversicht und sogar behänder fort, als wenn er sich auf einem ganz ebenen, sicheren Boden befände. Der Rest unserer Reise ging schnell und ruhig von statten, ohne solche kleine Unfälle und Fährlichkeiten, als ich bisher zu berichten hatte. Es war beinahe Nacht, da wir bei meinem Hause in der Stadt ankamen. Ich hatte bei mir selbst überlegt, dass es wohl schicklicher sein dürfte, Gretchen in einem benachbarten Gasthause unterzubringen, als sie in meine Junggesellenwirtschaft aufzunehmen. Gretchen selbst erwartete nichts anderes; denn als wir ausgestiegen waren, dankte sie mir sehr herzlich für die Güte, sie bis hierher geführt zu haben, und bat Paul ihr das kleine Bündel zu geben, das er in Verwahrung genommen; ihren Koffer wolle sie morgen früh abholen lassen.
"Die Mamsell", sagte Paul, "wird doch nicht in eitler Nacht herumwandern sollen, um eine Schlafstelle in der großen fremden Stadt zu suchen? Da ist ja das ledige Bett in Jungfer Brigittes Zimmer, worin sie die Nacht recht gut zubringen kann." – "Paul hat recht", unterbrach ich Gretchen, die etwas erwidern wollte; "ich dachte nicht gleich daran. Sie dürfen den Vorschlag nicht ablehnen, Gretchen; die Anständigkeit selbst könnte gegen eine Schlafstelle in dem Zimmer meiner alten Haushälterin nichts einzuwenden haben." "Aber, –" meinte Gretchen. – "Keine weiteren Umstände, Kind!" sagte ich und fasste ihre Hand, um sie die Treppe hinaufzuführen; "morgen früh wollen wir dann sehen, wo Sie etwa sonst wohnen können, wenn es Ihnen in dem Hause eines ehrbaren alten Junggesellen nicht länger gefällt."
Jungfer Brigitte machte große Augen, als ich mit Gretchen in die Wohnung trat. "Ich bringe Ihr Gesellschaft, Brigitte", sagte ich; "Mamsell Berger wird heute Nacht in Ihrem Zimmer schlafen; sorge Sie für ein reines Bett und eine freundliche Aufnahme." – Die Alte schielte das holde Mädchen von der Seite an mit einer Miene, die wenigstens die letztere nicht versprach; aber Gretchen schloss sich mit einer so gemütlichen Unbefangenheit an die mürrische Hausregentin an, dass sich die Wolken auf der runzeligen Stirn nach und nach verzogen. Meine Einladung zum Nachtessen lehnte Gretchen bescheiden ab, weil sie mit Jungfer Brigitten auf ihrer Kammer zu bleiben wünsche. Die Frauenzimmer verließen mich, bald auch mein alter Paul, der noch eine Menge Dinge für unsere schöne Hausgenossin zu besorgen hatte.
So hatte ich denn, beinahe ohne mein Zutun, das liebenswürdige Geschöpf unter meinem Dache, mit dem ich seit zwei Tagen so lebhaft beschäftigt war! Die Vorstellung hatte etwas überaus Anmutiges für mich, ungeachtet des kleinen Beisatzes von Schwermut, der sie begleitete. "Morgen", sagte ich still zu mir selbst, "morgen geht sie hin, sich ihrer künftigen Herrschaft zu zeigen. Man wird sie annehmen; wer tät' es nicht mit Freuden? – Gut, dann ist alles vorbei, – die Erinnerung ausgenommen, die, wie angenehm sie auch ist, mich hoffentlich nicht im Schlafe stören wird." –
Am anderen Morgen erzählte Paul, als er mir das Frühstück brachte, dass Mamsell Gretchen schon ausgegangen sei, ihren Besuch bei Frau von Reichard zu machen. Es verdross mich fast, dass sie weggegangen war, ohne mir zuvor guten Morgen zu sagen; aber ich besann mich, dass dies jetzt ohnehin aufhören müsse. – Paul störte hier und da in meinem Zimmer herum und konnte nicht fortkommen. Das ist seine Art so, wenn er etwas auf dem Herzen hat.
