Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes - Manuel Chaves Nogales - E-Book

Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes E-Book

Manuel Chaves Nogales

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Beschreibung

In "Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes" durchleuchtet Manuel Chaves Nogales (1897–1944) den Alltag des Nazi-Regimes und entschlüsselt die gezielte Manipulation der Bevölkerung. Ein journalistisches Meisterstück in deutscher Erstübersetzung, das heute als historische Quelle gilt und Wahrheiten bereithält, die noch lange nach Auschwitz und dem Krieg geleugnet wurden. Es stellt den Journalisten zurecht neben die Zeitzeugen Victor Klemperer und Leland Stowe. "Alle Barbareien, derer ich sie in meiner Reportage bezichtige, geschehen wirklich und kein Nazi würde sich schämen zuzugeben, sie begangen zu haben. Worüber sie sich dann aufregen ? Über die Interpretation. Was wir barbarische Taten nennen, sind für sie keine." — Manuel Chaves Nogales im Mai 1933 "Chaves hat die Augen in Anbetracht des Totalitarismus früher geöffnet als jeder andere." — Antonio Muñoz Molina

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Inhalt

CoverEinführung zur ersten deutschsprachigen AusgabeEugeni Xammar und Josep Pla erfinden ein ›Interview‹ mit Adolf Hitler – Eine FarceI – Wie lebt man in den Ländern mit faschistischen Regimen?II – Deutschland unter HitlerIII – »Kaiser Adolf I«Impressum

Einführung zur ersten deutschsprachigen Ausgabe

Bei der hier vorliegenden Reportage stellt sich zurecht die Frage nach ihrer Aktualität. Sie erscheint auf Deutsch 90 Jahre nach ihrer Niederschrift und ihrem einmaligen Abdruck in der Zeitung AHORA. Chaves Nogales’ Beobachtungen stellen sich zu den vielen Büchern über den Alltag im Nationalsozialismus, die nach 1945 erschienen, aber vor allem zählen sie zu den wenigen, die erschienen, als man Berichte über die Militarisierung Deutschlands nach der Machtergreifung noch für „alarmistisch“ hielt. Ein weiteres Beispiel wäre Leland Stowe’s Nazi Means War, ein Bericht, in dem Deutschland als Nation auf dem klaren Weg in einen erneuten Krieg analysiert wird. Texte wie die Stowe’s, der schon 1933 geschrieben wurde, sind rar. Wir werden später auf Leland Stowe zurückkommen.

Unser historisches Bewusstsein formiert sich aus einer Auswahl von einigen, vielleicht Hundert Stunden Filmmaterial, Tonaufnahmen und einem Kanon an Dokumenten, sodass wir – früher als Tätervolk – und heute als Erben unserer Geschichte die Aufarbeitung beginnen konnten. Inwiefern uns diese eingezirkelte Quellenlage beeinflusst, wie wir die Periode des Nationalsozialismus sequenzieren und Kausalitäten aufstellen, die Antwort auf diese Frage weiß ich nur zu vermuten, aber auch die Summe der Erinnerungen aus den Fotoalben unserer Vorfahren wird kleiner, obwohl es immer dieselbe Anzahl Bilder enthält. Die Geschichte, die das Album erzählt, erweitert sich nur noch selten durch Erlebnisse, vielmehr schwindet sie durch die Abnahme lebendiger Erinnerungen. Die auf Deutsch erstmals vorliegende Reportage aus dem Jahr 1933 aus den ersten Wochen des Terrors nach der Machtergreifung Hitlers ist nach 90 Jahren gleichsam ein Innehalten der Geschichte, die sich immer weiter entfernt; das aus erster Hand Erzählte, die Stimmen der Überlebenden verstummen zunehmend und schriftliche Quellen versiegen. Wenn auch spät werden Mittäter in diesen Tagen noch von Gerichten als Täter verurteilt, angeklagt von den letzten Überlebenden aus Konzentrationslagern. Meistens hören wir von ihnen noch einmal, wenn sie die Welt verlassen haben. Fassungslos stoßen wir heute erneut auf den Typen des politischen und imperialistischen Demagogen und auf Gesellschaften, die ihre Bürgerrechte zugunsten eines Kults der Größe und geschichtlichen Vorsehung abtreten und zu größten Grausamkeiten gegen die Zivilisation „Ja“ sagen, oder „Ja“ sagen würden.

