Diablo: Der Orden - Roman zum Game - Nate Kenyon - E-Book

Diablo: Der Orden - Roman zum Game E-Book

Nate Kenyon

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Beschreibung

Auf der Suche nach den verlorenen Mitgliedern der Horadrim, sieht sich Deckard zu einer Allianz mit einer ungewöhnlichen Verbündeten gezwungen: Leah, ein 8-jähriges Mädchen, von dem viele glauben, sie stehe unter dämonischem Einfluss. Was verbirgt sie? In welchem Zusammenhang steht sie mit dem prophezeiten Ende aller Tage? Und falls es wirklich weitere Horadrim gibt, werden sie dazu in der Lage sein, die drohende Vernichtung abzuwenden? Dies sind die Fragen, die Deckard Cain beantworten muss… bevor es zu spät ist.

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DIABLO: Der Sündenkrieg I – Geburtsrecht

Richard A. Knaak, ISBN 978-3-8332-4022-5

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THE ART OF DIABLO

Großformat im Hardcover, ISBN 978-3-8332-3835-2

Weitere Titel und Infos unter www.paninishop.de

Ins Deutsche übertragen

von Tobias Toneguzzo & Andreas Kasprzak

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Englische Originalausgabe: „DIABLO: The Order“ by Nate Kenyon published in the US by Gallery Books/Simon and Schuster Inc., New York, May 2012.

Copyright © 2022 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70176 Stuttgart.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Lektorat: Joern Rauser, Katja Dudik

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Book design by Anne Metsch

Satz und E-Books: Greiner & Reichel, Köln

YDDITP008E

ISBN 978-3-7367-9832-8

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-4190-1

1. Auflage, Juni 2022

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Für Abbey, mein kleines Mädchen, das vielleicht eines Tages den Mut aufbringt,dies zu lesen … aber jetzt noch nicht.

Prolog

Erinnerung – Tristram, 1213

Obwohl die Flammen des Feuers so heiß waren, dass sich der weiche Flaum auf seinen Wangen kräuselte, schob der Junge die Hände in seine wollene Tunika, als wollte er sie wärmen. Er hatte schmächtige Schultern, und trotz der Jugend war sein Gesicht schmal und ausgezehrt, sodass er viel älter als elf Jahre wirkte. Um den Hals trug er einen Beutel aus Rehleder, und in einer seiner Taschen steckte ein schweres Buch, das gegen seinen Körper drückte und rote Flecken in seine Haut zwickte. Doch es kümmerte ihn kaum, ebensowenig wie das, was die anderen über ihn sagen mochten. Er hatte keine echten Freunde, war von Natur aus ein Einzelgänger, der sich nur bei seinen Schriften zu Hause fühlte, und genauso – fand er – sollte es auch sein.

Der Schein des Feuers zuckte und tanzte über die anderen Kinder, die hier saßen, ihre Gesichter machten einen verzückten und glühenden Eindruck, in spiritueller Ekstase nach oben gerichtet, als wäre die Gestalt, die vor ihnen stand und ihnen Geschichten erzählte, der Erzengel Auriel selbst, herabgestiegen, um zwischen ihnen zu wandeln.

Nein. Das stimmte nicht. Unmerklich schüttelte der Junge den Kopf, von Abscheu erfüllt. Vor ein paar Jahren hätte er einen solchen Vergleich vielleicht noch angestellt, jetzt aber nicht mehr. Die Gestalt, die mit einer derartigen Zuversicht zu ihnen sprach, war nur seine Mutter, eine Sterbliche, die trotz ihrer Blutlinie kein tieferes Wissen besaß als sonst irgendjemand. Und falls die Erzengel tatsächlich existierten, würden sie ihre Zeit ganz sicher nicht damit vergeuden, einen so gottverlassenen Ort wie diesen hier zu besuchen.

Ein Holzscheit knackte und sandte einen solchen Schauer greller Funken in die Nacht hinauf, dass die anderen Kinder zusammenzuckten. Rauch waberte und trieb um ihre Köpfe herum. Mit sich trug er einen beißenden, bitteren Geruch, der den Gestank des Stalls unter ihnen noch überdeckte. Sie hatte die Kinder ganz in ihren Bann geschlagen, so wie immer. Die Alten im Dorf mochten die Augen verdrehen, wenn sie vorbeiging, und der Gastwirt und die Stadtwache konnten hinter ihrem Rücken darüber flüstern, dass sie nicht ganz richtig im Kopf sei, doch die Kinder kamen jedes Mal wieder, um ihr zu lauschen. Und sie glaubten an das, was sie hörten.

Bis sie älter wurden, dachte Deckard Cain, bis ihre Augen die Wahrheit erkannten.

„Das letzte der Großen Übel und der jüngste der Brüder, Diablo, der Herr des Schreckens, war der Stärkste von allen, und schrecklich anzuschauen. Es heißt, dass diejenigen, die ihn Auge in Auge ansahen, vor Furcht wahnsinnig wurden. Doch die Horadrim ließen in ihrem Streben niemals nach. Sobald Tal Rasha mit dem Herrn der Zerstörung für alle Ewigkeit unter der Wüste von Aranoch eingesperrt war, führte Jered Cain die verbliebenen Magier durch Khanduras, wo sie wieder und wieder gegen Diablos Horden kämpften.“ Aderes sah die Kinder der Reihe nach an und hielt ihre Blicke mit ihrem eigenen gefangen. Als sich ihre glänzenden Augen dann schließlich auf Cain richteten, wandte er den Kopf ab, als suchte er außerhalb des Feuerscheins nach etwas.

Die Stimme seiner Mutter stockte kurz, vielleicht holte sie aber auch nur Atem. „Mit ihrer mächtigen Magie fügten die Horadrim der Armee des Dämons großen Schaden zu. Doch aus den Brennenden Höllen beschwor Diablo weitere Tausend seiner schrecklichen Diener herbei, damit sie für ihn kämpften. Und schließlich entschied Jered, es auf einen letzten Kampf ankommen zu lassen. Der Erzengel Tyrael hatte die Horadrim aus einem einzigen Grund geformt: um die Großen Übel zu bekämpfen und sie aus unseren schönen Landen zu verbannen. So würde er nicht zulassen, dass sie an diesem Ziel scheiterten.“

Aderes Cains Haut hatte einen wachsartigen Schein, und die kohlschwarzen Locken klebten nass an ihrer Stirn. In ihren leer starrenden Augen lag der Blick der Verdammten. Deckard hatte diese Geschichte schon viele Male gehört, und jedes Mal, wenn sie sie erzählte, wurde sie noch pompöser und großartiger. Längst kannte er all die Wendungen und Überraschungen. Jetzt gleich würde sie die Kinder schockieren, indem sie ihnen offenbarte, dass die heldenhaften Magier ihre letzte Schlacht hier, in diesen Landen geschlagen hatten, und dass der Boden unter ihren Füßen dereinst schwarz gewesen war – vom Blut der Dämonen. Ihre Stimme würde noch lauter werden, während Jered und seine Brüder von den Horadrim Welle um Welle der monströsen Kreaturen zurückschlugen, bis sie Diablo schließlich in den Seelenstein einsperrten und ihn tief unter der Erde vergruben, wo er heute noch lag.

Früher hatte ihn die Legende fasziniert, doch heute war er kein kleines Kind mehr, und seine Mutter und ihr zunehmender Wahnsinn erfüllten ihn inzwischen mit Unbehagen. Jetzt gab es Wichtigeres, womit er sich beschäftigen wollte, und er konnte es nicht ertragen, ihr noch weiter zuzuhören. Als sie sich kurz abwandte, um die anderen anzublicken, schob er sich nach hinten aus dem Kreis heraus und verschwand in der kühlen Nacht.

Abseits des Feuers war die Luft feucht und viel kühler. Barfuß schritt Deckard durch das glitschige Gras und zog die Tunika dabei enger um seinen dürren Körper. Er konnte seinen Atem in der Luft sehen, der wie eine Kreatur aus einer anderen Welt emporzusteigen schien. Irgendwo weiter unten, in der Nähe des Stalls, fluchte ein Mann, als ein Schaf auf der Schlachtbank schrie, und der Wind trug den süß-sauren Geruch von Blut herbei. Rings um die Bäume am Rande des Waldes wogte der Nebel, und ein Schauder rann wie die Berührung von Geisterfingern über Deckards Nacken. Er fröstelte und hielt auf sein Zuhause zu, das sich keine fünfzig Schritte entfernt befand.

Im Innern brannten nahe dem schmalen Eingang zwei Laternen. Doch keine davon hob er auf, sondern hüllte sich weiter in Dunkelheit, während er geräuschlos zu seinem Zimmer stapfte. Den Weg kannte er auswendig. Auch im Haus war es kalt, kälter, als er eigentlich erwartet hätte. Seine Finger berührten den Einband des Buches in seinem Beutel und streichelten es, holten es aber nicht hervor. Noch nicht. Er zog den Augenblick genüsslich in die Länge, wie ein Trunkenbold, der sich den Geschmack des Weines eine Sekunde länger vorenthält, bevor er das Glas schließlich an die Lippen hebt. Es war ein Buch über die Geschichte der Westmark und der Söhne von Rakkis, eine Gelehrtenschrift, so ganz anders als jene Texte, die seine Mutter gerne las: Das waren die Geschichten von noblen Helden und unmöglichen Welten – über und unter dieser Welt –, deren Bewohner stets knapp außer Sicht der Menschen umhertänzelten. Das war der Stoff, aus dem Folklore gemacht war.

