Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Legende nach soll der seinerzeit weltberühmte Torero Juan Belmonte eines Tages in Chaves Nogales' Büro getreten sein, um ihn, den brillantesten Journalisten seiner Zeit, zu bitten, seine Biografie zu schreiben. Chaves Nogales aber hatte noch nie einen Stierkampf gesehen – und würde auch keinen anschauen. Was ihm dann mit dem vorliegenden Buch – der fiktiven Autobiografie des Stiertöters – gelang, ist ein literarisches Husarenstück im Stile James Boswells Dr. Samuel Johnson. Leben und Meinungen. Das Buch war gleich nach Erscheinen so erfolgreich, dass der wahre Autor dahinter für lange Zeit in Vergessenheit geriet. Nogales, der als einer der letzten großen Liberalen auf den Todeslisten der Faschisten wie der Kommunisten stand, überschritt damit alle Genregrenzen und schuf das vielleicht bedeutendste Buch über den Stierkampf. Die Biografie des Stiertöters Juan Belmonte enthält neben der bunten Schilderung seiner Heldentaten einen glänzenden Essay über den Stierkampf, den Nogales seinem Belmonte unterschob und in dem er mit Begeisterung und Abscheu all unsere banalen Irrtümer über den inzwischen historisch geworden Stierkampf ausräumt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 502
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Manuel Chaves Nogales
Herausgegeben und aus dem andalusischen Spanisch übersetzt von Frank Henseleit
Friedenauer Presse
Juan Belmonte. Stiertöter
1. Ein Junge in einer Straße in Sevilla
2. Die Löwenjäger
3. Der Weg des Torero
4. Anarchie und Hierarchie
5. Heldentat von Tablada
6. Als ich auf der Straße bettelte
7. Banderillas a »porta gayola«
8. »Wenn ich doch keine Angst habe!«
9. Die Liebe und die Ochsen
10. Viva Belmonte!
11. Freud und Leid des Ruhmes!
12. »Juanito, was dir noch fehlt, ist dein Tod auf der plaza.«
13. In Mexiko sind alle verrückt
14. Wie sich Frauen in Toreros verlieben
15. Der Aberglaube des Stierkämpfers
16. Die Furcht des Stierkämpfers
17. Der spektakulärste Nachmittag meiner Laufbahn
18. Fünfzehn Toreros umrunden die Welt
19. Mit Juan Vicente Gómez in Venezuela
20. »Weder Joselito noch mich tötete ein Stier«
21. Joselito
22. Ein Landgut, etwas Schatten …
23. Mein Talisman
24. Der Torero und das Ambiente
25. Eine Theorie des Stierkampfs
Ein Nachwort
Juan ist noch ein schreckhafter Junge, aber wenn er an den Nachmittagen mit seinem geflickten, sauberen Lätzchen um den Hals in der Haustür erscheint – einen Schokoladentaler und eine dunkle Brotkante zum Kauen in der Faust – und dem bunten Treiben von der kühlen Warte des Hauseingangs zuschaut, spürt er die Anziehungskraft dieses Spektakels der Welt. Zögernd dort auf der Schwelle kann er sich nicht durchringen, auf den Gehweg zu springen, und als er sich nach einer Weile doch überwindet, in das Abenteuer der Straße einzutauchen, bleibt er dennoch der schüchterne Juan, der kaum seinen Kopf hebt und sich eng an die Häuserwände drückt, keinen Laut von sich gibt und mit ängstlichen Augen zur Seite schielt.
Juan ist ein klitzekleines Ding und die Straße im Vergleich dazu ein viel zu großer, polternder, rastloser Platz. Eine Straße, so groß und so rastlos wie der ganze Planet. Juan versteht nichts von der Welt, was Wahrheit ist, bestimmt seine Lust, und die trägt ihm auf, herumzustromern; Hüter über eine Straße zu sein, ist so schwierig, wie Herrscher über die Welt zu sein. Solche Kinder, die sich nicht vor Straßen wie dieser scheuen, können an jedem beliebigen Tag die Herrschaft der Welt übernehmen. Auf der ganzen Welt findet sich nichts, was nicht in dieser Juan gehörenden Straße existiert; kein größeres Durcheinander, keine schlimmeren Feinde, keine lauernderen Gefahren, als hier.
Juan lebt in einem Haus an der Calle Ancha de la Feria – das Haus mit dem Zeichen ›72‹, in welchem er zur Welt kam.
In der Calle Ancha de la Feria auf die Welt zu kommen und sich der Menschheit gegenüberzusehen, die gegen sie anbrandet, hat noch keinem geschadet, der soeben noch auf allen vieren kroch und die Hände in die Luft hob für die ersten Schritte ins Leben. Sich dieser Brandung mit blanker Brust entgegenzustellen ist ein wahrlich heldenhaftes Unterfangen, das für den Rest des Lebens Juans Charakter prägen und seine außerordentliche Bedeutung bewahren wird, denn unvermittelt eröffnete die Straße dem kleinen Neuankömmling eine vollkommene Synthese des Universums.
Die Sevillaner, die viel auf ihre Herkunft geben, verweisen gerne auf die Bedeutung, in der Calle Ancha de la Feria das Licht der Welt erblickt zu haben, und betonen dies bei jeder Gelegenheit. Nicht anders dürfte es geklungen haben, wenn man sich seiner attischen Herkunft rühmte oder schwor, man sei bei der Geburt von Wilden umzingelt gewesen. Was die Sevillaner aber nicht kennen – selbst wenn man es ihnen erzählte –, ist die kaum geringere Bedeutung, in einer der fünfzehn, vielleicht zwanzig – mehr gibt es nicht – vergleichbaren Straßen geboren zu werden, die nicht die Calle Ancha de la Feria sind. Solche Straßen findet man in Paris, bei Les Halles, in vier oder fünf Städten Italiens, Neapel vorweg, oder vielleicht noch in Moskau, dort, wo der Smolensker Markt liegt. Fünfzehn, höchstens zwanzig weitere auf der ganzen Welt. Auch wenn der Sevillaner das nicht wahrhaben will.
Solche privilegierten Straßen stellen das geeignete Umfeld für das Heranreifen einer bedeutenden Persönlichkeit dar und bilden das Klima, in dem ein Mann das erreicht, was ein Mann überhaupt erreichen kann. Wie durch ein Wunder prosperieren sie viele Jahrhunderte hindurch ohne erkennbare Anzeichen einer Abnutzung; in die Jahre gekommen, zeigen sie ihr Alter nicht; das Geschehene unvergesslich vereinnahmt, pulsieren sie im fiebernden Moment einer permanenten Aktualität, die mit der Rastlosigkeit des Stundenzuges nie stillsteht; jede Generation verlangt ihnen, wie in einer Erbfolge, eine einschneidende Erneuerung ab; auf die Lehmwand des Konvents folgen die festen Mauern der Fabrik, der Sattler überlässt seinen Standort dem Teilehändler von Ford oder Citroën, in den Innenhöfen der alten Gasthäuser werden Filme vorgeführt, und auf der Pflasterstraße, wo früher die Kaleschen heranpreschten, suchen sich heute Taxis ihren Weg durch das Gewimmel. Diese unaufhörliche Evolution lässt sie aufgrund der täglichen Reibereien der Anachronismen und Widerstände chaotisch erscheinen. Kaum hat sich ein berühmtes englisches Tuchgeschäft etabliert, lässt sich ein Trödler nebenan nieder; der altertümliche Schreiber ist noch nicht ganz abgetreten, schon trachtet der öffentliche Fernsprecher nach seinem Leben; gleich neben der Hermandad del Santísimo Cristo de las Llegas liegt das Büro der marxistischen Gewerkschaft; kurz nach dem endgültigen Ruin des Grundstückmaklers kommt eine Bank und will an der Stelle seines versteigerten Hauses eine Filiale hochziehen; die Eisenwarenhändler mit ihren kleinen rollenden Geschäften schimpfen über die hinderlichen Straßenbahnschienen; die Handkarren der tapfersten Marktschreier behindern mit ihrem schwerfälligen Vorankommen die Autos, die völlig zwecklos hinter ihnen hupen; die Vogelhändler richten sich an den Straßenmündungen ein und hängen die Wände mit ihren Käfigen zu; die Antiquare und Vignettenhändler tapezieren die Gehwege mit ihren Ständen; die Tavernenbesitzer zerren ihre Marmortische und Klappstühle auf die Straße; in den Ecken stehen Gruppen arbeitsloser Landarbeiter und Maurer, die demoralisiert die ersten Sonnenstrahlen auffangen, und junge Faulenzer und Angeber trinken Kaffee mit Brandwein aus Gläsern; Buben raufen sich und führen Steine werfend ihre Bandenkriege, die Alten grummeln, die Mädchen prahlen, die Klatschweiber zanken sich, die Hunde umschleichen die Tür der Metzgerei, und das schmutzige und übel riechende Wasser fließt in Rinnsalen über die Straße. Alles dort ist pochendes, gebendes und nehmendes Leben, Sevillas Simultaneität zu Paris, zu Neapel und zu Moskau.
Die Straße ist der wahre Schmelztiegel der Welt. Was der Junge in seiner tumulthaften Welt wie intuitiv erlernt, würde einem Heranwachsenden aus den Außenbezirken oder der entlegenen, ehrwürdigen Gartenstadt, der davon träumt, einst erwachsen zu sein, unverhältnismäßig mehr Zeit kosten. Die Jungs, die in diesen Straßen aufwachsen, irren sich selten, machen sich früh ein ziemlich konkretes Bild von der Welt, wissen die Dinge einzuordnen, sind gewarnt und unerschrocken. Sie werden an der Welt nicht zerschellen.