Bücher über den Nationalsozialismus werden ihre Aktualität nie verlieren, doch mit dem Verschwinden der Zeugen wird die Sprache unweigerlich sich verändern, und es geht nicht darum, wie spät das Reflexivpronomen im Satz kommt, sie droht dem Feld der Meinung über unmenschliche Regime überlassen, etwa acht Prozent der Deutschen grenzen sich nicht gegen den Nationalsozialismus ab, sind „Philofaschisten“. Die Herausgabe der Tagebücher Victor Klemperers, die 1995 postum und vor allem mit der Distanz eines halben Jahrhunderts zum letzten Eintrag 1945 erschienen, bezeugen, welche Bedeutung lebendige Erinnerungen haben. Bücher wie Klemperers sind zuletzt lebendig gehaltene Erinnerungen – und ein Stachel für diese acht Prozent.

An anderer Stelle habe ich mir erlaubt, Victor Klemperer (1881 – 1960) und Manuel Chaves Nogales (1897 – 1944) in einem Atemzug zu nennen, im Nachwort zu Chaves Nogales’ Roman Die Erinnerungen des Meistertänzers Juan Martínez, der dabei war, der 2016 auf Deutsch erschien. Nicht immer stieß dieser Vergleich auf Verständnis, was daran liegen dürfte, dass man diesen Spanier im deutschsprachigen Raum kaum kennt.

Es ist also angebracht, den Journalisten Manuel Chaves Nogales der Leserschaft vorzustellen. Erfreulich ist, dass ihn das deutschsprachige Feuilleton zunehmend entdeckt, und dennoch sei erwähnt, dass dieser von einem halben Dutzend hiesiger Verlage abgelehnt wurde, sodass der Kupido Literaturverlag auch mit der Idee ins Leben gerufen wurde, Adelungen wie „die größte literarische Wiederentdeckung der letzten Jahrzehnte“ (WDR) und „eine der spektakulärsten literarischen Wiederentdeckungen“ (F.A.Z.) zu untermauern. Die weitere Herausgabe der Werke ist in Vorbereitung (siehe Editionsplan am Buchende). Was den Vergleich zwischen Victor Klemperer und Manuel Chaves Nogales so sehr nahelegt, ist das Erleben in der Lektüre. Man wird nie um die Wahrheit betrogen, auch wenn man klarstellen muss, wie man hier von Wahrheit spricht. Es ist die des Manuel Chaves Nogales, der, seinem Verständnis der Profession des Journalismus folgend, keine Meinung wiedergibt, erzeugt, propagiert, sondern politische Akteure mit „seiner Wahrheit konfrontiert“, so mächtig – und tödlich – sie auch sind. Ein seltsamer Typ, würde man meinen, wenn man Journalismus bloß als Für und Wider der Meinungen, als ein Führwahrhalten auffasst – was doch, Hand aufs Herz, heute das verbreitetste Credo ist. Um zu Klemperer zurückzukommen, nein, Chaves Nogales liefert keine durch die ganze Zeit des Nationalsozialismus gehende Ausleuchtung des Alltags einer verrohten Gesellschaft, in der die Alltäglichkeit des Verbrechens in allen Sektoren der Gesellschaft vor Augen tritt. Chaves Nogales ist nur wenige Wochen im April und Mai 1933 Zeitzeuge in Nazi-Deutschland, was ihn jedoch neben Klemperer stellen lässt, ist ergänzend zu Klemperers deutschem Chaves Nogales’ europäischer Horizont, den er in eng getakteten Artikeln und Reportagen zwischen 1919 und 1944 nie aus dem Blick verlor. Die ›Wahrheit‹ daran – weil das ein starkes Stück ist, so zu argumentieren –, das ist das Maß der Zusammenhänge, mit denen er Europas Zeitgeschichte fasste, wie es kaum einer tat, jedenfalls nicht, wie er es tat.