Er wollte eine Weile allein sein. Doch nur Sekunden später hörte er, wie sich die Tür erneut öffnete, als seine Mutter eintrat und ihre schweren Holzschuhe bei der Feuerstelle auf den Boden fallen ließ. Bald würde sie ein Feuer machen und einen Kessel für den Tee aufsetzen, und dann würde er ihr tonloses Summen hören, wenn sie in ihrem Schaukelstuhl saß und strickte oder las. Doch er irrte sich: Sie kam geradewegs auf sein Zimmer zu, und er hatte eben noch Zeit, das Buch unter seinem Bett zu verstauen und sich hinzusetzen, bevor sie an der Tür klopfte und hereintrat.

„Deckard?“ Sie hob eine Laterne, um die Dunkelheit zu vertreiben, und blickte aus zusammengekniffenen Augen zu ihm hinüber. „Du hast den Kreis verlassen, bevor ich fertig war.“ So wie ihr das Haar in dem warmen, gelben Schein in schweren Locken über die Schultern fiel, sah sie aus, als löste sie sich auf. An ihrer rechten Schläfe war der Ansatz einer grauen Strähne zu erkennen. Das war Cain zuvor noch gar nicht aufgefallen.

„Ich habe die Geschichten doch schon viele Male gehört. Ich war jetzt müde und wollte mich ausruhen.“

„Das sind nicht einfach nur Geschichten, Deckard. Jered ist dein Blut, und du – du bist der Letzte in einer stolzen Reihe von Helden.“

„Die Horadrim.“

„Genau. Unmittelbare Nachkommen der großen Magier, deren Aufgabe es ist, Sanktuario vor den Dämonen zu beschützen, die auf dieser Welt umherstreifen. Das weißt du doch.“

Cain zuckte die Achseln. Er sah ihr nur ungern so direkt in die Augen, da er nicht wusste, was ihn dort erwartete. Einen Moment lang saß er schweigend da, dann sagte er: „Warum durfte ich Vaters Namen nicht annehmen?“

Er hatte selbst keine Ahnung, warum er das jetzt sagte. Sein Vater war vor ein paar Wochen an einer zehrenden Krankheit gestorben, nachdem er den Großteil seines Lebens in der Gerberei gearbeitet hatte, zuerst hatte er den Boden gefegt, dann war er zum Lehrling geworden, und die letzten beiden Jahre hatte er schließlich als Leiter des Geschäfts gewirkt. Er war schweigsam gewesen, außerdem hatte er nur selten irgendwelche Gefühle gezeigt. Deckard hatte kaum Ähnlichkeit mit ihm. Andererseits – vielleicht doch.

Seine Mutter stellte die Laterne auf dem Tisch neben dem Bett ab und setzte sich zu ihm, dann streckte sie den Arm aus, um ihn an der Schulter zu berühren. Doch er drehte sich von ihr fort, zwar nur um eine Winzigkeit, aber weit genug, dass sie ihre Hand zurückzog, als hätte sie sich verbrannt. „Du bist verletzt, und du bist wütend“, sagte sie. „Ich verstehe das. Aber das bringt ihn auch nicht zurück.“

Er starrte seine Finger an, die er im Schoß verschränkt hatte, und spürte das Stroh unter der Decke, die an manchen Stellen grau und fadenscheinig geworden war, weil man sie so oft gewaschen hatte. Seitdem er der Krippe entwachsen war, war dies sein Bett gewesen, in diesem Zimmer, in diesem bescheidenen Zuhause in dieser Stadt. Hier passiert nie etwas.

Als er aufblickte, schimmerten die Augen seiner Mutter im Lampenlicht. „Ich habe deinen Vater geliebt, auf meine eigene Weise. Aber es ist nicht mein Schicksal, mich von dem Namen, den ich trage, abzuwenden, und deines ist es auch nicht. In den Schriften steht, dass sich die Horadrim eines Tages, wenn alles verloren scheint, wieder erheben werden und dass ein neuer Held sie in die Schlacht führen wird, um Sanktuario zu retten. Verstehst du? Dir ist Größeres vorbestimmt.“

Cain ballte die Fäuste. „Größeres? Die Horadrim sind alle fort, und um die Leere zu füllen, bist du eine Geschichtenerzählerin geworden. Aber die Leute von Tristram lachen über dich. Sieh dich doch um, Mutter! Wo sind denn deine Engel, deine Dämonen? Wo sind deine Helden? Die Horadrim sind schon lange tot, und die Stadt steht trotzdem noch!“

Er stand auf und trat zu dem winzigen Fenster hinüber. Sein ganzer Körper bebte. Du bist der Letzte in einer stolzen Reihe. Er wollte nichts mit diesem Unsinn zu tun haben, jetzt nicht mehr. Er wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden und seine eigenen Bücher lesen.

Die Nacht war schwer und feucht, der Nebel schien noch dichter geworden zu sein. Cain konnte sehen, wie der Dunst unter die Pfähle mit den Lampen kroch und den schlammigen Grund verbarg. Zwar hörte er, wie seine Mutter aufstand, zunächst aber wandte er sich ihr noch nicht zu. Erst als das Knistern von Flammen an seine Ohren drang, drehte er sich herum, und da sah er Aderes, mit seinem Buch in der Hand, wie sie es gerade über die aufgeklappte Laterne hielt. Die brüchigen, trockenen Seiten fingen Feuer, während die Augen seiner Mutter wie Teiche aus orangefarbenem und gelbem Licht leuchteten und die Hitze auf ihn zurückwarfen.

Mit einem Keuchen sprang er vor und riss ihr das Buch aus der Hand. Er schlug es gegen seine Brust, bis die Hitze seine Haut versengte, dann warf er es auf den Boden und trat die restlichen Flammen aus. Anschließend stand er da, seine Brust hob und senkte sich schwer. „Was hast du getan?“

„Das ist nicht Teil deines Schicksals“, erklärte sie. „Die Schriften, die für dich infrage kommen, findest du bei Jereds Sachen, falls du bereit bist, sie zu lesen. Ich habe sie für dich aufbewahrt.“

Er starrte auf die Überreste des Buches über die Westmark. Die Seiten waren versengt und geschwärzt, nicht mehr zu retten. Zorn ballte sich in Deckard zusammen und sammelte sich in seiner Kehle. „Deine Dämonen leben in dir, Mutter, aber nirgendwo sonst. Das kann ich dir garantieren. Falls sie kommen, wie du sagst, dann lass sie doch kommen. Falls es sie wirklich gibt, warum zeigen sie sich nicht?“

Ein unterdrückter Schrei entwich den Lippen seiner Mutter, dann presste sie sich die Hand vor den Mund, und schließlich machte sie einen stolpernden Schritt nach hinten. „Sei vorsichtig bei dem, was du dir wünschst, Deckard! Du hast ja keine Ahnung, was du herausforderst mit dieser …“

„Sollen sie doch kommen!“

Sein Kreischen erfüllte die Nacht, und das Echo rollte zu ihm zurück, bevor es erstarb. Einen Augenblick lang schien die Welt zu erstarren, und er spürte einen Windhauch, der wie eine eisige Liebkosung um seine Beine herumstrich. Sein Körper prickelte zu gleichen Teilen vor Aufregung und Furcht, beseelt von dem flüchtigen Wunsch, es möge sich etwas verändern, ganz gleich was, solange es ihn nur von diesem Ort fortbrachte. Er wusste, dass – wenn nichts geschehen würde – er genauso enden musste wie sein Vater. Dann mochte er in einer Gerberei arbeiten oder den vereinzelten Reisenden Fleisch verkaufen, jenen, die noch hierherkamen, um mit großen Augen das horadrische Kloster anzustarren, während es sich immer mehr in eine Ruine verwandelte. Er würde hier sterben, und seine Knochen würden im Boden versinken. Niemand würde sich an sein Leben oder seinen Tod erinnern.

„Ich möchte ja daran glauben“, sagte er, plötzlich unendlich müde. „Aber ich kann es nicht.“

Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Dann kann ich dir nicht helfen“, erklärte sie. „Du bist schon verloren.“ Ein Schluchzen blieb ihr im Halse stecken, als sie sich umdrehte und nach der Tür griff. Die Laterne ließ sie auf dem Tisch stehen, als sie das Zimmer verließ.