Der Erstgeborene des Eisenwarenhändlers ist ein kränkliches und auffallend hübsches Kind. Er ist in diesen Kindertagen eine einzige Schreckhaftigkeit, nichts als Ängstlichkeit, eines dieser verhätschelten Kleinkinder, die sklavisch darauf achten, dass ihnen nicht die Strümpfe runterrutschen und ihr Kinderanzug nicht zu sehr verschmutzt. Wenn es sich in das heldenhafte Abenteuer der Straße stürzt, erstarren seine Augen im schreckhaften Geradeausblick: »Von welcher Seite wird der Schlag kommen?«, fragt es sich verängstigt. »Welcher Wagen wird mich beim Vorbeifahren mit Schlamm einsauen? Welcher von diesen verdammten Strolchen wird mich herausfordern? Von welcher Seite kommen die wehtuenden Steine angeflogen oder der demütigende Schlammklumpen? Welcher dieser übellaunigen Hunde wird seine Zähne in meiner Wade verbeißen? Welcher von diesen argwöhnischen Pferdehändlern wird mich rüde anfassen?« Der kleine Juan fürchtet all dies und vieles mehr; er fürchtet die unwirtliche Welt, die ihn bedroht, und gleichzeitig zieht sie ihn an.
Einmal in der Woche, an den Donnerstagen, baut sich mitten auf der Fahrbahn vor dem Haus ein malerischer Markt auf, ein marokkanischer Souk würde dagegen erblassen. Die fliegenden Händler aus ganz Sevilla kommen heran und verkaufen Papier, Bücher, Steingut, altes Eisenzeug; aus den Bergen kommen die Piñoneros mit ihren geernteten Pinienkernen in die Stadt, die Gemüsebauern kommen von den Auen mit ihren Mispeln und Artischocken. An den Donnerstagen kann man auch getrocknete Kichererbsen, Sonnenblumenkerne, weiche Haselnüsse, Palmherzen, Kinderzigaretten aus Kakao und köstliche rötliche Fische und Hähne als Bonbons kaufen. Der Donnerstag ist für Juan der Tag der Straße. Um die Markstände scharwenzeln ist für die Kinderschar das Größte. Aus dem ganzen Viertel kommen die Gossenjungen und schleichen wie die Aale zwischen all den gewieften Händlern und Käufern umher. Juan schlüpft, wann immer er die Gelegenheit sieht, zur Tür heraus und läuft zu ihnen, fröhlich aber auch ein wenig scheu.
Juans Großvater hat in der Calle Ancha de la Feria einen kleinen Laden mit Eisenwaren, der, wenn die Zeit nicht stehen bleibt, einst seinem Vater und seinem Onkel gehören wird. Es ist ein kleines, bescheidenes Geschäft, das solide geführt wird und ein Leben in guten Verhältnissen erlaubt. Juans Mutter, die alles mit dem Stolz eines wohlhabenden Handwerkbetriebs betrachtete, gemahnt ihren Sohn, wenn sie ihm das Gesicht und die Ohren abreibt und ihm die schwarzen Wollsocken stramm über die Knie hochzieht, nicht ohne eine gewisse Eitelkeit:
»Juan, lass dich nicht mit diesen Rabauken von der Straße ein. Du wirst nichts Gescheites lernen.«
Aber Juan brennt darauf, alles zu kennen, was diese »Rabauken von der Straße« längst wissen. Er will nur wie sie sein! Wie er sie bewundert! Mit welchem Enthusiasmus er beobachtet, wie sie einen Angriff mit Steinen planen oder um die Stände mäandern, um sich eine Handvoll Pinienkerne zu stibitzen! Mit welch blindem und heroischen Mut er ihnen auf ihren Streifzügen hinterhereilt, auch wenn für ihn, den Schüchternen und Wortkargen, weniger Gewieften, weniger Rüden am Ende nur die Tracht Prügel bleibt, die sie verdient hätten! Wie er immerzu in ihre Falle tappt! Juan kehrt von diesen Streifzügen reichlich demoliert zurück, voller Flecken, mit brummendem Schädel, mit vor Furcht pochendem Herzen, mit glühenden Augen. Wenn man ihn in der Eisenwarenhandlung antrifft, wie er neben seiner Mutter steht, der reinliche, niedliche Junge, mag sich keiner sein zweites, abenteuerliches und heldenhaftes Leben vorstellen.
»Wie wohlerzogen Ihr Sohn ist!«, schmeichelt eine Nachbarin Juans Mutter gegenüber.
»Ein Teufel ist er«, protestiert die Mutter mit übertriebener Herzlichkeit. »Niemand ahnt, welchen Kummer uns diese kleine Mücke bereitet!«
Juan erzählt, dass sein frühestes erinnertes Erlebnis Esparteros Tod gewesen sei. Er sei damals gerade etwas älter als zwei Jahre gewesen. Hat er dieses Ereignis damals wirklich mitbekommen oder meint er nach den häufigen Schilderungen aufrichtig, sich daran zu erinnern? Dieser Irrtum kommt nicht selten vor; eine – was nicht abzustreiten ist – früheste Erinnerung existiert, sie kann uns ein Ereignis wie eine Szene in Erinnerung rufen oder nur ein Streifbild, das sich lange, bevor unsere Empathie erwacht, einbrannte.
Juan besteht darauf, sich an Esparteros Tod erinnern zu können und wühlt – spürbar mit seiner eigenen Biografie verstrickt – in seinen Erinnerungen:
»Ich war damals so unbedarft wie nur irgendwas. Aus dem Reich ohne Gedanken, in dem ich damals lebte, ziehe ich dieses Ereignis als authentische Erinnerung hervor. Ich stehe hoch oben auf einem Kutschbock, diese neue Erfahrung hat meine Sinne, die noch den Schlaf eines Kindes schliefen, wachgerüttelt. Jemand näherte sich und sagte: ›Ein Stier hat Espartero getötet.‹ Ich wusste damals nicht, was ein Stier ist, wer Espartero war, und schon gar nicht, was der Tod ist. Aber diese Worte und vor allem ihre zerstörerische Wirkung, die Auflösung, die sie bei mir verursachten, die Verlassenheit, die Einsamkeit, in die sie mich plötzlich rissen, prägten sich für alle Zeiten bei mir ein.«
Es fällt nicht schwer, die Szene zu rekonstruieren. An diesem Sonntagnachmittag hatte Juans Familie ein Fuhrwerk für eine geschäftliche Ausfahrt in die Vororte gemietet. Den Jungen setzen sie zum Kutscher auf den Bock. »Schau, Juan, schau doch, das Pferdchen«, sagt jemand, um seine Aufmerksamkeit zu lenken. »Hüa, Pferdchen, hüa!« Der Junge ist heiter und klatscht vor Freude in die Hände. Langsam neigt sich dieser milde und fröhliche Tag dem Ende zu. Langsam fährt die Kutsche die Calle Ancha de la Feria hinauf, und der kleine Junge sitzt immer noch mit auf dem Kutschbock, das Panorama der Welt vor seinen weit aufgerissenen blauen Augen. Beim Anzurren vor dem Hauseingang nähert sich hastig ein Freund: »Habt ihr nicht gehört?« fragt er, »ein Stier hat Espartero einen Stoß mit den Hörnern versetzt und ihn getötet.« Große Aufregung. Alle springen sogleich von der Kutsche, um Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Der Junge bleibt hoch oben auf dem Kutschbock alleine zurück, und wie er sich dort verlassen fühlt, formuliert er die erste Frage in seinem Leben. Was ist geschehen? »Ein Stier hat Espartero getötet.« – »Ein Stier hat Espartero getötet«, der Satz hallt nach wie ein Echo, und er versteht ihn nicht. Er weiß nur, dass sie ihn dort oben auf dem Kutschbock allein zurückgelassen haben, zusammen mit dem erschöpften Pferdchen vor ihm, das müde seinen Schwanz bewegt und hin und wieder mit seinem Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster kratzt. Es wird dunkel. Die erschütterten Leute stehen auf den Bürgersteigen in Grüppchen beieinander. Juans Vater hat sich einem dieser schnatternden Grüppchen angeschlossen. Acht, vielleicht zehn Männer lesen beim Schein der Gasflamme, die der Laternenanzünder mit einem langen Stab entzündet hat, mühselig von einem Blatt ab. Auch die Frauen stehen vor den Hauseingängen zu mehreren beieinander. Und niemand erinnert sich an den Jungen, der dort, hoch oben auf dem Kutschbock, allein zurückgeblieben ist. »Ein Stier hat Espartero getötet.« Juan schaut ängstlich umher. Die ganze Straße ist seltsam traurig. Den Jungen beschleicht auf seinem Aussichtsturm das Gefühl, der Tod des Espartero müsse in der Straße geschehen sein, und ohne zu wissen warum, bekommt er es mit der Angst. Er überlegt zu weinen, und schließlich weint er. Ein Stier hat Espartero getötet!
Der erste eigene Eindruck in Juans Leben hat authentische Züge. Bestätigend und wie kostümiert wiederholt er sich bei dem pompösen Trauermarsch, mit dem Sevilla den Tod des Stierkämpfers inszeniert. Dem Trauermarsch folgten die wehklagenden Tanguillos, die immerzu von Neuem anstimmten:
Vier Pferde zogen
den Wagen von Espartero …
Und die elegischen pasodobles:
Manuel García, »El Espartero«,
König
der Stierkämpfer …
Juans Kindheitsjahre sind besessen von diesem populären Kult des heroischen Endes des Stierkämpfers. Dessen Tod ist das bedeutendste Ereignis für den jungen Juan. Jahre später, als Juan versteht, was um ihn herum geschieht, besingen die Mädchen in kleinen Chören, die sich bei Sonnenuntergang auf den versteckten, kleinen Plätzen formieren, diesen ruhmreichen Tod.
