Diabolic – Fatales Vergehen - Lisa Jackson - E-Book
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Diabolic – Fatales Vergehen E-Book

Lisa Jackson

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Beschreibung

Drei Freundinnen – eine fatale Entscheidung – eine Bestie, die auf Rache sinnt: Nach »Greed – Tödliche Gier« folgt mit dem Thriller »Diabolic – Fatales Vergehen« der zweite Band der Wyoming-Reihe von den amerikanischen Thriller-Queens und New-York-Times-Bestseller-Autorinnen Lisa Jackson, Nancy Bush und Rosalind Noonan. Ein kleines nächtliches Abenteuer wird für die Teenager Shiloh, Kat und Ruth aus Prairie Creek in Wyoming zum Albtraum: Die wilde Shiloh, deren Stiefvater sie misshandelt, Kat, deren Mutter im Sterben liegt, und die scheue Pfarrers-Tochter Ruth wollen einfach nur mal etwas anderes erleben, als sie sich nachts aus dem Haus schleichen, um nackt baden zu gehen. Einen zusätzlichen Kick erhält ihr Vorhaben durch die Tatsache, dass in Prarie Creek vor Kurzem drei Mädchen verschwunden sind. Doch was die drei Freundinnen am Ufer des abgelegenen Sees erwartet, ist ein Albtraum, über den sie auf Ruth' Bitte hin jahrelang Stillschweigen bewahren. Fünfzehn Jahre später wird in Prairie Creek erneut ein Mädchen als vermisst gemeldet. Ruth, die mittlerweile eine psychologische Praxis eröffnet hat, ringt sich endlich dazu durch, die Ereignisse von damals offenzulegen. Am nächsten Tag finden Shiloh, Kat und Ruth ein Foto in der Post, das sie in jener furchtbaren Nacht vor fünfzehn Jahren beim Baden zeigt. Wer auch immer damals dort am See war, ist zurück – und sinnt auf Rache ... Die Thriller der Wyoming-Reihe sind das gemeinsame Werk von Lisa Jackson, ihrer Schwester Nancy Bush und der befreundeten Thriller-Autorin Rosalind Noonan. Entdecken Sie auch den ersten Thriller innerhalb der Reihe, »Greed – Tödliche Gier«, in dem ein psychopathischer Killer Jagd auf eine ganze Familie macht. Drei NYT-Bestseller-Autorinnen versprechen Spannung hoch drei!

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Seitenzahl: 604

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Lisa Jackson / Nancy Bush / Rosalind Noonan

DIABOLICFatales Vergehen

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Fünfzehn Jahre sind Shiloh, Kat und Ruth vor ihrer Vergangenheit geflohen. Die Highschool-Freundinnen wurden damals beim Baden am See von einem Vergewaltiger überrascht, dem sie mit Mühe und Not entkamen. Als die drei Frauen nun wieder in ihrer alten Heimat in Prairie Creek, Wyoming, vereint sind, verschwindet ein junges Mädchen; kurz darauf taucht eine Frauenleiche auf. Gleichzeitig bekommen die drei Frauen unheilvolle Post: ein Schwarz-Weiß-Foto, das sie an jenem schicksalhaften Abend vor fünfzehn Jahren nackt am See zeigt. In ihnen keimt ein schrecklicher Verdacht …

Inhaltsübersicht

Widmung

TEIL EINS | Drei Mädchen

Kapitel eins

Kapitel zwei

TEIL ZWEI | Shiloh

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

TEIL DREI | Ruth

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

TEIL VIER | Kat

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Epilog

Leseprobe »Last Girl Standing«

 

 

 

 

Zum Andenken an Bonzi, Ruby und The Binkster, die besten Gefährten beim Schreiben, die man sich vorstellen kann

TEIL EINS

Drei Mädchen

Vor fünfzehn Jahren …

Kapitel eins

Sie kamen.

Genau wie erwartet.

Doch diesmal waren es drei, nicht bloß zwei.

Alle jung, kurz davor, zur Frau zu werden.

Alle mit attraktiven, straffen Körpern.

Nicht ahnend, dass er auf der Lauer lag, verborgen im Schatten der Wälder rund um den See.

Voller Vorfreude leckte er sich die trockenen Lippen. Das größte der drei Mädchen fing an, sich im Mondschein auszuziehen, und er spürte, wie sein Schwanz zum Leben erwachte, anschwoll und schmerzhaft gegen den Reißverschluss seiner Jeans drückte, als hätte er ein Eigenleben. Er strich mit den Fingern über die große Beule in seinem Schritt, dann griff er an seinen Gürtel und zog lautlos das Jagdmesser aus der Scheide. Mit der Spitze des Zeigefingers betastete er die glatte, leicht konkave Stahlklinge und stellte sich vor, wie er die Waffe tief zwischen den Brüsten der Mädchen versenkte. Minderjährige, die die Warnungen ihrer Eltern in den Wind geschlagen hatten, weil sie ungehorsam waren, schamlos und rebellisch … keine guten Mädchen. Das wusste er. Spürte er. Nein, diese Mädchen waren schlecht.

Aber er war ja da. Um sie zu bestrafen. Um gute Mädchen aus ihnen zu machen. Um ihnen zu zeigen, wie man liebte. Ihn liebte. Zum Glück hatte er den Pick-up bemerkt an diesem abgeschiedenen Fleckchen Erde, hatte geholt, was er brauchte, und sie aufgespürt … Oder hatte Gott sie ihm gegeben?

Sein Blut geriet in Wallung, wenn er sich ausmalte, was er mit ihnen anstellen würde. Ah, jaaa …

Doch eins nach dem anderen.

Es galt, den passenden Moment abzuwarten.

Er teilte die Zweige und starrte zu den Mädchen hinüber. Sein Herzschlag beschleunigte sich, sein Atem ging stoßweise.

Das Mondlicht malte ein silbernes Band auf die spiegelglatte, makellose Oberfläche des Sees, der Wind rauschte leise durch die sommertrockenen Äste, der Schrei einer Eule durchbrach die nächtliche Stille.

Nun macht schon, dachte er ungeduldig. Zieht euch aus! Stripklubs waren schon immer sein Ding gewesen. Das erste Mal hatte er sich in einen hineingeschlichen, als er noch minderjährig war, später dann, als er keine Angst mehr haben musste, ertappt und hinausgeworfen zu werden, hatte er sich stets einen Platz so nah wie möglich an der Bühne gesucht und fasziniert den Tänzerinnen zugeschaut, die sich auf so erregende Weise ihrer Kleidung entledigten. Mit den Jahren hatte sein Interesse an der routinierten Darbietung nachgelassen, bei der es doch nur darum ging, das Publikum anzumachen und ihm das Geld aus der Tasche zu ziehen. Auf Striptease stand er nach wie vor, aber mehr auf das, was ihm die drei Mädchen am Steg des menschenleeren Sees in Wyoming boten. Das, was er hier sah, war unverfälscht. Echt. Zudem machte ihn die Tatsache, dass diese jungen Frauen keinen blassen Schimmer hatten, dass er sie beobachtete, höllisch an. Das war der ultimative Kick.

Er kniff die Augen zusammen, dann blickte er durch sein Nachtsichtgerät, um besser sehen zu können. Die große Blondine, die jetzt zum Ende des Stegs ging, hatte einen athletischen Körper, und er wusste auch, warum. Shiloh. Sie war das Cowgirl, der Wildfang unter den dreien. Ihr volles blondes Haar war zu einem Zopf geflochten, der über ihren Rücken bis zur Taille fiel.

Das mittlere Mädchen, eine Brünette, war kleiner, zierlich. Ihr Vater war von Beruf Cop. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Katrina. Die Tochter von Patrick Starr, Detective Patrick Starr, ein mutiges, draufgängerisches Mädchen, wenngleich sie äußerlich eher nach ihrer Mutter kam. Die Tatsache, dass ihr Dad für das Büro des Sheriffs arbeitete, machte sie für ihn nur noch attraktiver. Ein Tabu. Und er liebte es, Tabus zu brechen.

Das dritte Mädchen stellte ihn vor ein Rätsel. Er glaubte nicht, dass er es schon mal gesehen hatte. Mit Sicherheit war die Kleine noch nie hier gewesen, um mit den anderen nackt im See zu schwimmen – sie wäre ihm mit Sicherheit aufgefallen. Sie sah jünger aus als die beiden anderen und vollkommen unschuldig. Aber er hatte schon oft erlebt, dass ein solcher Eindruck täuschte. Im Mondlicht wirkte ihr Haar, das sie zu einem Knoten auf dem Kopf geschlungen hatte, rötlich. Trotz ihrer zarten Gestalt hatte sie große Brüste. Er konnte es kaum erwarten, dass sie endlich ihre ärmellose Bluse auszog und ihm die pralle Wonne präsentierte.

Wieder zuckte sein Schwanz.

Er fragte sich, welche Farbe ihre Nippel wohl haben mochten. Hell und stark errötet? So hell, dass sie sich kaum von dem umliegenden weichen Fleisch abhoben? Oder waren es große, dunkle Kreise mit spitzen kleinen Zitzen, an denen er so gern knabberte und saugte?

Seine Erektion pulste.

Jetzt setzte sie sich an den Rand des Stegs, zog die Knie unters Kinn und schlang die Arme darum. Zögerte. Nun mach schon, Mädel, nur keine Hemmungen! Wer zum Teufel war sie? Er fokussierte ihre Gesichtszüge, aber er erkannte sie nicht. Hatte sie noch nie zuvor gesehen, und wenn doch, dann nicht bewusst. Was für ein berauschendes Gefühl es sein mochte, ihre schlanken Beine um seine Taille zu spüren, wenn er in die nassen Tiefen ihrer Muschi eintauchte!

Für eine Sekunde wandte er den Blick ab.

Er durfte sich nicht von seinen sexuellen Fantasien ablenken lassen.