Mit der Erfahrung einer langen Reise durch das bolschewistische Russland im Jahr 1928, die ihn eingangs durch das Deutschland der Weimarer Republik führte, kehrte er 1933 für eine Reportage über das Leben unter faschistischen Regimen nach Deutschland zurück, um anschließend nach Italien weiterzureisen, wo er bereits 1928 im Rahmen der 26 Teile umfassenden Reportage Flugreise nach Europa Etappe gemacht hatte. „Als ich nach Moskau reiste und bei meiner Rückkehr berichtete, dass die Russen schlecht leben und eine Diktatur unterstützen, die ihnen vortäuscht, zu herrschen, beglückwünschte mich mein Chef mit ein paar gutmeinenden Klapsen auf die Schulter“, schrieb er 1937, schon im Pariser Exil, und weiter: „Als ich nach meiner Rückkehr aus Rom [1933] versicherte, dass der Faschismus die Brotration eines Italieners um kein zusätzliches Gramm vergrößerte und er auch dessen moralischen Werte nicht zu mehren wisse, war mein Chef unzufrieden mit mir und zweifelte, ob ich überhaupt ein guter Journalist sei; dennoch habe ich, ob es seiner Kaste gefiel oder nicht, ob Lobhudelei zuwider und der Zensur zum Trotz, meine Wahrheit des liberalen Intellektuellen, des Bürgers einer demokratischen und parlamentarischen Republik durchgebracht.“

Wenn ich hier also ›Wahrheit‹ schrieb, dann weil es aus diesem Zitat stammt. Er war ein europäischer Journalist, wie groß letztendlich, das sei den Feuilletons und Lesern überlassen. Solange er überwiegend in Spanien publizierte – bis 1936 –, war sein Adressat die Leserschaft der liberalen Zeitungen und Illustrierten Spaniens. „Im Dienste der Industrie, die in den Händen der kapitalistischen Bourgeoisie lag, der Erbin der grundbesitzenden Aristokratie, die in meinem Land traditionell das Monopol auf die Produktions- und Tauschmittel besaßen – wie die Marxisten sie nennen –, verdiente ich als intellektueller Arbeiter mein Brot und meine Freiheit in relativ guten Verhältnissen, indem ich Zeitungen herstellte und Artikel, Reportagen, Biografien, Erzählungen und Romane schrieb, womit ich die Hoffnung verband, den Geist meiner Landsleute zu beleben und bei ihnen das Interesse für die großen Zusammenhänge zu wecken.“ Seine Landsleute konnte er nicht mehr erreichen, als ihn sämtliche Fraktionen im Spanischen Bürgerkrieg, ob Faschisten, Kommunisten, Anarchisten als „perfekt erschießungswürdig“ (Pilar Chaves) ausschrieben und seine Rotationsmaschinen sich nur noch kurz im Dienst der Republik drehten: „Als der Bürgerkrieg ausbrach, blieb ich auf meinem Posten und erfüllte meine beruflichen Aufgaben. Ein Arbeiterrat, der sich aus Delegierten der Werkstätten zusammensetzte, enteignete den Eigentümer des Zeitungsunternehmens, für das ich arbeitete, und setzte seine Funktionäre ein. Ich, der ich im Leben weder Revolutionär war, noch mit der Diktatur des Proletariats sympathisierte, fand mich plötzlich inmitten eines sowjetischen Regimes. Ich stellte mich also in den Dienst der Arbeiterschaft, wie ich früher den Befehlen der Kapitalisten folgte, in anderen Worten, loyal ihnen gegenüber und mir. Ich ließ meine fehlende revolutionäre Überzeugung und meinen Protest gegen jede Art von Diktatur, einschließlich der des Proletariats, durchblicken und fühlte mich einzig dazu verpflichtet, die Sache des Volkes gegen den Faschismus und die aufständischen Militärs zu verteidigen. Ich wurde »Kamerad Direktor« und kann behaupten, dass mich während der Kriegsmonate, die ich in Madrid an der Spitze eines regierungstreuen Blattes verbrachte, das die höchste Auflage der republikanischen Presse erzielte, niemand wegen meines mangelnden revolutionären Geistes belästigte, oder wegen meines Auftretens als »liberaler Kleinbürger«, das ich nie ablegen werde.“

Bis die Rotationsmaschinen stillstanden.

Danach, als er nicht mehr in Spanien publizieren konnte respektive nicht aufgelegt wurde, nutzte er sein bewunderungswürdiges Netzwerk, um als einer der berühmtesten Journalisten seiner Zeit weltweit seine journalistischen und erzählerischen Texte zu publizieren: sie erschienen in Neuseeland, England, Kanada, USA, Mexiko, Chile, Argentinien, Kuba und auch Frankreich, solange dies dort möglich war. Im Falle Spaniens dauerte es bis zur Wiederentdeckung der Werke bis in die 1990er Jahre. Der Bann, der auf Chaves Nogales’ Namen lag und der von Spaniens Diktator Franco auferlegt wurde, hielt sich lange, bis er schließlich brach. Das Verbot seines Namens unter Franco mag der plausibelste Grund dafür sein, warum wir ihn erst jetzt lesen und fast vor einer leeren „kleinbürgerlichen, liberalen“ Biografie stehen, die sich auf einzigartige Weise selbst schrieb, als Europa vom kriegerischen Wettstreit der Totalitarismen zerrissen und in Brand gesetzt wurde. Ein Krieg, in dessen Schatten die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verübt wurden und die Totalitarismen alles taten, um den liberalen Geist zu ersticken.