Ein Teil von ihm wollte ihr folgen, ihr sagen, dass es ihm leidtat, dass er die Dinge, die er gesagt hatte, nicht so gemeint habe. Aber seine Beine rührten sich nicht. Vielleicht hatte er die Worte ja doch genau so sagen wollen. Die Flamme der Laterne flackerte, als hätte der Atem einer unsichtbaren Präsenz sie berührt. Schatten tanzten über die Wand, und einen Augenblick lang glaubte er, ein Wispern zu hören: Deckaaard …

Eilig drehte er sich wieder zu dem kleinen Fenster herum, das der Nacht offen stand. Die Luft, die hindurchwehte, war eisig und viel kälter, als sie eigentlich sein sollte. Cain ging hinüber und spähte nach draußen, die Augen zusammengekniffen, um besser sehen zu können. Zuerst konnte er außer dem Dunkel und dem Nebel gar nichts erkennen. Aber dann war da eine Bewegung, die von den Feldern kam. Er zuckte zusammen, als ein umherstreunender Hund, auf der Suche nach Essensabfällen, mit einem leisen Jaulen davonschlich und in Richtung einer Ansammlung von Häusern verschwand.

Cain blickte den Hügel hinauf, zu dem alten Kloster, das wie eine archaische, leere Hülse über der Stadt aufragte, wie etwas, das aufgebraucht und längst verlassen war. Er zog die Tunika enger um sich, und kurz schauderte er vor Staunen über seine eigene Überheblichkeit. Tief in seinem Herzen betete er, dass etwas geschehen möge, um ihn von dem Pfad abzubringen, den er so deutlich vor sich sah. Aber er wusste schon: Nichts würde passieren. Das wirkliche Leben war eben ganz anders als diese Mythen.

Er hob die Seiten des Buches über die Westmark auf. Ihre geschwärzten Ränder zerfielen in seinen Händen zu Staub.

Sollen sie doch kommen.

Es dauerte noch weitere fünfzig Jahre, aber dann wurde Deckard Cains Wunsch Wirklichkeit.

1. TEIL

EIN STURM ZIEHT AUF

EINS

Ruinen der geheimen Lagerstätte der Vizjerei, Grenzlande, 1272

In den gewaltigen, dunklen Tiefen dessen, was folgen sollte, würde es nur wenig Zeit geben, um über den Augenblick nachzudenken, als die Grenze zwischen dieser Welt und der nächsten immer schneller zu zerbröckeln begann, bis alles außer Kontrolle geriet; die Explosion auf dem Berg hatte etwas von zwei Kriegern, die ihrem Untergang entgegenstürmen, deren Schwerter innerhalb eines Wimpernschlages vorbeizucken und die scheinbar ohne jeden Kratzer aus dem Kampf hervorgehen, bis sie plötzlich doch zu schwanken beginnen, ihre blutigen Münder aufklappen und ihre tödlichen Wunden sie in die Knie zwingen.

Vielleicht war aber auch dies der Moment, hier, in der endlosen, versengenden Hitze der Grenzlande, wo knapp außerhalb der Sichtweite die Ruinen lauerten. Die beiden Reisenden, die sich der Kuppe der letzten Düne näherten, hörten vielleicht ein Klingeln, wie von einem Stück Metall, das mit einem Hammer beschlagen wurde und in einer Tonlage vibrierte, die man zwar schon nicht mehr hören, in seinen Zähnen jedoch spüren konnte.

Die beiden machten gerade Rast, um etwas Wasser zu trinken. Das Sonnenlicht schimmerte auf der endlosen Sandfläche und grillte ihre Haut. Der Jüngere, ein stolzer Ritter der Westmark, der eine goldene Rüstung und einen roten Schild trug, spuckte einen gelben Schwall aus und wischte sich mit einem Stofffetzen das Gesicht ab, dann nahm er einen tiefen Schluck aus der Feldflasche, bevor er sie an seinen Begleiter weiterreichte.

Der ältere Mann – er trug eine graue Tunika mit Kapuze, einen Gürtel um die Hüfte und einen Rucksack über der Schulter – nahm seinen Gehstock in die andere Hand, um die Flasche halten zu können und seinerseits davon zu trinken. Seltsame Muster waren in seinen Gürtel geätzt, die die Farbe getrockneten Blutes hatten. Dieser Mann war so dünn, dass der Wind ihn hätte fortwehen können. Sein ungebändigtes weißes Haar und der lange Bart erweckten den Eindruck, als wäre er leicht verrückt. Aber da lag eine Stärke in ihm, die immer offensichtlicher geworden war, je länger die beiden miteinander reisten. Er ging langsam, aber mit stetem Schritt, ganz gleich, welche Tages- oder Nachtzeit es war, und mehr als einmal hatte der junge Mann Mühe gehabt, mit ihm mitzuhalten.

Der alte Mann deutete nach rechts, wo im Sand eine leichte Vertiefung zu sehen war, die eine Linie von vielleicht sechs Metern beschrieb, bevor sie wieder verschwand. „An dieser Stelle ist ein Dünenhai an die Oberfläche gekommen, um zu fressen“, sagte er. „In den Abendstunden werden sie angriffslustiger. Wir müssen vorsichtig sein.“

Das Ende der Vertiefung war mit dunkelroten Flecken besprenkelt. Blut. Der junge Mann hatte von den Dünenhaien gehört, schrecklichen Bestien wie Drachen, mit monströsen Zähnen und Klauen, die einen Menschen in Fetzen zu reißen vermochten. Doch mit seinem Schwert konnte er gegen jeden Feind aus Fleisch und Blut kämpfen; die Kreaturen, die nicht von dieser Welt stammten, waren es, die die größere Gefahr darstellten, dachte er, auch wenn er einem solchen Wesen noch nie begegnet war. Doch er wusste einiges über die Narben, die sein älterer Gefährte am Leib trug, und wenn er ihn so ansah, dann glaubte der junge Mann, dass sich sein Begleiter vermutlich sogar gegen diese Gegner zur Wehr setzen könnte.

Nach einem Moment der Rast folgten sie ihrem Weg weiter, und an der Spitze der nächsten Düne fanden sie schließlich, was sie gesucht hatten.

In der Ferne erhoben sich aus dem Sand zwei Säulen – wie gezackte Zähne. Sie endeten so abrupt, als hätte etwas Unmenschliches ihre Spitzen abgerissen. Das mochte auch durchaus so sein, dachte Deckard Cain, falls dies wirklich der Eingang zu den uralten Ruinen war, die den Vizjerei einst als Lagerstätte gedient hatten.

Er konnte nur Vermutungen anstellen, welche Arten von Grauen diesen Ort in den vergangenen Jahren heimgesucht haben mochten, beseelt von der Suche nach dem Blut der Zauberer.

Sie waren seit Tagen unterwegs und hatten ihre Maultiere in der letzten Stadt gelassen, um den abschließenden Teil der Reise zu Fuß zurückzulegen; die Maultiere wären ihnen auf dem nachgiebigen Sand keine große Hilfe gewesen. Der Ort, nach dem Cain und sein Begleiter suchten, war abgelegen, und Deckard war sicher, dass diese Ruinen noch viele Jahre unentdeckt geblieben wären, hätte der junge Krieger ihm nicht die rätselhaften Zakarumtexte gebracht, die nun sicher in seinem Rucksack verstaut waren. Die alten Repositorien der Vizjerei in Caldeum waren weit größer und unter den Magiern auch viel bekannter. Aber dieses Lager, so es denn tatsächlich existierte, war womöglich bedeutsamer als sie alle.

Es war eine sehr lange Reise gewesen. Nach dem knappen Sieg über Baal am Berg Arreat und der Zerstörung des Weltensteins hatte Deckard Cain seine Reisegefährten nicht davon überzeugen können, dass Sanktuario noch immer in Gefahr schwebte. In unmittelbarer Gefahr sogar, falls das, was er in den horadrischen Schriftrollen gelesen und erkannt hatte, der Wahrheit entsprach. Der Erzengel Tyrael höchstselbst hatte ihn gewarnt, bevor er verschwunden war. Cain spürte eine leichte Veränderung in der Welt, die die Prophezeiungen widerspiegelte, eine Störung in dem empfindlichen Gleichgewicht zwischen den Hohen Himmeln und den Brennenden Höllen, das seit Jahrhunderten Bestand hatte. Der Verlust des Weltensteins war verheerend, und Sanktuario würde nun offen und verwundbar sein.

Als wäre das noch nicht schlimm genug, träumte Cain inzwischen auch wieder von seiner Kindheit und den Geschichten seiner Mutter. Beinahe in jeder Nacht erwachte er in kalten Schweiß gebadet. Er kämpfte ohne Schutz gegen zahllose Armeen der Finsternis oder saß zusammengekauert und gebrochen in einem Käfig, der von einem Pfahl herabhing, und musste sich von monströsen Kreaturen verspotten lassen. Bisweilen durchlebte er Dinge, die sogar noch schlimmer waren als das: Da erschienen Geister aus seiner Vergangenheit, die er für immer begraben gewähnt hatte.

Seit dem Fall von Tristram hatte er keine derartigen Träume mehr gehabt. Seine eigene Schuld an diesen Ereignissen verzehrte ihn; er war zu spät gekommen, um die Invasion der Dämonen in seiner Heimat zu verhindern. Selbstsüchtig war er damals gewesen, und auch zu spät gekommen, um noch zu ändern, was am Berg Arreat geschehen war.

Cains Begleiter hatten nicht hören wollen. Sie wollten ihren Sieg feiern, nach Hause zu ihren Lieben zurückkehren, die Trümmer ihres zerstörten Lebens wieder zusammensetzen. Daraus konnte er ihnen wohl kaum einen Vorwurf machen. Er selbst hingegen hatte niemanden, der auf ihn wartete. Und da Tristram zerstört war, hatte er auch keinen Ort, an den er gehen konnte. Also zog er aus und suchte nach Teilen, die zusammenpassten und ihm das zugrunde liegende Muster offenbarten. Falls die Invasion tatsächlich bevorstand, würde er Hilfe brauchen: Die Horadrim waren gegründet worden, um das Böse zu bekämpfen, aber inzwischen waren sie in der Vergangenheit verblasst. Die Stimme seiner Mutter hallte durch die Jahre bis an seine Ohren: Jered ist dein Blut, und du – du bist der Letzte in einer stolzen Reihe von Helden.

Akarat begann, die Sandschräge hinabzusteigen, auf die Säulen zu, aber Cain hielt ihn am Arm fest. Der Paladin zitterte, erfüllt von der Energie und dem Wagemut seines Alters. Dieser Eifer überdeckte seine feineren Sinne, welche ihn andernfalls in dieser Situation zum Zögern angehalten hätten. Cain hingegen spürte es: einen schwachen, sauren Geruch, den der Wind mit sich trug.

Der Geruch der Gefahr.

In seinem Übereifer zog Akarat sein Schwert aus der Hülle, um dem entgegenzustürmen, was immer sie dort unten erwartete. „Wir sind hier ungeschützt“, sagte er. „Besser, wir bewegen uns schnell. Ich werde mich schon um die Dünenhaie und Sandwespen kümmern. Außerdem, vielleicht finden wir ja überhaupt nichts.“

„Wir sollten uns noch etwas länger umsehen“, entgegnete Cain. „Die Schriften warnen vor einem Zauber, der die Lagerstätte vor den Augen verbirgt. Eigentlich sollten wir diese Säulen also gar nicht sehen können. Etwas hat den Zauber geschwächt.“

Er sprach nicht aus, was ihm ebenfalls im Kopf herumging: FallshiersolchwertvolleArtefakteverstecktliegen,istesdurchausmöglich,dassihreGeheimnissevonanderen,gewaltigenMächtenbeschütztwerden. Er kniete sich auf den heißen Sand und nahm seinen Rucksack ab, dann suchte er darin nach einem ganz bestimmten Gegenstand. Der junge Mann an seiner Seite erinnerte ihn an jemanden, den er vor vielen Jahren gekannt hatte, einen alten Freund, der in die teuflischen Katakomben hinabgestiegen war, um Tristram zu retten. Dieser Held hatte einen teuren Preis für seine Vermessenheit gezahlt, ebenso wie ganz Sanktuario, und Cain hatte nichts tun können, um ihm zu helfen.

Falls du recht hast, wirst bald du es sein, der Hilfe braucht, dachte er.

Er holte einen Gegenstand hervor, der wie ein Spiegel mit einer Linse aus Bernstein aussah, und hielt ihn ins Licht. Inzwischen sank die Sonne dem Horizont entgegen und färbte die Luft dabei in ein tieferes Gelb. Bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb ihnen keine Stunde mehr, und am besten wäre es, jetzt ein Lager aufzuschlagen und die Ruinen am Morgen zu untersuchen. Doch Akarat hatte die Wahrheit gesagt: Sie waren hier ungeschützt, und keiner von ihnen hatte Lust, sich den Gefahren zu stellen, die aus dem Sand auftauchten, wenn sich die Schatten erst verdichteten.

Er stand auf und versuchte, den beißenden Schmerz in seinem Rücken und das pulsierende Pochen in seinen Knien zu ignorieren, die ihn immerzu an sein Alter erinnerten. Wie war das nur geschehen? Es schien lediglich ein paar Sekunden her zu sein, dass er ein Junge gewesen war und in den Feldern gespielt, im hohen Gras nach Kuhfladen Ausschau gehalten oder Eier aus Grosgroves Hühnerstall gestohlen hatte. Oh, wie flüchtig das Leben doch war! Es rann einem zwischen den Fingern hindurch wie dieser verfluchte Sand, und bevor man es festhalten konnte, war es schon fort …

Seine Selbstzweifel suchten Cain wieder heim. Selbstsucht und Ignoranz hatten einen Großteil seines Daseins bestimmt, als er zwischen seinen Büchern gelebt und seine eigene Vergangenheit verdrängt hatte. Fünfzig Jahre lang hatte er gewartet, bis er sein Schicksal schließlich zu akzeptieren vermochte. Dadurch hatte er an der Zerstörung all dessen mitgewirkt, was ihm teuer gewesen war. Konnte er sich überhaupt noch Horadrim nennen?

Er war kein Held, ganz gleich, was seine Mutter ihm stets erzählt hatte. Der Gedanke, dass alles auf seinen schmächtigen Schultern ruhte, war erschreckend. Etwas Fürchterliches kam auf sie zu, etwas, das die vorherigen Angriffe wie Spielereien aussehen ließ. Niemand, mit dem er über die Dämoneninvasion gesprochen hatte, wollte ihm glauben, mit Ausnahme von Akarat; sie hielten ihn alle bestenfalls für einen tattrigen alten Narren, schlimmstenfalls für eine Gefahr. Die Menschen von Sanktuario gingen ihrem tagtäglichen Leben nach, und nur selten spürten sie den Einfluss von Engeln und Dämonen in ihrer Welt. Ihr Leben war zwar hart, aber ereignislos.

Sie hatten nicht gesehen, was er gesehen hatte, hatten nicht geträumt, was er geträumt hatte. Sonst würden sie anders über diese Dinge denken.

Der Paladin ächzte. Er hatte das Schwert wieder in die Scheide gesteckt, verlagerte sein Gewicht aber von einem Fuß auf den anderen. In der Westmark war er begierig darauf gewesen, Cains Geschichten zu hören. Um ihnen zu lauschen, hatte er oft darauf bestanden, dass sie länger wachbleiben, als es für alte Männer angebracht war. Doch jetzt, hier draußen und mit der Aussicht auf einen Kampf, dürstete es ihn nach Taten. Der junge Paladin war nach dem Gründer der Kirche von Zakarum höchstselbst benannt worden, und es schien auch ein passender Name für ihn zu sein. Obgleich jung und eigensinnig, war er sowohl ein wahrer Gläubiger als auch ein Eiferer.

Cain murmelte mehrere Worte vor sich hin, eine kurze Beschwörung, um die Macht im Innern des Artefakts zu wecken, und reichte es dann Akarat. „Schau durch die Linse zu den Ruinen hinüber“, wies er ihn an. „Schnell, bevor die Wirkung nachlässt.“

Der junge Paladin hob das Glas vor sein Auge, und als er den Atem scharf einsog, wusste Cain, dass das Artefakt seine Wirkung tat. „Beim Licht …“, sagte der Paladin leise. Er ließ das Stück Glas sinken, um zu den Ruinen hinabzustarren, und hob es dann noch einmal. „Unglaublich.“ Seine Augen vor Staunen geweitet, gab er Cain das Artefakt zurück.

Nun spähte der alte Mann durch das Glas. Die Färbung der Linse verlieh der gesamten Szenerie einen orangenen Ton, wie ein Feuer, das außer Sichtweite brannte. Die Überreste eines gewaltigen Bauwerks und der umliegenden Anlagen erstreckten sich unter ihm, gleich hinter der Stelle, wo die beiden Säulen den Eingang markierten. Weitere Säulen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls führten in Zwillingslinien zu etwas, das einst der Vordereingang eines Tempels gewesen war. Zerbröckelte Mauern erhoben sich bis zu der Höhe, wo eine gewaltige Explosion sie vor vielen Jahren weggerissen hatte, riesige Steinblöcke lagen halb begraben dort, wo sie hingefallen waren, und der Wind hatte kleine Stücke aus ihnen herausgebrochen und sie abgewetzt.

Vorsichtig ließ Cain seinen Blick über die Szenerie gleiten, und als er das Stück Glas senkte, waren es einmal mehr nur die beiden Säulen, die er mit bloßem Auge erkennen konnte. Der Zauber, der diese Ruinen geschützt hatte, war mächtig genug, um Jahrhunderte zu überdauern, aber jetzt wurde er schwächer. Die eigentliche Frage lautete: warum?

Doch Akarat ließ sich nicht aufhalten. Er war bereits sechs Meter den Hang hinunter und eilte so schnell weiter, wie das in seiner Rüstung möglich war. Als er kurz zu Cain zurückblickte, beleuchtete der warme Glanz der Sonne die Aufregung, die aus seinem Gesicht sprach. Dann stieg er in die Schatten hinab.

„Kommt schon“, sagte er. „Es ist unmittelbar vor uns! Oder wartet Ihr auf eine schriftliche Einladung?“

ZWEI

Die verborgene Kammer

In der Nähe der Ruinen war die Luft kühler. Als die beiden Reisenden die gewaltigen Säulen erreichten, war der Enthüllungszauber, mit dem Cain das Stück Glas belegt hatte, bereits verblasst. Aber nachdem sie den Eingang passiert hatten, brauchten sie ihn auch gar nicht mehr.

Die beiden Säulen warfen tiefe Schatten über ihren Pfad, wie schwarze Linien, die man in den Staub gezogen hatte. Jenseits der Schatten wich der Schleier Stück für Stück zurück, und die Ruinen der geheimen Lagerstätte erhoben sich ringsum. Wie Berge, die sich durch den Nebel schieben, kamen sie in Sicht. Zerbrochene Steine ragten aus dem Sand, stellenweise vom Wind freigelegt. In die Seiten der größeren Blöcke hatte man uralte Runen geritzt, die zeigten, dass die Macht der Vizjerei an diesem Ort erstaunlich groß war. Cain spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte und seine Handflächen feucht wurden. Er konnte diese Macht fühlen, wie sie unter seinen Füßen vibrierte, tief in der Erde.

Vielleicht, überlegte er, spürte er aber auch etwas anderes.

Da war Dunkelheit an diesem Ort. Obwohl die Sonne die Spitzen dieser Felsen noch berührte, wärmte sie sie nicht. Selbst der Paladin fühlte es jetzt, und seine Schritte wurden zögerlicher, während sie tiefer in die Ruinen vordrangen. Schließlich lagen die Überreste eines Tempels vor ihnen, sein Eingang war durch Trümmer blockiert worden, nachdem das, was noch von seinem Dach übrig gewesen war, in sich zusammengestürzt sein musste. Massive Holzbalken ragten wie die Rippen einer titanischen Bestie in den Himmel empor. Falls es die alten Schriften tatsächlich gab, hatte man sie dort sicher aufbewahrt. Doch das Innere des Tempels würde voller Gefahren und womöglich auch einsturzgefährdet sein.

Ein Geräusch wie das Rascheln von Laub drang an seine Ohren. Akarat blieb stehen und zog sein Schwert. „Hört Ihr das?“, fragte er mit leiser Stimme.

Cain nickte und trat an die Seite des jungen Mannes. „Vielleicht ist außer uns doch noch etwas anderes hier“, meinte er.

„Und … was? Ein Tier?“

„Vielleicht“, sagte Cain. Er sah, dass der Paladin gleichermaßen verängstigt und aufgeregt war und sich alle Mühe gab, es nicht zu zeigen. Geschichten über Dämonenangriffe waren eine Sache, aber sich einem Gegner tatsächlich zu stellen, von dem die meisten Menschen glaubten, dass er nur eine Legende sei, das war schon etwas anderes – wie Cain nur zu gut wusste.

Die Geräusche wirbelten leise um sie herum, und als sie beinahe verklungen waren, kehrten sie wieder wie die Wellen an einem Strand oder das gedämpfte Murmeln einer Menge. Ein merkwürdig prickelndes Gefühl wärmte Cains Haut, als er seinen Stab wie einen Talisman hochhielt und auf dem zerstörten Pfad weiterging, dicht gefolgt von Akarat. „Verschließ deine Ohren“, wies er ihn an. „Als wärst du taub. Falls du Stimmen hörst, lausche ihnen nicht!“

„Ich verstehe nicht …“

„Falls sich eine böse Macht an diesem Ort befindet, wird sie versuchen, dich zu verderben und deine Schwächen aufzuspüren. Ignoriere alles, was sie zu sagen versucht! Ganz gleich, was es sein mag, dir ist nicht bestimmt, es zu hören. Das versichere ich dir.“

Er erreichte die umgestürzten Felsen am Eingang des Tempels und spähte auf der Suche nach einem Weg ins Innere um sie herum. Da war eine Lücke, gerade groß genug für einen einzelnen Mann. Jenseits des schmalen Durchgangs, der ihm bis zur Schulter reichte, erstreckte sich Finsternis. Cain nahm seinen Rucksack erneut ab und holte ein bereits verfallendes Zauberbuch hervor, dann suchte er auf den brüchigen Seiten nach den richtigen Worten. Als er sie anschließend laut aussprach, erwachte die gläserne Kugel am Ende seines Stabes zum Leben und erstrahlte in einem blauen Glühen, welches das Tempelinnere beleuchtete.

Außerhalb der Reichweite des Windes, dort, wo die Sandschicht auf dem Boden immer dünner wurde, waren die schwachen Umrisse eines Fußabdrucks in den Verwehungen zu sehen. Ein Mensch – oder etwas, das sich wie einer bewegte – musste vor nicht allzu langer Zeit diesen Ort betreten haben.

Cain steckte das Buch wieder ein und wandte sich dem Paladin zu, der mit offenem Mund von ihm zu dem glühenden Stab und wieder zurück starrte.

„Magie? Wahre Magie?“

„Ein einfacher Zauber, nichts weiter. Er ist an den Gegenstand selbst gebunden, wie bei dem Spiegel. Ich vermag lediglich, den Zauber zu wecken. Dies ist ein Ort der Zauberei, und zumindest teilweise wurde er wegen der Kraft ausgewählt, die diesem Boden innewohnt. An einem solchen Ort haben Zauber mehr Macht.“

„Seid Ihr wirklich der Letzte der Horadrim?“

Cain überlegte, wie er darauf antworten sollte. „Was ich gelernt habe, habe ich mir aus Büchern geholt“, meinte er schließlich. „Die Horadrim sind ein vergessener Orden. Falls noch andere übrig wären, wären sie sicherlich besser vorbereitet, als ich es bin. Und sie hätten sich schon längst zu erkennen gegeben.“

„Falls Ihr also der Letzte seid, was dann?“

„Ich muss alles in meiner Macht Stehende tun, um aufzuhalten, was nach Sanktuario unterwegs ist.“ Cain zuckte mit den Schultern. „Und beten, dass es noch nicht zu spät ist.“ Mögen die Himmel uns allen beistehen, dachte er, aber das sprach er nicht laut aus.

Akarat blickte nach rechts und links, als erwartete er einen Angriff. „Es gibt vieles in dieser Welt, das noch ungewiss ist“, sagte er. In diesem Augenblick wirkte er wie ein Junge, der gerade etwas gesehen hatte, was er nicht hätte sehen sollen, und der nun versuchte, es auch zu begreifen. Der Fußabdruck war ihm überhaupt nicht aufgefallen.

Cain legte Akarat die Hand auf die Schulter. „Hast du je in einer Schlacht gekämpft?“

„Ich – ich habe viele Male gekämpft“, erklärte der Paladin. „Ich habe in der Stadt patrouilliert und meine Fähigkeiten im Ring bewiesen –“

„Ich rede nicht von Übungen oder Patrouillen“, entgegnete Cain sanft, „sondern vom Kampf gegen Feinde, die dich, wenn sie die Gelegenheit hätten, ohne zu zögern aufspießen würden. Oder noch Schlimmeres täten.“

Akarat schüttelte den Kopf. Sein Ungestüm verriet, dass er zuversichtlicher erscheinen wollte, als er eigentlich war. „Dafür gab es nicht viele Gelegenheiten, seitdem ich das Mannesalter erreichte.“

„Ich vergaß. Die Schlacht am Berg Arreat ist schon viele Jahre her. Du kannst damals nicht älter gewesen sein als …“

„Zehn“, sagte Akarat, während seine Augen leuchteten. „Ich erinnere mich noch an die Geschichten der Männer, die aus der Schlacht zurückkehrten. Ich wollte sein wie sie.“

„Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste.“ Cain lächelte. „Die Welt ist seitdem ruhiger gewesen, zumindest an der Oberfläche. Aber bald wird sich auch dir eine Gelegenheit bieten, dich zu beweisen. Fürs Erste möchte ich, dass du diesen Eingang bewachst.“ Als der junge Mann zu einem Protest ansetzen wollte, schüttelte er den Kopf. „Ich bin ein alter Mann und nicht sehr stark, ich kann nicht mit einem Schwert kämpfen. Aber ich trage auch keine Rüstung und bin schlank genug, mich durch diese schmalen Lücken zu zwängen und nach Dingen zu suchen, die uns von Nutzen sein könnten. Jedenfalls, sofern ich genügend Zeit dafür habe. Du bist mir hier draußen von wesentlich größerem Nutzen. Sorge dafür, dass sich nichts von hinten an mich heranschleichen kann!“

Akarat baute sich auf und nahm den Griff seines Schwertes in beide Hände. „Ich werde Euch nicht enttäuschen“, erklärte er.

Cain lächelte, aber als er sich wieder der Düsternis zuwandte, verblasste dieses Lächeln. Einmal mehr erinnerte er sich an den Helden, den er in Tristram einst gekannt hatte, König Leorics ältesten Sohn, der später als Dunkler Wanderer bekannt werden sollte. Er hatte ganz ähnliche Worte gesprochen, bevor er in die Tiefen jener verfluchten Höhlen unter der Kathedrale hinabgestiegen war. Cain hatte den Jungen persönlich unterrichtet, und er hatte ihn geliebt – zumindest so sehr, wie es ihm zu jener Zeit möglich gewesen war, jemanden zu lieben.

Er duckte sich, um den behelfsmäßigen Durchgang zu betreten. Im Innern der schmalen Passage war er gezwungen, sich wegen der niedrigen Decke mit gebeugten Schultern und Knien vorzuarbeiten. Und an einer engen Stelle, wo der Fels gegen seinen Körper drückte, musste er seitwärts gehen. Die Schmerzen bohrten sich wieder in seinen Rücken – ein unsichtbarer, ewiger Feind.

Vielleicht hätte ich nicht hineingehen sollen, dachte er. Vielleicht passt diese Aufgabe doch eher zu einem jüngeren Mann.

Nur ein paar Schritte später weitete sich der notdürftige Durchgang jedoch aus, und die Wände wichen davon. Er hob seinen glühenden Stab, um sich besser umsehen zu können.

Eine Reihe grob aus dem Fels gehauener Stufen führte in den Boden hinab. Sie waren in gutem Zustand; die unteren Ebenen des Tempels hatten den Einsturz des Gebäudes offenbar überstanden. Weitere Fußabdrücke prangten im Staub. Mehrere von ihnen führten die Treppe hinab und hinauf. Wie lange sie sich schon hier befanden, ließ sich unmöglich sagen.

Der Geruch von Moder und Staub wogte zu Cain hoch, wie der Gestank einer Gruft, die nach vielen Jahrhunderten geöffnet worden war. Er hörte auch schon wieder das schwache Rascheln – aber als er sich in der tieferen Dunkelheit umblickte, konnte er nichts sehen.

Langsam stieg Deckard Cain die Stufen hinunter. Die Luft wurde deutlich kühler, bis die Treppe auf einem steinernen Boden endete. Das Licht enthüllte einen großen Raum, gestützt von mächtigen Holzbalken, die mit dichten Spinnweben behangen waren. In die Balken hatte man sowohl Runen der Macht als auch die Warnung geschnitzt. Cains Sorge nahm zu, als er sie las. Dies waren die Zeichen der Anhänger von Bartuc, einem Vizjerei-Magier, der vor vielen Jahrhunderten gelebt hatte. Er war verdorben worden, nachdem er Dämonen herbeibeschworen hatte, die ihm zu Diensten hatten sein sollen. Ein Blutdurst hatte Besitz von ihm ergriffen. Seine Auseinandersetzungen mit seinem Bruder, Horazon, waren der Höhepunkt der alten Magierclankriege gewesen und hatten vielen Tausend Menschen das Leben gekostet.

Falls dies eine Lagerstätte für Bartucs Armee gewesen war, dann würde jedes Vizjerei-Artefakt, das er hier fand, von dämonischer Magie erfüllt sein. Sie wären also bestenfalls von zweifelhaftem Nutzen, vermutlich aber äußerst gefährlich.

War es vielleicht ein schrecklicher Fehler gewesen, an diesen Ort zu kommen?

Cain zuckte zusammen, als Staub oder Sand auf seinen Kopf herabrieselte und etwas Großes, Schwarzes an einem Balken entlanghuschte, bevor es wieder verschwand. Es war zu groß, um eine Spinne zu sein, doch eine Ratte hätte sich unmöglich so lange seitlich an einem Balken festhalten können.

Bei solchen Dingen ist es wohl besser, gar nicht so genau hinzusehen …

In der Mitte des Raumes glänzte etwas im Licht. Der Staub war dort beiseitegewischt worden, um ein kompliziertes Muster in den Fels geritzter Runen freizulegen. Das war ein Portal, doch wohin es führte, da konnte Cain nur raten. In seiner Mitte befand sich ein blutfarbenes Juwel, und die tiefen Rillen im Boden belegten, dass jemand versucht haben musste, es herauszulösen. Doch offenbar hatte dieser Jemand letzten Endes aufgegeben. Cain kniete sich neben dem Stein hin und studierte vorsichtig die Runen. Was er da las, ließ sein Herz rasen. Als er fertig war, sprach er ein paar alte, machtvolle Worte, um das Juwel freizubekommen. Dann steckte er es in seinen Rucksack.

Anschließend ging er durch den Raum und folgte der Spur der Fußabdrücke zu einem Alkoven an der gegenüberliegenden Wand. Verrottete Bretter klammerten sich hier an ihre Stützstreben, die letzten Überreste einer uralten Bibliothek. Vor vielen Jahrhunderten war dies eine Ritenkammer, in der man Wesenheiten beschworen hatte, die außerhalb der menschlichen Sphären hausten. Vielleicht war es ja sogar ein Portal zu den Brennenden Höllen selbst gewesen. Die Regale waren nun leer, aber unter einem Holzsplitter sah er etwas Gelbes hervorschimmern. Er bückte sich und zog die Ecke eines Stücks Pergamentpapier hervor, gewellt und mit Moderflecken übersät.

Da bewegte sich etwas in den Schatten zu seiner Rechten.

Er wirbelte herum und hob den Leuchtstab. Einen Moment lang schien es so, als wären die Schatten selbst zum Leben erwacht, als würden sie sich zusammenballen und umherwirbeln – wie Tinte im Wasser. Gleichzeitig wehte eine Stimme wie das ferne Ächzen des Windes durch den leeren Raum. Bei ihrem Klang stellten sie die Haare an Cains Nacken auf.

„Deckaaaaarrddd Caiiinnnn …“

Cain hatte das merkwürdige Gefühl, als hätte er dies alles schon früher einmal erlebt: die Erinnerung an einen Augenblick vor vielen Jahren, als er noch ein Junge gewesen war. Eine wispernde Stimme hatte nach ihm gerufen, ebenso wie diese jetzt. Er wich zurück, griff mit einer Hand in seinen Rucksack und hielt mit der anderen den Leuchtstab, um die Dunkelheit zurückzudrängen. Doch schon jetzt zweifelte er an sich selbst: War es vielleicht nur der Wind gewesen, der durch die zertrümmerten Überreste des Gebäudes über ihm fegte? Oder ein Trick, den sein Verstand ihm nach der langen Zeit in der Sonne spielte?

Die Stimme kehrte wieder. Sie klang wie Knochen, die im Grab gegeneinanderreiben.

„Deine Geister sind zahlreich, alter Mann, und sie kennen keine Ruhe.“

Das Schaben von Metall auf Fels erklang, es kam scheinbar gleichzeitig von überall her. Einmal mehr verdichtete sich die Dunkelheit wie schwarzer Rauch, und noch einmal löste sie sich auf, nur um sich an anderer Stelle wieder zusammenzuballen: ein Umriss, der ein Schwert hielt, von der Form eines Menschen, aber mit Augen, die so rot glühten wie die Feuer der Hölle.

Cain erkannte darin ein Bild, das aus den Tiefen seines eigenen Geistes herausgerissen worden war und nun gegen ihn eingesetzt wurde. Das Bild des Dunklen Wanderers, heraufbeschworen, um seine Entschlossenheit zu schwächen. Der Umriss aus Rauch wirbelte und verschob sich, bis er sich in zwei schemenhafte menschliche Gestalten verwandelt hatte, von denen eine größer und ohne Zweifel weiblich war, die andere klein und zierlich. Der Schock brandete durch Cains Glieder, als sich eine alte, vertraute Erinnerung an die Oberfläche kämpfte. Er verschloss die Augen vor der Dunkelheit, während sich in seinem Inneren der gähnende Abgrund der Verzweiflung auftat und ihn zu verschlingen drohte.

Du darfst nicht hinhören.

„Ein Sturm zieht auf“, erklärte eine Stimme aus der Richtung der Stufen. „Wir müssen hier Unterschlupf –“

Was auch immer in dem Raum lauerte, es stieß ein hörbar vergnügtes Zischen aus, als Akarat, mit einem verwirrten Ausdruck im Gesicht, auf den steinernen Boden des Raumes hinaustrat und gegen das Licht blinzelte. „Geh zurück!“, schrie Cain, während sich etwas in den Schatten entfaltete und durch den Raum auf den jungen Paladin zuglitt.

Doch stattdessen stürmte Akarat wie ein Narr vor. Er zog sein Schwert aus der Scheide und hieb es in einem beidhändigen Schlag nach unten, der den Schatten entzweiteilte. In einem Funkenschauer prallte die Klinge dann auf den Boden, und der junge Mann riss sie hoch und schwang sie erneut, diesmal seitwärts, doch ohne Wirkung. Die Dunkelheit floss wie Rauch um den Paladin herum, wirbelte um seine Beine und glitt dann höher, während sich Deckard in den Staub kniete und seinen Stab beiseitelegte.

Der Paladin schrie.

Cains Schriftrollen purzelten auf den Boden. Wo ist sie? Panisch wühlte er zwischen ihnen herum, bis er schließlich fand, wonach er gesucht hatte. Er entrollte das empfindliche Papier und brüllte die Worte der Macht mit all der Kraft hinaus, die er aufbringen konnte.

Der Dämon schrillte vor Zorn, ein unmenschlicher Laut, der auf seinem Höhepunkt jäh verstummte, als die Schriftrolle in Cains Händen zu Staub zerfiel. Es wurde heller in dem Raum, und er begann in einem eigenen, smaragdgrünen Schein zu leuchten, während der Zauber eine Blase um die beiden Männer schuf. Der Schatten, verbannt aus dieser Blase, zuckte und wirbelte um die unsichtbare Barriere herum, die ihn nicht durchlassen wollte. Und als der brodelnde Umriss zusammenfloss und dann wieder auseinandertrieb, erhaschte Cain einen kurzen Blick auf vielgliedrige Beine, auf etwas, das an ein Insekt erinnerte.

Akarat trat an Cains Seite, und nachdem er die Schriftrollen des älteren Mannes aufgesammelt und ihm geholfen hatte, wieder aufzustehen, blickte er zu der wogenden Schwärze hinüber, die inzwischen begonnen hatte, sich gegen die smaragdgrüne Barriere zu werfen. Der Atem des jungen Mannes kam schwer, Schweiß schimmerte auf seiner Haut. „Wie … wie habt Ihr das gemacht?“

„Ein Ammuit-Zauber“, meinte der alte Mann. „Es ist nur eine Illusion, und sie wird uns nicht länger als ein paar Sekunden schützen.“

„Dann seid Ihr also doch ein echter Zauberer!“

„Ich bin lediglich ein Gelehrter, der gelernt hat zu benutzen, was andere mir gaben.“

Akarat drehte sich um und starrte das Wesen an, das sie angegriffen hatte. „Was ist das?“

„Der Diener eines Niederen Übels, hergeschickt, um zu bewachen, was immer in diesen Räumen aufbewahrt wurde. Du darfst seinen Worten nicht lauschen, oder es wird dich von innen heraus verdrehen, so lange, bis du zerbrichst.“

„Ich … ich habe Dinge gesehen. Schreckliche Dinge.“ Der Paladin schüttelte den Kopf, wie um ihn freizubekommen. „Sie betrafen Euch … und mich.“ Er wandte sich wieder herum, einen gequälten Ausdruck in den Augen.

„Du darfst ihnen keinen Glauben schenken, mein Sohn. Wir müssen diesen Ort verlassen, und zwar so schnell wie möglich.“

„Ich …“ Das Gesicht des jungen Mannes verfinsterte sich. „Dieses Wesen ist böse. Wir müssen es töten!“

„Es ist nicht aus Fleisch und Blut –“

„Ich kann es aber besiegen. Ich muss es versuchen, bei allem, was heilig ist. Der Glaube der Zakarum lehrt uns, allem Bösen zu widerstehen und bis zum letzten Atemzug dagegen zu kämpfen. Kreaturen wie diese haben den Hohen Rat verdorben und Khalim ermordet. Wegen ihnen ist der Tempel der Dunkelheit anheimgefallen! Sie sind daran schuld, dass der Orden der Zakarum in Trümmern liegt.“ Schweiß klebte Akarat das Haar an die Stirn, als er seine Waffe hob und sich dem Phantom zuwandte. „Die Erzengel werden mir beistehen, da bin ich sicher.“

Er ist längst schon verloren. Cains Herz schlug ihm schwerer in der Brust, während sich eine tiefere Kälte in seinen Knochen ausbreitete. Er streckte die Hand aus, um den Paladin am Arm zu berühren. „Es gibt eine Möglichkeit, Dämonen wie diesen zu bekämpfen. Aber nicht mit einem Schwert –“

Dicht vor der Barriere schwebend, zog sich der Schatten zu einem geschwärzten Gesicht mit leeren Augenhöhlen und weit aufgerissenem Mund zusammen. Akarat keuchte, und sein ganzer Körper versteifte sich, als dieses Antlitz zusammenzuschmelzen begann und sich in ein Spiegelbild des jungen Mannes verwandelte. Seine Züge waren erst von Schock und dann von Grauen erfüllt, während sich eine klaffende Wunde an der Kehle des Phantoms auftat. Der Geisterkopf kippte nach hinten, vom Halsstumpf weg, und Rauch sprudelte wie schwarzes Blut hervor.

Mit einem abgewürgten Schrei sprang der junge Paladin auf das Wesen zu, das noch immer vor der smaragdgrünen Blase waberte. Ein blendender Lichtblitz erhellte den Raum, als er die schützende Barriere des Zaubers durchschritt. Cain riss den Arm hoch, um sich zu schützen, während er nach hinten fiel. Doch zuvor erhaschte er noch einen Blick auf das Schwert des Paladins, das durch leere Luft schnitt.

Das Licht knisterte, als hätte ein Blitz eingeschlagen, und Arakat schrie erneut auf, bevor er ganz plötzlich verstummte. Es schien, als stünde die Welt selbst einen Moment lang still, als hätte sich die Zeit aufgefaltet und Cain in jene Tage zurückgeschleudert, an die er sich nicht erinnern wollte, wo das Kreischen eines kleinen Kindes, einsam und verloren, seine Träume erfüllte. Nun, da der Zauber gebrochen war, füllte sich der Raum mit Dunkelheit, bis der alte Mann seinen Stab erneut hob und sich langsam auf die Füße hochstemmte. Die Kugel hatte etwas von ihrer Leuchtkraft eingebüßt, so als würden die Schatten selbst das Licht aus ihr saugen.

Das blaue Glühen enthüllte den Paladin, der noch immer aufrecht dastand, mit dem Rücken zu Cain, den Körper gebeugt. Das Schwert hatte er auf den Boden fallen lassen, und seine Arme hingen reglos an seinen Seiten herab.

„Akarat“, sagte Cain, dann machte er einen Schritt nach vorn, erfüllt von Schrecken. Der junge Mann antwortete nicht; nur das leichte Auf und Ab seiner Schultern verriet, dass er noch immer atmete.

Wir müssen diesen Ort verlassen. Es war ein Fehler herzukommen.

Ein eisiger Windhauch strich über Cains Gesicht, und mit sich trug er den fauligen Gestank des Todes. Als er den Arm des Paladins berührte, breitete sich eine tiefe Kälte in seinen Fingern aus.

Der junge Mann drehte sich bei der Berührung herum, aber das Gesicht, das sich Cain zuwandte, war nicht länger dasjenige Akarats.

Ledrige Haut spannte sich über einer schwulstigen Stirn und vorstehenden Wangen, die Lippen waren brüchig und bluteten. Was einmal Akarats Augen gewesen waren, starrte Cain aus aufgequollenen, fleischigen Höhlen an, funkelnd vor Hass. Der alte Mann musste an kalte, tote Wesen denken, die in einem namenlosen Grab verrotteten. Er wusste, dass er es nicht ansehen durfte, dass er sich sofort umdrehen und davonrennen sollte, weil die Dunkelheit sonst in seine eigene Seele kriechen und sein Blut schwärzen würde.

„Wir haben auf dich gewartet, Deckaaaaard Cainnnn.“

„Gib ihn frei“, verlangte er.

„Warum sollten wir?“ Das Wesen grinste und entblößte dabei lange, spitz zulaufende Hundezähne. „Es gibt so viel zu tun, so viel für die Ankunft vorzubereiten.“

Er überlegte, ob ihm etwas aus seinem Rucksack helfen könnte, doch er hatte keinen Zauber, der sich für so etwas eignete, kein magisches Artefakt, das den Dämon auszutreiben vermochte. Ohne Zauber oder Artefakte war er verloren; er selbst hatte keine magischen Kräfte.

„Letzter der Horadrim“, zischte das Vieh spöttisch. „Du bist nichts. Und du hast dich geirrt. Sieh dich um, schau, diese Fußabdrücke, die fehlenden Schriftrollen. Andere von deiner Sorte waren hier, und sie haben versagt. Warum solltest du mehr Erfolg haben?“

Andere? Er warf einen kurzen Blick auf die schlurfenden Fußabdrücke überall in dem Raum. Einige stammten von ihm und Akarat, andere waren fremd. Ein schwacher Hauch der Hoffnung trug ihn aus seiner Verzweiflung empor, auch wenn er wusste, dass es unmöglich war. Er war der Letzte, das war ihm tief in seinem Herzen klar.

Doch er durfte nichts von dem glauben, was diese Kreatur sagte. Der Dämon lügt. Hör ihn nicht an!

Du bist der Letzte in einer stolzen Reihe von Helden.

„Akarat“, sagte er fest. „Ich spreche zu dem Menschen in dieser Hülle. Du musst dagegen ankämpfen, mein Sohn. Du musst gegen das Wesen kämpfen, das von dir Besitz ergriffen hat.“

„Unser Meister naht“, erklärte die Kreatur und leckte sich die blutigen Lippen. Ihr Atem rasselte schwer in Akarats Brust, und der Geruch, der ihr entströmte, war der von tausend verrottenden Leichen. „Der wahre Herr der Brennenden Höllen. Er wird bald über euch kommen, und euer Tod wird langsam und schmerzvoll sein. Vielleicht machen wir dich auch zu einem Sklaven und zwingen dich, ihm bis in alle Ewigkeit zu dienen. Wir kennen viele andere von deiner Sorte, die jetzt an seiner Seite stehen.“ Der Dämon grinste ihn an. „Selbst jene, die du kennst und liebst.“

„Akarat. Hör mir zu! Lass es nicht gewinnen! Du hast doch die Kontrolle. In deinem Inneren hast du die Macht!“

Die Haut des Dämonengesichts kräuselte sich, und dann zischte er wie vor Schmerzen. Cain hielt seinen Stab zwischen ihnen in die Höhe, woraufhin die Kreatur vor dem Licht zurückwich. „Gib ihn frei!“, rief Deckard.

Ein weiteres Mal zischte der Dämon, und einen Moment lang verwandelte sich sein Gesicht wieder in dasjenige Akarats. Der junge Paladin blinzelte es verwirrt an, doch dann verzerrten sich seine Züge zu etwas Hässlichem, und er war fort.

„Der Junge ist nicht stark genug. Ebenso wenig wie du.“ Der Dämon machte einen Schritt nach vorn, bis sein Fuß das Schwert berührte, das Akarat hatte fallen lassen. Er bückte sich, um die Waffe aufzuheben, blickte die Klinge an, die im blauen Licht glänzte. Anschließend wandte er sich wieder Cain zu, und einmal mehr grinste er. „Sollen wir das hier benutzen? Wie wäre es mit kleinen Schnitten? Eintausend davon.“

Cain stolperte und durchwühlte mit der einen Hand erneut den Rucksack. Seine Finger tasteten über die Schriften, die sich darin befanden und suchten nach etwas, das ihm helfen könnte. Seine andere Hand schmerzte, wo sie den Stab umklammert hielt – dies war das Einzige, was noch zwischen ihm und einem langsamen und qualvollen Tod zu stehen schien. Akarat war verloren, das wusste er nun, und bereits jetzt, während der Dämon vor ihm wütete, trauerte er um den Mann, zu dem der Junge geworden wäre.

Falls dieses Wesen nur wüsste, dass ich selbst keinerlei Macht besitze und dass auch dieser Stab nichts Magisches an sich hat, solange er nicht mit einem Zauber belegt ist …

Er bedauerte diesen Gedanken sofort, aber da war es bereits zu spät. Das Lächeln des Dämons wurde breiter, und er machte noch einen Schritt nach vorne. „Also doch kein echter Horadrim? Natürlich nicht. Deine Schwäche verrät die Wahrheit.“

Cain taumelte rückwärts durch den uralten Raum, bis er seine Mitte fast erreicht hatte. „Komm mir nicht zu nah!“, rief er und schwang den Stab, doch das blaue Licht in der Kugel flackerte und verdunkelte sich. Das Grinsen wurde noch breiter, und es sah aus, als würde Akarats verzerrtes Gesicht in dieses Grinsen hineinfallen, als wäre es ein schwarzes Loch, das alles Licht und alles Gute in der Welt verschlang.

„Weißt du, was du begonnen hast? Die Himmel werden brennen, Horadrim. Die Schrecken von Diablo und seinen Brüdern werden sich wie Festtage ausnehmen, verglichen mit dem, was nun kommt. Unser Meister ist allmächtig, und er wird die Mauern von Sanktuario niederreißen, bis der Boden erzittert und entzweibricht. Caldeum wird brennen, die Erzengel und die Hohen Himmel werden fallen, ganz Sanktuario wird unser sein. Und du wirst es nicht mehr aufhalten können.

Wie erbärmlich! Euer Retter ist so nahe, verborgen zwischen Tausenden, und dies unmittelbar unter euer aller Augen, nicht mehr als eine Reise von drei Tagen entfernt. Trotzdem weißt du nichts und siehst nichts.“

Cain fiel auf die Knie. Seine Hand fand, wonach er gesucht hatte, und er schloss seine Faust um das dunkle Juwel aus dem runenverzierten Kreis auf dem Boden.

„Wo sind jetzt deine Engel, alter Mann? Wo sind deine Helden, hinter denen du dich verstecken kannst, wenn sie in die Schlacht reiten? Ist das alles, was du zu bieten hast? Dieser Junge, den du uns geschenkt hast, um deine eigene Selbstsucht und deinen Stolz zu verbergen? Du bist wertlos. Genau wie dein Vorfahr.“ Der Dämon hob das Schwert mit beiden Händen und baute sich gackernd vor Cain auf. Der alte Mann wich vor ihm zurück und ließ den Stab los, während er auf den Händen und Füßen nach hinten kroch. Die glühende Kugel klickte mehrmals auf den Boden, bis sie ein paar Meter entfernt zu liegen kam. „Wir haben unsere Meinung geändert. Nicht eintausend kleine Schnitte, sondern nur einer – einer, der deinen Kopf von den Schultern trennt.“ Der Dämon neigte den Kopf, als lauschte er, und als er wieder sprach, galten seine Worte nicht Cain, sondern etwas anderem, das keine sterblichen Augen sehen konnten. Zudem hatte sich seine Stimme in ein erbärmliches Wimmern verwandelt. „Wir dürsten nach Blut. Warum ist jetzt nicht die Zeit dafür?“

Da fiel sein Blick auf den Stein, den Cain in der Hand hielt. Deckard versuchte noch, ihn zu verbergen, aber in diesem Augenblick schlug der Dämon schon mit dem Schwert zu. Die Waffe sauste so schnell auf Cains Handgelenk hernieder, dass der alte Mann in seiner Hast, der Klinge zu entgehen, das Juwel fallen ließ. Nur um wenige Zentimeter verfehlte das Schwert sein Fleisch.

„Du dachtest, du könntest uns damit verbannen?“ Es hob den Stein auf, hielt ihn in die Höhe, sodass das blutrote Juwel in dem blauen Licht schillerte, und kam einen weiteren Schritt näher. „Ohne die Runen und die Magie hat er keine Macht, alter Mann.“

„I-ich befehle dir, diesen Körper zu verlassen –“

„Schweig!“ Der Dämon hob das Schwert mit einer Hand; in der anderen hielt er noch immer das Juwel. Cain blickte auf den Steinboden hinab. Noch ein Schritt …

Der Dämon trat vor, seine Züge waren vor Hass verzerrt, nicht ahnend, dass er direkt in Cains Falle getappt war. Rasch sprach Deckard die machtvollen Worte, die er von den Runen abgelesen und sich gemerkt hatte, und als sie seinen Lippen entströmten, war seine Stimme plötzlich klar und kräftig. Der Dämon blickte nach unten, die Überraschung stand ihm deutlich in das hässliche Gesicht geschrieben, als der Kreis der Runen, in dem er sich aufhielt, in feurigem Licht zu pulsieren begann und das Juwel, das er noch immer in der Hand hielt, zum Leben erwachte.

Die Kreatur heulte vor Zorn über das, was Cain getan hatte, aber neben dieser Wut schien da auch ein neuer Ausdruck zu sehen zu sein: unwilliger Respekt. „Eine List!“

Cain konnte freilich keine Genugtuung in seiner Tat finden, wusste er doch, dass er Akarat zum Tode verurteilt hatte.

Das Portal, das die Anhänger von Bartuc benutzt hatten, um Dämonen aus den Brennenden Höllen herbeizurufen, öffnete sich mit einem Auflodern roten Lichts. Der Dämon schrillte, während das Juwel, das er umklammert hielt, ebenso grell zu glühen begann. Dann fiel das Schwert klappernd zu Boden und Akarats Umriss verschwand. Er verblasste wie das Nachbild in den Augen eines Mannes, der in die Sonne geblickt hat und gegen seine eigene Blindheit anblinzelt.

„Zurück zu den Höllen mit dir“, sagte Cain in die plötzlich leere Luft hinein, als das Portal wieder zuschnappte. Sein ganzer Körper schmerzte.

Akarat, mein Sohn, vergib mir!

Langsam stemmte er sich auf die Füße und hob seinen Stab auf. Das blaue Glühen war inzwischen beinahe völlig erloschen. Der Dämon war fort, das Gleiche galt jedoch auch für seinen Begleiter, und sie hatten nichts gefunden. Akarat war umsonst gestorben.

Deckard Cain kletterte die Steinstufen allein nach oben und zwängte sich durch den schmalen Durchgang zurück nach draußen ins Freie, wo ein Sturm über den Ruinen heraufgezogen war, der das Land zu überfluten drohte, so weit das Auge reichte. Bei sich trug der alte Mann Akarats Schwert, das ebenso schwer war wie sein Herz. Einmal mehr hatte er nicht genug tun können, um jene, die ihm nahestanden, vor dem Tod zu bewahren.

Dunkle Wolken hingen über ihm, und der Wind zerrte an seiner Tunika, während es schnell dunkler wurde.

Ich muss mich beeilen