Juans Familie zog später in ein verwinkeltes Sträßlein das man über die Calle Hombre de Piedra erreicht, in die Calle Roelas. Die Außenmauer des Konvents der Heiligen Clara grenzte an die Straße, und die ganze Rasselbande des Viertels übte sich an der Kalkwand beim Klettern und hangelte sich bis an die Gitterrahmen vor den Fenstern, um die Nonnen mit ihren Pikanterien zu foppen.
Hässlich
sind die Nonnen des Konvents
der Heiligen Clara
Juan kletterte also mit den anderen Rabauken über die Klostermauer, um die Nonnen zu erschrecken. Eines Morgens baumelte ein Erhängter vor dieser Wand, übersät von herausgebrochenen Mauerstücken und gekrönt mit Stängeln der Mauersenfpflanze, auch als Rauke bekannt. Jemand malte mit roter Kreide ein großes Kreuz dorthin, wo der arme Kerl mit heraushängender Zunge baumelte, und von da an war die Mauer für die Rasselbande ein sakraler und verwunschener Ort.
Juan berichtet: »Nachts traute sich niemand mehr dort vorbei, keiner von uns Jungs hatte den Mut. Ich kann bis heute beim besten Willen nicht sagen, wie viel Angst uns dieses rote Kreuz und die Spuren an der Wand einjagten. Wenn am frühen Abend die Gebete einsetzten, spielte ich lieber auf der anderen Straßenseite, und für den Heimweg zog ich den Umweg um den Block vor. Manchmal stand ich wie mit angenagelten Füßen an der gegenüberliegenden Ecke des Konvents und stierte auf das rote Kreidekreuz, das vom müden Flackern einer Gaslampe beschienen wurde. Und wenn ich mich doch traute? Was würde mir dann zustoßen? Eines Abends traute ich mich. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte ich einen Fuß vor den anderen, und das Herz rutschte mir in die Hose. Ich kam ihm immer näher. Ich hörte meine Schritte wie lautes Dröhnen in dieser engen und stillen Straße! Ich dachte, ich sei ein ganzer Kerl. Kein Irrtum. Leise, ohne jedes Geräusch, und mit geballten Fäusten in den Hosentaschen, die Augen auf das Kreuz gerichtet, forderte ich es heraus. Ich atmete tief durch, als ich am anderen Ende ankam. Eine überwältigende Genugtuung meines Selbstvertrauens!
Ich hatte meine erste Heldentat vollbracht. Es klingt vielleicht grotesk, aber ich war zu keinem späteren Zeitpunkt stolzer auf mich als in dieser Nacht.«
Juan wurde ein verzogener Junge. Seine Streifzüge reichten inzwischen bis auf die Promenade La Alameda, dem Treffpunkt aller Kinderbanden dieses Viertels. An einem Ende thronte ein Palais, der im Volksmund »El Recreo« hieß, zu dessen Eingang eine Rampe führte und von einer Mauer flankiert wurde, auf deren gegenüberstehenden Schlusspfosten zwei kunstvolle Sphingen aus Bronze standen, die von den Sevillanern, aber keiner weiß, warum, die Sirenen genannt wurden. Was die Jungs an der La Alameda am meisten reizte, war, die Mauer zu bezwingen und auf ihrem Sims, das Gleichgewicht wahrend, bis zu den Sirenen zu balancieren, die in beachtlicher Höhe standen.
»Die Mutprobe«, berichtet Juan, »bestand darin, bis zu den Sirenen zu gelangen, auf ihren Rücken zu klettern und sie von hinten zu umarmen und ihre kalten und harten Brüste mit den Händen zu berühren. Einmal, als ich mit meinen kurzen Armen die bronzenen Brüste der Sirenen erreichen wollte, stürzte ich ab und schlug heftig mit dem Kopf auf. Sie brachten mich mit der blutenden Wunde ins Krankenhaus Casa de Socorro an der Plaza de San Lorenzo. Ein Arzthelfer, so aufgequollen, wie eine Madalena, saß auf der Plaza an der frischen Luft. Mit aller Seelenruhe nahm er seinen Stuhl, ließ von seiner Pfeife und seiner Zeitung und begann, mich zu verarzten.
»Das wird dir gleich sehr weh tun, Kleiner. Mal sehen, wie du dich schlägst«, sagte er in seinem natürlichen wie ernsten Tonfall, der mich vollständig besänftigte.
Mit seinen großen und fleischigen Fingern reinigte und nähte der Hilfsarzt die Wunde, ohne dass ich nur das geringste Mucksen hören ließ. Es war das erste Mal, dass ich spürte, wie Haut aufreißt, wie Fleisch schmerzt, wie Verbandsmull und Kompresse sich anfühlen. Es war nicht unangenehm. Ich denke heute noch immer mit einem seltsamen Wohlgefallen an diese schmerzhafte Verarztung zurück, an diesen gefühlskalten Arzthelfer und an diese besondere Zartheit des Nachmittags, die mir auffiel, als ich das hospital Casa de Socorro mit dem Verband um den Kopf verließ und auf die Plaza de San Lorenzo hinaustrat.
Den Heimweg erinnere ich als schmerzlich und blamierend. Die bevorstehende Leier wuchs mir schon zu den Ohren raus:
»Dieser Junge wird jeden Tag unerzogener!«
Zur Strafe schickten sie mich auf die Schule. Ein Strafvollzug. Anders kann man dieses verwahrloste Gebäude mit seinen schimmeligen und lichtlosen Räumen, mit seinen übellaunigen Lehrern, die zu keiner menschlichen Regung fähig waren, nicht bezeichnen. Es hieß, das Schulgebäude sei während der Inquisition ein Gefängnis gewesen, und es kursierte das Gerücht, dass in den Kellern noch die Folterinstrumente aus jener Zeit lägen. Alles in allem war diese Schule ein unheilvoller Ort. Ein jeder fürchtete sich, und wenn wir durch das Schultor, das kein Sonnenstrahl je erreicht hat, hineingingen, fürchteten wir uns, als beträten wir die Höhle des Löwen. Für die Lehrer waren wir so etwas wie feindselige und zu allem bereite Bestien in ihren Käfigen. Die allgegenwärtige Rute und die diffuse Heidenangst vor den fürchterlichen Terrorpraktiken der Inquisition, die wir uns ausmalten, bewirkten, dass wir uns bereitwillig in die harten Schulbänke zwängten. Einem Lehrer gefiel es einmal, einen Schüler aus heiterem Himmel zu malträtieren. Wir warfen ihm ein Tintenfass an den Kopf und rissen aus.
Ich ging keinen Tag länger zur Schule als zwischen meinem vierten und achten Lebensjahr. Sie hatten ihre Not, mir lesen und schreiben beizubringen, aber es hat etwas genützt. Und hier schließt meine akademische Bildung ab.
Damals lebten wir im Viertel Triana, in einem Haus nahe der Calle Castilla. Dort starb meine Mutter.
Ich habe keine besondere Erinnerung an sie, nur dass sie sehr jung und sehr hübsch war. Nachdem sie gestorben war, wurde sie von Nachbarinnen gewaschen, die ihr die Zöpfe öffneten und ihre große Haarpracht auf dem Kopfkissen auffächerten. Ich erinnere mich an das sanfte Gesicht meiner Mutter an diesem Tag und an ihr schwarzes Haar, das ihr über die spitzen Schultern bis auf den eingefallenen Brustkorb reichte. Das Totenbett wurde hinter einem Fensterchen errichtet, das auf einen schmalen Korridor hinausging, durch den sich einen Vormittag lang die ganze Nachbarschaft drängte, um sie zu beweinen. Sie waren wohl sehr ergriffen von ihrem Tod: So jung, so hübsch, wie sie da lag. Um einen Blick auf meine tote Mutter zu werfen, kamen die Weiber aus jedem Winkel des Viertels herbei, sie ließen ihre Arbeit ruhen und standen mit hochgekrempelten Ärmeln an dem Fensterchen, vor dem sie je zwei Schösslinge ablegten, ihren Tod beklagten und ihre prächtigen Haare bewunderten. Mich hatte man in eine hintere Ecke des Patios verbannt, und von dort aus sah ich, wie sie traurig hereinkamen und schluchzend fortgingen. Niemand kümmerte sich um mich. Wenn ich mich vorsichtig etwas näherte, schob mich ein Verwandter oder Nachbar sanft beiseite und sagte:
»Mach schon, Juan, geh auf die Straße und spiel ein bisschen mit den anderen.«
Als am Nachmittag die Beerdigung anstand, banden sie mir einen schwarzen Latz um und drängten mich zum Spielen auf die Straße. Auf Geheiß ihrer Mütter kamen ein paar Jungs und schlugen vor, dass wir uns den Ball zuwarfen. Während ich mit ihnen spielte, verfolgte ich im Augenwinkel die Vorbereitungen, das geschäftige, aber bedächtige Kommen und Gehen der Verwandten und Freunde. Eine tiefe Traurigkeit überkam mich, sowie sich der Tag neigte. Ich spielte mit meinen Freunden wie an jedem Tag, als sei nichts Besonderes, aber im Innern beklomm mich eine Bitternis, eine Trostlosigkeit, die ich zuvor nicht empfunden hatte. Ein Gefühl der Einsamkeit, der Leere, der Wertlosigkeit. Niemand kümmerte sich um mich. »Du, verschwinde hier, raus zu den andern«, hörte ich sie immer sagen, und da ich ihnen nichts entgegensetzen konnte, spielte ich. Und während mich das Spielen ablenkte, trugen Leute meine tote Mutter fort, und ich spürte diese mich zernagende Einsamkeit, in der mich alle zurückgelassen hatten, diese einschnürende, wortlose Buße eines Kindes, das begreift, aber nicht aus sich herauskann, diese trockenhalsige Weinerlichkeit, da sie mich übersahen, mich nicht behüteten, an diesem Begräbnistag, der, wie ich zu ahnen begann, der schwerste Tag meines Lebens sein sollte. Ihrer Intrige aufgesessen spielte ich Ballfangen, und werfend und fangend vergnügte ich mich bis Sonnenuntergang, bis mein Vater kam und mich an der Hand ins Haus zurückführte.
Allen Kindern, deren Mutter früh stirbt, wachsen schnell größere Aufgaben zu. Die Kindheit endete so abrupt wie das Thema Schule. Früh für erwachsen genug erklärt, steckten sie mich – oder ich tat es selbst – in den Eisenwarenladen, wo ich meinem Vater helfen sollte. Das Gebäude in der Calle de la Feria riss sich letzten Endes ein Onkel unter den Nagel. Er hatte den Erbteil meines Großvaters ausbezahlt, sodass mein Vater auf dem Marktplatz unseres Viertels Triana ein eigenes Geschäft eröffnen konnte. Eigentlich nicht mehr als einen Marktstand, den wir jeden Morgen aufbauen mussten. Sämtliche Böcke und Tischplatten sowie Kisten mit Waren wurden dafür auf den Platz geräumt. An den Donnerstagen bauten wir den Laden bis auf den letzten Rest ab, packten ihn auf einen Handkarren und zogen ihn zur Calle de la Feria. Ein anderer Onkel, der wie ich circa acht oder zehn Jahre alt war, half. War das ein Spaß, die Räder des Karrens in die Gleise der Elektrischen zu stellen und mit voller Fahrt die Straßen bergab zu schießen! Dieser Teil der Arbeit machte noch Spaß. Der reinste Horror für mich war indes, den ganzen Tag am Stand zu bleiben, vor allem: Das Verkaufen an sich.
Bevor mein Vater mich allein am Stand zurückließ, um in der Taverne an der Ecke ein Gläschen zu trinken, gab er mir kluge Ratschläge:
»Achte immer darauf, zu welchem Preis du verkaufst, lass dich nicht auf’s Feilschen ein, lass dich nicht drücken, prüfe die Münze, die sie dir geben, und vor allem achte auf die Hände der Algabeñas!«
Die Frauen aus La Algaba hatten den Ruf, auf dem Markt von Triana und bei den Ständen der Feria zu stehlen. Ich weiß nicht, ob zu Recht oder zu Unrecht, immerhin wurde ihnen eine ungeheure Flinkheit der Hände nachgesagt, mit denen sie die Gegenstände vor den Augen der naiven Händler verschwinden ließen. Derart vorgewarnt und von meinem Vater am Stand allein zurückgelassen, galt all meine Aufmerksamkeit diesen diebischen Langfingern aus La Algaba. Immer wenn eine von ihnen – die mir ihrer Kleidung oder des Akzents wegen aus La Algaba zu kommen schienen – sich dem Stand näherte, begann ich nervös zu werden. »Haben sie schon was mitgehen lassen?«, fragte ich mich ängstlich, sobald sie nur einen guten Tag wünschten. Aus einem einfachen Grund, weil es so unglaublich einfach war – und mein Vater machte sich da keinerlei Illusionen –, mich auch ohne diese Fingerfertigkeit zu bestehlen, zumal niemand Gefahr laufen musste, angezeigt zu werden, denn ich fühlte mich nicht in der Lage, jemanden des Diebstahls zu bezichtigen, selbst wenn man mir mit klobigen Händen die Nase aus dem Gesicht gestohlen hätte. Ich war damals fast krankhaft schüchtern; es gab nichts, dessen ich mir sicher war: Die Welt hielt mir damals viele Überraschungen parat und viel Wirrwarr; ich konnte Realität und Fantasie nicht wirklich unterscheiden und besaß so wenig Selbstvertrauen, dass ich nicht gewusst hätte, ob es zutraf, dass mir jemand etwas vom Stand weggestohlen haben könnte, aus schierer Angst, mir dessen nicht sicher zu sein. Und was, wenn ich eine Frau des Diebstahls bezichtigt hätte und sich hernach erwies, dass ich mich geirrt hatte? Und wenn es so gewesen wäre, hätte ich es beweisen können? Hier die Schande, dort die Pein! Nein, die Algabeñas hätten kommen und den ganzen Stand vor meinen Augen wegtragen können. Mein einziger Vorteil bestand darin, dass sie von der hilflosen Verfassung dieses wortkargen kaufmännischen Minitalents nichts ahnten. Und nur ihrer Unwissenheit habe ich es zu verdanken, nicht binnen kürzester Zeit den Ruin meines Vaters eingeläutet zu haben.
Was sie allerdings leicht durchschauten, war meine Unfähigkeit, ihrem Feilschen etwas entgegenzuhalten, und das nutzten sie aus. Vermutlich warteten sie, bis sie mich am Stand alleine sahen und kamen erst dann näher. Zunächst schlug ich mich heldenhaft im Preisgefecht und verlangte, was auf den Schildchen stand, aber diese gewieften Ladinas begannen zu diskutieren, und nach und nach verdrehten sie mir den Kopf mit ihrer Strategie, zwischen Flehen und Beschimpfen, Schmeicheleien und handfesten Argumenten hin und her zu springen; mein Gott, war mir das peinlich, so unnachgiebig zu sein! Ich wurde rot wie eine Tomate, vergaß das oberste Gebot, auf ihre Hände zu achten, und schaute ihnen die ganze Zeit in die Augen, denen wiederum meine sagen wollten, »habt ein wenig Erbarmen mit diesem schüchternen Jungen«, um schließlich ohne auch nur das Geld zu zählen, das sie mir unentwegt in die Hände drücken wollten, einzuknicken, der schnatternden Diskussionen und Feilschereien dieser kauderwelschenden Weiber überdrüssig, deren Augen, so sehr sie mich aus der Fassung brachten, auch fesselten. Als Halbwaise ohne meine Mutter war ich an den Umgang mit Frauen nicht gewöhnt, und sobald sie mir nahekamen, verwirrten sie mich.
Manchmal kam mein Vater genau im falschen Moment von der Taverne – ich hatte gerade das Geld, sie ihren Einkauf in der Hand.
»Was hast du dafür verlangt?«
»So viel …« Ich hielt ihm das Geld hin, mir trieb es die Schamesröte ins Gesicht, und ich wollte im Erdboden versinken.
Mein Vater schrie zum Himmel, entriss der Käuferin das Paket, schleuderte ihr das Geld, das er aus meiner Hand grapschte, ins Gesicht und begann, sie mit den übelsten Worten zu beschimpfen, die ich je gehört habe:
»Diebin! Schlampe! Auf der Welt, um rechtschaffene Menschen zu betrügen. Zieh Leine, bevor ich dich an deinen Haaren fortschleife. Faules Hurenpack, dummes! Glaubt wohl, dass ihr Mann mit seinen Hörnern Spitzendeckchen klöppelt, so eine bist du!«
Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken.
Mein Vater verfolgte eine äußerst eigenwillige Verkaufsstrategie, die darin bestand, mit jeder Kundin erst einmal einen derben Streit vom Zaun zu brechen. Den Frauen aus den umliegenden Dörfern, die an unseren Eisenwarenstand kamen, drehte mein Vater nur seine Billigware an und überschüttete sie zum Dank mit Beschimpfungen und Abfälligkeiten seiner enthemmten Zunge; sie hatten ihrerseits auch ein loses Mundwerk, und so kamen in unserem ehrenwerten Geschäft die Abschlüsse zwischen unendlichen Litaneien übelster Schimpfworte und heftigen Wortgefechten zustande. Ich konnte mich an diese Verkaufsstrategie nicht gewöhnen. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, warum diese Kundinnen sich so was wie meinen Vater gefallen ließen. Aber offenbar war ich der Naive, denn jeder meinte, er habe ein Händchen fürs Verkaufen.
Der Laden schloss immer sehr früh, mein Vater wollte ins Café. Oft griff er meine Hand und nahm mich mit. Wir schlenderten abends die Calle Sierpes entlang und hielten bei jeder Tertulia vor den Cafés und Saufläden kurz an. Ganz Sevilla drängte sich damals in der Calle Sierpes. Die Halbwüchsigen sah man vor den Casinos ihre Stiefel auf Hochglanz bringen. Man ging dorthin, wenn man Empfehlungen oder einen Mittelsmann brauchte. Vor der Peña Liberal stand immer eine Traube solcher Bittsteller, die auf Don Pedro la Borbolla warteten; an den Marmortischen des Café Central unterzeichneten die Feldarbeiter bei den Viehzüchtern und die Stierkämpfer handelten ihre Engagements bei den ferias, aus; ins Café Nacional gingen die Beamten und Geldverleiher, die Angestellten der Stadt und die Kirchlichen; draußen auf der Straße standen die Getreide- und Essighändler unter den Markisen und debattierten den ganzen Abend, fuchtelten mit ihren gefalteten Tütchen für die Kichererbsen durch die Luft oder prahlten, die Pröbchen des letzten Essigs ins Gegenlicht haltend, inmitten einer Schar von Lotterieverkäufern, Schuhputzern und resoluten, grimmigen Kellnern.
Mein Vater war Stammgast im Café América, oder aber er ging ins Café Madrid; letzteres hatte einen großen und luftigen Patio mit gigantischen Billardtischen, auf denen die Kugeln nach den Regeln von cuarenta y un, der vuelta al mundo und dem chapó aufgelegt wurde. Mein Vater war bei diesen Turnieren fast unschlagbar.
Wenn wir beim Café ankamen, beobachtete er zunächst den Spielverlauf und bat irgendwann, wenn neu aufgelegt wurde, die bola, um einzusteigen – was niemandem verweigert werden durfte – und verlangte seinen Queue, seinen eigenen, und begann ruhig sein Spiel, für das er viel Augenmaß und Geschick aufbrachte. Er spielte gut; so gut, dass sein Erscheinen oft den Spielverlauf entschied. Sie spielten nach strengen Regeln. Kein Karambolagebillard oder auf diesen winzigen Tischchen: es ging um palos und troneras. Die Spieler waren in der Regel gestandene, authentische Typen, alte Flamencos, die raffiniert und mit reichlich Stilbewusstsein und Pomp agierten: Der Hut war ins Gesicht gezogen, die lockigen, persianas genannten überlangen Koteletten hingen von den Schläfen, und der Zahnstocher im Mund durfte nicht fehlen. Manche liefen immer noch gerne mit der Melone auf dem Kopf herum, dazu Karottenhose und die obligatorische goldene Uhrenkette.
Während mein Vater spielte, suchte ich im Café lieber die Tische nach Zuckerwürfeln ab und trank mit Wonne Gotas, einen Rosenlikör, den man, mit Milch vermischt, den Gästen ausgab. Immer wenn mein Vater eine Partie gewann, eine Guerra, wie sie im Argot der Spieler hieß, schnippte er mir eine perra gorda zu; ich lief dann zur Patisserie Suizo nach nebenan und aß für die zehn Céntimos Süßigkeiten. An guten Tagen so viele, bis ich Bauchschmerzen bekam.
Zwischen meinem achten und elften Lebensjahr begleitete ich meinen Vater ins Café. Ich begriff dort ganz elementare Dinge, so etwa, wie sich ein Mann benehmen soll, wenn er geachtet werden will. Während sich die Freunde meines Vaters unterhielten, saß ich still und unauffällig mit auf dem Divan und lernte meine Lektionen in männlichem Stolz. Ich spitzte meine Ohren und lauschte, wie diese Männer am versammelten Tisch über Frauen redeten: Ich gewöhnte mich an die Vorstellung, dass die Frau ein böses und gleichermaßen angenehmes Biest war, dass man unnachgiebig jagen und anschließend schlecht behandeln musste; ich lernte die tiefsinnige Bedeutung des »Der Mann hat das Sagen« kennen und unter welchen Umständen es ihm erlaubt war, sie sich zu nehmen. Diese einfache Kasuistik der Männlichkeit unter Zigeunern erlernte ich auf den Divanen des Café Madrid mit nicht einmal elf Jahren. Das Café ist nicht die schlechteste Erziehungsanstalt.
Als ich mit elf Jahren plötzlich aufschoss, begann mein Vater, mich zu ignorieren. Ich weiß nicht, warum, aber wahr ist, dass er aufhörte damit, mich ins Café mitzunehmen. Er mochte es nicht mehr. Mein Bruder Manolo trat an meine Stelle. Allen meinen Brüdern passierte dasselbe. Sobald sie hoch aufschossen, hielt er sie von sich fern.
Jeden Nachmittag machte mein Vater den Laden pünktlich zu und ging ins Café; er spielte begeistert seine Partien cuarenta y uno. Ich saß derweil im Viertel Altozano, wohin wir gezogen waren, und langweilte mich beim Nichtstun. Freunde meines Alters hatte ich nicht; ich war ein eingebildeter Junge, der im Café verdorben worden war, dem die einfachen Umgangsregeln, wie man sie von seinen Mitschülern erlernt, fehlten. Manolo war noch zu klein und diente mir lediglich als angreifender Stier, wenn wir Stierkampf spielten, auf der Plaza Altozano, wohin viele junge Stierkämpfer kamen. Ich spielte nur so, ohne einen beruflichen Plan zu verfolgen; ich würde lügen, wollte ich das Gegenteil behaupten. Ich spielte angreifender Stier, wie jedes Kind es damals tat, das heute jeden Tag Fußball spielen würde. Ein anderes Spiel, das mich dauerhaft begeisterte, bestand im Verfolgen oder Hetzen von Tieren. Mit einer langen Stange bewaffnet, die uns als Riegel vor der Ladentür gedient hatte, hetzte ich in der Nachbarschaft die Hunde, bis ich sie mit gelernten Handgriffen auf die Seite werfen konnte. Noch heute ist dieses Hetzen der Stierkälber und das Niederdrücken mit der Lanze das, was mir an der Viehzucht am meisten Spaß macht. Mehr noch, als einem Stier gegenüberzustehen und mit ihm zu spielen.
In diesen Monaten voller Unentschlossenheit – mein Vater schenkte mir damals keinerlei Beachtung mehr – lungerte ich perspektivlos auf der Plaza Altozano herum und lief Gefahr, auf die schiefe Bahn zu geraten. In Bandenstärke streiften Typen aller Art durch das Viertel Triana. Ich kam mit ihren hermetischen Zirkeln in Kontakt und hatte den Status eines Neulings. Sie brachten mir das Rauchen bei, zeigten mir, wie man aguardiente trinkt und wie man mit Mädchen umgeht und vor allem wie man Rentoy spielt. In dieser Schule der Ausreißer, die wie Rincón und Cortado aus Cervantes Novellen lebten, war ich kein schlechter Schüler, und nach wenigen Monaten hatte ich all die klassischen Gaunereien drauf, die man brauchte.
Meine Freundschaft zu drei seltsamen Vögeln, die ich dort kennenlernte, beendete die Karriere als pícaro aus der Schreibwerkstatt Cervantes’, die ich so aussichtsvoll eingeschlagen hatte, so jäh, wie sie begonnen hatte.
Die drei waren komische Kerle, die mit den Jungen, die man im Viertel Triana sonst antraf, nichts gemein hatten. Im Winkel eines Ladens für Maschinenteile hatten sie eine kleine Druckerpresse aufgestellt. Und ich weiß nicht, ob es zu ihrem Beruf gehörte oder wozu auch immer, sicher ist, sie bekamen ständig Lesbares in die Hand. Nach und nach wurde Lesen zu einer Sucht für sie, und sie steckten in alles, was ihnen in die Hände kam, und was sie in ganz Sevilla aufspürten, ihre Köpfe hinein.
Die Freundschaft mit den drei seltsamen Brüdern steckte mich an, und über mehrere Monate tat ich nichts anderes, als mit brennendem Interesse zu lesen. Kilo um Kilo verschlang ich die Beilagenheftchen, Krimifortsetzungen und Abenteuergeschichten. Die Helden von Capitán Salgari, Sherlock Holmes, Arsenio Lupin und Montbars el Pirata waren unsere Idole. Später begann ein Verlag mit der Herausgabe von Romanheften, die etwas mehr Substanz hatten, und wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, hatte Blásco Ibáñez sie redigiert, Woche für Woche warteten wir mit Spannung auf den Fortgang der Abenteuer, die unsere Romanhelden durchstanden.
Die Wirkung dieser Lektüre auf die drei Jungs und auf mich war enorm, denn wir identifizierten uns mit den Helden so sehr, dass wir nicht unsere Leben lebten, sondern ihre. Die Hitzigkeit nahm solche Ausmaße an, dass wir in einer Woche Piraten im Golf von Maracaibo waren, in einer anderen Detektive in Whitechapel und in der darauffolgenden Diebe an den Ufern der Seine. Die größten Vorbilder fanden wir allerdings bei den mutigen Entdeckern Afrikas. Aus dieser Welt der Fantasie fesselte uns am meisten die Figur des mutigen Löwenjägers inmitten des unberührten Urwalds. Diesen klassischen Kampf des Menschen mit der Bestie spielten wir in allen Varianten begeistert nach. In den Auslagen einiger Galerien der Calle Regina wurden in jenen Zeiten auch kolorierte Bilder von Jagdszenen in Afrika und Indien gezeigt, in derart authentisch eingezeichneten Farben, dass wir stundenlang aufgeregt davor hin und her liefen und uns vorstellten, das Bild würde lebendig und die Jagdszene sich fortsetzen. Hätte sich dieses unvorstellbare Wunder ereignet, wären wir kein bisschen erschrocken gewesen. Eines dieser bunten Bilder zeigte einen weißen Jäger mit seinem Tropenhelm und seinen glänzenden Gamaschen, der tollkühn kniend mit angelegtem Gewehr auf einen prächtigen Tiger zielte, der gerade seine Krallen in die nackte Brust eines Schwarzen rammte. Dieser furchtlose Jäger war unser Idol und stand für alles, was wir auch sein wollten: Er wurde zu unserem Leitbild.
Wir erzählten uns noch und nöcher Geschichten von der Löwenjagd im unentdeckten Afrika, bis wir die konfuse Lust spürten, Löwen zu jagen. Und wir jagten sie. Was müssen wir tun – fragten wir uns verschworen –, wenn wir die beiden Gewehrkugeln abgefeuert haben und sich der angeschossene Löwe auf uns stürzt? Ist es ratsam, den Rücken des Elefanten herunterzuklettern, um einem schwarzen Sklaven zur Hilfe zu eilen, der von einem plötzlichen Angriff der Bestie überrascht wurde? Ohne Zweifel, der Löwe starb, der Sklave wurde gerettet.
Der Augenblick kam, in dem das reale, das authentische, das plastische Geschehen der spielerischen Jagden uns vor Augen führte, wie unwahrscheinlich es war, einen Löwen in Triana anzutreffen, Doch da selbst die größten Hindernisse durch unsere Vorstellungskraft überwunden werden, entschieden wir uns entgegen aller Vernunft, hinauszuziehen und welche zu suchen. Feierlich brachen wir nach Afrika auf, um Löwen zu jagen.
Die Vorbereitungen für die Expedition waren viel aufwendiger, als wir glaubten. Am Anfang waren wir vier Abenteurer gleichermaßen angesteckt; aber als sich Fragen aufzudrängen begannen, traten zögerliche Antworten und Unstimmigkeiten zutage.
Das größte Problem war das Geld. Wir brauchten eine Unsumme für unsere Ausrüstung und für die wilden Stämme, deren Dienste wir uns erkaufen mussten und die uns ans Ziel führen sollten, jene armen Neger, die hin und wieder von den Löwen aufgefressen wurden, und schließlich das Geld für den Proviant der gesamten Expedition. Nicht zu vergessen, das Schiff, das wir heuern mussten. Was kostet es, ein Schiff zu heuern? Die Unternehmung überstieg unser Vorstellungsvermögen, und wir kamen an den Punkt, wo wir aufgeben wollten, nicht des fehlenden Geldes wegen, sondern wegen der fehlenden Vorstellungskraft, die immer für das Scheitern verantwortlich ist. Als die drei Typografenbrüder angesichts der Unmöglichkeit, mit unseren winzigen Ersparnissen ein passendes Boot zu erstehen, entmutigt einknickten und alle Mühe vergebens schien, traf ich eine heroische Entscheidung. »Wir werden«, sagte ich ihnen, »in das tiefe Afrika reisen und uns den Gefahren ohne Geld stellen; an jedem neuen Tag wachsen uns größere Widerstände als dieses leidige Bootsthema über den Kopf, noch gefährlichere, denen wir mit unseren eigenen Methoden entgegentreten werden. Lassen wir uns von etwas fehlendem Geld aufhalten? Wenn man kein Geld besitzt, ein Boot ehrlich zu kaufen, stiehlt man sich eins!«
Meine kühne Entschlossenheit entfachte unter den drei Typografenbrüdern große Begeisterung. In den Morgenstunden des nächsten Tages liefen wir mit den Händen in den Hosentaschen über die Molen und guckten uns diese Briggen genau an, die, schwer beladen mit Stockfisch, den Guadalquivir hochkamen. Vorsichtig inspizierte ich von der Mole aus die Decks der daliegenden Schiffe, auf denen verschlafene Seeleute mehr schlecht als recht die Segel flickten, ihre Heringe frittierten und lustlos mit dem Schiffsköter spielten, und mir schien es das Einfachste von der Welt zu sein, sie zu überrumpeln, über Bord zu werfen, die Anker zu lichten und flussabwärts loszusegeln. Meine Kameraden hatten einige Bedenken, was den Erfolg meines Superplans anbetraf. Ich nicht. Einer von ihnen hatte plötzlich genug von der Geschichte und verließ uns mit den Worten, wir seien verrückt geworden. Dieser Verrat ließ uns nicht zurückschrecken. Wir Übrigen würden die dänischen Seeleute über Bord werfen und die Brigge übernehmen. Mehr war nicht zu tun!
Nachdem das beschlossen war, kümmerten wir uns um die restlichen Hindernisse. Um die nötige Summe zusammenzubekommen, verabredeten wir, dass jeder pro Woche von seinen sonstigen Ausgaben einen Betrag, der zwischen einem und zwei real liegen sollte, absparte. Sobald dieser Grundstock zusammenkäme, würden wir die Waffen und die erforderliche Ausrüstung kaufen. Viele Wochen des Absparens vom Munde und einige kleinere Unterschlagungen aus der Haushaltskasse später hatten wir »den Grundstock« zusammen, um an einem Donnerstag zwei Vorderlader – ohne Kolben und Abzüge – und eine alte Flinte zu erstehen, die so ungebräuchlich waren, dass der fliegende Händler mit Sicherheit keinerlei Skrupel hatte, diese in unsere kindlichen Hände zu geben. Unsere finanzielle Mühle mahlte langsamer als unsere Erfindungsgabe, und wir erkannten, dass es viele Jahre dauern würde, bis wir genügend Geld zusammenhätten, um uns wenigstens eine bescheidene Ausrüstung, wie sie jeder ordentliche Entdecker besitzt, leisten zu können. Die Unstimmigkeiten wurden immer manifester. Einige schlossen sich der Meinung an, die Expedition solle sich sine die vertagen, andere der Meinung, wir sollten ohne weitere Verzögerung sofort aufbrechen. Wozu ein Schiff, das bis an die Schotten mit Ausrüstung beladen ist, wenn der erste Schwanzhieb eines Wals es ohnehin sinken lassen würde, und wir uns mit äußerster Mühe schwimmend an einen leeren Strand retten müssten, an dem alles von vorne zu beginnen hätte? Niemals zuvor war eine Expedition wegen so nichtiger Zwischenfälle gescheitert wie diese. Unser neuer Plan setzte nun dort an, wo uns der Wal mit dem Schwanz getroffen hatte, und wir uns an den menschenleeren Strand retteten. Nicht jeder war von der Wendung überzeugt. Der zweite Typograf desertierte feige, und am Ende stand ich Hand in Hand mit dem letzten der drei Brüder, der noch genügend Überzeugung besaß und wie ich entschlossen war, zu siegen oder zu sterben; wir reichten uns die Hand – wie zwei Männer, so fühlten wir uns – und schworen einander, bis ins wilde Afrika zu fahren und Löwen zu jagen, sei es gemeinsam oder alleine, mit Geld oder ohne, auf Schiffsplanken oder zu Fuß, mit oder ohne Waffen.
Vier oder vielleicht fünf nächtelange, vertrauliche Unterredungen hatte ich gebraucht, um diesen letzten furchtlosen Mitstreiter zu überzeugen. Wir warteten keinen Tag länger. Wir verzichteten auf das Schiff und wollten zu Fuß nach Cádiz aufbrechen. Dort würden wir das erste Schiff, das an die Küsten Afrikas fuhr, auskundschaften und es irgendwie schaffen, uns in seinem Inneren zu verstecken und so die Meerenge zu überwinden. Alles Weitere würde sich in Afrika zeigen.
Etwas Geld in der Tasche zu haben, wäre trotzdem nicht schlecht gewesen. Ich griff in die Kasse des Eisenwarenladens und erwischte ein paar mickrige Pesetenstücke. Als ich abends voller Vorfreude nach Hause kam, und mir mein Vater, offenbar verärgert über meine Verspätung, eine stramme Ohrfeige gab, wusste ich nicht mehr, wo vorne noch hinten war. Dieser Hieb entschied über den Kompass, dem mein Leben von nun an folgen sollte. Ich stahl meinem Vater die Uhr und trug sie ins Pfandhaus, wo ich für sie einen erklecklichen Betrag erhielt, und noch am selben Nachmittag, als sich die Sonne zu senken begann, machten der Typograf und ich uns aus Triana davon, fest entschlossen, den afrikanischen Löwen auszurotten.
Den Blick auf die Welt da draußen gerichtet, liefen wir mit einem unbeschreiblichen Gefühl los. Wir liefen über die Landstraße nach Dos Hermanas in Richtung Cádiz, und immer, wenn wir uns umdrehten, sahen wir, wie in der Entfernung die Silhouette der Giralda mit dem Licht der Dämmerung verschmolz; als hätten wir Flügel, so eilten wir der einstigen und hinter uns gelassenen Welt davon, die irgendwann vom nächtlichen Schatten ganz verschluckt wurde, und an ihre Stelle trat eine herrliche Welt mit glitzernden Negern, monumentalen Elefanten, sich aufbäumenden Löwen, Krokodilen, Adlern, wilden Stämmen und in allen Farben strahlenden Hütten, mit Flüssen, die Kanus durchquerten, und mit geheimnisvollen Wäldern.
Das laute Rascheln der vom Wind bewegten Pappeln und Eukalyptusbäume marschierte mit uns und entfachte unsere Fantasien. Als Sevilla nicht mehr zu sehen war, überkam uns für kurze Zeit Wehmut. Schweigend gingen wir ein wenig schneller. Wir liefen durch die Nacht, eine Stunde, zwei, drei … Bis es kalt wurde. Die Weiden, ein lichter Wald aus Korkeichen, waren endlos und verlassen. Langsam näherten wir uns einem Gasthof, trauten uns aber nicht hinein. Seine zurückgerafften Gardinen und das rötliche Licht einer Petroleumlampe vermittelten mir erstmals im Leben das Gefühl von der Gemütlichkeit eines Zuhauses. Es dürfte schon weit nach Mitternacht gewesen sein, als wir uns auf eine Marschpause einigten und uns bis zum nächsten Tag ausruhen wollten. Wo hätten wir zum Schlafen unterkriechen können? Wir durften uns den bewohnten Häusern nicht nähern, wollten wir nicht entdeckt werden, aber mindestens genauso unvorsichtig wäre es gewesen, auf dem Boden zu schlafen. Der Landstrich, den wir durchquerten, konnte durchaus Heimat giftiger Schlangen sein.
Wir standen an der Kreuzung der Straße mit einer Eisenbahnstrecke. Neben den Gleisen lagen massenweise gestapelte Schwellen, und wir entschieden, auf einen Stapel hinaufzuklettern und dort oben zu schlafen, bis der Tag anbrach. Ich machte es mir, so gut ich konnte, auf einer dieser Bohlen bequem und strengte mich vergeblich an, einzuschlafen. Ich hatte einen kleinen Schwarm Unglücksvögel über unsere Köpfe hinwegfliegen sehen, die sich arglistig auf den Telegrafenmasten niederließen.
»Sind das etwa Raben? Sie werden uns doch nicht ausspähen?«, dachte ich.
Wie alle Welt weiß, sollen Raben mit ihren Hakenschnäbeln jungen Löwenjägern, die gutgläubig am Wegesrand schlafen, die Augen aushacken.
Ich habe kein Auge zugetan. Mit dem Gesicht zum klaren Sternenhimmel und dem schmerzenden Rücken wie gekreuzigt auf diesen Holzbohlen liegend, die Beine steif vor nächtlicher Kälte, verfolgte ich mit ängstlich aufgerissenen Pupillen, wie ein Stern nach dem anderen sein Licht verlor und der tuchmatte Nachthimmel falb wurde hinter den milchigen Flözen, die immer mehr auswuschen und schließlich vom anbrechenden Tag fortgespült wurden. Nicht weniger benetzte der anbrechende Tag mit seinen eisigen Tautropfen unsere wachsharten und geschwollenen Kindergesichter, und fröstelnd kletterten wir mit klammen Fingern den Stapel herunter und liefen los, kaum dass wir mit unseren nackten Beinen im feuchten Gras standen.
Die Sonne stieg auf und lastete wie gegossenes Blei auf unseren schwachen Schultern. Auf die Unbarmherzigkeit des Raureifs folgte die Unbarmherzigkeit der brütenden Sonne, sodass unsere kleinen Körper Schmerzen von unmenschlicher Härte ertrugen. Auf den Hunger folgte der Durst mit seiner brennenden Todesangst. Ein tiefblauer Schleier bedeckte unsere Augen, und wie betäubt warfen wir uns in einen Graben neben der Straße. Hechelnd und entkräftet hockten wir auf unseren Knien und begriffen nicht, warum die Welt so unwirtlich war, so hart und unbarmherzig. Was unsere Herzen am tiefsten entmutigte, war diese Gefühllosigkeit des Universums, die Gleichgültigkeit der Dinge, der Sonne, des Staubs, der Kälte, von überhaupt allem, das sich nicht einmal ausdrücklich gegen uns richtete, uns aber quälte. Ich hätte den Kampf gegen eine anrennende Löwenherde diesem elendigen Kriechen einer Ameise über jenen gleißenden Streifen einer nicht enden wollenden Straße vorgezogen.
Mein Partner und ich sahen uns an und sagten nichts. Wir marschierten voran wie starke Männer, aber zugleich hatte uns ein anderer Gedanke im Bann, dass die Welt ganz anders war, als wir sie uns vorgestellt hatten, und es in unserer Situation es nicht das Beste sei, umzukehren und wieder nach Hause zu gehen.
Wir schluckten die unausgesprochenen Worte runter und gingen weiter. Mit der einbrechenden Nacht erreichten wir Alcantarillas. Eine zweite Nacht im Freien zu schlafen, trauten wir uns nicht und suchten daher einen Stall als Unterschlupf. Vor Fieber und Kälte gleichzeitig zitternd, fanden wir in der Schwärze der Nacht endlich einen. Als wir diesen überhitzten Raum betraten und die stehende und stickige Luft unsere Gesichter umschmeichelte, warfen wir uns sofort auf das Stroh am Boden, das den Urin der Tiere ausschwitzte, und waren wieder versöhnt. Der heftige Geruch nach Kuhmist machte es noch wohliger, von Zeit zu Zeit bewegte sich das Vieh schwerfällig und drohte uns, mit seinen ungeschickten Hufen zu zerquetschen. Sofort sprangen die schrecklichen Flöhe von den Rindern auf uns über und piesackten uns, aber das Verlangen nach einem Unterschlupf, nach der wonnigen Hitze in diesem Viehstall, überwog, sodass wir genüsslich in einen tiefen, nötigen Schlaf fielen, aus dem uns bis weit nach Tagesanbruch weder das laute Muhen noch das erbebende Getrampel unserer Gefährten riss.
Am nächsten Tag liefen wir weiter die Bahnstrecke entlang. Wir sprangen auf einen zufällig vorbeifahrenden Güterzug auf, der uns bis Lebrija vorankommen ließ. Anschließend gingen wir zu Fuß Richtung Jerez. Die einbrechende Nacht holte uns ein, und um den Weg ein Stück abzukürzen, verließen wir die Straße und liefen querfeldein über eine umzäunte Weide mit Kampfstieren. Die Zistrosen gaben uns Deckung. Wir zwei Knirpse schlugen uns gerade mühselig durch die hohen Stauden, als das Gellen eines Jungstiers ertönte, das die friedliche, in die Nacht abtauchende Landschaft in alle Himmelsrichtungen zerteilte. Auf der Anhöhe stehend ließ er die Welt seine Kraft und Brunft spüren und drohte dem Mond mit seinen Hörnern. Eng an ein Gatter gedrückt, sahen wir, wie er an uns vorbeilief und seine Flanken mit dem Schwanz abpeitschte.
Es war Frühling, und unseren ganzen Weg über die Weide hinweg verfolgte uns das majestätische Brüllen der brunftigen Stiere. Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, ob ich damals auf der Plaza Altozano schon als einer der Jungs hervorgetreten war, der den Stierkampf am besten und elegantesten beherrschte. Sicher weiß ich, dass ich mir nie den Gedanken gemacht hatte, wie es wäre, vor einem wirklichen Stier zu stehen.
Als wir in Jerez ankamen, irrten wir zunächst orientierungslos umher, bis wir uns geschlagen in das Atrium einer Kirche retteten, in dem Bettler und Krüppel die Betschwestern um Almosen anflehten, die mit ihrem Rosenkranz zwischen den gefalteten Händen und Klappstühlchen unterm Arm nach ihrer Novene auf die Straße hinaustraten. Jerez, das für seine Ordentlichkeit und Vornehmheit bekannt ist, für seine gefegten Straßen, seine reichen Casinos und seine arroganten Zöglinge, grauste uns, ja entmutigte uns vollends. In Jerez wohnte ein Bruder meines Vaters, und nachdem wir alle Pros und Contras eingehend abgewogen hatten, liefen wir mit hängenden Köpfen zu ihm. Mein Onkel war ein einfacher Tagelöhner mit Frau und sechs Kindern. Er empfing uns freundlich. Noch während wir schüchtern an unseren Mützen herumnestelten und mit hochrotem Kopf schilderten, dass wir nach Afrika unterwegs seien, ohne es jedoch mit den Genauigkeiten zu übertreiben, kroch uns ein süßsaurer Geruch nach gesottenem Kohl in die Nase. Es war Abendessenszeit, und meine Tante lud uns offenherzig ein, diesen Kohl, der so wunderbar roch, mit ihnen allen zu teilen. Oh, wie ich mich, der ich eine Abscheu vor jeder Art von Kohlgerichten besaß, auf diese duftenden Strünke stürzte. Nachdem sie zugeschaut hatten, wie wir uns die Bäuche vollschlugen, zeigten sie uns das Nachtlager; und am nächsten Tag verabschiedete uns, anders als ich es erwartet hatte, der Onkel so liebreizend und mit so vielen guten Wünschen für unsere Expedition, deren Anfang wir nun geschafft hätten, dass ich nicht weiß, ob sich dahinter ein menschliches und frömmlerisches Verständnis für unsere Abenteurerseelen verbarg, oder die Überlegung, sich durch unseren ungezügelten Appetit nicht ihre Kohlvorräte aufessen zu lassen.
Wir marschierten den ganzen Tag, bis wir hinter einem Hügel plötzlich dem Meer gegenüberstanden. Es war ein überwältigender Anblick. Später bin ich häufig die Straße zwischen Jerez und Cádiz abgefahren, ohne je genau die Stelle ausmachen zu können, von der aus ich das erste Mal das Meer gesehen hatte. Vor zwei Jahren aber, als ich diese Stelle meiner Entdeckung des Meeres unbedingt wiederfinden wollte, fiel mir ein, dass wir uns verlaufen haben konnten; ich lief also zu Fuß los, und tatsächlich, am Ende eines Pfades fand ich sie. Welche Freude, die Wiedergeburt meiner unbeschreiblichen Bewunderung an jenem Tag im Frühling, als ich das weite Panorama des Meeres vor mir hatte, bereit, wie damals, mit meinen süßen zwölf Jahren, über das Meer zu gleiten, wagemutig, wie ein neuer Odysseus.