Man wird sich vielleicht fragen, wie sich eine Biografie selbst schreiben kann. Die Biografie des Manuel Chaves Nogales speist sich einzig aus den von ihm selbst generierten Fakten. Sie entsteht vor den Augen der Leserschaft aus seiner Arbeit. In seinem Werk lassen sich nur wenige Details aus seinem Privatleben finden. Gewiss ist seine Haltung, aber sie ist an persönlichen Details einer Biografie eines Intellektuellen auch deshalb heute so arm, weil er sie selbst selten zum Gegenstand machte und sich nach seinem Verschwinden in den Wirren der Zeit niemand seiner erinnerte – oder erinnern wollte. Im Zusammenhang mit der Herausgabe der vorliegenden Reportage haben wir zum Beispiel mit den Rechtenachfolgern des Fotografen, der Chaves Nogales über Jahre wie ein Schatten begleitet hat, Kontakt aufgenommen und mussten erfahren, dass zwischen dem Fotografen Gerardo Contreras und einem Chaves Nogales „keine Verbindung“ bestanden hat. Besagter Contreras machte in den 1950er Jahren in Madrid Karriere, als er in der Bar von Perico Chicote, dem berühmtesten barman Spaniens, sämtliche Hollywoodstars ablichtete. Dieser Perico Chicote war in den 1930er Jahren bei Manuel Chaves Nogales angestellt und servierte seinem Chef Cocktails. Einer der heute noch bekannten Namen verirrte sich ebenfalls an der Bar, wenn er Chaves Nogales in der Redaktion aufsuchte: Miguel de Unamuno.

Wie es gelang, zu Lebzeiten so berühmt zu sein und dann, nach fünfzig und mehr Jahren „perfekter Vergessenheit“ wie ein Phönix aufzufliegen, das liegt in seinem Journalismus begründet, den er so modern fasste wie kaum einer auf dem Kontinent. Das wird nach und nach deutlich, und die Riege der großen Schriftsteller unserer Gegenwart, die sein Werk unweigerlich entdecken, bestätigen seinen Ausnahmerang. Javier Marías ist einer der Dichter, die ihn in den Pantheon heben und findet gar, dass die Bewunderung, die ihm das spanische Volk entgegenbringt, weit höher anzusiedeln sei. Das Phänomen seiner Berühmtheit ist leicht erklärt, von ihm selbst: „Ich habe nicht beabsichtigt, den Cavia-Preis als Schriftsteller zu gewinnen, sondern als Journalist. Ich habe die Arbeit eines Journalisten erledigt, und die kann ein Laie nur schwer erledigen. Für die Leute gibt es nur den Literaten, der in den Zeitungen schreibt, (…) und den Nicht-Literaten, den Reporter, eine Art Ungebildeten, der Nachrichten überbringt. Das ist nicht nur die Meinung einer gleichgültigen Leserschaft, sondern auch die von Männern wie [Pío] Barroja, die vor nicht allzu langer Zeit diese ungerechte Einteilung in Schreibtischjournalisten und Fußjournalisten vornahm. Das mag vor zwanzig Jahren im Journalismus der Fall gewesen sein, als in den Nachrichtenredaktionen Literatoiden und Politoiden den Takt angaben, die Akademiker oder Generaldirektoren werden wollten, ohne das Zeug dafür zu haben, die sich durch die tägliche Redaktionsarbeit lavierten, unterstützt von ein paar armen Teufeln, die die Seiten mit aufgeschnappten Nachrichten füllten, die zudem in wahrlich abscheulicher Prosa geschrieben waren, wofür sie ein Gehalt von fünfzehn Duros im Monat erhielten. Der Journalismus funktioniert heute anders.“ Was Chaves Nogales vor Augen hatte, war das literarische Genre der Reportage.