Zumindest noch nicht.

Komm schon, komm schon! Sein gesamter Körper spannte sich an, als sie begann, sich auszuziehen. Shiloh, das Cowgirl, hatte schon vorgelegt, und ihre Freundinnen taten es ihr nach. Die Cop-Tochter, angeblich ein ganz helles Köpfchen, hatte ebenfalls keine Hemmungen, aber die Kleine zierte sich noch immer.

Hm, welche soll ich nehmen?

Wer von euch dreien wird die Glückliche sein?

Er streifte seine Skimaske über, hob den Finger und deutete in Richtung der nichts ahnenden Mädchen.

Ene, mene, miste …

 

Sie hätten Ruthie niemals mitnehmen sollen.

Das war ein Fehler gewesen.

Und zwar ein gewaltiger, dachte Shiloh mit einer ordentlichen Portion Groll. Sie hätte der Planänderung nicht nachgeben, hätte niemals in dem Pick-up warten dürfen, den sie sich von ihrem dämlichen Stiefvater »geborgt« hatte, während Katrina über die gepflegte Einfahrt zu Ruthie McFerrons Haus schlich, ans Fenster von Ruthies Zimmer klopfte und ihr half, nach draußen zu klettern. Mist! Was hatte sich Katrina bloß dabei gedacht, als sie vorschlug, Ruthie mitzunehmen?

Shiloh hätte nicht nachgeben dürfen. Schließlich war sie diejenige, die das größte Risiko auf sich nahm. Wenn Larimer Tate herausfand, dass sie ohne seine Erlaubnis mit seiner Rostlaube von Pick-up die Ranch verlassen und die Scheinwerfer erst angemacht hatte, als man sie vom Haus aus nicht mehr sehen konnte, würde die Hölle losbrechen.

Allem Anschein nach schien Ruthie Ähnliches zu befürchten, denn ihr Dad, der Reverend, galt als strenger Mann, der am liebsten jeden ins Fegefeuer geschickt hätte, der sich seinen Ansichten und Geboten nicht beugte. Und jetzt war der kleine Feigling nervös und sah Gespenster in den Schatten der hohen Espen, die rings um diesen stillen See auf Privatgrund standen. Keine Ahnung, wem er gehörte, Shiloh wusste nur, dass die holprige Schotterstraße nach ein, zwei Meilen weiter auf staatliches Forstgebiet führte, aber hier war es einfach am schönsten.

»Ich glaube, wir werden beobachtet«, hatte Ruthie vor ein paar Minuten mit zitternder Stimme geflüstert, während sie angestrengt in die Dunkelheit starrte. »Ich hab da was gesehen.«

Pah.

Die Tatsache, dass sie immer noch »Ruthie« genannt wurde, sagte alles. Welche Sechzehnjährige ließ sich schon Ruthie rufen? Ja, das passte zu ihr, dachte Shiloh, zog den verschwitzten BH aus und warf ihn zu ihrem staubigen T-Shirt auf den Steg.

Die kühle Brise liebkoste ihre Haut. Ruthie McFerron war ein Baby. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Wohlbehütet aufgewachsen in einer netten, kleinen Familie religiöser Fanatiker – völlig anders als Shilohs sonderbare Patchworkfamilie. Ihre Mutter hatte einen Loser nach dem anderen geheiratet – der letzte, Larimer Tate, Fayes aktueller Ehemann, war der schlimmste von allen.

»Aber ich hab wirklich etwas gesehen«, beharrte Ruthie.

»Wie das denn? Hier draußen ist es doch stockdunkel.« Shiloh öffnete den obersten Knopf ihrer Jeans. Die konnte ihr viel erzählen! »Das bildest du dir nur ein.«

»Nein, ich glaube …«

»Pst!«, zischte Katrina. »Hier draußen ist außer uns niemand.«

»Und warum müssen wir dann leise sein?« Ruthies weit aufgerissene Augen glänzten im Mondschein.

Herrgott, was für eine Memme!

»Ich glaube trotzdem, da ist wer. Oder etwas. Da! Dort drüben!« Sie deutete auf ein Baumdickicht, wo das Unterholz am dichtesten war.

»Du liebe Güte«, murmelte Shiloh, streifte ihre abgeschnittene Jeans und das Höschen ab und warf sie ebenfalls auf den Haufen, um die Sachen so schnell wie möglich schnappen zu können, sollte sie sie überraschend brauchen. Nur für den Fall, dass Ruthie recht hatte und tatsächlich jemand im Unterholz lauerte. »Wahrscheinlich ist es bloß ein Reh oder ein Puma, vielleicht auch ein Bär.«

Ruthie schnappte nach Luft. »Ein Puma? Nein, das kann nicht sein …«

Shiloh zuckte die Achseln. »Dann eben ein Wolf.«

Die Holzplanken knarzten, als Ruthie aufstand und mit unsicheren Schritten in die Mitte des Stegs ging. »Können Wölfe schwimmen?«

»Hör auf damit!« Katrinas Stimme klang sauer. »Warum machst du das, Shiloh? Was ist bloß los mit dir?«

Shiloh gab keine Antwort. Mädchen wie Katrina und Ruthie hatten ja keinen blassen Schimmer, was für ein Desaster Shilohs Leben war; sie wussten nicht, dass sie weit mehr Angst vor dem Alltag zu Hause hatte als vor allen Kreaturen, die sich in diesen Wäldern verstecken mochten.

Etwas weniger aufgebracht fügte Kat hinzu: »Hör auf, sie zu ärgern. Es ist das erste Mal für sie. Sie ist es nicht gewohnt, ungehorsam zu sein.«

Shiloh schnaubte. Als sei Ruthie eine zerbrechliche Porzellanpuppe! Aber Katrina ließ sich nicht umstimmen, wenn sie sich auf eine Seite gestellt hatte, und im Augenblick stand sie definitiv hinter der verdammten Ruthie McFerron.

Shiloh, die mit Kritik nur schlecht zurechtkam, beschloss, nicht länger zu warten. Sie holte tief Luft und machte einen geschmeidigen Kopfsprung ins eisige Wasser. Dankbar für die erfrischende Umarmung des Sees und die Stille, die er mit sich brachte, schwamm sie ein gutes Stück unter der Wasseroberfläche, um nicht länger den Stich zu verspüren, den ihr Kats Worte versetzt hatten. Doch die Frage Was ist bloß los mit dir? hallte weiter durch ihren Kopf.

Nichts! Gar nichts ist los mit mir! Sie ließ etwas Luft aus dem Mundwinkel blubbern, die in Blasen an die Oberfläche stieg und den silbrigen Schein des Mondes in der tintenschwarzen Tiefe reflektierte. Das war alles Ruthies Schuld. Nicht ihre. Ganz bestimmt nicht.

Ihre Lungen fingen an zu brennen, und sie schoss an die Oberfläche und warf die Haare aus dem Gesicht. Für einen Moment verweilte sie wassertretend auf der Stelle, dann ließ sie sich auf dem Rücken treiben, die nackten Brüste gen Himmel gereckt. Wenigstens entspannten sich endlich ihre Muskeln nach diesem anstrengenden Tag, an dem sie Heuballen gestapelt und ein besonders störrisches Hengstfohlen trainiert hatte. Sie liebte Pferde, aber sie hasste es, die staubigen, piksenden Heuballen in die Scheune zu schleppen, und ganz besonders hasste sie es, mit ihrem Nichtsnutz von Stiefvater zusammenzuarbeiten. Was für ein Scheißkerl.

Nach einer Weile drehte sie sich um und schaute zum Ufer. Ruthie und Katrina waren immer noch auf dem Steg, wo sie sich endlich aus ihren Klamotten schälten. Das wurde aber auch Zeit! Kat schien die Memme nach langem Hin und Her überzeugt zu haben, dass es völlig okay war, nackt zu sein.

Plötzlich meinte sie, aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen, nur eine klitzekleine Veränderung im Gestrüpp. Ihre Muskeln spannten sich an. Shiloh blinzelte, um die Tropfen zu lösen, die noch an ihren Wimpern hingen, und redete sich ein, sie hätten ihr Sichtfeld verzerrt. Angestrengt suchte sie das Ufer ab, aber sie entdeckte nichts Außergewöhnliches. Hm. Ließ sie sich etwa schon von Ruthies übereifriger Fantasie anstecken?

So ein Blödsinn! Shiloh war den ganzen Sommer über hierhergekommen und nie einer Menschenseele begegnet, auch nicht, als Katrina beschlossen hatte, Shiloh nach einer langen Schicht in Big Barts Buffalo Lounge, wo sie beim Bedienen und in der Küche half, an den See zu begleiten. Und jetzt sollte das plötzlich anders sein, nur weil Ruthie dabei war?

Da ist nichts. Shiloh wandte sich ab und tauchte unter, doch das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, folgte ihr in die trüben Tiefen.

 

»Shiloh?«, rief Ruthie McFerron nervös.

»Keine Sorge, mit der ist alles in Ordnung«, blaffte Katrina gereizt, zog Tanktop und BH aus und warf beides auf Shorts, Unterhose und Flipflops. Shiloh konnte ein solches Miststück sein, ein Hitzkopf, der immer mit dem Kopf durch die Wand wollte, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern.

Na schön, sollte sie doch allein hinausschwimmen. Ihr Mütchen kühlen. Katrina würde auch ohne sie mit Ruthie klarkommen. »Die redet immer, ohne vorher nachzudenken.« Katrina trat an die Kante des Stegs und band ihr Haar zurück. Der Geruch nach Frittenfett aus Big Barts Fritteuse stieg ihr in die Nase.

»Bist du so weit?« Sie drehte sich zu ihrer Freundin um. »Nun mach schon!«

Ruthie faltete ihren Rock und die ärmellose Bluse und legte sie auf ihre Sandalen, bevor sie erneut einen ängstlichen Blick zum Ufer warf. »Ich weiß nicht, ob das richtig ist«, flüsterte sie, doch schließlich zog sie auch ihren BH aus und legte ihn unter die Bluse.