Das Meer beflügelte uns, war Balsam für unsere geschundenen Seelen und ließ uns an unsere Fähigkeiten glauben. Wir zogen überglücklich in Cádiz ein. Aber oh je, wieder ließ uns die Stadt verzagen. Wie in Jerez, fühlten wir uns in Cádiz der Situation nicht gewachsen. Wir kletterten auf die Mauer und schauten von dort entmutigt aufs Meer. Stunde um Stunde verfolgten wir wortlos das idyllische Kommen und Gehen der Wellen.
Schließlich sprach mein junger Freund mit vibrierender Stimme und etwas pathetischem Ton die befürchtete wie ersehnte Losung aus:
»Und wenn wir umkehren?«
Eine lange und melancholische Unterhaltung folgte dort am Meeressaum. Wir entschieden, nach Hause zurückzukehren. Die Welt war nicht, wie wir sie uns aus unseren Abenteuerbüchern vorgestellt hatten. Sie war anders. Aber – und welch ein Trost im Scheitern! – wir hatten erlebt, wie sie wirklich war. Wir würden uns in Zukunft nicht mehr mit Träumen von aufbäumenden Löwen, wendigen Kanus, Urwäldern und apokalyptischen Bestien zufriedengeben. Wir hatten die afrikanische Wildnis nicht erobert; wir hatten den afrikanischen Löwen nicht erlegt. Aber wir wussten, wie sie war, die Welt. Wir hatten die Furcht vor ihr verloren. Wir besaßen ihr Geheimnis. Früher oder später würden wir sie erobern. Mit dieser stillen Einsicht traten wir den beschämenden Heimweg nach Sevilla an. Ich weiß nicht, wie wir zurückkamen. Ich erinnere mich an kein Detail. Absolut an nichts.
Besiegt kehrten wir um und mussten uns gefasst machen auf den Spott, den wir von Freunden und Verwandten über unser Abenteuer zu Ohren bekommen würden. Mein Vater hielt sich den Bauch vor Lachen, gedemütigt verfiel ich in Trotz. Zu Hause sprach ich kein Wort, mürrisch setzte ich mich an den Tisch und stocherte im Essen, ohne Mucksen erledigte ich die Arbeit, die mir mein Vater auftrug, nach Ladenschluss lungerte ich auf der Plaza Altozano herum und verstand weder die Welt, noch was ich in ihr sollte. Ich zerstreute meine Gedanken, indem ich Stierkampf spielte. Unter den diversen Zirkeln, die sich am Ende der Brücke, gleich bei der Plaza de Altozano, trafen, um Stierkämpfe nachzuspielen, hatte ich einen gewissen Ruf als torero de salón erworben. Auf alles, was mir entgegenkam oder im Weg stand, reagierte ich, als sei es ein Stier: Hunde, Stühle, Autos, Fahrräder; ich übte die media veronica mit dem capote und den recorte mit der muleta an jeder Ecke, mit jedem Pfarrer, der vorbeikam, selbst mit dem aufgehenden Morgenstern.
Irgendwann an einem Nachmittag kämpfte ich auf der Plaza Altozano mit einem Stier, wobei mir ein Freund als Angreifer diente. Wir machten unsere Sache beherzt, als ich bemerkte, dass uns mehrere Männer von der Brüstung der Brücke her zuschauten. Einer von ihnen rief mich zu sich. Stolz ging ich zu ihm, dennoch nahm ich die Mütze ab.
»Hör mal, du kleiner Gauner«, sagte er, »wo hast du gekämpft?«
»Noch nirgendwo.«
Er griff in seine Jackentasche und reichte mir einen duro:
»Nimm! Du wirst Torero werden!«
Oft habe ich über diesen duro nachgedacht; gerne wüsste ich, wer der Mann gewesen ist.
Der erste mit dem capote verdiente duro stachelte mich als Salon-Torero noch mehr an, und mit der Zeit hatte ich bei den Zirkeln im Triana einen gewissen Ruf. Im Traum wäre mir nicht eingefallen, die Spielchen, die ich mit den Jungs machte, einmal vor einem lebendigen Stier zu wiederholen. Ich glaubte nicht, dass ich den Mut besitzen würde, mich vor einen Stier zu stellen. Auch heute glaube ich es noch nicht wirklich. Wenn ich als Zuschauer in die Arena gehe und der Stier herauskommt, bin ich fest überzeugt, dass ich nicht in der Lage wäre, gegen ihn zu kämpfen.
Das gilt ausdrücklich auch jetzt, wo jeder seit vielen Jahren weiß, welche Wendung mein Weg genommen hat.
Als ich noch sehr klein war, fuhr meine Familie zu einem Picknick mit Hühnchen und Tomate hinaus nach Pañoleta. Der Gasthof dort besaß eine kleine Arena, wo man becerretes, die komische Variante mit Stierkälbern, sehen konnte, und als ich davon erfuhr, band ich mir einen roten Lappen an den Gürtel und lief mit den anderen herüber, offenbar mit dem heimlichen Entschluss, die Mysterien des Stierkampfes kennenzulernen. Doch der Jungstier erwies sich als ungeeignet, er sträubte sich, käute, tat alles, nur nicht Herausstürmen und Angreifen; die Zuschauer wollten ihn nicht, da er nicht kämpfte; und da der Veranstalter sich weigerte, ihn auf den Platz zu ziehen, kletterte ich die Mauer runter zu seinem Gatter, wo er stand, nahm meinen roten Stofffetzen und forderte das sture Tier, vor seinen Hörnern stehend, auf:
»Hu, Toro!«
Der junge Stier stand in einem Pferch, der vielleicht drei mal zwei Meter maß. An eine Wand gelehnt stand ich mit meinem Stofetzen als capote vor ihm und so eng, wie möglich, an die gegenüberliegende Wand gedrückt, der Stier, der mich mit verwunderten Augen anschaute. Ich rief ihn ein zweites Mal; zwecklos. Weder reagierte er auf meine frechen Herausforderungen noch bemerkte er meine Anwesenheit in seinem Schlupfwinkel. Inzwischen war meiner Familie meine Abwesenheit aufgefallen und sie suchte mich auf dem ganzen Gelände. Als sie mich fanden, hockte ich ganz still auf den Knien vor dem Stier und hielt den Stofffetzen so nah vor sein Maul, dass er mit seinen gelben Zähnen daran kauen konnte.
Ein Salon-Torero auf der Plaza Altozano zu sein, war keine ernst zu nehmende Aussicht; nichts konnte man damit in seinem Leben anfangen. So entschied mein Vater, mich nach Huelva zu einem Onkel zu schicken, der ein Geschäft eröffnet hatte. Ein richtig großes Geschäft mit vielen Angestellten. Es machte sofort einen seriösen Eindruck und ließ mich, der ich für das tägliche Kleinklein in der engen Eisenwarenhandlung meines Vaters keine Begeisterung aufbringen konnten, aufhorchen. Ich vergaß die Abenteuerhefte und die Stiere und widmete mich mit all meinen Sinnen dem Handel, so sehr, dass ich binnen weniger Monate der tüchtigste Mitarbeiter des Hauses wurde, der ergebenste und eifrigste obendrein. Mein Onkel entdeckte in mir eine außergewöhnliche Geschäftstüchtigkeit und entschied, mich zu fördern. Er verfolgte die Idee, mich auszubilden und nach Buenos Aires zu schicken, sodass ich dem Beispiel eines anderen Verwandten folgen konnte, dem dieselbe Gnade seiner Talentschmiede zuteilgeworden war. Er entschied für mich, dass mir das Englische von größtem Nutzen wäre, und heuerte einen schrillen britischen Untertanen an, der schwankend durch Huelva torkelte, es mir beizubringen. Ein exzentrischer und sympathischer Kerl, der ständig betrunken und ein glühender aficionado Andalusiens und seiner Bräuche war. Er kam jeden Tag und unterrichtete mich in Englisch, doch in Wirklichkeit vertrödelten wir die Zeit mit Redewendungen der Flamencos, Zigeunerlatein und Flüchen, die er zu meinem großen Vergnügen von mir lernte. Er entdeckte meine Begeisterung für den Stierkampf, der von nun an einziges Thema war. Er stellte einen Stuhl vor mir auf und ließ sich die ganze Unterrichtsstunde nacheinander verónicas vorführen, die anmutigsten Wedelungen des Tuchs, durch das ein angreifender Stier hindurchläuft, und recortes, als brauste er nah am Körper vorbei. Hin und wieder schlüpfte er sogar in die Rolle des Angreifers, nicht ohne zu muhen oder seine grotesken Stiernachahmungen aufzuführen. Zu guter Letzt griff er sich den capote und vollführte selbst ein paar Figuren, über die ich lauthals lachen musste. Das Ende dieser Geschichte war, dass der Engländer lernte, wie man mit dem Stier kämpft und dummes Zeug redet, ich aber kein einziges Wort Englisch, sodass mein Onkel, als er seine Hoffnungen, die er in mich gesetzt hatte, enttäuscht sah, jegliche Protektion aufkündigte. Hinzu kam, dass man entdeckt hatte, welchen schlechten Einfluss ich mit meinen angeberischen flamenquerías auf die anderen Angestellten hatte. Ich trug zum Beispiel immer ein Messer mit einer höllisch scharfen Klinge in der Innentasche meines Jacketts. Ein Relikt kindlichen Prahlgehabes. Die Angestellten wollten es mir gleichtun und eines Tages, als einer von ihnen vom Ladentisch stürzte, rammte er sich das Messer in die Achsel und wäre beinahe verblutet. Mein Onkel befand, dass ich schädlich sei, und setzte mich in den Zug. Meine rosige Zukunft als reicher Heimkehrer aus Amerika, als indiano, wie man sie damals nannte, war ausgeträumt.