11,99 €
Dialog auf dem Dach ist das Ergebnis der Verarbeitung eines halben Jahres, in welchem unter anderem das Wort "Krieg" - nach vielen Jahrzehnten theoretischer Beunruhigung - wieder konkreteren Schrecken bei den Menschen in Mitteleuropa auslöst. Darauf hat Stefan Iserhot-Hanke versucht literarisch zu reagieren. Impulsiv und enthemmt. Irgendwo zwischen der naiven Sehnsucht nach Überwindung allen Übels und der lustvollen Furcht vor dem Untergang. Jedoch auch mit Humor. Denn dieses Buch soll, trotz seines tragischen Anlasses, keine Trübsalschleuder sein. Mit seinen 42 neuen lyrischen Texten verbindet der Autor nicht nur die Hoffnung auf Linderung eigener Ängste. Einen ähnlich heilsamen Effekt erhofft er sich auch bei den Lesern. Sitzen wir nicht alle gemeinsam auf dem Dach, halten uns aneinander fest und warten und diskutieren und schauen, was da am Horizont auf uns zukommt? In Dialog auf dem Dach finden sich, eingestreut zwischen den Gedichten, 24 interpretierende und ergänzende Fotografien von Christina Iserhot.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 45
Für Matthias & Maren
Menschen gingen an mir vorüber voller Geschäftssorgen, voll Zweifel, voll Angst – planend, hastend, spinnend, wie es ihre Art ist. – Ihre Gesichter zu harten finanziellen Knoten verzogen, ihre Beine aus Leibeskraft vorwärtsrasend, ihre Geister diese Leiber antreibend zu immer schnelleren Bewegungen – die Seelen ganz gefangen in den Sorgen der Welt.
Prentice Mulford, 1834 - 1891 „Der Unfug des Lebens“
WARTEN
EIN NIE GEFUNDENES DING
ALTMODISCHER ABSCHIED
VERSCHWINDEORT
IN IHREM ZIMMER
DEINE BLASSE SCHRIFT
NICHTS
KINDERSTIMMEN
EIN NIE GEHÖRTER TON
NEUE WELTORDNUNG
DYSTOPIE
EINE NIE GESCHMECKTE FRUCHT
DIALOG AUF DEM DACH
KINDER AM FLUSS
GROSSER AUSTAUSCH
GRISSOR EUSTEISCH
DAS ERSTE GERÜCHT
RUTHENIUM
EIN NIE GEATMETER DUFT
SCHNEEMANN
30.222.934
EIN NIE GESEHENES LICHT
ANGSTMASCHINE
ERÖFFNUNGSSZENE
FRONTEINSATZ
EIN NIE GESPÜRTES GEFÜHL
FINDLING
WÄHREND WIR SPIELTEN
FLUGSCHIRMCHEN
DAS ZWEITE GERÜCHT
EINE NIE ERLEBTE BALANCE
BAHNHOFSIDYLL
ZWISCHENZEIT
TRAUERANZEIGE
DAS MEDIUM
EIN NIE BEMERKTER SINN
DAS DRITTE GERÜCHT
DER ERSTE TROPFEN
TROTZDEM
IN DEINEN ARMEN
HEIMKEHR
SCHLUSS
HINTERHER
Wir sitzen im Kreis
auf weißen Gartenstühlen
und halten unser Glas mit Aperol Spritz
in die Nachmittagssonne
Unsere Kinder spielen unten am See
ab und zu streicht ein Hund um unsere Beine
wir sprechen gedämpft
über die weitere Gestaltung des Abends
und warten
dass es aufhört
oder beginnt
Neulich fand ich etwas
von dem ich bis heute
nicht weiß
was es war
es erinnerte an nichts
was an Zweck und Funktion
menschlich vorstellbar wäre
auch kann ich mich jetzt schon
nicht mehr erinnern
wo ich es fand
in der verkrümelten Ritze
zwischen den Sofakissen
im flockigen Staub
unter der Kommode im Flur
unter dem Waschbecken im Gästeklo
oder anderswo
und wenn ihr nun neugierig seid
einen Blick drauf zu werfen
tut es mir leid
gern würd ich‘s euch zeigen
doch hab ich‘s verlegt
irgendwo
und kann es nicht finden
