Deutschland neu denken - Klaus Burmeister - E-Book

Deutschland neu denken E-Book

Klaus Burmeister

0,0

Beschreibung

Geht es um Zukunftsfragen, hat sich unsere Gesellschaft einem pragmatischen »Weiter so« verschrieben. Die Politik steuert auf Sicht und Unternehmen drohen im digitalen Wettbewerb ihre Gestaltungschancen zu verspielen. Was uns fehlt, sind Visionen möglicher und lebenswerter Zukünfte und Antworten auf Fragen wie: Können wir als Auto- und Industrieland unsere Stärken bewahren oder müssen wir uns neu erfinden? Führt die Digitalisierung zum Diktat globaler Konzerne oder in eine Welt neuer Freiheiten? Wie kann der soziale Zusammenhalt dauerhaft gesichert werden? ... Die Initiative »D2030« hat dafür unter Beteiligung von Bürgern und Partnern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft acht konkrete Szenarien für Deutschland im Jahr 2030 entwickelt. Diese zeigen, wie wir zukünftig miteinander leben und arbeiten könnten, und skizzieren darauf basierende strategische Leitlinien.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 246

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Klaus BurmeisterAlexander FinkBeate Schulz-MontagKarlheinz Steinmüller
DEUTSCHLANDNEU DENKEN
Acht Szenarien für unsere Zukunft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Konstantin Götschel, oekom verlagKorrektorat: Maike Specht
Umschlagkonzeption: www.buero-jorge-schmidt.deUmschlaggestaltung: Elisabeth Fürnstein, oekom verlagGestaltung der Abbildungen 8–15: Alexandra Korschefsky, Studio für Gestaltung, Köln
Satz: Markus Miller, München
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-451-7
Inhalt
Vorwort
Einführung
1.  Deutschland 2030 – die Herausforderung
2.  Deutschland 2030 – der Prozess
Abschnitt 1  Die Szenarien
1.  Die Landkarte der Zukunft
2.  Szenarien 1A–1C: Spurtreue Beschleunigung – wo wir landen, wenn wir uns gegen Veränderung stemmen
3.  Szenarien 2A–2C: Neue Horizonte – Freiheit, Gerechtigkeit und offene Fragen im Wunschraum
4.  Szenario 3: Bewusste Abkopplung – Chancen und Gefahren eines deutschen Sonderwegs
5.  Szenario 4: Alte Grenzen – vorwärts in die Vergangenheit
Abschnitt 2  Die Leitlinien
6.  Szenariobewertung – Chancen, Gefahren und Leitfragen
7.  Strategische Leitlinien: Thesen und Hebel und Zukunftsfragen
8.  Die großen Zukunftsfragen – ein Dialog
9.  Ein Bündel Zukunftsideen – to be discussed…
10.  Zukunft für alle
Abschnitt 3  Anhang
Anhang 1:  Schlüsselfaktoren und Zukunftsprojektionen
Anhang 2:  Szenarien
Danksagung
Die Autoren
Vorwort
Wo wollen wir eigentlich hin? Wie wollen wir leben? Wie arbeiten? Deutschland braucht einen dauerhaften und unabhängigen Zukunftsdiskurs. Einen, der das ganze Bild beschreibt, nicht nur Teile. Einen, der hilft, vorausschauend Weichen zu stellen.
Überraschenderweise war von einem derartigen Zukunftsdiskurs bisher nichts wahrzunehmen – obwohl die Idee auf der Hand liegt. Was es gibt, sind Expertenzirkel, etwa zur Entwicklung des Rentenniveaus oder zur Hightechstrategie. Statt über den notwendigen Übergang hin zu einer postfossilen und vernetzten Mobilität reden wir derzeit über Fahrverbote für Dieselfahrzeuge. Statt zu sehen, dass infolge der Digitalisierung ein epochaler Wandel der gesamten Wirtschaft und der Arbeitswelt ansteht, beschränken wir uns auf Konzepte wie »Industrie 4.0« und vernachlässigen die Wirkungen von Automatisierung und Künstlicher Intelligenz. Statt eine deutsche und europäische Einwanderungspolitik zu entwickeln, streiten wir über Abschiebequoten. All dies im Angesicht anhaltender Flüchtlingsströme, eines erstarkenden autokratischen Populismus und eines brüchigen Pariser Klimaabkommens, all dies in Zeiten von Brexit-Votum, IS-Terror, Fake News und atomaren Muskelspielen.
Das Grundproblem: Wir wissen einfach nicht, wo es mit Deutschland (in Europa) langfristig hingehen soll. Derweil hat sich die Politik einem pragmatischen »Weiter so« – oder manchmal auch einem »Ich sehe mir das mal von außen an« – verschrieben. Wir fahren auf Sicht. Wenn es aber eine Zeit gibt, die einen Kompass für die Zukunft braucht, dann ist sie genau jetzt.
Für einen umfassenden Zukunftsdiskurs hat die Initiative »Deutschland 2030 – eine Landkarte für die Zukunft« in den vergangenen beiden Jahren eine erste Grundlage geschaffen. Erstmalig wurden unter Beteiligung interessierter Bürgerinnen und Bürger und mit der Unterstützung vieler Partner aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft vier Basisszenarien für Deutschland im Jahr 2030 entworfen. Sie heißen »Spurtreue Beschleunigung«, »Neue Horizonte«, »Bewusste Abkopplung« und »Alte Grenzen«. Für zwei davon lassen sich wiederum mehrere Varianten beschreiben, sodass unsere »Landkarte der Zukunft« insgesamt acht Szenarien enthält.
Ihre erste Veröffentlichung hatten wir bewusst in den Endspurt des Bundestagswahlkampfs 2017 gelegt.1) Umso schmerzlicher mussten wir erkennen, dass auch in dieser Zeit die politische Agenda durch tagesaktuelle Debatten bestimmt wurde, während Themen, die ein langfristig angelegtes Handeln und neues Denken erfordert hätten, aus dem Blick gerieten. Vor dem Hintergrund unserer Szenarien haben wir zentrale Zukunftsthemen vermisst:
Unsere Sozialsysteme werden durch Bevölkerungsentwicklung, Migration und den digitalen Wandel unter Druck geraten. Deshalb gilt es, über Alternativen der Arbeitsgesellschaft nachzudenken und diese – etwa in experimentellen Gestaltungsprojekten für neue Arbeitsmärkte jenseits von »Hartz IV« oder für ein bedingungsloses Grundeinkommen – vorzudenken und zu erproben.
Ohne eine Mobilitätswende mit postfossilen Antrieben, autonomen Verkehren und Plattformen über alle Verkehrsträger hinweg verspielt die Energiewende Innovationschancen und wird so die Klimaziele verfehlen. Die Leitmärkte für eine nachhaltige und vernetzte Mobilität im 21. Jahrhunderts sollten nicht dem Silicon Valley oder China überlassen werden. Über Trump zu räsonieren, ohne die eigenen Klimaziele einzuhalten, ist scheinheilig und innovationsfeindlich.
Die Digitalisierung benötigt sowohl Freiräume als auch ein klares Regelwerk. Unternehmen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft sollten den Rahmen für eine digitale Wirtschaft aktiv mitgestalten. Gefragt sind innovative Umsetzungsformen für eine zukunftsoffene Gesellschaft, beispielsweise in Schule und Ausbildung oder in regionalen Innovationsnetzwerken, die mehr sind als der Ausbau von Breitbandnetzen oder ein rückwärtsgewandter Bundesverkehrswegeplan 2030.
Wachstum allein ist kein geeignetes Kriterium mehr, um den Wohlstand unseres Landes zu messen. Wir brauchen ein mehrdimensionales Zielsystem, gerade auch in Zeiten digitaler Wertschöpfung, eines bedrohten sozialen Zusammenhalts unserer Gesellschaft und anhaltender Herausforderungen durch den Klimawandel.
Uns ist bewusst, dass es angesichts der globalen Entwicklungsdynamik mit ihren komplexen und vernetzten Problemlagen keine einfachen Antworten gibt. Wir sind weit davon entfernt, einem Masterplan oder einer Gesamtstrategie das Wort zu reden. Unser Vorschlag ist der Eintritt in einen kontinuierlichen Zukunftsdiskurs als Grundlage für eine gemeinsame Gestaltung der Zukunft.
In einer Zeit des Umbruchs, wie wir ihn erleben, sollten wir uns nicht abschotten, sondern den anstehenden Veränderungen mit Offenheit und eigenen Ideen begegnen. Wir brauchen dafür mehr Open Innovation, Co-Creation und Co-Innovation – nicht nur in der Start-up-Szene, sondern auch im Mittelstand, in den Konzernen und in der Verwaltung.
Mit den Szenarien für Deutschland 2030 hoffen wir, ein solides Fundament für einen solchen offenen Zukunftsdiskurs gelegt zu haben. Daher wollen wir Ihnen in diesem Buch die acht Szenarien und die daraus resultierende Landkarte näherbringen: Was sind das für Zukünfte? Welches sind die treibenden Kräfte hinter bestimmten Entwicklungen? Und wie könnte es in Deutschland aussehen, wenn ein bestimmtes Szenario wirklich einträte?
In intensiven Offline- und Onlinedialogen sind wir aber noch einen Schritt weitergegangen und haben die Szenarien und die ihnen zugrunde liegenden Einflussfaktoren diskutiert und bewertet. Daraus konnten wir ablesen, wohin wir gelangen werden, wenn wir weiterhin auf Sicht fahren. Aber wir konnten auch erkennen, welche Szenarien die Grundlage für ein visionäres Zielbild abgeben könnten – und welcher Veränderungen es bedürfte, um diesem Ziel näher zu kommen. Daher geht dieses Buch über die Szenarien hinaus und zeigt strategische Leitlinien auf, wie wir Deutschland neu denken könnten – und aus unserer Sicht vielfach neu denken sollten.
Die Initiative »Deutschland 2030 – eine Landkarte für die Zukunft« möchte sich auch weiter in den Zukunftsdiskurs einmischen, – indem sie die Landkarte der Zukunft fortschreibt, einen Zukunftsindex entwickelt und insgesamt der Zukunft eine Stimme gibt.
All das können wir natürlich nicht alleine. Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, während oder nach der Lektüre den Impuls verspüren, sich am Diskurs über Deutschlands Zukunft aktiv zu beteiligen, oder uns einfach nur Ihre Kommentare und Sichtweisen mitteilen möchten, dann sind Sie herzlich dazu eingeladen: mit neuem Denken, mehr Innovationsfreude und Mut zur Zukunft!
Berlin und Paderborn im Januar 2018
Klaus Burmeister,Alexander Fink,Beate Schulz-Montag,Karlheinz Steinmüller
1)  Die Initiative D2030 hat zur Bundestagswahl 2017 ein Memorandum veröffentlicht, das über die Wahl hinaus die Anliegen und Ziele prägnant formuliert. Das Vorwort knüpft an vielen Stellen an dieses Memorandum an.

Einführung

Kapitel 1
Deutschland 2030 – die Herausforderung
Wir wollen Deutschland einmal anders denken. Und zwar nicht nur in der Nacht – obwohl uns das Projekt »D2030« durchaus bisweilen um den Schlaf gebracht hat. Vor allem die Vorbereitung der großen Zukunftskonferenz »Deutschland 2030«, auf der wir die Ergebnisse unseres ein Jahr dauernden Szenarioprozesses vorstellten und mit 130 Zukunftsinteressierten diskutierten, war ein hartes Stück Arbeit. Nach zwei intensiven Tagen saßen wir – die vier Autoren dieses Buches, Karlheinz, Beate, Alex und Klaus – dann erschöpft, doch immer noch angespannt im Berliner Café Einstein in der Kurfürstenstraße, ließen die Konferenz Revue passieren, schmiedeten Pläne für dieses Buch (inklusive eines ersten Coverentwurfs auf der Papiertischdecke) und erlaubten uns einen kurzen Blick zurück. Was hatte gerade uns vier dazu gebracht, gemeinsam mit vielen anderen über die Zukunft Deutschlands nachzudenken?
Vor ungefähr 30 Jahren lag das Café Einstein 1.700 Meter entfernt von der Mauer, die Berlin, genau wie Deutschland und Europa, mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen teilte. Michael Gorbatschows Glasnost und Perestroika nährten zwar die Hoffnung auf politisches Tauwetter, aber die alten Herren in Erich Honeckers Partei- und Staatsapparat stemmten sich nach Kräften gegen jede Veränderung. In Bonn gab es ein Ministerium für innerdeutsche Beziehungen, in Ostberlin eines für Erzbergbau, Metallurgie und Kali, und in Westberlin wurde der Hamburger SV deutscher Pokalsieger (woran man sieht, wie lange das schon her ist).
Karlheinz schrieb zu dieser Zeit mit seiner Frau Angela an dem dritten gemeinsamen Science-Fiction-Roman »Der Traummeister«.2) Als freischaffende Schriftsteller konnten beide unter DDR-Bedingungen ein einigermaßen ruhiges Leben mit einigen kleinen Freiheiten führen – und mit der täglichen Gratwanderung zwischen Anpassung und eigenem Willen. Bekannte von ihnen engagierten sich in der Dissidentenszene, wurden verhaftet, in den Westen abgeschoben. Die Stasi unterwanderte ihren Freundeskreis – und verwanzte, wie sie später erfuhren, sogar die Sauna des Schriftstellerverbands. So packten die Steinmüllers die Angst vor der Bespitzelung, den Niedergang der Wirtschaft, die zerstörte Umwelt und all die dumpfe Stagnation der letzten DDR-Jahre in das Buch und schilderten einen Aufbruch, in dem die Menschen in ihrer fiktiven Stadt auf einem fernen Planeten lernen, ihre eigenen Träume zu träumen und sich für ihre eigenen Ziele einzusetzen.
Wie eine Stadt auf einem fernen Planeten lag auch Westberlin damals mitten im Staatsgebiet der DDR. Diese Isolation machte die »Frontstadt im Kalten Krieg« zum Kultort und Biotop für alternative Lebensentwürfe. Und so zog es auch Beate – aufgewachsen in einem diskussionsfreudigen, sozialdemokratisch geprägten Elternhaus – 1980 von Hamburg zum Studium der Publizistik, Politologie und Germanistik an die Spree. Beates Politisierung nahm Fahrt auf mit den Anti-AKW-Protesten und der Hausbesetzerbewegung, in deren Verlauf allein in Berlin rund 280 Häuser »instand besetzt« wurden. Brennende Barrikaden waren ihre Sache aber nicht, und so trat sie 1982 der Alternativen Liste (AL) bei, wurde Fraktionsassistentin für »Computer und Medien« im Berliner Abgeordnetenhaus, Redakteurin der taz und freie Journalistin, die regelmäßig in den Ostteil der Stadt reiste, um sich dort mit Oppositionellen, Künstlern und Autoren zu treffen, damit deren Anliegen wenigstens in westlichen Medien Gehör fanden.
Ähnlich wie Beate hatte auch Klaus nach seiner Ausbildung zum Starkstromelektriker seinen Parka mit dem »Willy wählen«-Button im Westen gelassen und war zum Politologiestudium über Hamburg nach Berlin gezogen. Seinen Mitgliedsausweis der IG Metall behielt er allerdings (bis heute), schloss sich nie einer »K-Gruppe« an und verstand sich als »Undogmatischer«. Zu einem ersten Zusammentreffen der beiden kam es, als sie mit einer Vielzahl von jungen Bewegten – alternativen Radiomachern, Verkabelungsgegnern, Volkszählungsboykottlern und Datenschützern – die Gegen-Funkausstellung »Bildstörung« organisierten. Klaus war klar, dass in diesem Bereich wichtige Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden – und so wurden die Forschungs- und Technologiepolitik, die »mikroelektronische Revolution« und die Debatte zur Zukunft beziehungsweise zum Abschied von der Arbeit nicht nur Themen seiner ersten Buchveröffentlichung,3) sondern Themen, die ihn bis heute bewegen.
Wären Beate und Klaus in diesen Jahren auf Alex getroffen, dann vielleicht auf der Besucherplattform am Reichstag, von der aus man über die Mauer sehen konnte. Dorthin führte Alex seine Reisegruppen, die er als Vorsitzender eines Stadtverbands der Jungen Union (übrigens mit 14 Jahren vermutlich der Jüngste in Deutschland) aus der Nähe von Bremen nach Berlin begleitete. Diskutiert hätten sie vermutlich sehr kontrovers, emotional und tendenziell auch lautstark: über Nachrüstung, über Atomenergie, über Datenschutz – und nicht zuletzt über das geteilte Deutschland. Zwei Jahre vor der Wende und gerade mit der Ehrenmedaille der Bundeswehr ausgezeichnet, startete Alex dann sein Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Paderborn und gab dort gleichzeitig ein Stadt- und Szenemagazin heraus, in dem immer wieder neue Trends aufgegriffen wurden.
Alle vier trieb also schon in den späten 1980er-Jahren das Zukunftsthema um – als Science-Fiction-Autor, als Politikerin und Journalistin, als Wissenschaftler in der Zukunftsforschung oder als Student mit Hang zum Unternehmertum. Signale eines sich andeutenden Umbruchs hatten alle vier ausgemacht, und doch wurden sie überrascht, als im Herbst 1989 unweit vom Café Einstein die Mauer fiel.
15 Jahre später – am Anfang der 2000er-Jahre – bereitete sich das wiedervereinigte Deutschland darauf vor, die geliebte D-Mark in eine neue Währung umzutauschen, den Euro. Deutsche Soldaten waren Teil der SFOR-Mission in Bosnien-Herzegowina, doch ökonomisch galt das Land als »der kranke Mann Europas« (und verstieß in den 2000er-Jahren gleich fünfmal gegen die Euro-Stabilitätskriterien). In Berlin stürzte Klaus Wowereit in einem Bündnis mit den Grünen und der PDS den langjährigen CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen – und fand sich wieder in den Worten »Berlin ist arm, aber sexy«.
Das Thema »Zukunft« schrieben sich nun alle vier auf ihre Fahnen. Bei Beate hatte bereits zehn Jahre zuvor die Begegnung mit Robert Jungk einen tiefen Eindruck hinterlassen – insbesondere die von ihm mitentwickelte »Zukunftswerkstatt«, eine Moderationsmethode für eine entschieden beteiligungsorientierte Zukunftsgestaltung, die Menschen ermächtigt, ihre Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen. Und so war der Entschluss gereift, den Journalismus an den Nagel zu hängen und in die Zukunftsforschung zu wechseln, genauer gesagt, an das Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) in Berlin, wo sie wiederum auf Klaus traf, der dort bereits als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war.
Karlheinz hatte die Wildcard der deutschen Einheit schon früh nach Gelsenkirchen an das neu gegründete Sekretariat für Zukunftsforschung geführt. »Für mich«, sagt er heute, »war die Zukunftsforschung die Fortsetzung der Science Fiction mit anderen Mitteln. Als Ossi erzählte ich nun den Wessis, wo es langgeht.« Zusammen mit Klaus gründete er 1997 das Beratungsunternehmen Z_punkt The Foresight Company, das allmählich wuchs und zu dem drei Jahre später auch Beate stieß. Gemeinsam griffen sie vor allem das Thema Megatrends auf und machten es für Unternehmen nutzbar.
Auch Alex hatte inzwischen über eine Diplomarbeit zur Zukunftsforschung gefunden, genauer gesagt zur Szenariotechnik. 1995 wurde der eigene Ansatz des Szenariomanagements in einem ersten Buch veröffentlicht.4) Nach der Promotion am Heinz Nixdorf Institut gründete er 1998 zusammen mit Andreas Siebe und Oliver Schlake die Scenario Management International AG (ScMI). Ihr Credo war es, in einem systematischen und kreativen Ansatz nicht nur gute Szenarien zu entwickeln, sondern diese Zukunftsbilder auch erfolgreich in Strategie-, Innovations- und Foresightprozessen einzusetzen.
In diesen Jahren kannten sich die vier Autoren zwar – aber vornehmlich von Konferenzen und »Pitches«, bei denen sie als Wettbewerber gegeneinander antraten und um Aufträge von Zukunftsplanern und Entscheidern großer Unternehmen sowie öffentlicher Auftraggeber warben.
In den letzten 15 Jahren hat sich die Welt abermals verändert: Deutschland gilt zwar weiterhin als Schwergewicht in der alten industriellen Welt, aber seine Rolle in der neuen, digitalen Wirtschaft, in der Daten als das Öl des 21. Jahrhunderts gelten, ist keineswegs gesichert. Was ist der 2017 gemessene Rekordstand der Beschäftigtenzahlen in Deutschland wert angesichts der Umbrüche, die durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz auf uns zukommen? Und was bedeuten globale Konflikte, eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung und das Erstarken regressiver Bewegungen in nahezu allen wesentlichen Gesellschaften für Deutschland? Wie machen wir unser Land zukunftsfest?
Klare und eindeutige Antworten gibt es auf diese Fragen nicht. Das wird deutlich, wenn man unser Land mit dem Deutschland vor der Einheit (also vor rund 30 Jahren) und dem Deutschland während der Jahrtausendwende (also vor rund 15 Jahren) vergleicht. Wer hätte sich 1988 eine rot-rot-grüne Regierung in einem wiedervereinigten Berlin vorstellen können? Und wer dachte in den frühen 2000er-Jahren, dass heute ein US-Präsident Abschied von Globalisierung, Gewaltenteilung und westlichen Werten nehmen würde? Starre Prognosen und eindimensionale Trends helfen uns daher nicht weiter. Wir müssen vielmehr verschiedene denkbare Zukünfte für Deutschland entwickeln – also in Szenarien denken.
Diese Idee trieb Klaus und Beate um, nachdem sie 2015 das foresightlab als Plattform für die Realisierung von Foresight- und Innovationsprojekten gegründet hatten. Und sie mündete in ein unabhängiges und partizipatives Projekt mit einer breiten Beteiligung unterschiedlichster Akteure: »Deutschland 2030«. Das Ziel dieses Projektes war es, erstmalig mit breitem und vernetztem Blick eine »Landkarte der Zukunft« zu entwickeln, zu interpretieren und mit zentralen Botschaften und Impulsen aus der Perspektive der wissenschaftlichen und partizipativen Zukunftsforschung die politischen Entscheidungsträger und Zukunftsinteressierten zu erreichen. Zusammen mit Karlheinz, Alex sowie einem größeren Kernteam, einem kompetenten Fachbeirat und einem Kreis von rund 200 Zukunftsbotschaftern wurde über zwölf Monate gearbeitet – bis die vier nach der Zukunftskonferenz einigermaßen übermüdet in Café Einstein saßen.
In diesem Buch wollen wir die zentralen Gedanken und Ergebnisse zusammenfassen: die Szenarien (Abschnitt 1), die daraus resultierenden Leitlinien (Abschnitt 2) sowie – für die besonders an technischen Details interessierten Leser – die Bausteine, aus denen die Szenarien und Leitlinien entstanden sind (Abschnitt 3). Zuvor wollen wir aber noch einen Blick darauf werfen, wie wir in den mittlerweile 18 Monaten bis zur jetzt vorliegenden ausführlichen Fassung der Szenarien und ihrer Auswertung vorgegangen sind.
2) Steinmüller, Angela und Karlheinz: Der Traummeister. Das Neue Berlin, Berlin 1990.
3) Burmeister, Klaus: Zukunftsmetropole Berlin. Kritik und Perspektiven wirtschaftspolitischer Leitbilder. Edition Sigma, Berlin 1988.
4) Gausemeier, Jürgen/Fink, Alexander/Schlake, Oliver: Szenario-Management. Planen und Führen mit Szenarien. Hanser, München 1995.
Kapitel 2
Deutschland 2030 – der Prozess
Im Untertitel verspricht »Deutschland 2030« nicht mehr oder weniger als »eine Landkarte der Zukunft«. Warum aber eine Landkarte? Hätten wir nicht auch einfach von »unserem Weg in die Zukunft« schreiben können? Sicherlich. Aber dass wir den für einige vielleicht etwas sperrigen oder angestaubten Begriff der Landkarte gewählt haben, hat etwas damit zu tun, wie wir überhaupt mit Zukunft umgehen:
In unserem Alltag greifen wir in der Regel auf Erfahrungen zurück und verstehen die Zukunft als Verlängerung der Vergangenheit: Wir extrapolieren. Das funktioniert in vielen Situationen gut – aber eben nicht in allen. Wird uns klar, dass Zukunft doch anders aussieht als Vergangenheit und Gegenwart, dann setzen wir uns (häufig notgedrungen) mit Veränderungsprozessen auseinander. Dazu versuchen wir diese Veränderungen, so gut es geht, zu erkennen und zu beschreiben – meistens in Form von Trends. Egal, ob kurzfristige Modetrends oder langfristige Megatrends: Ihnen ist gemein, dass sie uns einen klaren Weg in die Zukunft skizzieren, an dem wir uns orientieren können. Wohlgemerkt: einen Weg!
Genau an diesem Punkt scheitern viele Prognosen. Denn je komplexer und unsicherer unsere Welt wird, desto offensichtlicher wird auch, dass es unmöglich ist, den einen eindeutigen Weg in die Zukunft zu beschreiben. Wer kann schon sagen, wie sich Digitalisierung auf unsere Arbeitsmärkte auswirkt, wie sich Kunden morgen verhalten und wer die nächste Wahl gewinnen wird? Es gibt mehr als eine Möglichkeit – es gibt mehrere Zukünfte. Dieses zukunftsoffene, uneindeutige Denken erscheint im ersten Moment als anstrengend, verwirrend und kaum zu handhaben. Bei näherem Hinsehen ist es allerdings die Grundlage dafür, in unserer heutigen Welt mit dem Thema Zukunft überhaupt umgehen zu können.
Im D2030-Prozess haben wir daher verschiedene denkbare Zukünfte – sogenannte Szenarien – entworfen. Dabei handelt es sich um plausible, in sich stimmige Zukunftsbilder, die eintreten könnten, aber nicht zwangsläufig eintreten werden. Entwickelt werden solche alternativen Szenarien so, dass sie sich möglichst stark voneinander unterscheiden. Aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit spannen die Szenarien einen Möglichkeitsraum auf – sie bilden in ihrer Gesamtheit sozusagen eine »Landkarte der Zukunft«.
Wie bei jeder Landkarte war es auch hier zunächst wichtig, den richtigen Ausschnitt zu wählen. So haben wir uns im Rahmen von D2030 auf die von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entscheidern in Deutschland maßgeblich beeinflussbaren Größen konzentriert. Externe Größen wie das Verhalten anderer Länder, Rohstoffpreise oder technologische Durchbrüche nehmen zwar Einfluss auf Deutschland und bilden insofern den Rahmen für unsere Szenarien, unser Fokus waren hier jedoch die inneren, von uns in Deutschland beeinflussbaren Faktoren. Entstanden sind daher Gestaltungsszenarien, die auch als mögliche Zielbilder in einer normativen Diskussion verstanden werden dürfen.
Die D2030-Szenarien haben wir entsprechend der Methodik des Szenario-Managements5) systematisch erstellt. So sind sie einerseits nachvollziehbar und damit andererseits auch bewertbar und später gegebenenfalls korrigierbar. Umgesetzt wurde dieser methodische Ansatz in einem partizipativen Verfahren, denn wir wollten von vorneherein keinen Prozess, in dem Experten hinter verschlossenen Türen und mit einer mehr oder weniger intransparenten Vorgehensweise Zukunftsbilder entwerfen. Daher sind alle Schritte des D2030-Prozesses öffentlich. Zudem sind sämtliche von unserem Kernteam erarbeiteten Zwischenergebnisse in drei Onlinedialogen intensiv geprüft und in der Folge häufig noch einmal modifiziert worden.6)
Abbildung 1: Methodisches Vorgehen.
Mit dem D2030-Prozess haben wir gleichzeitig auch methodisches Neuland betreten, was an den folgenden Punkten deutlich wird:
Wir haben in unserem Szenarioprozess erstmalig einen Ansatz verfolgt, der versucht, Deutschland ganzheitlich in den Blick zu nehmen – und die Zukunft nicht auf einzelne Domänen wie Ökologie, Innovation oder Mobilität reduziert.
Wir haben die Komplexität, die mit einem solchen übergreifenden Ansatz verbunden ist, beibehalten und sie auch in die verschiedenen Beteiligungsrunden hineingetragen, was sich als ausgesprochen schwierig erwiesen hat.
Unsere materiellen und zeitlichen Ressourcen waren begrenzt, und wir hätten diese Ergebnisse ohne die ehrenamtliche Mitarbeit und Bereitschaft vieler Mitglieder des Kernteams, unserer Zukunftsbotschafter sowie der Teilnehmer der Onlinedialoge und der Zukunftskonferenz nicht schaffen können.
Für eine Fortführung und Weiterentwicklung haben wir viel gelernt, und wir würden heute einiges auch anders machen.
Nachfolgend erläutern wir die sechs zentralen Schritte, von denen die ersten drei Schritte zur Szenarioentwicklung gehören (»Entwerfen der Landkarte«), während die zwei Folgeschritte die Szenariointerpretation umfassen (»Lesen der Landkarte«).

Schritt 1: Schlüsselfaktoren – welche Stellschrauben über Deutschlands Weg in die Zukunft entscheiden

Die Qualität eines Szenarioprozesses hängt davon ab, dass am Anfang genau und umfassend bestimmt wird, welche Faktoren (Trends, Entwicklungen, mögliche Umbrüche, Entscheidungen von wichtigen Akteuren …) das Szenario maßgeblich beeinflussen, welche hingegen als weniger wichtig ausgeklammert werden können und welche dieser Faktoren zudem mit einem hohen Maß von Unsicherheit behaftet sind – die sogenannten Schlüsselfaktoren. In unseren D2030-Szenarien waren dies allerdings keine externen Faktoren, die wichtige äußere Einflüsse beschreiben, sondern solche, über deren zukünftige Ausprägung die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteure in Deutschland entscheiden können. Die Schlüsselfaktoren sind also hier die Stellschrauben, die über Deutschlands Weg in die Zukunft bestimmen.
Im D2030-Prozess wurden zunächst sechs Systembereiche identifiziert (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Einflussbereiche und Schlüsselfaktoren.
Für diese sechs Systembereiche wurden sodann 28 Schlüsselfaktoren erarbeitet, die im ersten Onlinedialog überprüft und kommentiert wurden. Auf Basis der Ergebnisse dieses ersten Online-Dialogs wurden die Faktoren inhaltlich überarbeitet und durch zusätzliche ergänzt. Ergebnis war der in Abbildung 2 dargestellte Katalog von 33 Schlüsselfaktoren, der als Basis für unsere Szenarien verwendet wurde. Anders ausgedrückt: Diese 33 Faktoren sind offene Fragen, auf die unsere Szenarien jeweils eine zusammenfassende Antwort geben werden.

Schritt 2: Zukunftsprojektionen – wie sich die Schlüsselfaktoren entwickeln könnten

Der zweite Schritt ist das Herz der Szenarioentwicklung, denn hier wird in die Zukunft jedes Schlüsselfaktors geblickt. Dabei lautet die Frage nicht, wie die eine, zu erwartende Zukunft aussehen wird – es handelt sich also um keine Prognose! –, sondern welche alternativen Entwicklungen denkbar sind. Solche möglichen Entwicklungen werden als »Zukunftsprojektionen« bezeichnet und können als die Bausteine der Szenarien verstanden werden.
In vielen Szenarioprozessen werden an dieser Stelle einfache Projektionen entwickelt, nach denen ein Schlüsselfaktor sich positiv, negativ oder mittelmäßig entwickeln kann. In der Konsequenz führt dies häufig zu einem positiven Best-Case-Szenario, in dem die meisten positiven Projektionen enthalten sind, zu einem negativen Worst-Case-Szenario, in dem sich die meisten negativen Projektionen wiederfinden, und zu einem mittleren Szenario, auf das sich später alle verständigen können. Der Mehrwert eines solchen Szenarioprozesses ist dann erfahrungsgemäß begrenzt.
Daher haben wir im D2030-Prozess einen anspruchsvolleren Weg der Projektionsentwicklung gewählt: Für jeden Schlüsselfaktor wurden mehrere Ungewissheiten identifiziert und als offene Fragen formuliert. So interessierte uns beim Schlüsselfaktor »Digitalisierung der Wirtschaft« beispielsweise, welche Folgen die Digitalisierung für den Arbeitsmarkt haben könnte. Gleichzeitig sollten wir aber betrachten, welche Wettbewerbsposition Deutschland in der neuen Digitalwirtschaft erringen kann. Aus der Kombination der jeweils beiden entscheidenden Fragen ergaben sich dann die Zukunftsprojektionen – also beispielsweise eine Entwicklung, in der die digitale Transformation zwar die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sichert, sich gleichzeitig aber die Spaltung auf dem Arbeitsmarkt verschärft. Die so entstandenen Zukunftsprojektionen bieten weit mehr als einen Schwarz-Weiß-Blick auf die Zukunft, und sind insofern geeignete Bausteine für interessante Szenarien.

Schritt 3: Szenarien – welche Zukunftsbilder unsere Landkarte aufspannen

Einfach gesagt, ging es im dritten Schritt darum, aus den vorliegenden Bausteinen (= Zukunftsprojektionen) plausible und in sich stimmige, also konsistente Szenarien zu entwickeln. Wichtig war dabei, dass Wahrscheinlichkeiten keine Rolle spielten: Entscheidend war lediglich, welche Projektionen gut zusammenpassen. Auf diese Weise entstanden zunächst gleichwertige Szenarien, die später bewertet werden konnten.
Aber was ist schon einfach, wenn es um die Zukunft Deutschlands geht? Ein Szenarioprozess mit 33 Schlüsselfaktoren und insgesamt 149 Zukunftsprojektionen kann nicht einfach sein! Das wird allein daran deutlich, dass sich aus diesen Bausteinen theoretisch 3,276 Trilliarden7) mögliche Szenarien zusammenfügen lassen. Aber welches sind die richtigen? Wie lassen sie sich identifizieren? Dazu bedurfte es einiger Überlegungen.
Szenarien können grundsätzlich auf zwei Arten entwickelt werden: Im Top-down-Ansatz werden zunächst die Themen der Szenarien gesetzt, anschließend werden die Bausteine zugeordnet. Der Vorteil ist ein klarer, übersichtlicher Prozess, der Nachteil eine gewisse Beliebigkeit oder auch Beeinflussbarkeit des Ergebnisses. Im Bottom-up-Ansatz dagegen werden die Bausteine zunächst miteinander verknüpft, und aus der Analyse dieser Vernetzung ergeben sich dann die Szenarien. Dieser Weg ist der beschwerlichere – aber er ist nachvollziehbar und führt zu einer vollständigeren Abbildung des Möglichkeitsraums. Sie werden es ahnen: Wir haben uns bei D2030 für diesen beschwerlicheren Weg entschieden. (Diejenigen, denen das eigentlich egal ist, dürfen gerne gleich zu Schritt 4 weiterblättern.)
Um die für die Konsistenzanalyse entscheidenden Schlüsselfaktoren zu identifizieren, wurde an dieser Stelle eine Vernetzungsanalyse durchgeführt. Bei einer Vernetzungsanalyse werden die Wechselwirkungen von Einflussfaktoren untereinander bewertet, mit dem Ziel, die besonders aktiven und innerhalb des Gesamtsystems besonders wirkungsstarken Faktoren herauszufiltern. Die Visualisierung der Ergebnisse erfolgt in einem Aktiv-Passiv-Diagramm, wie es in Abbildung 3 dargestellt ist. Innerhalb dieses Diagramms lassen sich vor allem drei Arten von Faktoren hervorheben:
Hebelkräfte (oben links) üben einen starken Einfluss auf das betrachtete System aus, während sie von diesem nur wenig beeinflusst werden. Daher sind sie ideal für Lenkungseingriffe.
Systemknoten (oben rechts) sind stark in das Systemgefüge eingebunden. Sie drücken aufgrund ihrer starken Vernetzung mit anderen Faktoren, also ihrem hohen Vernetzungsgrad, einen großen Teil der Systemdynamik aus und bilden insofern häufig den Grundstock für die Schlüsselfaktoren.
Systemindikatoren (unten rechts) verfügen über eine geringe Aktivität – werden aber von vielen anderen beeinflusst. Es sind daher Größen, die sich schnell verändern und daher kurzfristig viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Diese Vernetzungsanalyse lieferte eine Reihe wichtiger Informationen für die einzelnen Systembereiche:
Wirtschaft und Finanzen: Diese Systemebene kann als insgesamt dynamisch angesehen werden, mit den Schlüsselfaktoren Wohlstandsentwicklung [1], Deutschlands Rolle in der Weltwirtschaft [2], Konsummuster [4] sowie Wirtschaftspolitik [5] als vernetzten Systemknoten, also Faktoren, die sowohl über eine hohe Wirkungsstärke verfügen als auch starken Einfluss auf das System ausüben. Besonders relevante Fragen waren die Teilhabe der mittleren und unteren Einkommen am wirtschaftlichen Erfolg sowie die Zukunft Deutschlands als Industrie- und Fertigungsstandort.8)
Bildung, Arbeit und Innovation: Hier zeigte sich vor allem der Schlüsselfaktor Arbeitsmarkt [12] als Systemknoten. Ebenfalls hervorzuheben sind die beiden Digitalisierungsfaktoren, wobei die Digitalisierung der Wirtschaft [7] eher als Hebelkraft und die Digitalisierung der Gesellschaft [8] eher als Indikator anzusehen ist. Als zentrale Frage zeigte sich hier das Arbeitsvolumen in der digitalen Gesellschaft.
Politik und Medien: In diesem Bereich konnten die Schlüsselfaktoren Politische Handlungs- und Entscheidungsspielräume [13] sowie Demokratie mit Bürgerbeteiligung und Akzeptanz [14] als hochvernetzte Faktoren identifiziert werden. Hinzu kam die Finanz- und Haushaltspolitik [15] als Hebelkraft. Zentrale Fragen waren hier die Akzeptanz des politischen Systems und die Bedeutung autoritärer Strukturen, der Grad der direkten Demokratie und die öffentlichen Investitionsvolumina.
Bevölkerung, Soziales und Kultur: Bei der Vernetzungsanalyse erwies sich die Werteorientierung der Gesellschaft [21] als der Faktor mit der insgesamt höchsten Systemvernetzung. Hinzu kamen aus diesem Bereich noch die Schlüsselfaktoren Zuwanderung [19], Integration [20] sowie Wertebasis und Wertekonflikte in der Gesellschaft [22]. Zentrale Fragen waren hier der Grad von Materialismus und Individualisierung, die Offenheit der Gesellschaft sowie der Umfang staatlicher Gewährleistung.
Umwelt, Energie, Stadt und Raum: Dieser Bereich zeigte sich mit insgesamt nur moderater Vernetzung, was an dem für ökologische Fragen und Wirkungen relativ kurzen Zeitraum bis 2030 liegen dürfte. Die höchste Vernetzung wies hier der Umgang mit natürlichen Ressourcen [28] auf, als wichtigste Fragestellung ergab sich die Bedeutung von Wirtschaftsinteressen in Relation zu Umwelt- und Naturschutzfragen.
Sicherheit und Außenbeziehungen: Im sechsten Bereich hatten alle Faktoren eine hohe Hebelkraft, wobei Deutschlands Rolle in Europa [30] und die innere Sicherheit [33] stärker mit dem System vernetzt waren, während die äußere Sicherheit [31] schon fast als externer Treiber angesehen werden konnte. Zentrale Fragen aus diesem Bereich waren die gefühlte Sicherheit, die Entwicklung der Europäischen Union und das Sicherheitssystem, also insbesondere die Möglichkeit des Rückgriffs auf die NATO.
Abbildung 3: Aktiv-Passiv-Diagramm für die Schlüsselfaktoren.
Mithilfe dieser Vernetzungsanalyse wurden 24 Schlüsselfaktoren priorisiert und für die nachfolgende Konsistenzanalyse ausgewählt. Auf ihrer Basis sind acht Rohszenarien entstanden, erste, grobe Szenariobeschreibungen. Ihnen wurden dann in einem Folgeschritt die Projektionen der neun weiteren Schlüsselfaktoren zugeordnet.
Unsere Landkarte der Zukunft basiert auf dieser Grundlage. Dabei führt ein statistisches Verfahren, die sogenannte Multidimensionale Skalierung (MDS), zunächst zu den auf der linken Seite der Abbildung 4 dargestellten Ergebnissen. Sie zeigt einzelne denkbare Zukünfte als Kreise, die mit der MDS entsprechend ihrer Ähnlichkeit angeordnet werden. Jeder Kreis stellt dabei eine Kombination von je einer Projektion mit jedem der 33 Schlüsselfaktoren dar.
Die unterschiedlichen Farben repräsentieren unsere acht Rohszenarien. Es wird also deutlich, dass ein einzelnes Szenario nicht bloß eine solche Kombination beinhaltet, sondern auf einer Vielzahl ähnlicher Zukünfte (= Kreise) aufsetzt. Zur leichteren Lesbarkeit wurde dieser MDS-Graph anschließend in die rechts gezeigte »Landkarte« überführt, wobei jedes Rohszenario nur noch durch einen Kreis repräsentiert wird. Die Grundaussagen bleiben auf diese Weise erhalten: Szenarien, die einander ähnlich sind, werden auf der Landkarte dicht beieinander angeordnet, während stark unterschiedliche Szenarien am jeweils entgegengesetzten Rand der Landkarte dargestellt sind.
Rein mathematisch gesehen, bedeuten die Achsen in der Multidimensionalen Skalierung nichts. Die MDS drückt lediglich aus, wie stark sich die einzelnen Zukünfte (und damit auch die einzelnen Szenarien) unterscheiden: Je weiter sie auseinanderliegen, desto stärker unterscheiden sie sich – die Landkarte könnte also beispielsweise auch um 37,6 Grad nach links oder rechts gedreht werden.