»Du wolltest mitkommen«, erinnerte Katrina sie. In Wahrheit hatte Ruthie sie sogar förmlich angefleht, sie mitzunehmen, als sie am Nachmittag auf einen geeisten Caffè mocha ins Diner gekommen war und mitbekommen hatte, wie sie sich mit Shiloh um Mitternacht zum Schwimmen verabredet hatte.

»Ich weiß, aber …« Ruthie hielt sich die Hände vor die Brüste. »… aber alles ist so unheimlich. Shiloh hat doch bloß Spaß gemacht mit den Wölfen und Pumas, oder?«

»Klar«, erwiderte Katrina mit Nachdruck, trotzdem schaute sie in die Richtung, in die Ruthie vorhin gedeutet hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Eine Spannung lag in der Luft, die sie sich selbst nicht recht erklären konnte. Oder war es bloß Ruthies Nervosität, die sich auf sie selbst übertrug?

»Nun, das ist nicht komisch. Ich weiß, dass ich ein bisschen ängstlich bin, aber ich habe mich einfach noch nicht an das Leben auf dem Land gewöhnt. In Denver haben wir in der Vorstadt gewohnt. Ich kenne mich mit Einkaufszentren, Stadtvierteln und Blockbustern aus, aber nicht mit der Wildnis. Ich habe wirklich etwas gesehen, das schwöre ich. Vermutlich ist es nichts Schlimmes, trotzdem …« Ruthie zögerte, dann fügte sie kleinlaut hinzu: »Meine Mutter behauptet, ich würde mich vor meinem eigenen Schatten erschrecken.«

»Ach, mach dir deswegen keine Sorgen«, beruhigte Katrina ihre Freundin, dennoch fuhr sie zusammen, als ganz in der Nähe ein Frosch quakte. Ein Fisch sprang aus dem Wasser und kräuselte beim Wiedereintauchen die spiegelglatte Oberfläche.

Wer um alles auf der Welt sollte hier mitten in der Nacht auf sie lauern? Was für ein unsinniger Gedanke!

Für eine Sekunde musste sie an die beiden Mädchen denken, die vor zwei Jahren verschwunden waren, in einer lauen Sommernacht wie dieser. Nicht hier am See, aber an einem Bach in der Nähe des Forstgebiets, in dem sie sich abgekühlt hatten. Rachel und Erin, zwei Teenager aus guten Familien. Katrinas Vater hatte den Fall übernommen. Und dann war vor etwa einem Monat Courtney Pearson verschwunden, nachdem sie sich mit ihrem Freund Rafe gestritten hatte. Bei Courtney hatte das keinen gewundert. Sie hatte auf der Prairie Creek Highschool unzählige Verweise kassiert wegen ihrer Piercings und Schlauchoberteile, die sie zu viel zu kurz abgeschnittenen Hotpants trug. Katrina und Courtney waren im Geowissenschaftsunterricht Laborpartner gewesen, weil Courtney die Klasse schon zum zweiten Mal wiederholte. Courtney Pearson hatte sich ihren Ruf als »Bad Girl« der Highschool von Prairie Creek redlich verdient. Dass ausgerechnet Rafe Dillinger ihr Freund war, der verzogene Sprössling einer reichen Familie, den man mehrfach beim Stehlen ertappt hatte, war nicht gerade förderlich für ihren Ruf.

Drei Mädchen waren verschwunden. Manche Leute, darunter auch Shiloh, gingen davon aus, dass sie von zu Hause abgehauen waren, aber Katrina war sich da nicht so sicher. Da ihr Vater mit den Vermisstenfällen befasst war, hatte sie einige Details mitbekommen, und nichts ließ darauf schließen, dass die Teenager darauf aus gewesen waren, die Stadt zu verlassen. Kat fürchtete, dass sie entführt wurden, und ihr Dad schien derselben Ansicht zu sein. Hartnäckig, wie er war, ließ Detective Starr nicht locker, wie immer, wenn er sich erst einmal in die Ermittlungen verbissen hatte. Er würde die Fälle erst zu den Akten legen, wenn er die Mädchen gefunden hatte.

Katrina schüttelte die finsteren Gedanken ab und hob die Arme in die samtig-feuchte Nachtluft. Sie war mit ihren Freundinnen in Sicherheit. »Es ist eine herrliche Nacht zum Schwimmen.« Entschlossen drehte sie sich zu Ruthie um. »Kommst du nun oder nicht?«

»Klar.« Ruthie stieg unsicher aus ihrem Höschen und legte es sorgfältig auf ihren Kleiderstapel.

»Dann los. Wir gehen vom Ufer aus rein.«

Ruthie nickte und folgte Katrina auf den sandigen Uferstreifen. Langsam wateten sie ins Wasser, das so kalt war, dass es ihnen den Atem verschlug.

Katrina zog scharf die Luft durch die Zähne und bekam überall am Körper eine Gänsehaut.

»Wow«, hauchte Ruthie und tastete nach den Haarnadeln, die den Knoten auf ihrem Kopf hielten. »Ist das kalt!«

»Man muss sich bloß daran gewöhnen.« Katrina schaute über den See. Shiloh war wieder untergetaucht. Insekten summten über die Oberfläche, eine Fledermaus flatterte vorbei, aber Katrina sagte nichts, weil sie Ruthie nicht noch mehr verunsichern wollte, die sich vorsichtig über den Sand und die glatten Steine ins Wasser vortastete.

Katrina liebte diesen Ort. Liebte es, mal wegzukommen – nicht nur von ihrem Sommerjob als Kellnerin im Big Barts, sondern von all ihren Problemen. Probleme, die mit ihrer Familie zusammenhingen. Ihr Vater steckte bis über beide Ohren in Arbeit – ein Detective, der aufgehört hatte, seine Überstunden zu zählen. Manchmal dachte Katrina, der Job sei nur ein praktischer Vorwand für Patrick Starr, sich nicht mit dem auseinandersetzen zu müssen, was zu Hause passierte. Mit Mom.

»Sie ist immer noch nicht wieder aufgetaucht.« Ruthie war stehen geblieben und starrte furchtsam auf die schwarze Wasseroberfläche.

»Mach dir keine Gedanken – für Shiloh ist das ein Spiel. Sie liebt es, so lange wie möglich die Luft anzuhalten. Ignorier sie einfach.« Langsam hatte Katrina es satt, das ängstliche Mädchen zu beruhigen. Mit einer einzigen flüssigen Bewegung tauchte sie unter und pflügte mit kräftigen Zügen durchs Wasser.

Shiloh war ein Mensch, der sich von keinem etwas sagen ließ, und in Patrick Starrs Augen mit allen Wassern gewaschen. Katrina wusste, dass es ihm als Mann des Gesetzes ganz und gar nicht gefiel, dass sich seine Tochter mit Shiloh Silva und dem Tate-Clan abgab, von dem doch nur Scherereien zu erwarten waren. Allerdings hielt er sich zurück, was seine weisen Ratschläge anging, wenngleich es ihn zweifelsohne freuen würde, wenn er erfuhr, dass sie sich mit der Tochter von Reverend McFerron angefreundet hatte. Ruthie war ein Mädchen nach seinem Geschmack, ein Mädchen, das sich stets an die Regeln hielt, während Shiloh jegliche Art von Konventionen vollkommen schnuppe war.

»He, warte!«, rief Ruthie.

Katrina schwamm weiter.

Plötzlich ergriff eine starke Hand ihr Bein.

Erschrocken schnappte sie nach Luft.

Die Hand ließ los, und Shiloh schoss keinen halben Meter von ihr entfernt aus dem Wasser.

»Hab dich!«, rief Shiloh grinsend und warf sich das nasse Haar über die Schulter.

»Ich wusste, dass du es bist«, log Katrina. Sie war jetzt stocksauer. Anscheinend reichte es nicht, dass sie sich mit Ruthies Ängsten herumschlagen musste, nein, Shiloh musste ihr auch noch einen ihrer blöden Streiche spielen.

»Na klar. Wer’s glaubt … Komm, lass uns um die Wette schwimmen.«

»Du verlierst.«

»Niemals.« Shiloh griff nach Kats Schulter und zog sie zurück.

»He!« Kat spuckte Wasser.

»Du schummelst, Shiloh!«, rief Ruthie vom knietiefen Wasser aus, aber sogar sie fing an zu lachen, als Shiloh davonschwamm – Katrina, die keine echte Chance hatte, im Kielwasser.

Shiloh erreichte das Ufer und stieg aus dem See. Das Mondlicht ließ die Wassertropfen auf ihrer nackten Haut glänzen. »Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, feixte sie, als Kat ebenfalls am Ufer ankam. »Als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Eher den schwarzen Mann«, blaffte Kat wütend.

»Pscht, das darf man nicht sagen«, flüsterte Ruthie, die auf die beiden zugewatet kam. »Man darf nicht über den schwarzen Mann sprechen«, warnte sie, »das bringt Unglück.«

»Unsinn.« Kat bespritzte sie mit Wasser. Ruthie wandte sich rasch ab, damit nur ja nicht ihr hochgestecktes Haar nass wurde. »Jetzt erzähl mir nicht, du bist abergläubisch.«

»Bin ich nicht! Nicht wirklich«, behauptete Ruthie, aber ihre zittrige Stimme sagte etwas anderes.

Platsch!

Eine weitere Ladung Wasser traf Ruthies helle Haut.

»Hör auf damit! Meine Haare werden nass! Nicht dass mein Dad etwas bemerkt.«

»Er denkt, du liegst im Bett, er wird dich also vor morgen früh nicht sehen«, versicherte Kat ihr zum tausendsten Mal. Vielleicht hatte Shiloh recht gehabt, vielleicht hätten sie Ruthie nicht mitnehmen sollen. Shiloh, die Ruthies Jammerei satthatte, tauchte wieder ins Wasser ein und verschwand, ohne dass sich die Oberfläche kräuselte.

»Sie ist wie ein Fisch«, stellte Kat halb bewundernd fest.

»Ein kalter Fisch«, fügte Ruthie hinzu. »Sie mag mich nicht.«

»Sie mag ohnehin nicht viele Leute.« Warum sollte Kat ihr widersprechen? Shiloh und Ruthie würden eh niemals Freundinnen werden.

Ruthie starrte schon wieder auf die dunkelste Stelle zwischen den Bäumen. »Wir sollten zurückfahren«, schlug sie vor und kaute nervös auf ihrer Unterlippe. »Es ist schon spät. Außerdem ist es hier nicht sicher.«

Shiloh tauchte auf. »Worum geht’s?«

»Ruthie denkt an die vermissten Mädchen«, erwiderte Kat.

»Das hab ich nicht gesagt!«, protestierte die.

»Aber du hast an sie gedacht.«

»Nein, ich …«

»Denen ist doch gar nichts passiert«, fiel Shiloh ihr ins Wort. »Auch wenn es manche Leute nicht wahrhaben wollen – Rachel und Erin sind abgehauen, nachdem sie bei einem Rodeo waren, das kommt in den besten Familien vor.« Shiloh nahm als Tonnenreiterin selbst am hiesigen Rodeo teil, weshalb sie sich für eine Expertin auf diesem Gebiet hielt.

»Rachel Byrd wäre niemals einfach durchgebrannt!«, hielt Ruthie dagegen.

»Du kennst sie?« Shiloh wirkte skeptisch.

»Nein, aber ihre Familie gehört zu der Gemeinde meines Dads.«

»O Gott.« Shiloh verdrehte die Augen. »Na und? Jetzt kommt etwas für Blitzmerker, Ruthie: Selbst Kirchgänger überschreiten mitunter gewisse moralische Grenzen, genau wie alle anderen. Glaub mir, damit kenne ich mich aus. Manche von denen sind die größten Heuchler auf Gottes Erde!«

»Nein …« Ruthie wollte widersprechen, aber Shiloh fuhr ihr über den Mund. »Selbst die Polizei glaubt, dass die Mädchen von zu Hause ausgerissen sind. Ende der Geschichte. Ist ja auch wirklich keine große Sache. Vielleicht mussten sie einfach mal raus. Vielleicht war alles nicht so toll daheim. Vielleicht waren es auch ganz böse Mädchen …« Ihr ohnehin finsterer Gesichtsausdruck wurde noch düsterer. »Eins könnt ihr mir glauben: Sobald ich achtzehn bin, haue ich auch ab.«

»Du meinst, du gehst aufs College?«

Shiloh warf Ruthie einen schneidenden Blick zu und gab sich keine Mühe, ihren Sarkasmus zu verbergen, als sie erwiderte: »Klar. College. Genau das ist der Plan.«

Ruthie zuckte zusammen, trotzdem fragte sie: »Wohin willst du denn sonst gehen?«

»Egal, wohin. Hauptsache weg. Wie die Mädchen, die es auch schon aus diesem Scheißkaff rausgeschafft haben.«

»Sie sind nicht abgehauen«, beharrte Ruthie und drehte sich zu Katrina um. »Stimmt’s, Kat?«

»Warum fragst du mich?«

»Weil dein Vater sie auch nicht für Ausreißerinnen hält. Hast du nicht genau das behauptet?«

»Nicht offiziell«, ruderte Kat zurück. »Mein Vater ist Detective, er darf mir nicht alles erzählen.« Vor allem, weil er kaum zu Hause war, aber das musste sie nicht unbedingt hinzufügen.

»Ich sage euch, die sind abgehauen«, wiederholte Shiloh stur. »Vielleicht haben ihre Väter oder Stiefväter sie geschlagen oder Schlimmeres, und ihre armseligen Mütter haben es nicht geschnallt oder ihren Töchtern nicht geglaubt. Vielleicht haben die Mütter auch gesoffen oder Tabletten geschluckt, oder irgendein perverser Verwandter hat versucht, ihnen an die Wäsche zu gehen.«

Ruthie schnappte entsetzt nach Luft. »Unsinn, Shiloh! Rachel und Erin kommen aus anständigen Familien.«

»Wach auf, Ruthie, so was passiert doch ständig.« Shiloh verdrehte die Augen über so viel Naivität. »Nicht jeder hat perfekte Eltern, die an Kirchenpicknicks teilnehmen, Händchen halten und einen Narren an ihren Kindern gefressen haben. Bei den wenigsten schwebt ein gottverdammter Heiligenschein über dem Kopf!«

»Genug, Shiloh«, warnte Katrina.

Im Mondlicht konnten sie sehen, wie Ruthie weinerlich das Gesicht verzog. »Warum bist du so gemein?«

»Ich weiß, wovon ich rede«, erwiderte Shiloh mit fester Stimme. »Aber was ist mit dir? Könntest du mir bitte ein einziges Mal erklären, warum du so versessen darauf warst, mitzukommen?«

Ruthie presste die Lippen zusammen. »Das weiß ich inzwischen selbst nicht mehr.« Sie hielt die Luft an, tauchte ins Wasser und schwamm unbeholfen zum Steg, wo ihre Klamotten lagen.

Kat funkelte Shiloh aufgebracht an. »Musst du immer so ein Stinkstiefel sein? Diesmal bist du echt zu weit gegangen.«

»Ich? Du bist zu weit gegangen«, gab Shiloh zornig zurück. »Sie mitzunehmen war deine Idee.« Noch bevor Kat ein Wort sagen konnte, tauchte Shiloh unter und verschwand.

»Verdammt.« Stinksauer sah Kat Ruthie nach, deren Kopf über der Wasserfläche auf und ab hüpfte. Diese Aktion war ein kolossaler Fehler. Nun, noch einmal würden sie Ruthie bestimmt nicht mitnehmen. Shiloh hatte recht: Die Tochter des Reverends war eine Memme. Allerdings war es in der Tat ziemlich bescheuert, mitten in der Nacht an diesen gottverlassenen Ort zu kommen, obwohl sie wussten, dass drei Mädchen verschwunden waren. Und noch etwas: Manchmal war Shiloh wirklich ein hundsgemeines Miststück.

Solche Freundinnen konnte sie nicht brauchen, dachte Kat und machte sich daran, Ruthie zum Steg zu folgen. Sie hatte ihre eigenen Probleme. Große Probleme. Ungewollt schweiften ihre Gedanken zu ihrer Mutter. Die krank war. Im Sterben lag. Und keiner in ihrer Familie wusste, wie er damit umgehen sollte.

Nein, sie brauchte weder Shiloh noch Ruth. Morgen, so schwor sie sich und fing entschlossen an zu kraulen, morgen würde sie sich auf die Suche nach neuen Freundinnen machen.

Normalen Freundinnen.

Kapitel zwei

Ruthie schauderte im eiskalten Wasser und versuchte nicht daran zu denken, dass jemand, etwas, im Dickicht am Ufer auf der Lauer liegen könnte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass unsichtbare Augen auf ihr ruhten – die Augen des Bösen. Aber sie durfte ja nichts sagen. Die anderen Mädchen würden sie doch bloß auslachen und sie als abergläubische Predigertochter verspotten.

Unter der Wasseroberfläche streifte etwas Schleimiges ihr Bein. Ruthie stieß einen spitzen Schrei aus, doch was immer sie da berührt hatte, schwamm weiter. Oder hatte sie sich auch das nur eingebildet?

An allem war diese Shiloh schuld. Es wäre Ruthie vollkommen recht, wenn sie die Stadt verließ – aber auch das durfte sie nicht laut aussprechen, vermutlich nicht einmal denken.

Katrina hatte behauptet, es sei lustig, mit Shiloh zusammen zu sein, aber das Mädchen hatte etwas Niederträchtiges an sich und die Zunge einer Giftschlange. Sie schien ihre Rolle als Bad Girl, als Rebellin von Prairie Creek, förmlich zu genießen. Unter dem Strich war es einfach gefährlich, sich mit ihr abzugeben.

Es war dumm von ihr gewesen, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Warum um alles auf der Welt hatte sie sich mitten in der Nacht aus ihrem Zimmer gestohlen? Um dazuzugehören? Um Freundinnen zu finden? Nein, natürlich steckte mehr dahinter. In Wahrheit suchte sie nach einer Möglichkeit, Kat und damit auch Kats Bruder nahe zu sein. Ethan Starr war ein richtiger Cowboy, der schon mehrere Nachwuchs-Rodeo-Wettbewerbe gewonnen hatte. Er war ein echter Schatz und noch dazu bescheiden, und er grüßte Ruthie jeden Morgen, wenn sie sich in der Schule auf dem Gang begegneten. An manchen Tagen lebte sie nur für das »Hallo« von Ethan. Es war bekannt, dass er keine Freundin hatte, warum also konnte nicht einfach sie mit ihm zusammen sein?

Weil jeder wusste, dass Ruthie die Tochter des Reverends war, dazu verdammt, ein langweiliges Leben zu führen und keusch zu bleiben, bis sie heiratete.

Sie biss sich auf die Lippe. Hoffentlich würden ihre Eltern sie nicht erwischen, wenn sie sich zurück in ihr Zimmer schlich. Strafe im Hause McFerron wurde nach der Schwere des Vergehens bemessen, und für gewöhnlich musste sie einen scharfen Tadel von ihrem Vater über sich ergehen lassen, während ihre Mutter mit Tränen in den Augen danebenstand. Ruthie schauderte bei der Vorstellung, wie ihr Vater ihr heutiges »Verbrechen« ahnden würde.

Endlich erreichte sie den Steg, kletterte eilig die glitschige Leiter hinauf auf die Planken und tappte fröstelnd zu ihren sorgfältig zusammengelegten Klamotten. Sie griff soeben nach ihrer Unterwäsche, als sie ein Geräusch vernahm.

Ein Rascheln. Von trockenen Blättern?

Nein, da war nichts. Höchstens der Wind.

Jetzt knackte ein Zweig.

Ruthie hörte Schritte.

Unsinn, das bildest du dir nur ein. Da ist nichts!

Trotzdem setzte ihr Herz für einen Schlag aus.

Die beiden anderen Mädchen waren noch im Wasser. Sie konnte ihre dunklen Umrisse erkennen.

Sie war allein. Oder nicht?

Sie wollte gerade in ihr Höschen schlüpfen, als sie erneut ein Geräusch vernahm: Schritte, die sich näherten. Plötzlich sah sie ein Licht zwischen den Bäumen aufblitzen und schrie erschrocken auf.

Was war das? Wetterleuchten?

Zitternd verschränkte sie die Arme vor der Brust. Hinter sich hörte sie ein Platschen, die anderen Mädchen näherten sich dem Steg. Gott sei Dank! Dann konnten sie endlich abhauen.

 

Katrina stieg aus dem Wasser, dicht gefolgt von Shiloh.

»Endlich!«, stieß Ruthie mit zitternder Stimme hervor. »Da hinten im Gebüsch hat etwas geblitzt.«

»Aber sicher doch.« Shiloh drückte ihre nassen Haare aus und streckte sie sich gerade genüsslich, als erneut ein Licht aufblitzte. »Was zum Teufel war das?«

»Ein Blitz?«, fragte Katrina, die vor Schreck zusammengezuckt war.

Shiloh kniff die Augen zusammen und spähte in die Dunkelheit. Da war doch etwas … Aus dem Augenwinkel sah sie eine Bewegung, einen dunklen Schemen, der aus dem Unterholz trat.

Was zur Hölle ist das?

Das kann doch nicht wahr sein!

Doch obwohl sie sich nicht von Ruthies Angst vor dem schwarzen Mann anstecken lassen wollte, konnte sie nicht verhindern, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten.

Jetzt fiel das silbrige Mondlicht auf die Gestalt.

Verflucht!

Ein Bär von einem Mann kam langsam auf sie zu.

Shiloh rieselte es eiskalt den Rücken hinunter.

Panik stieg in ihr auf.

Wer zum Teufel war das?

Und vor allem: Warum war der Kerl hier?

Bestimmt führt er nichts Gutes im Schilde.

»Lauft!«, schrie sie, als es zum dritten Mal blitzte. »Lauft!« Geblendet stürzte sie davon, stolperte, fing sich wieder und rannte weiter. Runter vom Steg, am Ufer entlang, hinein ins dichte Gestrüpp. »Uff!« Sie stürzte zu Boden, rappelte sich hoch und lauschte. Sie hörte die anderen Mädchen rennen. Der Bastard musste eine Kamera mit Blitzlicht bei sich haben, doch das war mit Sicherheit ihre geringste Sorge.

Lauf, Shiloh, lauf!

Das Blut dröhnte in ihren Ohren, als sie barfuß durch den Wald stürmte. Dornige Zweige zerkratzten ihre Beine, Blätter und Zweige peitschten ihr ins Gesicht. Trotzdem zwang sie sich weiterzurennen, befeuert von Adrenalin. Schneller und schneller, die Hände ausgestreckt, damit sie nicht mit dem Gesicht voran gegen einen Baum prallte.

Welcher verfluchte Voyeur trieb sich mitten in der Nacht in diesem abgeschiedenen Wald herum?

Etwa ihr Stiefvater?

Sie würde es Larimer Tate, diesem widerwärtigen Perversling, tatsächlich zutrauen, ihr hierher zu folgen. Hatte er sie und ihre Freundinnen beobachtet? Wozu? Um Nacktaufnahmen von ihnen zu machen und diese als Wichsvorlage zu benutzen? Bei der Vorstellung drehte sich ihr der Magen um.

Schneller, schneller! Im Grunde war es völlig gleich, was der Kerl hier zu suchen hatte. Sie musste abhauen, Abstand zwischen sich und den Irren bringen. Und was ist mit deinen Freundinnen?

Sie werden es schon schaffen, beruhigte sie sich und atmete erleichtert auf, als sie auf den Schotterweg stieß, der die unbefestigte Straße mit dem See verband. Shiloh rannte in Richtung Straße zum Pick-up. Jetzt, da sie aus dem Dickicht der Bäume heraus war, kam sie schneller voran.

Von den anderen Mädchen war weit und breit nichts mehr zu sehen. Lieber Gott, bitte mach, dass sie es geschafft haben …

Ein Stinktier oder Stachelschwein oder was auch immer brach aus dem Unterholz und lief vor ihr über den Schotter. Shiloh unterdrückte einen Aufschrei. Ihr Herz hämmerte, ihre Lungen fingen an zu brennen. Sie stieß sich den Zeh an einer aufragenden Wurzel, aber es gelang ihr, das Gleichgewicht zu halten und weiterzurennen. Lauf! Lauf! Lauf!

Plötzlich hörte sie hinter sich Schritte, doch sie wagte es nicht, einen Blick über die Schulter zu werfen.

War der Perverse mit der Kamera hinter ihr?

Oder war es Kat? Ruthie?

Bitte, lieber Gott, lass es eins der Mädchen sein!, flehte sie inständig und wurde sich bewusst, dass sie schon seit Monaten, vielleicht sogar seit Jahren nicht mehr zu Gott gebetet hatte.

Sie hörte den Bach, der durch sein felsiges Bett plätscherte. Kurz entschlossen bog sie vom Weg ab und rannte auf das Geräusch zu. Wie ein Band schlängelte sich das kleine Flüsschen durch die Bäume, silbrig glänzend im Mondschein. Ohne stehen zu bleiben, platschte Shiloh durch das eisige Wasser.

Auf einmal öffneten sich die dicht stehenden Espen zu einer breiten, grasbewachsenen Lichtung, aus der vereinzelte dicke Felsbrocken aufragten.

Shiloh flüchtete hinter einen von ihnen und ließ sich keuchend mit dem Rücken gegen den harten Stein sinken. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nackt war; ihre Klamotten lagen noch auf dem Steg.

Du Dummkopf! Und was nun?

Da waren sie wieder, die Schritte. Schnell. Hektisch. O mein Gott! Mit hämmerndem Herzen spähte sie um die Felskante herum und sah eine Gestalt, die aus dem Dunkel der Bäume auf die Lichtung stürmte.

Eine zierliche Gestalt. Kein Mann. Eine Frau, die rannte, als sei ihr der Leibhaftige höchstpersönlich auf den Fersen.

Katrina!

»Kat!«, flüsterte Shiloh, gerade so laut, dass ihre Freundin, die ebenfalls nackt war, sie hören konnte und in ihre Richtung blickte. »Hier drüben!«

Kat flitzte auf den Felsbrocken zu, dann bremste sie abrupt ab, weil sie beinahe gegen Shiloh geprallt wäre. Keuchend beugte sie sich vornüber, stützte die Hände auf die Knie und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Was zum Teufel war das denn?«, krächzte sie. »Was hat ein Perverser mit einer Kamera hier draußen zu suchen?«

»Zumindest war es keine Knarre«, entgegnete Shiloh trocken.

»Oder wir haben sie nur nicht gesehen. Ich weiß nicht, wie es dir ging, aber mich hat der Blitz ganz schön geblendet!« Noch immer nach Luft schnappend, spähte sie in die Dunkelheit. »Wo ist Ruthie?«

»Keine Ahnung. Ich hab sie nicht gesehen.« Gehört auch nicht. »Vielleicht ist sie in die andere Richtung gelaufen.«

»Die andere Richtung führt zurück zum See«, gab Katrina nervös zu bedenken.

»Gut möglich, dass sie umgekehrt ist, um ihre Klamotten zu holen …«

»Unsinn, das glaub ich nicht. Verdammter Mist!«

»Pst. Hör doch mal!« Shiloh spitzte die Ohren, aber bis auf das leise Plätschern des Bachs war alles totenstill. »Sag mal, ist das nicht der Bach, der durch den Staatsforst fließt? Du weißt schon, wo man damals Erin und Rachel zum letzten Mal gesehen hat?« Shiloh schauderte, als sie sah, dass Kat nickte.

»So stand es in der Zeitung, und mein Dad hat auch was in der Art erwähnt. Muss ein, zwei Meilen bachaufwärts gewesen sein. Wir hätten niemals hierherkommen dürfen.«

Die beiden Mädchen schwiegen. »Könnte doch sein, dass Ruthie schon beim Pick-up ist, oder?«, fragte Shiloh nach einer kleinen Weile.

»Dann wäre sie hinter uns gewesen. Wir hätten sie hören müssen.« Kat verstummte, doch kurz darauf stieß sie mit belegter Stimme hervor: »Er hat sie erwischt«, womit sie Shilohs größte Befürchtung aussprach.

»Das kannst du doch gar nicht wissen«, hielt sie dagegen, doch ihre Stimme klang unsicher.

»Liegt aber ziemlich nahe.« Kat schüttelte den Kopf, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen.

»Und wenn sie tatsächlich beim Pick-up auf uns wartet?«

»Das glaubst du doch selbst nicht.« Kat richtete sich auf. »Verflucht. Ich hätte mein Handy mitnehmen sollen.«

Katrina war die Einzige von den dreien, die ein Mobiltelefon besaß.

»Und warum hast du’s nicht getan?«

»Keine Ahnung.« Sie zuckte die Achseln. »Komm, wir müssen Ruthie suchen.«

»Bist du verrückt?«

»Wir können sie nicht hier draußen zurücklassen. Mit diesem Psycho.«

»Das ist mir klar, aber du weißt doch gar nicht, ob sie sich nicht längst in Sicherheit gebracht hat …«

Im selben Augenblick hallte ein schriller, lang gezogener Schrei durch die Nacht.

»O Gott. Das kam vom See! Ruthie!« Katrina stürmte über die Lichtung und war gleich darauf zwischen den Bäumen verschwunden.

»Verdammt«, knurrte Shiloh und setzte ihr nach. Allein wurde Katrina bestimmt nicht mit dem Kerl fertig, und Ruthie wäre ihr eh keine große Hilfe.

Mit rasendem Herzen folgte sie Kat durch den Bach und den Weg entlang zum See, während ihr alle möglichen grauenvollen Szenarien durch den Kopf gingen: Ruthie, misshandelt oder vergewaltigt oder gefoltert oder umgebracht von dem Psychopathen mit der Kamera. Mist!

Als sie sich dem See näherten, verringerte Katrina das Tempo und bedeutete Shiloh, zu ihr aufzuschließen, dann wies sie mit der einen Hand nach links, mit der anderen nach rechts. Sie sollten sich trennen, damit sie sich von zwei verschiedenen Seiten anschleichen konnten. Shiloh huschte über einen schmalen Trampelpfad, der zum Wasser führte, gut zwanzig Meter vom Steg entfernt. Kurz vor dem Ufer blieb sie stehen, bückte sich und hob einen dicken Stein vom Waldboden auf, der in etwa die Größe eines Baseballs hatte – die einzige Waffe, die sie auf die Schnelle finden konnte.

Nach dem einen markerschütternden Schrei hatte sie nichts mehr gehört. Halt, das war nicht ganz richtig, sie hörte sehr wohl etwas, ein Ächzen oder vielmehr ein tiefes Grunzen – genau die Art von Geräuschen, die zu Hause so oft durch die papierdünnen Wände drangen. O Gott. Ohne sich um ihre eigene Sicherheit zu sorgen, trat sie aus dem Wald. »Stopp!«, brüllte sie, den Blick auf den Koloss gerichtet, der, die Hose auf den Knöcheln, am Strand vor dem Steg auf einer völlig reglosen Ruthie lag. »Hör auf, du Scheißkerl!«

Sein Kopf fuhr hoch. Er starrte Shiloh an, die den Stein hochhob. Wer zum Teufel war der Kerl? Er trug eine dunkle Skimaske, und das Einzige, was sie wirklich sah, waren sein fetter, fleischiger Körper und seine Knopfaugen.

Mit einer erstaunlich geschmeidigen Bewegung rollte er sich von Ruthie herunter und kam auf die Füße. Ruthie wimmerte. Erst da sah Shiloh das Messer, dessen geschwungene Klinge unheilverkündend im Mondlicht aufblitzte.

»Ach du lieber Gott«, murmelte Shiloh, und diesmal klang es fast wie ein Gebet.

»Was haben wir denn da, Süße?«, fragte er höhnisch. »Einen Kieselstein?« Er schwenkte das Messer und fing an zu lachen, ein grausames, kehliges Lachen, das ihr irgendwie bekannt vorkam, als hätte sie es schon mal gehört. Aber wo? Wann? Wer war der Mann? »Glaubst du wirklich, du kannst mich mit dem Steinchen außer Gefecht setzen? Na los, versuch’s mal!«

Darauf kannst du wetten! Ohne eine Sekunde zu zögern, schleuderte Shiloh den Brocken mit aller Kraft in seine Richtung. Der Stein zischte durch die Luft und traf den Bastard mitten auf die Stirn.

Volltreffer.

Der Kerl ging in die Knie. Fluchend versuchte er, sich hochzurappeln, aber seine Hose war wie eine Fessel um seine Knöchel geschlungen. Im selben Moment stürzte Katrina aus ihrem Versteck, einen dicken Stock in der Hand. »Du kranker Wichser!«, schrie sie und schlug ihm den Stock mit voller Wucht auf den Hinterkopf.

Knack!

Der trockene Ast zersplitterte in ihren Händen.

Ächzend stürzte der Kerl nach vorn und landete mit dem Gesicht voran im Ufersand.

»Lasst uns abhauen!«, schrie Shiloh und rannte zu Ruthie.

»O Gott! Alles okay?« Sie warf sich neben dem reglosen Mädchen auf die Knie und spürte, wie erneut Panik in ihr aufstieg. Ruthie lag da und starrte mit weit aufgerissenen Augen in den Himmel, ihr Gesichtsausdruck war leer. »Ruthie!« Aber Ruthie rührte sich nicht. »Nun mach schon! Wir müssen hier weg!« Sie zerrte an Ruthies Arm.

Keine Reaktion.

»Um Himmels willen, beweg dich!«, befahl Shiloh energisch.

»Lass mich mal.« Katrina kniete sich neben sie. »Ruth, komm, Süße. Es ist alles in Ordnung.«

Der zusammengesackte Kerl am Ufer stöhnte leise. Sie hatten ihn also nicht umgebracht, zumindest noch nicht.

»Nimm sein Messer«, wies Katrina Shiloh an. »Und dann hol unsere Klamotten.« Sie zwang Ruthie, aufzustehen. »Komm, Süße, wir müssen jetzt gehen. Sofort!«

Ruthie widersprach nicht, aber sie machte auch nicht aktiv mit.

Shiloh versuchte, dem Kerl das Messer abzunehmen, aber er schloss die Finger um den Griff, bäumte sich zornig brüllend auf und erwischte sie mit der Klinge an der Wade. Shiloh reagierte, trat ihm ins Gesicht, zerschmetterte seine Nase und hoffte, dass sie den Bastard endlich umgebracht hatte. Wieder fragte sie sich, wer unter der Skimaske steckte. Larimer Tate nicht, so viel stand fest, trotzdem meinte sie, ihn irgendwoher zu kennen.

»Komm!« Katrina schleifte Ruthie zum Weg.

Shiloh rannte auf den Steg, raffte die drei Klamottenstapel zusammen und verfluchte im Stillen die Tatsache, dass es ihr nicht gelungen war, dem Kerl die Waffe oder zumindest die Kamera abzunehmen. Ihre Wade pochte von dem Schnitt, den er ihr mit dem Messer zugefügt hatte. Sie spürte, dass Blut aus der Wunde lief, doch sie ignorierte den Schmerz und schloss zu den beiden Mädchen auf. »Beeilt euch!«, drängte sie. »Lauft!«

Gott sei Dank fingen Ruthies Beine an, sich wie von selbst zu bewegen, dennoch warf Shiloh immer wieder besorgte Blicke über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass der Angreifer sie nicht verfolgte. Sie wollte dem Scheißkerl nicht noch einmal gegenüberstehen müssen.

»Ich kann nicht mehr«, keuchte Ruthie nach einer Weile, was Shiloh als gutes Zeichen auffasste. Immerhin sprach sie wieder und nicht nur das: Sie fing sofort wieder an zu nörgeln.

»Doch, du kannst«, widersprach Kat. »Wir müssen zum Pick-up, und der parkt etwa eine halbe Meile entfernt an der Straße zum See.«

»Ich … ich brauche meine Sachen.« Es war, als hätte Ruthie erst gerade eben realisiert, dass sie nackt war.

»Shiloh hat deine Sachen.«

Nicht alle, dachte Shiloh, die unterwegs in ihrer Eile, von dem Irren wegzukommen, einiges hatte fallen lassen. Hoffentlich hatte sie nicht auch ihre abgeschnittene Jeans mit dem Pick-up-Schlüssel verloren. Was um alles in der Welt sollten sie dann tun? Ja, sie wusste schon, wie man einen Wagen kurzschloss, hatte ein paarmal dabei zugesehen, allerdings hatte sie es noch nie selbst probiert. Denk positiv, Shiloh, denk positiv! »Schneller!«, trieb sie die anderen an und fasste Ruthies Arm.

»Ich kann nicht … ich kann nicht …«, wiederholte das jüngere Mädchen wie ein Mantra.

Hätte Ruthie nicht ein so grauenvolles Trauma erlitten, wäre Shiloh auf der Stelle stehen geblieben und hätte sie geschüttelt. Stattdessen sagte sie: »Sicher kannst du, Ruthie, wir sind doch fast da.«

Endlich erreichten sie die schmale Straße, an der sie den alten Dodge abgestellt hatten. Shiloh drehte sich um und sah eine Bluse auf dem Weg liegen. Verdammt, sie hatte dem Psycho eine Spur gelegt, die noch weniger zu übersehen war als die Brotkrumen in Hänsel und Gretel.

»Ich … ich kann nicht nach Hause«, stammelte Ruthie.

»Hier können wir aber auch nicht bleiben«, fauchte Shiloh und schob sie vorwärts.

»Mein Vater wird mich umbringen.«

»Er ist nicht der Einzige, wegen dem ich mir Sorgen mache.« Wieder warf sie einen gehetzten Blick über die Schulter. Hatte sich da etwas zwischen den Bäumen bewegt?

Der Dodge parkte am Rand der unbefestigten Straße neben einem offenen Feld. Shiloh ließ die Klamotten fallen und riss die Tür zur Fahrerkabine auf, dann bückte sie sich und durchwühlte das Durcheinander aus BHs, Unterhosen und Shirts nach ihrer Jeans.

»Ja!«, flüsterte sie, als sie die kurze Hose entdeckt hatte, und schob die Hand in die Tasche.

Kat raffte die übrigen Sachen wieder zusammen und warf sie auf den Beifahrersitz.

O Gott.

Die Jeanstasche war leer.

Katrina und Ruthie starrten sie fragend an.

»Steigt ein!«, befahl Shiloh. Wo waren die verdammten Schlüssel? Panisch blickte sie die Straße entlang in der Hoffnung, das silberne Metall im Mondlicht aufblitzen zu sehen.

Und dann entdeckte sie ihn. Wie aus dem Nichts tauchte er aus der Dunkelheit auf. Rannte auf sie zu.

Schreiend sprang Ruthie in den Pick-up.

O Gott, o Gott!

»Beeil dich, Shiloh!« Selbst Katrina, die für gewöhnlich als Letzte die Fassung verlor, klang panisch.

»Gib mir die Taschenlampe. Aus dem Handschuhfach!«, wies Shiloh ihre Freundin an. »Schnell!«

»Aber …«

»Ich habe die verfluchten Schlüssel verloren!«

»Nein!«, kreischte Ruthie. »Nein, Shiloh! O Gott, er kommt! Nein, nein, nein!«

»Halt die Klappe!«, fauchte Katrina.

Shiloh ging auf die Knie und tastete hektisch mit den Händen den Boden ab. Wenn sie Glück hatte, waren die Schlüssel hier aus der Tasche gefallen.

Sie hörte, wie er näher kam.

»Verriegelt die Türen!«, rief sie. Schweiß strömte ihr übers Gesicht. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihre Rippen. »Bitte, lieber Gott, lass mich die verfluchten Schlüssel finden!«, flehte sie inständig. Noch nie im Leben hatte sie sich so verletzlich gefühlt.

»Rutsch rüber«, befahl Katrina, dann lehnte sie sich aus dem offenen Beifahrerfenster, die Taschenlampe in der Hand. Ein dünner Lichtstrahl huschte über den Boden.

»Macht die Türen zu«, wiederholte Shiloh, »und kurbelt um Gottes willen die Fenster hoch!«

Katrina lehnte sich noch weiter aus dem Fenster.

»Hast du nicht gehört? Du sollst die Scheiß-Fenster hochkurbeln und die Türen –«

Und dann sah sie es: Im gelben Schein der Taschenlampe blitzte etwas auf. Sie konnte es kaum glauben, doch da lagen tatsächlich die Schlüssel. Shiloh streckte die Hand aus und umschloss sie mit zitternden Fingern.

Endlich!

Jetzt musste sie nur noch …

Zu spät!

Ächzend und stöhnend erreichte das Monster den Pick-up. »Du kleines Miststück«, knurrte er und baute sich vor ihr auf.

Sie sah das Messer in seiner fleischigen Hand.

O Gott!

Der Psycho stürzte sich auf sie.

Nein!

Shiloh machte einen Satz nach hinten und rannte um den Dodge herum. Aus der Fahrerkabine drangen panische Schreie. Ruthie flippte aus.

Der Irre folgte ihr und ließ das Messer durch die Luft sausen. Es verfehlte Shiloh nur um Haaresbreite. Blitzschnell ließ sie sich zu Boden fallen, rollte zwischen den Rädern hindurch auf die Fahrerseite und rüttelte am Türgriff.

Verriegelt.

»Macht auf, Herrgott noch mal!«, schrie sie und hämmerte mit der Faust gegen das Seitenfenster. Ruthies leichenblasses Gesicht erschien.

Klick!

Die Tür wurde aufgestoßen.

Shiloh sprang hinein und knallte sie hinter sich zu. Im Seitenspiegel sah sie den Vergewaltiger, der um den Wagen herumgerannt war. »Du kriegst uns nicht, du Scheißkerl!« Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn. »Haltet euch fest!«

Wumm!

Der Pick-up geriet ins Wanken. Hatte der Kerl gegen die Rückwand getreten oder sich gar auf die Ladefläche gehievt?

Verdammt!

Der verfluchte Motor wollte nicht anspringen.

»Mach schon, mach schon!«, schrie Katrina panisch.

Shiloh drehte den Schlüssel so hektisch, dass sie fürchtete, er würde abbrechen, und trat das Gaspedal durch. Larimer Tates Warnung schoss ihr durch den Kopf: Man darf den Motor nicht absaufen lassen. Das hier ist ein Klassiker von 1964.

Mist! Mist! Mist!

»Warum fährst du nicht los?«, kreischte Ruthie, drehte sich um und warf einen Blick durch das kleine Fenster in der Rückwand der Fahrerkabine. Das letzte bisschen Farbe wich aus ihren Wangen, dann fing sie an zu keuchen, als stünde sie kurz davor zu hyperventilieren. »O nein! O nein! Er hockt auf der Ladefläche!«

Shiloh versuchte es erneut. »Ich weiß.« Komm schon, du elende Dreckskarre … Der Motor erwachte stotternd zum Leben. Im selben Moment hämmerte eine fleischige Faust gegen das Rückfenster, dessen Scheibe ohnehin schon gesprungen war.

»Fahr los!«, rief Katrina.

Shiloh gab Gas.

Der Pick-up machte einen Satz nach vorn und holperte auf die Straße. Die Faust hämmerte weiter.

Klirr!

Das Fenster splitterte, Glasstückchen fielen aus dem Rahmen.

»Nein!« Ruthie drängte sich an Katrina.

Shiloh trat das Pedal durch. »Verfluchter Hurensohn!« Sie fuhr wie eine Irre, riss am Lenkrad, gab Gas und trat direkt danach wieder auf die Bremse, um den Psycho von der Ladefläche zu katapultieren.

Vergeblich.

Ganz gleich, was sie unternahm – der Verrückte mit der Skimaske klammerte sich mit einer Hand an der Seitenwand der Ladefläche fest, während er mit der anderen das Messer ins Wageninnere stieß.

Ruthie rutschte wimmernd in den Fußraum vor dem Beifahrersitz, Katrina drängte sich an die Tür.

»Mach das Handschuhfach auf, Kat! Da ist bestimmt etwas drin, womit –«

Blamm!

»Verdammter Mist!« Der Wagen geriet mit dem Vorderreifen auf den Seitenstreifen und holperte über einen dicken Stein. Das Fahrzeug brach aus, aber es gelang ihr, es wieder geradezuziehen.

In dem Moment entdeckte Kat einen Schraubenzieher im Handschuhfach, und als die Hand mit dem Messer erneut auftauchte, stieß sie zu. Der Schraubenzieher bohrte sich tief in den Handrücken des Monsters.

Jaulend zog der Mann seinen Arm zurück.

Shiloh bog von der Straße aufs Feld ab und hielt auf einen Erdwall zu, der vor ihnen im Scheinwerferlicht auftauchte.

»Was soll das?«, schrie Katrina. »Willst du uns alle umbringen?«

»Haltet euch fest!«, brüllte Shiloh, reckte entschlossen das Kinn vor und trat das Gaspedal durch. Der Pick-up traf mit voller Wucht auf den Erdwall.

Der Dodge hob ab und segelte durch die Luft, bevor er hart auf dem Boden aufprallte. Katrina stieß mit dem Kopf unters Dach. Ruthie kreischte. Shiloh klammerte sich mit aller Kraft ans Lenkrad.

Der Irre flog von der Ladefläche und schlug irgendwo seitlich hinter dem Pick-up aufs Feld auf.

Shiloh konnte nur beten, dass die Achse nicht gebrochen war.

»Ist er weg?«, stammelte Ruthie, kroch aus dem Fußraum und starrte durch das zerbrochene Rückfenster.

»Endlich«, flüsterte Katrina und rieb sich den Kopf. »Das war knapp.«

»Wo ist er?«, fragte Ruthie und strich sich hektisch über die Arme. »Mein Gott, wo ist er?«

Shiloh warf einen Blick in den Seitenspiegel. Im fahlen Mondlicht konnte sie den Mann sehen, der wie ein dunkler Haufen auf dem Feld lag.

Im selben Moment entdeckte auch Ruthie ihren Peiniger. Ihre Augen wurden rund vor Entsetzen. »Ach du liebe Güte!« Sie schluckte angestrengt. »Du … du hast ihn umgebracht.«

Shiloh gab Gas und holperte über das Feld zurück zur Straße, dann stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor: »Hoffentlich.«

TEIL ZWEI

Shiloh

Jetzt …

Kapitel drei

Gott steh mir bei«, flüsterte die Frau flehentlich. Nach all der Zeit war ihr klar, dass es keinen Ausweg gab, keine Rettung. Sie war in diesem Höllenloch mit den grob behauenen Holzwänden gefangen, in dem es so durchdringend nach Schmutz und Moder roch. Das einzige Licht fiel durch ein kleines Oberlicht, ein schmaler Spalt im Holz, keine zwanzig Zentimeter hoch, nichtsdestotrotz erlaubte es ihr zu verfolgen, wie die Zeit verstrich – Tag für Tag, Nacht für Nacht.

Nicht dass das irgendetwas bedeutete.

Jahrelang war sie hier gefangen gehalten worden, zu viele Jahre, um sie noch zählen zu können, mindestens die Hälfte ihres Lebens. Obwohl sie nie den Wunsch aufgegeben hatte zu fliehen, war ihr mittlerweile bewusst, dass sie ohnehin nicht in ihr altes Leben zurückkehren konnte. Wer würde schon etwas mit dieser dürren, ausgelaugten Hülle von Frau zu tun haben wollen? Das Mädchen, das so dumm gewesen war, ihm zu vertrauen, gab es nicht mehr. Wie die Motte zum Licht war sie zu ihm hingeschwirrt – und hatte sich verbrannt.

Anfangs, als sie noch jung gewesen war, hatte sie sich eingeredet, sie könne ihm irgendwann entkommen oder würde gerettet werden. Von ihren Eltern. Von der Polizei. Die eine riesige Suchaktion starten würde – mit Hunden, Hubschraubern und allem Drum und Dran –, bei der man sie schlussendlich befreite. Sie hatte beinahe das Wusch, Wusch der Rotorblätter hören, das blendende Licht des Suchscheinwerfers sehen können. Polizeihunde bellten, die in Schwarz gekleideten Officer stürmten mit gezogenen Waffen auf die verriegelte Tür zu, traten sie ein und holten sie aus diesem Loch heraus, um sie den liebevoll ausgestreckten Armen ihrer verzweifelten Angehörigen zu übergeben.

Ob ihre Eltern wohl noch lebten? Oder hatte der Verlust ihrer Tochter sie letztendlich zerstört? Ihre Augen brannten, doch keine einzige Träne rollte über ihre Wangen. Sie hatte ihre Tränen längst vergossen, in den vielen Jahren, die sie in den Klauen des Monsters, das sie entführt hatte, gefangen war.

Die vier Wände um sie herum waren alles, was sie seitdem gesehen hatte. Bis auf eine Pritsche und einen kleinen Tisch befanden sich keine weiteren Möbel in dem engen Raum. Strom gab es nicht, kein Lampenlicht. Er hatte ihr gebrauchte Kleidung und Bücher dagelassen, die sie wieder und wieder las. Ab und an hatte er den mageren Stapel aufgefrischt, doch er brachte ihr nie Zeitungen oder Magazine. Sie wusste nicht, in welchem Jahr sie sich befand. Jeden Tag ließ er sie kurz raus, doch er erlaubte ihr nicht, sich weiter als ein paar Meter von der klapprigen Veranda zu entfernen, hinter der ein kleiner Bach floss. Dort stand er dann, das Messer in der Hand, die Pistole gut sichtbar im Holster. Sie hatte mehrfach versucht wegzulaufen, aber jedes Mal hatte er sie geschnappt und zurück in ihr Zimmer verfrachtet. Zur Strafe hatte sie die Hütte einen Monat lang nicht verlassen dürfen – ein ganzer Monat ohne frische Luft und Sonnenschein. Eine besonders schmerzhafte Entbehrung in einem Leben voller Entbehrungen.

Sie hatte gelernt, gehorsam zu sein, denn sie lebte für jene wenigen kurzen Momente draußen – für gewöhnlich bei Anbruch der Dämmerung –, in denen sie einen Habicht am Himmel seine Kreise ziehen sah, ein Eichhörnchen oder ein Kaninchen entdeckte, das flink außer Sichtweite flitzte. Ab und an trat auch ein Reh aus seinem Versteck in dem dichten Wald, der die Hütte umgab. Diese kostbaren Momente verrieten ihr, dass ihr Versteck inmitten der Ausläufer der Berge lag, verborgen zwischen dicht stehenden Kiefern und Tannen. In den strengen Wintern drohte sie jedes Mal zu erfrieren, denn die Hütte war nicht isoliert, und die zusätzliche Kleidung und der Daunenschlafsack, den er ihr zugestand, genügten nicht, um sie vor der Kälte zu schützen.

Wie oft hatte sie versucht, ihm zu entkommen?

Hundertmal?

Tausendmal?

Öfter?

Und trotzdem war sie noch hier, eine Gefangene, als Hure missbraucht. Sie schloss die Augen und holte tief Luft. Ihre Gedanken schweiften zu jenem Herbstabend, als sich das Schicksal gegen sie gewendet und sie sich selbst in diese grauenvolle Lage gebracht hatte.

Wäre sie bloß nicht allein nach Hause gegangen! Wäre sie bloß nicht frech und aufmüpfig gewesen und überzeugt, sie würde schon allein klarkommen! Wäre sie nur nicht in den Wagen zu dem freundlichen Mann eingestiegen, der am Gehsteig angehalten und ihr ein so sexy Grinsen zugeworfen hatte!

»Soll ich dich ein Stück mitnehmen?«, hatte er sie gefragt.

Sie kannte ihn. Vertraute ihm. Fand ihn faszinierend, weil er irgendwie anders wirkte als die anderen. Als er über den Beifahrersitz gegriffen hatte, um ihr die Tür zur Fahrerkabine seines Pick-ups zu öffnen, hatte sie sämtliche Warnsignale ignoriert und die strengen Ermahnungen ihrer Eltern, bloß nicht bei Fremden einzusteigen, in den Wind geschlagen. Schließlich war er kein Fremder. Ihre Eltern kannten ihn, machten Geschäfte mit ihm, also war sie zu ihm in den Wagen geklettert.

Was sich als Fehler erwiesen hatte.

Als kolossaler, nicht wiedergutzumachender Fehler.

Er war weder freundlich noch sexy, noch anständig gewesen.

Er hatte sie gekidnappt, hatte die Wagentüren verriegelt, sie mit seinem Messer bedroht und sie an Handgelenken und Knöcheln gefesselt, dann hatte er ihr die Augen verbunden und ihr einen Knebel in den Mund gestopft, bevor er sie zu diesem abgeschiedenen Ort am Ende der Welt verschleppt hatte.

Und seitdem saß sie hier in der Falle.

Mit ihm.

Für immer.

Sie wusste, dass dieser Zustand niemals enden würde.

Nicht bevor einer von ihnen beiden starb.

Aber das, so war ihr mit den Jahren klar geworden, würde nicht der Bastard sein. Sie hatte sich Tausende Male ausgemalt, wie sie ihn umbrachte, hatte sich vorgestellt, wie sie ihm die übelsten Schmerzen zufügen und ihn so lange wie möglich leiden lassen würde, aber sie hatte ihre Pläne nie in die Tat umsetzen können. Sie würde sich niemals rächen können für all die Pein, die Qualen, die sie durch ihn erlitt.

Anfangs hatte sie sich gegen seine perversen sexuellen Fantasien gewehrt, dann hatte sie begriffen, dass es ihn nur noch mehr anmachte, wenn sie sich sträubte, gegen ihn ankämpfte, schrie, trat und biss. Also hatte sie es damit probiert, dass sie alles, was er mit ihr anstellte, einfach über sich ergehen ließ. Sie sagte kein Wort, flehte nicht, wimmerte nicht einmal, lag einfach nur da wie eine Stoffpuppe, während er tat, was ihm gefiel. Zunächst war er frustriert gewesen, wütend. Hatte sie bestraft. Aber es hatte sich nichts geändert.

Es würde sich niemals etwas ändern.

All ihre Fluchtversuche waren ins Leere gelaufen.

All ihre Hoffnungen auf Rettung vor langer Zeit verschwunden.

Sie schaute auf den Stacheldraht, mit dem er ihre Handgelenke zusammenband. Seit ihrer Entführung hatte sie sehr viel Gewicht verloren, trotzdem schnitt ihr der scharfe Draht jedes Mal tief in die Haut, wenn sie sich bewegte. Ihre Handgelenke waren voller länglicher Narben und frischer Wunden, rot und entzündet von ihren angestrengten Bemühungen, sich von ihren Fesseln zu befreien.

Bald würden weitere Stellen dazukommen.

Sie ging zu ihrer Pritsche, wo sie ein winziges Versteck zwischen dem Metallrahmen und der Matratze entdeckt hatte, gerade groß genug, um ein rasiermesserscharfes Stück Metall, das von ihren Handfesseln abgebrochen war, zu verbergen.

Sie hatte überlegt, ihn mit dem kleinen Metallstück zu verletzen, aber es hatte sich nie eine Gelegenheit dazu ergeben, und solange sie es ihm nicht direkt ins Auge rammte, würde es ohnehin keinen großen Schaden anrichten.

Zumindest nicht bei ihm.

Mit ein wenig Mut und Mühe müsste sie es schaffen, die fast durchsichtige Haut an der Unterseite ihrer Handgelenke aufzuschlitzen und eine Vene zu öffnen, damit sie langsam verblutete. Es würde wehtun, aber bestimmt nicht so sehr wie die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte.

Dem Licht nach zu urteilen, das durchs Fenster hereinfiel, wurde es bald Abend. Wenn er bis jetzt nicht gekommen war, würde er für heute wegbleiben. Er kam nie erst am Abend, fuhr stets vor Einbruch der Dämmerung fort. Sie hatte also genügend Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Zögernd tastete sie nach dem kleinen Metallstück und zog es aus seinem Versteck, dann betrachtete sie es eingehend.

Der Schlüssel zu ihrer Erlösung.

Tu es einfach! Jetzt!

Sie klemmte sich das kostbare Teil zwischen die Lippen und drehte die Hände so, dass die Unterseite der Gelenke nach oben zeigte. Der Stacheldraht schmerzte höllisch. Sie senkte den Kopf, öffnete den Mund und ließ das Metallstück vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger gleiten. Ihre Fingerspitzen waren klamm vor Aufregung. Beinahe hätte sie es fallen gelassen, aber es gelang ihr, es festzuhalten. Mit zusammengebissenen Zähnen zog sie das messerscharfe Metall langsam über ihr Handgelenk, dann noch einmal und ein weiteres Mal. Atemlos sah sie zu, wie ein kleiner Tropfen Blut aus der Schnittwunde hervorquoll.

Eine Weile verharrte sie reglos, bis sie die Augen schloss. »Herr, vergib mir«, flüsterte sie inbrünstig und drückte mit aller Kraft zu, bis das Blut zu strömen begann. Sie verspürte ein seltsames Gefühl der Erleichterung. Frieden. Und Trauer. Nicht mehr lange, und sie wäre endlich frei.

 

Shiloh hatte sich geschworen, nie mehr zurückzukehren.

Nie wieder einen Fuß in diesen Teil von Wyoming zu setzen.

Und sie hatte ihren Schwur gehalten. Verdammte fünfzehn Jahre lang, doch jetzt war sie hier und starrte auf ihrem Weg in die Stadt auf das große, von hohen Kiefern gerahmte Schild mit der Aufschrift Willkommen in Prairie Creek. Es hatte einen frischen Anstrich in kräftigen Farben bekommen, aber Shiloh ließ sich nicht täuschen vom äußeren Schein. Sie lenkte ihren zehn Jahre alten Ford Explorer durch die Straßen der Stadt, vorbei an den im klassischen Westernstil gehaltenen Ladenfronten und Fassaden bis ins Herz von Prairie Creek. Das finster war wie die Hölle.