"Es ist doch schade", fing er endlich an, "dass so ein liebes, gutes Mädchen bei wildfremden Leuten dienen soll." "Man dient meist bei fremden Leuten", sagte ich; "es ist ein anständiges Haus und ein ziemlich leichter Dienst, wie ich von Gretchen selbst weiß, sie wird mehr zur Gesellschaft einer erwachsenen Tochter als zur Bedienung in dem Hause sein." – "Wer weiß", fuhr Paul fort, "was für eine widerwärtige Zierpuppe das ist! Sonst freilich könnte sie von Gretchen lernen, wie sich ein junges Mädchen zu betragen habe, um Gott und aller Welt angenehm zu sein." – "Dir wenigstens, Paul", erwiderte ich lächelnd, "ist das Mädchen wirklich sehr angenehm, wie es scheint." – "Ei, das gesteh' ich!" war seine Antwort. "Und Ihnen, Herr, ist sie's auch; das merkt man wohl. An Ihrer Stelle ließe ich das liebe Kind gar nicht mehr aus dem Hause." – "Aber was willst du denn, Paul, dass ich mit dem Mädchen anfange? Ich werde doch in meinen Jahren nicht noch eine Gouvernante für mich aufnehmen sollen?" – "Es wäre vielleicht so übel nicht", erwiderte er lachend; "so eine hübsche, junge Gouvernante käme mit uns alten Knaben wohl auch noch zurecht." – "Ernsthaft, Monsieur Paul, wenn ich bitten darf!" – "Und die Wirtschaft", fuhr er fort, "versteht sie aus dem Fundament. Fragen Sie nur Jungfer Brigitten, die sonst nicht leicht einem anderen Frauenzimmer, besonders einem so jungen und hübschen, Gerechtigkeit widerfahren lässt." – "Ich soll doch nicht etwa Brigitten wegschicken, um Gretchen an ihrer statt zu behalten? Hat das die wackere alte Person um uns verdient, Paul?" – "Das will ich eben nicht sagen", erwiderte Paul; "aber sehen Sie, Herr, da hätte ich einen anderen Gedanken. Draußen auf Ihrem Gute ist doch keine rechte Aufsicht, in der inneren Wirtschaft, meine ich, was Haus, Küche, Milchkammer, Hühnerhof und dergleichen betrifft. Ihr Vetter, der junge Herr Max, den Sie als Ökonomen hinausgesetzt haben, ist wohl ein tüchtiger Mensch; aber der treibt sich den ganzen Tag in Feld und Wald herum; da tut denn indessen das Gesinde, besonders das weibliche, eben was es will. Nun meine ich, wenn Sie Gretchen draußen zur Beschließerin machten, so wäre dem Übel abgeholfen; und wenn wir dann von Zeit zu Zeit hinauskämen, so brauchten wir Brigitten nicht mitzunehmen und hätten dort die angenehme Gesellschaft noch in den Kauf obendrein."
"Sieh, sieh, was der Paul für artige Projekte macht", sagte ich, dem Einfall nachsinnend, und ging zur Tür hinaus, um einige Bekannte in der Stadt zu besuchen.
7.
Als ich an den ausgeschmückten Kaufmannsbuden vorüberging, fielen mir einige Läden mit Modewaren und Stoffen zur weiblichen Kleidung mehr als sonst in die Augen. Ich blieb dabei stehen und betrachtete manches Stück genauer, um seine Bestimmung zu erraten oder seinen Wert näher kennen zu lernen. – Es wäre doch eine Artigkeit, dachte ich, und könnte dem lieben Mädchen gerade jetzt wohl auch gelegen kommen, wenn ich einige nützliche und hübsche Sachen für sie einkaufte und ihr ein Geschenk damit machte. – In dieser Absicht trat ich in ein Gewölbe und suchte allerlei aus, mit dem Auftrag, es in mein Haus zu bringen. Es war so ziemlich alles, was zu einem vollständigen weiblichen Anzuge gehört; als ich aber gleich darauf an einem eleganten Schuhladen vorbeikam, fiel mir ein, dass ich dieses interessante Kleidungsstück vergessen hatte. Unerwartet machte ich die mich selbst belustigende Bemerkung, dass ich mir einbildete, das Maß ihrer niedlichen Füßchen, welches ich nur beim Aus- und Einsteigen in den Wagen etwas näher erwogen hatte, bestimmt genug zu kennen, um die passendsten Schuhe für sie herauszufinden. Auf die Gefahr, es recht getroffen zu haben, ließ ich einige Paar Schuhe und das zierlichste Paar Pantöffelchen zusammenpacken und nahm sie gleich selbst mit mir.
So beladen, machte ich geschwind meine Besuche, zum Glück nur bei ein paar Männern, denen so etwas weniger auffällt. Einer von ihnen, ein Herr, der in der schönen Welt gelebt hat, konnte sich dennoch nicht enthalten, das Paket, welches neben meinem Hute lag, in der Zerstreuung des Gespräches etwas näher zu untersuchen. Er fuhr mit unterdrücktem Lachen zurück, als er den Inhalt gewahr wurde. – "Es ist richtig!" hörte ich ihn bei Seite murmeln. – "Was ist richtig?" fragte ich ziemlich barsch; denn ich hatte zugleich seine unschickliche Neugierde bemerkt. – "Dass Sie eine Liebste von der Reise mitgebracht haben", antwortete er lachend; "man hat mir das heute schon am frühesten Morgen erzählt." – "Über die Krähwinkler!" rief ich aus. "Ich wette, es steht morgen schon in allen Unterhaltungsblättern. Wenn Sie wissen wollen, was es mit dieser Liebsten für eine Bewandtnis hat, so speisen Sie diese Tage bei mir; da will ich Ihnen die große Stadtneuigkeit vom Anfang bis zum Ende erzählen." Mit diesen Worten nahm ich mein Paket und ging unwillig meines Weges.