Ohne die erwartbaren Korrespondenzen, ohne jegliche Erwähnungen vonseiten prominenter Weggefährten eröffnet sich Chaves’ Biografie. Was er an seine spanische und internationale Leserschaft adressierte, waren in brillanter Prosa verbaute Fakten und (heute gültige) Wahrheiten, die einen Journalismus neu prägten, dessen Erfindung man immer Truman Capote zuschrieb und den New Journalism (Norman Mailer, Tom Wolfe) beeinflusste. In verblüffender Luzidität erzeugte er Zusammenhänge, an deren Gewinnung er seine Leserschaft teilhaben ließ. Er kommentierte sich in seine Reportagen hinein und verwickelte die Leserschaft in seine Analysen voller Ironie und bisweilen zynischem Humor. Ein herausragendes Beispiel seines subjektiven Stils als Journalist sind im vorliegenden Buch die Reportagen aus dem Arbeitslager im Schwarzwald und vor allem sein Interview mit dem Reichspropagandaministers Joseph Goebbels, das trotz seiner Kürze geradezu eine Lehrstunde des journalistischen Ethos darstellt. In Besuch in einem Lager für »Arbeitsfreiwillige« verwendet er einen glasklaren Prosastil und bleibt doch dokumentarisch; er schaffte es, zwei sich gegenüberstehende Systeme anhand ihrer journalistischen Stile zu vergleichen. Ob für Russland, Frankreich, Spanien, Italien oder eben Deutschland bringt er sich als historische Quelle ins Spiel. Die Schlussfolgerungen erweisen sich rückblickend als streitbar – ›Aktenzeichen Chaves‹. Und seit er mit seinen Reportagen in den Fokus gerät, ist ihre Faktizität nicht mehr von seinem Urheber zu trennen: ecce homo.

Verglichen wird Chaves häufig. Nicht ich als Übersetzer, Herausgeber, Verleger und Autor dieser Einführung, die mich aufgrund ihres Kerns, eine Einführung in die Reportage Deutschland im Zeichen des Hakenkreuzes sein zu wollen, ganz schön ins Schwitzen bringt, vergleiche Chaves Nogales. Egal, wo er sichtbar wird, ob als Quelle zu Russland und dem Bolschewismus; ob als Chronist Spaniens in Hunderten Artikeln aus allen Regionen seines Landes; ob als Analyst der Agonie Frankreichs; ob als Biograf; ob als Autor des vermutlich wahrhaftigsten Buches, das zum Stierkampf je geschrieben wurde oder als Prosaist und „liberaler Journalist“ in Nazi-Deutschland: Es sind die Autor:innen in den Feuilletons, die ihn mit den größten literarischen Stimmen und großen Essayisten vergleichen, um ihn fassen zu können und ihn damit der Leserschaft zu eröffnen: George Orwell, Albert Camus, Antoine de Saint-Exupéry, Ernest Hemingway, Truman Capote, Norman Mailer und Tom Wolfe wurden schon erwähnt, Karl Popper, Hans A. Krebs, Victor Klemperer, Marc Bloch, die Brüder Ortega y Gasset, Ilja Ehrenburg, John Dos Passos, André Gide, Elias Canetti, Edward Estlin Cummings, Leo Perutz, Ramón J. Sender, John Reed, Isaak Babel, Stendhal, Lion Feuchtwanger, Egon Erwin Kisch, Erich Maria Remarque, Josep Pla, Eugeni Xammar.

Heute lebt man in Spanien glücklicherweise in einer Gesellschaft, in der man nicht mehr für die Standpunkte an die Wand gestellt wird und Chaves Nogales überrascht vor allem deshalb, weil seine Texte ›Wahrheiten‹ bereithalten, die, so bitter sie sind, eine Leichtigkeit besitzen, nie ihre stilistische Brillanz einbüßen und doch manifest sind. Es ist erstaunlich, dass Journalisten Chaves Nogales kaum für sich entdeckt haben. Spaniens Intelligenzia, die Manuel Chaves Nogales Hunderte Feuilletons widmete, befindet sich heute noch in einer Schockstarre, seit sie nicht mehr umhinkommen, ihn wie einen neuen Aconcagua zu sehen. Das ganze Zitat von Antonio Muñoz Molina ist lesenswert: „Chaves passt sich keiner politischen Orthodoxie an. Natürlich passt er nicht in die Strategie, die Francos Andenken aufrechterhalten will; aber genauso wenig passt er in die Strategie antifranquistischer Gedenkkultur. Ich vermag das einzuschätzen, denn ich gehöre der Generation an, deren politisches Bewusstsein mit dem Ende der Diktatur erwachte. Als ich etwa siebzehn Jahre alt war und ich mich meiner literarischen Berufung und meines politischen Antifranquismus bewusstwurde, waren die Diskurse, die mich und die meisten anderen nährten, meilenweit von Chaves Nogales entfernt. Aus einem Grund – und dies ist in Spanien immer noch schwierig auszusprechen und zu akzeptieren –, weil wir zwar Antifranquisten aber keine Demokraten waren. (…) Chaves’ Entdeckung vergleiche ich mit der Joseph Roths oder Stefan Zweigs: Sie stehen außerhalb ideologischer Kategorien.