Vor der Abfahrt singen wir im Chor noch alte Lieder, die jeder kennt von Kindesbeinen an: „Junge, komm bald wieder, Scheiden tut weh.“ Manche sind gefasst, andere schluchzen laut und bitterlich. Komm heil zurück, noch vor dem ersten Frost und Schnee. Mach uns den Abschied nicht so schwer, wir entbehren dich nämlich jetzt schon allzu sehr. Beisammen stehen wir, vereint im Schmerz. Und brich deiner alten Mutter nicht das Herz, der armen blieb der Mann doch schon im Krieg. Denk auch an deine liebe Frau und an die wilde Kinderschar, sie werden schrecklich dich vermissen. Eine Locke deiner Jüngsten leg dir getreu unter das Kissen. Bedenke, was aus ihnen ohne dich - Vater, Ernährer, Ehemann - allein und verlassen in der Heimat nur werden soll und kann. Nimm mit, als Talisman, diesen bunten Kiesel aus heimischer Erde, er wird dich beschützen, was immer auch kommen werde. Mögest du in allen Abenteuern und Gefahren stets einen kühlen Kopf bewahren. Gib auf dich acht und bleibe, wie du bist. Wir heben alle im Kreise das Glas, wünschen viel Glück, Erfolg, Gelingen und Spaß und trinken auf dich. Doch lass von fremden Weiberröcken deine Hände. Mach uns keine Schande in der Fremde. Spiel nicht den Helden und versprich beizeiten dich zu melden. Schick uns ab und an ein Telegramm oder eine Karte mit Sonnenuntergang. Auch ein Umschlag mit Geld gefällt. Grüß uns die große weite Welt. Und denk immer daran, wo dein Vaterhaus steht. Nimm unseren Segen und bleib auf Gottes rechten Wegen. Vergiss nie, wo für dich immer eine Tür offen steht. Komm bald wieder heim. Bis dahin wirst du in unserem Beten, Hoffen und Sehnen sein. Und bist du am Horizont nur noch ein winziger Punkt, weint Marie sich die Augen rot und wund. Sie liebt dich doch immer noch sehr und winkt dir mit einem weißen Taschentuch hinterher…
Fünf nach Zwölf
hinter Schaufensterglas
Schlagzeilen vom Untergang
der uralten Welt
wie ich sie gekannt haben soll
Eigentlich gestern
spätestens übermorgen
in brandneuer Ordnung
oder im Schmelzwasser
ertrunken
verdunstet
im permanenten Hochsommer
Nur drei Schritte weiter
locken Flucht und Vergessen
Palmen und Südseestrände
und klimaneutrale Kreuzfahrten
mit Kampfpreisen
zu den Ruinen der Pole
Meine nackten Füße
schmiegen sich müde gelaufen
auf einen Gullydeckel mit Stadtwappen
aus schwarzen Löchern
im Gusseisenrund
atmet mich
Fäulnis an
Ich schrumpfe
genau wie damals Mister C.1
meine Beine baumeln am rostigen Rand
ich beuge mich vor
keine Ratten zu sehn
lasse mich fallen
verschwinde
1„Die unglaubliche Geschichte des Mr. C.“, Jack Arnold, 1957
Plötzlich musste sie sich setzen
die Beine trugen nicht so recht
am Himmel draußen
trieben graue Fetzen
und auch war ihr
ein bisschen schlecht
Das hatte sie bisher noch nie
so anfallartig
schlapp und matt
ihr zitterten ganz leicht die Knie
so ganz allein
in dieser fremd gewordenen Stadt
Vom Horizont klang dumpfes Grollen
sie gestand sich ein
beunruhigt zu sein
als würden Panzerketten rollen
doch war das vielleicht
Täuschung bloß
In Wirklichkeit
war gar nichts los
und jeder Stein auf seinem Stein
und alles war normal
gewohnt wie immer
an seinem Platz
in ihrem kleinen Zimmer
Gib mir einen Hinweis nur
nur einen Denkanstoß
ein winziges Indiz
keine Welterklärung
keine Worte für die Ewigkeit
einen Anfang nur
eine Idee