Ein weiterer Autor, den Nogales’ Schicksal traf, ist Camus. Auch er war zu Lebzeiten von denjenigen, die eigentlich seine Freunde waren, wie eine Pestbeule angefeindet worden, weil er sich zwischen Kommunismus und Progressismus nicht identifizierbar machte. Von sehr wenigen Menschen kann man sagen, er habe die literarische Landkarte seines Landes vergrößert. Als sei da plötzlich in den Anden ein Berg mehr: Don Quijote, Madame Bovary, die Recherche und einer, den wir noch nicht gesehen haben, direkt neben dem Aconcagua noch ein Aconcagua.“

Es wird diese Schockstarre sein, die Spaniens Dichter:innen davon abhält, den antifaschistischen Heroismus weiterzufeiern oder ihn gar in ihren Werken zu lokalisieren, die ja nicht mehr zurückzunehmen sind, deshalb das Wort ›desavouieren‹.

Dies wäre die Stelle, an der einer der entblößendsten Skandale des spanischen und katalanischen literarischen Journalismus in Deutschland erzählt werden könnte, der enorm viel über Manuel Chaves Nogales aussagt, obwohl er überhaupt nicht darin verwickelt war. Die Protagonisten dieser Affäre sind Josep Pla und Eugeni Xammar. Zwei Autoren, mit denen Chaves Nogales naheliegend verglichen wird und die auch auf Deutsch vorliegen. Die Affäre dürfen Sie nun gerne ab Seite 29 nachlesen, sie wird Chaves Nogales abermals als glaubwürdige journalistische Stimme erscheinen lassen.

Der Kontrast verschärft sich, liest man im hier vorliegenden Buch das tatsächliche Interview, das Chaves Nogales mit Joseph Goebbels im Mai 1933 führte (S. 97). Dieses äußerst reale Interview brachte ihn auf die Todesliste der Gestapo, und als Chaves Nogales 1940 das zweite Mal geflohen war – der Einmarsch der Nazis in sein Exil, Paris, stand stündlich bevor –, pochte laut Zeugnis seiner Tochter, Pilar Chaves Jons, die Gestapo tatsächlich bald an die Tür.

Chaves Nogales hatte Goebbels beleidigt. Gleichaltrig, so muss ihn Chaves Nogales verstanden haben, gingen sie einst mit derselben Passion ihrem Beruf des Journalisten nach, er, sich seines Talents und Ruhms bewusst und während der Zweiten Spanischen Republik im Wettbewerb des Nachrichtenmarkts stehend; Goebbels dagegen ein Aufschneider, ein propagandistischer Ziseleur, der in jedem Satz seine Verachtung der freien Presse ausdrückt und mit den Konzepten »Propaganda« und »Wahrheit« umgeht, als stünden sie ihm wie Instrumente alternativer Fakten zur Verfügung.

Die Kritik an diesem Hetzer brachte den Journalisten auf die Todesliste der Gestapo. Und wenn er nicht nach England entkommen wäre, „hätte die Gestapo in Spanien auf ihn gelauert“. Folgt man der Aussage Pilars, war die Familie dabei, auf Geheiß des Vaters, alle auffindbaren Manuskripte zu verbrennen. Die Familie, das waren, neben Pilar seine zweite Tochter, Josefina, sowie Chaves Nogales’ Frau, Ana Pérez Ruiz, die zu diesem Zeitpunkt mit der Tochter Juncal hochschwanger war, die der Vater nie kennenlernte. Manuel Chaves Nogales entkam mit einem Torpedobootzerstörer und gelangte nach London. Hier eine Schilderung seiner Flucht, eine Fortsetzung, quasi als Europa im Zeichen des Hakenkreuzes lesbar, ein etwas längerer Auszug aus Die Agonie Frankreichs: