Rondeel - Stefan Iserhot-Hanke - E-Book

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Stefan Iserhot-Hanke

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Beschreibung

Hamburg 1952: Nach Großvaters Unfalltod war die Welt für den kleinen Frieder Tauber plötzlich eine andere geworden. Der seine schützende Hand über die Familie haltende Besitzer einer großen traditionsreichen Reederei hatte sie zurückgelassen in einer unbekannten Welt. Doch für Frieder musste das Leben im Deutschland der Nachkriegszeit weitergehen. Und mit dem Erwachsenwerden kamen die Fragen. Und die Erkenntnisse. Und das Erschrecken über ein monströses Familiengeheimnis ... RONDEEL Stefan Iserhot-Hankes dritter Roman erzählt dem Leser die fiktive autobiographische Geschichte des Frieder Tauber. Eine über zwei Jahrzehnte währende dramatische Suche nach Antworten und die Wahrheit hinter den Lügen. Ein bewegendes Buch über Machtmissbrauch, Freiheit und Liebe.

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Für Tante Brigitte,

die es bei einem nächtlichen Anruf

nicht belassen hatte.

Über dieses Buch

Hamburg 1952: Nach Großvaters Unfalltod war die Welt für den zehnjährigen Frieder Tauber plötzlich eine andere geworden. Der mächtige, während der Nazizeit und den Nachkriegsjahren schützend seine Hand über die Familie haltende Besitzer einer großen Reederei, hatte sie zurückgelassen in einer repräsentativen Villa im noblen Stadtteil Winterhude. Umgeben vom Lärm des aufbrechenden Wirtschaftswunders. Für Frieder musste das Leben in der neuen Bundesrepublik Deutschland weitergehen. Und mit dem Erwachsenwerden kamen die Fragen. Und die Erkenntnisse. Und das Erschrecken über ein monströses Familiengeheimnis ...

RONDEEL - die fiktive Autobiographie des Frieder Tauber. Eine dramatische über zwei Jahrzehnte währende Suche nach Antworten und der Wahrheit hinter den Lügen. Ein Buch über Machtmissbrauch, Freiheit und Liebe.

Über den Autor

Stefan Iserhot-Hanke, geboren 1965, ist freischaffender Autor, Musiker, Komponist und Pädagoge. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.

Neben zahlreichen Veröffentlichungen von musikalischen Werken, hat Stefan Iserhot-Hanke bis heute drei Romane sowie einen Band mit Erzählungen vorgelegt.

Der Schwindel des Langläufers, Roman 2013

Die Stimme des Fremden, Erzählungen 2014

Das ungute Gefühl beim Hinterherwinken, Roman 2015

Engramm:(n). (R. SEMON, 1904).

Gedächtnisspur, Erinnerungsspur, mnestische Spur. Die durch einen Reiz „bewirkte Veränderung der organischen Substanz“. In der Analogie eines bereits von ARISTOTELES verwendeten Bildes vom „Eindruck“, den ein Siegelring im Wachs hinterlässt, für die Registrierung von Erlebniseindrücken im ZNS, die dort bis zur Reproduktion aufbewahrt werden. In der Assoziationspsychologie das Ergebnis einer neu gebildeten Assoziation. → Gedächtnis.

Lexikon

Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische

Psychologie

Inhaltsverzeichnis

Teil Eins - 1952 - 1956: Haarrisse in der Überlebenskapsel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil Zwei - 1971: Die Blende des Auges

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Teil Drei - 1972: 54°11´ nördlicher Breite 7°53´ östlicher Länge

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog - 2017

TEIL EINS

1952 - 1956

Haarrisse in der Überlebenskapsel

1

Ich hatte gerade meinen zehnten Geburtstag gefeiert und ausnahmslos alle waren gekommen. Natürlich auch mein lieber Großvater, welcher mir, seinem einzigen Enkel, wie immer ein besonders imposantes Geschenk mitgebracht hatte. Ich kann mich allerdings nicht mehr genau erinnern, was es war, aber es wird etwas wie eine Dampfmaschine nebst Sägewerk, eine voll ausgestattete Jugendhobelbank, eine neue Geige oder ein neues Fahrrad gewesen sein. Diese Größenordnungen entsprachen zumindest seiner damaligen Stellung und Hybris als Familienpatriarch. Obwohl mir einfällt, dass ich mein erstes Fahrrad erst einige Jahre danach bekam. Zu einem Anlass, auf den ich jedoch zu einem späteren Zeitpunkt noch zu sprechen kommen werde.

Wenn es mir - wie eigentlich allen Kindern - schon schwerfiel, die Erwachsenen, die mich umgaben, im Kindesalter vorzustellen, so war mir dies bei meinem Großvater vollkommen unmöglich. In meiner Fantasie sah ich ihn entweder so wie ich ihn kannte - nur, dass er mit einer hellen piepsigen Stimme sprach - oder ich sah ihn einfach als Liliputanerversion auf Kindergröße geschrumpft. An einem bunten Lolli oder Schokoladeneis leckend. Und wenn es mir doch einmal gelang, ihn mir als kleinen Jungen mit Schulranzen und kurzen Hosen vorzustellen, dann kam aus seinem Jungengesicht eine sonor dröhnende Bassstimme heraus. Mit dieser Stimme, die, wenn er mit ihr lachte, das Kristallglas in der Vitrine im Salon zum Klirren brachte. Und mein Großvater musste aus vielerlei Gründen häufig sehr herzlich und sehr laut lachen.

Überhaupt, das Meiste, was meinen Großvater betraf, schien großartiger dimensioniert zu sein, als es bei anderen, bei gewöhnlichen Menschen der Fall war. Angefangen von seiner beeindruckenden körperlichen Statur - er war wuchtige ein Meter fünfundneunzig groß, hatte einen weiß umkränzten halbglatzigen Schädel und stechend blaue Augen - bis zu seiner herausragenden Position in der Gesellschaft und der Geschäftswelt. Selbst Mutter und Vater lebten in der Gewohnheit seines allgegenwärtigen Schlagschattens. Und es entzog sich meiner kindlichen Einschätzung, ob ihr Leben durch diesen ausschließlich Schutz und Sicherheit erfuhr, oder ob dieser Schatten ihrem Dasein bisweilen auch Licht und Sonne raubte.

Ich zumindest war in diese Tatsache hineingeboren worden wie in ein Naturgesetz. Wie in etwas Gottgegebenes. Wie in eine Raum und Zeit zusammenhaltende elementare Wahrheit. Und ich vermag mich nicht zu erinnern, dass in den Jahren bis zu meinem zehnten Lebensjahr irgendjemand aus unserer Familie gewagt hätte, Zweifel an dieser Wahrheit zu äußern.

*

Als ich dann, im Oktober 1952, wenige Wochen nach meiner Geburtstagsfeier, erfuhr, dass mein Großvater nie mehr zu uns zurückkommen würde, dass dieser alles in seinem Umfeld überragende, menschliche Obelisk für immer sein Grab in der Nordsee gefunden hatte, bedeutete dies eine erste echte Erschütterung in meinem Leben. Eine nie zuvor verspürte Beunruhigung nistete sich in meiner Brust ein. Kalt und schwarz wie das Wasser der herbstlich aufgewühlten Nordsee selbst.

Denn bis zu diesem ominösen Jahr 1952 war es, als ob meine Familie in einer überdimensionalen Überlebenskapsel durch die Stürme der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geglitten wäre; unerschüttert von all den Krisen und Katastrophen, unberührt von all dem Irrsinn und Grauen, die es hervorgebracht hatte: Hitler, Holocaust, Hiroschima - von all dem hatten meine Kinderohren bis dato nur wenig gehört. Und wenn, waren es nur Worte wie Karstadt, Kirmes oder Knickerbocker. Vor all dem hatte Großvaters über uns schwebende zauberkräftige Hand uns beschützen können. Und als Kind war ich natürlich davon überzeugt, dass mein Großvater zaubern könnte.

Doch nun kam es mir so vor, als wenn von Tag zu Tag gefährlichere Flüssigkeiten durch plötzlich entstandene Haarrisse in unsere Überlebenskapsel sickerten. Durch Haarrisse, die sich mit einem kaum wahrnehmbaren Knirschen immer großflächiger über die Außenhaut der sich über uns spannenden Kuppel ausdehnten. Wie das sich ausbreitende Netz einer Straßenkarte. Straßen, die einen stechenden Geruch verströmende Substanzen in unsere bis dato so sichere Welt hineinleiteten. Gleich frühmorgens nach dem Aufwachen hatte ich ihn in der Nase: den ätzenden Rauch einer für mich schwer fassbaren Bedrohung. Wenn ich ein Buch aufschlug oder ein Comicheft durchblätterte, um die Zeit bis zum Frühstück zu überbrücken, stieg er mir aus den Seiten entgegen.

Und auch, wenn ich es damals, als zehnjähriger Junge, nicht so ausdrücken konnte, begann ich zu spüren, dass wir Gefahr liefen, mit unserer Kapsel auf Grund zu laufen. Dass wir drohten, an irgendeiner unwirtlichen Küste der Gegenwart zu stranden. An den lebensfeindlichen Klippen der Realität. So wie alle anderen Menschen des Jahrhunderts vor uns auch.

*

Immer, wenn ich mich in meine ersten bewussten Lebensjahre zurückversetze, sehe ich vor meinem inneren Auge zuerst unser in Hamburg-Winterhude gelegenes Anwesen in der Blumenstraße. Gemeinsam mit der Maria-Louisen-Straße, der Sierichstraße und dem Rondeel umschließt die Blumenstraße den Rondeelteich. Der Rondeelteich ist ein kreisrundes, von hanseatischen Kaufmannsvillen gesäumtes Wasser in der Biegung zweier Alsterkanäle; fünf idyllische Kanuminuten entfernt von der Außenalster.

Eingeschlossen von Ufergrundstücken, ist der künstlich angelegte Teich seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts unzugänglich für die Öffentlichkeit. Für Normalsterbliche ist er bis heute lediglich mit einem Boot von der Wasserseite erreichbar. Vom Tretboot oder Kanu aus kann man die Rückseiten der Villen in ihren wie Tortenstücke sich zum Teich hin verjüngenden Gärten bewundern. Oder wahlweise beneiden. Es sind nämlich Häuser, die häufig unbewohnt wirken. Gärten, die merkwürdigerweise fast immer so menschenleer sind, als würde es sich ab einer bestimmten Wohlstandsgrenze nicht mehr schicken, seine Freizeit im eigenen Garten zu verbringen. Als wäre dies nur ein Domizil von vielen und der ganze Clan weilte momentan an der Italienischen Riviera oder in Miami Beach. Oder, als würde die Erwirtschaftung dieses Wohlstands keine Zeit übriglassen, ihn auch genießen zu können. Wo käme man hin, wenn man wie andere Menschen Sonntag für Sonntag in seiner mickerigen Kleingartenparzelle hockte?

Ich erinnere mich, dass sich hin und wieder sogar ein weiß schimmernder Alsterdampfer auf abendlicher Lampionfahrt auf die nur hundertvierzig Meter Durchmesser breite Wasserscheibe verirrte. Es sah jedes Mal aus, als hätte jemand ein zu groß geratenes Modellschiff in eine Badewanne gesetzt. Ich sehe mich am Ufer stehen und fasziniert die komplizierten Wendemanöver der Kapitäne beobachten, die sich bemühten, ihre mit Touristen vollbesetzten Dampfer aus dem Nadelöhr des Teichs wieder zurück auf die Außenalster zu navigieren. Und da sie ihre Schiffe mangels Platz zu diesem Zweck um ihre eigene Achse drehen mussten, wechselten die Kapitäne ständig zwischen halber Kraft voraus und halber Kraft zurück mit jeweils eingeschlagenem Ruder. Die Schornsteine gaben mächtig Dieseldampf dazu und die schwer arbeitenden Maschinen ließen die Panoramafenster der edlen Anwesen ringsum erzittern.

Während dieser lärmenden und stinkenden Manöver glotzten die am Sektglas nippenden und Fischhäppchen mampfenden Ausflügler zu mir herüber. Für mich kamen sie - wegen des einen oder anderen Filzhutes mit Gamsbart - ausnahmslos aus Bayern. Minutenlang starrten sie mich an. Wie in einer gemeinsam abgesprochenen Aktion. Als sei ich, ich, der kleine Junge dort am Ufer, das eigentliche Zielobjekt ihrer schon vor Monaten gebuchten Ausfahrt. Im offenen Heckbereich der Schiffe hockten manchmal sogar Leute, die mich fotografierten oder sogar ungeniert mit Ferngläsern beobachteten. Ganz so, als befänden sie sich auf einer Safari zur Erforschung einer seltenen Spezies: den Sprösslingen wohlhabender Familien des hanseatischen Bürgertums. Ich schwankte zwischen Stolz und Unwohlsein und wagte nicht zu winken. Wobei mir, zu meiner Entschuldigung, auch selten jemand zuwinkte. Wer winkt schon einem Tier in Hagenbecks Tierpark zu?

*

Problemlos kann ich vor meinem inneren Auge die gemäldebehängten Flure unseres Hauses entstehen lassen. Die antik möblierten Salons, über deren knarrendes Parkett ich auf meinem Dreirad mit unserem riesigen Schäferhund Wittich um die Wette strampelte. Ich sehe den großen an den Rondeelteich grenzenden Garten mit seinen hohen, schattenspendenden Buchen. Dort befand sich auch ein mit einer Kette versperrter Bootssteg. Eine krumme und morsche Konstruktion, die ich unter Androhung von Strafe nicht betreten durfte. Wiederholt hatte man mir die Gruselgeschichte von einem in der Nachbarschaft ertrunkenen Mädchen erzählt, das alle Ermahnungen in den Wind geschlagen hätte und das seinen verzweifelten Eltern eines Tages von vorbeifahrenden Paddlern tot auf die Terrasse gelegt worden war.

Doch natürlich betrat ich den wackeligen Bootssteg trotzdem, das glitschige Holz unter meinen Sohlen. Zum Ditschen von flachen Steinen. Um den Enten, Schwänen, Alsterdampfern und den freizeitlich gestimmten Familien in ihren vorbeigleitenden Kanus und Tretbooten näher zu sein. Mit einer selbstgebauten Angelrute in meinen Händen, deren Format mindestens auf Haie oder Orcas in der Alster schließen ließ.

Unser Garten, eigentlich mehr ein Park, wirkte immer ein wenig sich selbst überlassen. Ich kann mich auch nicht an einen Gärtner oder einen Gartenarbeit verrichtenden Angestellten erinnern. Es schien, als würden das Laub und die abgebrochenen Äste sämtlicher Herbste aus der Zeit vor meiner Geburt die Wege und Rasenflächen überdecken. Wenn im Haus auch peinliche Ordnung und Sauberkeit herrschen musste, die Natur hier draußen wurde sich selbst überlassen. Und wenn man grub, konnte man in ihren Tiefen auf manch modriges Geheimnis stoßen. Bei meinen einsamen Exkursionen fand ich im Winterschlaf zusammengerollte Igel, madenzerfressene Stadttauben und tote Nagetiere, die nur noch aus einem mit Knochen gefüllten Fellsack bestanden.

Einmal fand ich unter dem Laub sogar eine Kette mit einem goldenen Anhänger; zumindest war ich fest davon überzeugt, dass er aus Gold bestand und von unschätzbarer Kostbarkeit war. Dieser Anhänger war ein aus zwei übereinandergelegten Dreiecken gebildeter Stern, auf dessen Oberfläche seltsame Zeichen eingraviert waren. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Als ich den Fund stolz meiner Mutter zeigte, machte sie ein besorgtes Gesicht. Sie nahm mir das Schmuckstück ab, betrachtete es kurz und sagte, sie wolle es für mich an einem sicheren Ort aufbewahren. Wenn ich groß sei, könne ich es ganz bestimmt wiederbekommen. Dann wies sie unsere Köchin an mir einen extragroßen Schokoladenpudding zu kochen, etwas, was mitten in der Woche noch nie vorgekommen war.

In den darauffolgenden Tagen suchte ich im Schatzsucher-Fieber nach neuen Schmuckstücken unter der Laubdecke. Ganze Vormittage lang durchpflügte ich das Laub mit einem hölzernen Rechen. Und ich stellte mir vor, Trojaentdecker Heinrich Schliemann assistiere mir persönlich. Leider erfolglos.

*

Sagte ich, dass ich einsam war? Nein, einsam trifft es nicht wirklich. Das Alleinsein war für mich Normalität. Es stimmte zwar, dass ich kaum Kontakt zu anderen Kindern hatte. Weder aus der Nachbarschaft - in der es offensichtlich kaum Kinder gab - noch in der Schule. In der Schule deshalb nicht, weil ich bis zum elften Lebensjahr nie eine Schule von innen gesehen hatte. Irgendwie hatten meine Eltern es mit Großvaters Hilfe erreicht, meinen Besuch einer öffentlichen oder privaten Schule zu verhindern. Obwohl schon ab August 1945 zumindest die Grundschulen ihren Unterrichtsbetrieb wieder aufgenommen hatten. Und ein Internat war aufgrund meines Alters noch nicht in Frage gekommen.

Es sei halt besser für mich, hatte man mir erklärt. Es gäbe triftige Gründe, die ich sicherlich später besser verstehen könne. So war es mit vielen Dingen in meiner Kindheit, ich sollte sie erst viel später verstehen. Und tatsächlich vermisste ich die Schule nicht wirklich. Ich stellte sie mir als einen rauen Ort andauernder Kämpfe und Herabsetzungen vor.

„Besondere Kinder haben es auch besonders schwer dort“, hatte mein Großvater mir erklärt. „Wenn jemand allen Anderen überlegen und voraus ist, ist das unerträglich für die breite Masse der Normalen. Sie lassen es dich spüren und kein Lehrer wird dich je davor schützen können.“

Mangels Vergleichsmöglichkeiten vermochte ich nicht so recht zu beurteilen, ob ich irgendeinem Altersgenossen überlegen oder voraus war. Auch hatte ich keine konkrete Vorstellung, auf was sich meine Genialität eigentlich beziehen sollte. Auf das Angeln oder Ditschen von Steinen, auf mein Klavier- oder Geigenspiel oder irgendetwas anderes.

Als Ersatz für den Besuch einer öffentlichen Schule kam jeden Vormittag Frau Mittmann in unser Haus. Eine ältliche Privatlehrerin in einem grauen Kostüm und mit aufgedunsenen Gesichtszügen, die versuchte, mich in den wesentlichen Dingen des offiziellen Lehrplans zu unterweisen. Und wenn Frau Mittmann´s mir nahe gekommenem Mund beim Sprechen auch immer ein leicht säuerlicher Geruch entströmte, war sie mir durchaus nicht unangenehm. Insgeheim bewunderte ich sie sogar ob ihrer nie nachlassenden Bemühtheit. Oft, während ich verträumt auf die verschwommenen Buchstaben oder Zahlen in einem aufgeschlagenen Buch starrte, hörte ich ihre Stimme in weiter Ferne wie mit sich selbst sprechen.

Außerdem besuchten mich seit meinem siebten Lebensjahr einmal wöchentlich Herr Fehringer und Frau Reuter. Der hochaufgeschossene Herr Leopold Fehringer, zeitweise Stimmführer der zweiten Violinen beim Philharmonischen Staatsorchester, unterrichtete mich im Geigenspiel. Wogegen Frau Annemarie Reuter, korpulente Korrepetitorin beim Staatsopernchor, mich bei der Bedienung unseres verschnörkelten Bechstein - Flügels unterwies. Einem heiligen Tastendinosaurier, auf dem, der Legende nach, der große Johannes Brahms in seinen Hamburger Jahren höchstselbst seine berühmt-berüchtigte Sonate in fis-Moll zum Vortrage gebracht habe. Unter anderem vor dem anwesenden Kaiser Wilhelm I und Fürst Otto von Bismarck.

Wenn meine Übedisziplin, zum leisen Verdruss meiner Eltern und Lehrer, zwar schwach ausgeprägt war, so spielte ich beide Instrumente trotzdem mit echter Leidenschaft. Allerdings unter größtmöglicher Umgehung jedweden methodisch-didaktischen Curriculums, dessen einzige Aufgabe es nach meinem Empfinden war, mich in meiner grenzenlosen Kreativität und Intuition einzuengen. So ergriff ich meine Geige nur, wenn mir danach war. Nur wenn es mich überkam, griff ich in die geweihten brahmschen Elfenbeintasten. Um beseelt und respektlos vor mich hin zu improvisieren, um mich in einer aus dem Augenblick geborenen Klangwelt zu verlieren. Ein rauschähnlicher Zustand, den ich noch heute wie ein Süchtiger als tägliche Dosis benötige. Für die sich in Hörweite befindenden Menschen meiner frühen Jahre wahrscheinlich ein aus dem Musikzimmer dringendes chromatisch-pentatonisches Inferno. Ein akustisches Martyrium, das meine Eltern jedoch dankenswerterweise standhaft über sich ergehen ließen.

Ich schließe meine Augen.

Dann besteht die Welt meiner frühen Kindheit nur aus diesem von einer Mauer umgebenen Garten und unserer weißen, mit klassizistischen Ornamenten verzierten, Villa. Sie besteht aus den wenigen Menschen, die in ihr lebten und arbeiteten: meiner Familie, den meist unsichtbaren Angestellten des Hauses und unserem alten Schäferhund Wittich. Ab und zu wagten zwei Katzen aus der Nachbarschaft unbemerkt von ihm das Grundstück zu queren, denn Wittich konnte zwar laut bellen, war aber nicht der Schnellste. Wenn ich meine Lider absenke, rieche ich Politur und Bohnerwachs. Ab vormittags kamen die feinen Düfte aus der Küche dazu. Am Abend manchmal die Parfums von Mutter und Großmutter. Manchmal die frisch gewaschene und gestärkte Bettwäsche. Manchmal kroch auch ein Furz von Wittich in meine Nase.

Eigentlich war unser Haus ein Ort der Stille. Von gelegentlichen Familienfeiern, gesellschaftlichen Empfängen und meinen musikalischen Exzessen einmal abgesehen. Denn wenn ich meine Augen schließe, höre ich fast nichts. Höchstens das Ticken einer Standuhr. Ein fernes Klappern aus der Küche. Wittichs Krallen auf dem Parkett. Die gedämpften Schritte meiner Großmutter im Stockwerk über mir. Die Windböen in den Buchen vor den Fenstern.

Es gab noch ein weiteres Haus auf der Nordseeinsel Sylt. Ein reetgedecktes Ferienhaus, mit dem ich jedoch nur eine kurze, wenn auch bedeutsame Erinnerung verbinde. Aber davon später mehr.

*

Außerhalb unseres Anwesens bin ich so gut wie nie gewesen, denn alles was sich dort befand, schien eine Art gefährliche Wildnis zu sein. Ein lebensfeindliches Reich voller ungeahnter Gefahren. Ähnlich, wie in dem Märchen der Gebrüder Grimm, das meine Mutter mir mit samtener Stimme einmal abends am Bett vorgelesen hatte. Es war mir strengstens untersagt, auch nur einen Schritt in dieses Reich zu setzen. Deshalb stellte ich mir vor, dass die Welt außerhalb der Grundstücksmauer genau das Richtige wäre für einen, der unbedingt ausziehen wollte, das Fürchten zu lernen. Und da ich so einer nicht war, hielt sich meine Neugier lange in Grenzen.

Und dass am schräg gegenüberliegenden Ufer des Rondeelteichs, in das ehemalige Anwesen des kanadischen Botschafters, einmal eine legendäre Künstlerwohngemeinschaft einziehen würde, deren Mitglieder unter anderem mit deutschsprachiger Rockmusik und anarchischen Blödeleien berühmt werden sollten, lag natürlich auch außerhalb meiner Vorstellungskraft. Villa Kunterbunt nannten zwei Jahrzehnte später die dort lebenden Maler, Komödianten und Musiker der sogenannten „Hamburger Szene“ ihr Domizil. Eine abstruse, nahezu anstößige Vorstellung in der frühen Nachkriegszeit.

Als ich dann, mit fünf oder sechs Jahren, bei meinem ersten Ausflug die gegen den Himmel ragenden Ruinenfassaden und ausgebrannten Fensterhöhlen erblickte, war ich weniger erschrocken als enttäuscht. Ich starrte durch die Seitenscheibe unserer nach Leder duftenden Mercedes-Pullman-Limousine und versuchte mir vorzustellen, was hier draußen wohl passiert sein könnte. Man hatte mir nicht verständlich vermitteln können oder wollen, was der tiefe Grund dieser Ausfahrt war, aber scheinbar musste ich irgendeiner wichtigen neuen Behörde vorgestellt werden. Und zwar ohne Beisein eines Familienmitglieds. Selbst unser Chauffeur Emil musste während der Befragung draußen vor der Tür warten.

Auf jeden Fall saß ich plötzlich allein in einem riesigen Raum des Rathauses und sollte Fragen beantworten. Fragen, die mir von einem hinter einem riesigen Schreibtisch sitzenden uniformierten Mann in komischem Deutsch gestellt wurden. Verwirrende Fragen zu unserer Familie, zu meinen Erinnerungen an unser Leben in der Kriegszeit und noch verwirrendere Fragen zu unseren Freunden und Bekannten. Aber vor allem interessierte sich der Mann hinter dem Schreibtisch für die Person meines Großvaters.

Und damit ich meine Antworten besser überlegen konnte, durfte ich in eine bunte Blechdose mit knisternd umhülltem Konfekt greifen, die eine neben meinem Stuhl stehende uniformierte Frau mir alle paar Minuten direkt vor mein Gesicht hielt. Am besten schmeckten die Bonbons im grünen Papier: pure Milchschokolade. Den Bonbon in orangefarbenem Papier spuckte ich nach wenigen Bissen in meine hohle Hand. Dort blieb er bis zum Schluss und schmolz vor sich hin.

„Fass bloß nicht die Sitze an!“, mahnte Emil mich, als er mir die Tür vom Wagen aufhielt. „Dein Großvater macht uns beide zur Minna!“ Und obwohl ich wusste, dass mein Großvater mich niemals „zur Minna machen“ würde, hielt ich während der gesamten Rückfahrt meine Hände in die Luft. Zu Hause zeigte ich das glänzende Papier stolz meiner Großmutter.

*

„Und? … War es sehr schlimm da drin?“, fragte mich meine Mutter abends, während ich in der Badewanne hockte. Ein Plastikmodell des Schlachtschiffes Bismarck ragte mit seinen grauen Geschütztürmen aus den Schaumbergen. Genaugenommen waren es gigantische Eisberge am Nordkap.

Meine Mutter faltete Handtücher zusammen, stapelte sie gewissenhaft übereinander, um sie in einen Hängeschrank am Fußende der Badewanne zu legen. Ihre Stimme klang um Beiläufigkeit bemüht. Ich wusste jedoch sofort, worauf sich ihre Frage bezog und schüttelte den Kopf.

„Nein, schlimm war es eigentlich nicht. Ein bisschen komisch. Aber irgendwie auch spannend.“

„Spannend?“

„Na, das Rathaus, … die Stadt und das alles ...“

Insgeheim hatte ich mich gewundert, dass niemand von der Familie sich nicht schon früher am Tag nach dem Verlauf meiner Befragung erkundigt hatte. Denn natürlich spürte ich, dass da ein komplexerer Zusammenhang existierte, innerhalb dessen meiner Vorladung im Rathaus größere Bedeutung zukam. Wenn ich auch noch nicht in der Lage war ihn zu begreifen.

„Emil hat mir erzählt, dass er vor der Tür hat warten müssen. Ist das wahr? Man stelle sich das mal vor! Für einen kleinen Jungen wie dich muss das doch alles recht beängstigend gewesen sein. Hattest du keine Angst?“

Ich schüttelte erneut meinen Kopf und erzählte meiner Mutter von der freundlichen Frau mit der Bonbondose und dem komisches Deutsch sprechenden Mann in Uniform hinter dem Schreibtisch. Ich schob die Bismarck durch einen Schaumberg hindurch.

„Als Großvater mir das Modell geschenkt hatte, hat er gesagt, dass er dabei gewesen war, als die Bismarck hier in Hamburg vom Stapel gelaufen ist. Stell dir vor, Mama, ihre Kanonen waren zwanzig Meter lang und konnten fast vierzig Kilometer weit schießen! Sie hätten über Hamburg hinweg schießen können!“

Ich blähte in der Badewanne hockend mein Backen auf und machte das Geräusch einer gewaltigen Detonation. Ich kippte die Bismarck in Schräglage, denn der Rückstoß ihrer geballten Feuerkraft war schließlich gewaltig.

Mit einem Handtuchstapel in den Händen drehte meine Mutter sich zu mir um. Ihre Stirn lag in Falten: „Freundlich waren sie, das stimmt. Bonbons gab es bei uns allerdings nicht.“

Ich begriff nicht sofort, was meine Mutter mir damit mitgeteilt hatte.

*

Aber natürlich war mir klar, dass all die Zerstörung, die ich während der Autofahrt sah, irgendwie mit dem Grollen, Dröhnen und Krachen zusammenhängen musste. Den Geräuschen über uns auf der Erdoberfläche, die ich in den vielen Nächten gehört hatte. In den Nächten, in denen meine Familie und ich einmal wieder im Keller unserer Villa gehockt hatte. Genau betrachtet war es ein großzügiger Bunkerraum mit einer extra dicken Stahltür. Ein fensterloser Raum voller Spielzeug, bequemer Möbel und einem überquellenden Regal voller Essen und Trinken. Es gab sogar eine Dusche und einen Gasherd.

Doch niemand hatte den ernsthaften Versuch gemacht mir etwas zu erklären. Niemand, auch nicht unser stummer Chauffeur, der den schweren Wagen bei meinem ersten Ausflug in Slalomlinien stoisch um die Trümmerberge herum lenkte. Um Gebirge aus Schutt, auf denen kopftuchtragende Frauen in farblosen Kleidern mit Hämmern auf Steinen herumklopften. Und zu fragen hatte ich mich nicht getraut. Unterschwellig hatte ich wohl das Gefühl, mit meinen Fragen an etwas zu rühren, das für mich tabu war.

Doch je länger ich während der Rückfahrt von meiner Befragung im Rathaus (durch einen englischen Entnazifizierungs-Offizier der Besatzungsbehörde, wie ich später erfuhr) aus dem Wagenfenster schaute, um so deutlicher wurde mir, dass der Erdball außerhalb unserer Gartenmauer in den zurückliegenden Jahren einer apokalyptischen Heimsuchung ausgesetzt gewesen sein musste.

In meiner kindlichen Fantasie stellte ich mir gigantische Ufos und Raumschiffe vor, aus deren Bäuchen Heerscharen von schwerbewaffneten grünen Marsmenschen quollen. Ich hatte eine von der Menschheit mit allerletzter Kraft heldenhaft zurückgeschlagene Invasion außerirdischer Mächte vor Augen. Wie in einem dieser Planet Science-Fiction-Comichefte, die mein Großvater mir einmal aus Amerika mitgebracht hatte.

Dass ausgerechnet meine Familie und ich von dieser Invasion so gänzlich verschont geblieben waren, empfand ich jedoch keineswegs als erstaunlich. Im Gegenteil, ich empfand es als ganz natürlich, dass wir in den vergangenen Jahren offensichtlich im windstillen Auge des Orkans gelebt hatten. Unberührt von diesem mörderisch um uns herum rasenden Höllenstrudel. Jedoch ahnte ich, dass mit der Tatsache unseres Überlebens und unserer Rettung irgendwie mein Großvater zu tun haben musste. Und dass dies auch der Grund war, weshalb mich der mit Akzent sprechende Mann im Rathaus befragt hatte. Mein lieber Großvater, der jetzt, wenige Tage nach meinem zehnten Geburtstag, plötzlich nicht mehr für uns und mich da sein sollte.

Dabei war er doch noch am Abend meines zehnten Geburtstages mit mir allein in die Lichtburg gegangen.

*

Die Lichtburg war ein Filmvorführraum im Keller unserer Villa am anderen Ende desselben Ganges, an dem auch der Bunkerraum lag. Ein Ort, an dem ich problemlos mein ganzes Leben hätte verbringen können. Genaugenommen war er ein vollständiges Kino im Kleinformat. Es war ein Raum mit echten Kinosesseln, stoffbespannten Wänden, einer Leinwand hinter einem roten Samtvorhang und einem leise summenden Projektor hinter einer Scheibe. An den Wänden wechselten sich fackelförmige Papyruskandelaber und Fotografien ab, auf denen mein Großvater neben berühmten Filmschauspielerinnen zu sehen war. Es gab auch Fotos, auf denen er in lederner Fliegermontur winkend vor einem Doppeldeckerflugzeug stand. Wenn ich größer wäre, so hatte er mir versprochen, würde er mich mitnehmen auf einen Rundflug hoch über Hamburg. Mit der Tante Ju, dem Fieseler Storch oder seinetwegen auch mit dem Zeppelin. Ich könne es mir aussuchen.

Mein Großvater hatte sich zu Beginn der Vorführung, wie so oft, eine Zigarre angezündet und blies den Rauch in die über unsere Köpfe hinwegfliegenden Bilder. Der Zigarrenqualm wanderte über die Strahlen und Schlieren des gebündelten Lichts. Diese Augenblicke gehören zu den magischen Erinnerungen an meine Kindheit. Ganz gleich wie sie später einzuordnen waren.

Alles, was jetzt kam, war mir vertraut. Und doch zog es mich immer wieder in seinen Bann: Unterlegt von ohrenbetäubenden Trommelwirbeln und Fanfaren - „Franz Liszt! … Le Preludes! … Stählerne Romantik!“, rief mein Großvater mir jedes Mal durch das Orchestergewitter zu - erschien ein steinerner Adler vor am Himmel aufgefächerten Strahlen von Flakscheinwerfern. Sodann erschien auf der Leinwand in großen Lettern der Schriftzug:

DIE DEUTSCHE WOCHENSCHAU

Der steinerne Adler verschwand und gab den Blick frei auf den Hamburger Hafen. Die Kamera schwenkte über ein Gewirr von Kränen, Schornsteinen und Schiffsaufbauten, die am Horizont in grauem Nebel verschwanden. Kurz kamen der Turm des Michels und das Bismarckdenkmal ins Bild. Dazu erscholl eine Männerstimme aus den Lautsprechern, die voller Emphase von der erfolgreichen Entwicklung des internationalen Handels und der Seeschifffahrt des deutschen Reiches berichtete.

Auf der Leinwand erschienen jetzt einzelne Frachtschiffe, die sich auf hoher See durch turmhoch schäumende Brecher kämpften. Dann einige Seeleute, die sich mit gegerbten Gesichtern an Maschinen, Tauwerk und Ladung zu schaffen machten. Zuletzt erschien ein auf der Kommandobrücke stehender Kapitän mit heroischem Herrenblick, der ein Fernglas unter den Schirm seiner Mütze hob um den Horizont abzusuchen.

Besonders ein Mann und sein Unternehmen habe sich in den letzten Jahren um diese Belange nationaler Bedeutung verdient gemacht, fuhr die Stimme des Kommentators fort. Und in diesem Moment erschien - während die Musik einen festlichen Charakter annahm - mein Großvater auf einer von Blumengirlanden behängten hölzernen Behelfsbühne. Dazu wurde quer über die Leinwand ein Schriftzug eingeblendet:

Tauber & Tauber Linien

Mein Großvater hatte immer einen weißen Anzug an und sah ein wenig jünger und angespannter aus als ich ihn kannte. Um ihn herum standen jede Menge Männer in mit Orden bestückten Uniformen, die sehr strenge Mienen aufgesetzt hatten.

*

Und dann war da plötzlich wieder dieser kleine gebeugte Mann mit dem Schnauzbart, welcher das allerstrengste Gesicht von allen hatte. Ich wusste: Gleich wird mein Großvater diesem Mann unablässig die Hand schütteln und es wird ihm anzusehen sein, wie stolz er ist, dies tun zu dürfen. Ich hatte beim Zusehen jedoch immer das Gefühl, dass der strenge Mann mit dem Schnauzbart keine rechte Lust auf diese ewige Schüttelei hatte und froh war, wenn Großvater ihn endlich wieder losließ.

Die Stimme des Kommentators schien zu diesen Szenen eher zu singen als zu sprechen:

„Unser großer Führer Adolf Hitler persönlich ließ es sich nicht nehmen, Karl-Hermann Tauber - Gründer und Besitzer der Tauber & Tauber Linien - zur Taufe der MS Nordmark zu gratulieren. Ein Stückgutfrachter allerneuester Bauart mit über 10.000 Bruttoregistertonnen. Das erneute Ergebnis und der Beweis überlegener deutscher Schiffsingenieurskunst. Ein Triumph der maritimen Technik. Konstruiert für die weltumspannende Handelsflotte des Großdeutschen Reiches.

Karl-Hermann Tauber! Ein leuchtendes Vorbild für jeden Deutschen, seine heilige Pflicht gegenüber dem geliebten Vaterland zu leisten. Sei es als einfacher Arbeiter an der Werkbank einer Fabrik oder bei der Führung eines großen international aufgestellten Unternehmens.“

Erneut änderte sich die Musik. Sie wurde lauter und bewegter. Ich sah den Bug der MS Nordmark gegen den Sonnenuntergang ragen. Ein schwarzer Keil im dramatisch leuchtenden Abendhimmel.

Dann sah ich meine Mutter. Meine Mutter, wie sie in einem weißen Kleid eine Flasche Spritzwasser an einem Seil gegen den Schiffsrumpf schleuderte. Und ich sah sie (wie schon viele Male zuvor) peinlich berührt auflachen, als die Champagnerflasche unverrichteter Dinge von der Stahlwand zurückprallte. Erst beim zweiten Versuch zerbarst sie; gefolgt von hunderten klatschenden Händen und einer einen stummen Tusch spielenden Musikkapelle an der Kaimauer.

Meinen Vater konnte ich in diesem Ausschnitt der Wochenschau nie entdecken. Sooft ich ihn gesucht hatte. Obwohl er, Helmuth Tauber, nach meinem Verständnis doch eigentlich die zweite Hälfte von Tauber & Tauber Linien sein musste. Und als ich meinen Großvater einmal auf die Unauffindbarkeit meines Vaters ansprach, reagierte dieser ungewohnt unwirsch.

Er brummelte etwas davon, dass es Menschen gäbe, die sich lieber im schattigen Hintergrund aufhielten und die den Drang hätten sich eher vor aller Welt zu verbergen als ihr mutig ins Gesicht zu sehen. So habe er zum Beispiel seinen Sohn Helmuth von der Verpflichtung, seinem Vaterland im Felde der Ehre zu dienen, mit viel Aufwand entbinden können. Und bis heute wisse er nicht so recht, ob dies vielleicht ein großer Fehler war. Aber was solle man machen? Blut sei halt dicker als Wein.

„Mit Hilfe meines Geldes und meiner Beziehungen hatte dein lieber Herr Vater sich … mal wieder … vor etwas drücken können, während andere zur gleichen Zeit in Kursk, Moskau oder Stalingrad ihren Hintern hinhielten. Darunter übrigens auch sein Bruder Tillich, dein Onkel, und allerbeste Freunde von ihm … eine Schande eigentlich! Aber es scheint ja momentan groß in Mode zu kommen, sich erst hervorzuwagen wenn die Luft wieder rein ist. Besonders unter den Sozis. Selbst unser verehrter Bürgermeister Herr Brauer macht da keine Ausnahme; war bei seiner Wahl noch amerikanischer Staatsbürger, der gute Mann, und plötzlich … Aber meinetwegen! Schwamm drüber! Dein lieber Großvater musste bezüglich deines Vaters auf jeden Fall in den höchsten Kreisen Klinken putzen. In den allerhöchsten, das kann ich dir versichern!“

Ich hatte diesen Sermon schon häufiger gehört und natürlich nur halb verstanden. Und während ich zum wiederholten Male überlegte, was es wohl bedeutete, seinem Vaterland im Felde der Ehre zu dienen, weshalb Blut dicker als Wein sein sollte und wie man als Amerikaner plötzlich Bürgermeister von Hamburg werden konnte, redete, nein, schrie der Wochenschau-Kommentator unaufhörlich gegen die pathetische Musik an.

Dass die Nazis dem ehemaligen sozialdemokratischen Bürgermeister von Altona, Max Brauer, der sich seit 1933 im Exil befunden hatte, die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen hatten, erzählte mein Großvater dem zehnjährigen Kind selbstredend nicht.

Die Stimme des Kommentators überschlug sich fast, als die 12.000 Bruttoregistertonnen große MS Nordmark langsam aus dem Trockendock in das Wasser des Hafenbeckens glitt. Dann sah man noch einmal den strengen kleinen Mann mit dem Schnauzbart, wie er in einem offenen Wagen, vorbei an den spalierstehenden Werftarbeitern, in die untergehende Sonne fuhr.

*

Mit einem kurzen Jauler riss die Musik ab und es war Schluss. Für einen Moment saßen mein Großvater und ich in fast vollkommener Dunkelheit. Über uns die Villa, meine Mutter, mein Vater, meine Großmutter, unsere Angestellten, der alte Wittich und die ganze Welt mit ihren Milliarden Menschen in ihren Wohnungen, Häusern und Städten. Manchmal hörte man ein paar Schritte oder ein Geräusch aus der Küche. Aber es war mir nicht unheimlich, denn es gab eine Unmenge spannender Themen, die in meinem Kopf herumgingen:

Tante Ju, Fieseler Storch oder Zeppelin?; Feld der Ehre; In Stalingrad den Hintern hinhalten; In allerhöchsten Kreisen Klinken putzen; Sich mal wieder vor etwas drücken können; Stählerne Romantik...

Ich hörte den großen Mann neben mir schwer atmen, so als hätte er soeben etwas sehr Anstrengendes oder sogar Schmerzhaftes hinter sich gebracht. Ich kannte das schon. Die Hitze eines glühenden Felsens strahlte in der Finsternis der Lichtburg zu mir herüber. Als ob die Szenen der eben gesehenen Wochenschau ihn nach all den Jahren immer noch aufregen würden.

Irgendjemand Unsichtbares machte sich hinter uns im Projektorraum zu schaffen. So wie es überall im Haus meiner frühen Kindheit irgendjemand Unsichtbaren gab, der sich irgendwie und irgendwo zu schaffen machte. Sei es, bevor man einen Raum betrat oder sei es, nachdem man ihn wieder verlassen hatte. Abgesehen von den Geistern und Gespenstern, die ich bisweilen unter meinem Bett und im Kleiderschrank vermutete.

„Du weißt ja, irgendwann wirst du von all dem der Erbe sein. Das ist eine unausweichliche Tatsache und es ist besser, du stellst dich schon mal darauf ein, mein kleiner-großer Frieder!“

Mit diesen Worten legte mein Großvater, wie so oft, seine Hand auf meinem Oberschenkel ab. Schwer und bedeutsam lag sie da. An manchen Tagen zitterte sie leicht. Und während ich mir zum wiederholten Male vorzustellen versuchte, wie es wohl sein würde, von all dem der Erbe zu sein und mir ein wenig mulmig wurde, wurde die Hand meines Großvaters immer schwerer und wärmer. Dann begann er, seine zitternden Finger auf meinem Schenkel hin und her zu bewegen. Als wenn er die Bedeutung seiner Worte durch den Stoff meiner Hose in mich hineinmassieren wollte. Auch das kannte ich schon.

*

Wenn mein Großvater einmal nicht auf Geschäftsreise war, war er sich durchaus nicht zu schade, mir, seinem einzigen Enkelkind, als Betthupferl etwas vorzulesen. Meine Mutter trat dann immer wie selbstverständlich zurück. Auch dann, wenn meine Mutter und ich zum Beispiel gerade mitten in einer Geschichte aus Tausend und einer Nacht waren. Es war, als galt es, einem berühmten Hofschauspieler ehrfürchtig Platz auf der Bühne zu machen.

Mein Vater und meine Großmutter lasen mir nur selten vor. Aber mein Großvater konnte, zugegeben, ganz hervorragend vorlesen. Mit großer Emphase und übertriebener Gestik und Mimik wie ein Theatergott alter Schule. Und er nahm sich jedes Mal viel Zeit dafür. Immerhin habe er schon vor dem Krieg mit dem alten Schwuli Gustav Gründgens manch Glas in der Kantine des Schauspielhauses geleert. Was er mit Schwuli gemeint hatte, gehörte mit zu den vielen Dingen, die sich mir erst in späteren Jahren erschlossen.

Als Einstieg rezitierte er zu meinem Vergnügen häufig eine dieser urkomischen Laut-Übungen für Menschen, die mit sprechenden oder singenden Berufen ihr täglich Brot verdienten. Mein Großvater konnte viele dieser Übungen nicht nur auswendig, sondern sie auch in rasender Geschwindigkeit fehlerlos vortragen. Die Worte flogen messerscharf aus seinem etwas zu tief angesetzten Mund. Übrigens ein physiognomisches Merkmal vieler männlicher Sprösslinge der Taubers.

Jahrzehnte später, in einem anderen Leben und in einer anderen Welt, fand ich diese skurrilen aber gleichzeitig hohe literarische Qualität beinhaltenden Texte in einem verschlissenen Bändchen mit dem Titel Der kleine Hey - Die Kunst des Sprechens wieder:

Polternd tobet Donners Rollen,

Sollte Gott wohl zornvoll grollen?

Opfertod! O wolle kommen,

Noch lohnt Gottes Sohn

Hoch vom Wolkenthron,

Sorg´und Not, o Trost der Frommen!

Oder:

Hinterm Haus heult Hassan,

Harrachs Hofhund, heißhungrig hervor -

Hetzt herzhaft Hennen und Hahn

Halb haushoch zum Heuhaufen hin!

Hoiho! Hallt hastig des Hausherrn Horn!

Hierher, Hofhund! -

Horch, hurtig huscht Hassan zur Hütte.

Meistens las er danach aus zwei seiner Lieblingsbücher vor: Robert der Schiffsjunge oder Rulaman, der Junge aus der Steinzeit; Jugendbuchklassiker aus der guten alten Kaiserzeit, wie er mir erklärte. Bücher, die ihm selbst als Kind schon viel bedeutet hätten und auch mir Wegweiser während meiner Entwicklung zum Manne sein könnten, wie er nicht müde wurde zu betonen.

Und tatsächlich war Robert der Schiffsjunge ein äußerst spannender Roman über den Sohn eines Schneidermeisters aus dem Schleswig Holsteinischen Pinneberg, der sich mit seinem brutalen Vater überwarf und eines Nachts heimlich die Kleinstadt verließ. Im Hamburger Hafen heuerte der Junge als Smutje auf einem Seelenverkäufer an, um in die Welt hinaus zu fahren. Weg aus der preußischen Enge, weg aus der Armut seines Elternhauses. Erst als erwachsener Mann, gereift und gestählt vom Bestehen vieler Abenteuer, aber auch von Enttäuschungen und Niederlagen, kehrte er zu seinen Eltern zurück. Er versöhnte sich mit seinem Vater, um daraufhin erneut viele Jahre zur See zu fahren.

Rulaman war die fesselnde und gleichermaßen didaktisch aufwändig aufbereitete Heldengeschichte eines Jungen in der Steinzeit. Voller dramatischer Kämpfe mit Wölfen, Höhlenbären, Höhlenlöwen und Mammuts. Beim Zuhören erfuhr ich viel über das Erstellen von steinzeitlichen Werkzeugen und den Umgang mit Waffen. Ich lernte die Großwildjagd und die Rituale des frühmenschlichen Alltags kennen. Das Buch war aufwändig, wenn auch nur schwarz-weiß, illustriert und mein Großvater hielt mir bei den entsprechenden Textpassagen die Bilder zum Betrachten hin. Rulaman war aber auch die Geschichte eines Untergangs. Der verzweifelte Überlebenskampf eines Volkes, das sich am tragischen Ende einer zivilisatorisch höher stehenden Kultur beugen musste.

Neben den Abenden in der Lichtburg kannte ich die Hand meines Großvaters auch von diesen Vorlesesituationen. Während er bei Kerzenlicht mit lauter Stimme deklamierend auf meiner Bettkante hockte, lag sie oft auf meinem Bauch oder meinem Schenkel. Ruhelos wie ein von ihm getrenntes, selbständiges Lebewesen. Hin und her wandernd. Einzelne Worte und den Handlungsverlauf der Geschichten mit kleinen Ruckern und Zuckern kommentierend. Meistens über, manchmal auch unter der Bettdecke. Ich hatte immer das Gefühl, als würde mein ganzes Bett durch das Gewicht meines Großvaters in Schräglage geraten. Als säße der schwergewichtige Mann auf dem Rand eines wackeligen Alsterkanus.

*

Nach der Wochenschau in der Lichtburg gab es meistens noch einige Mickey Mouse und Donald Duck Zeichentrickfilme. Heute gehe ich davon aus, dass ich in ganz Hamburg vielleicht das einzige Kind war, welches schon Ende der 40er Jahre in den Genuss dieser Filme kam. Denn mit Beginn der Nazizeit hatte Walt Disney seinen kleinen Helden nämlich strengstens untersagt, deutsche Mädchen und Jungen zum Lachen zu bringen. Allerdings weniger aus politischen, als aus wirtschaftlichen Gründen. Aber im martialischen Weltbild der Nazis und ihrer Pädagogik, die alles Schwache und Zärtliche weghämmern wollte, hätte ein chaotischer Erpel im Matrosenanzug wohl sowieso keinen Platz gehabt. Obwohl es ja Historiker gibt, die behaupten, dass Hitler persönlich Donald gemocht haben soll. Dass Donald Duck den verkümmerten Rest Menschlichkeit in Adolf zum Zucken gebracht habe. Was für ein Bild: Der streng gescheitelte Führer, hysterisch lachend, allein in einem gigantischen unterirdischen Kinosaal. Auf einer haushohen Leinwand treiben Tick, Trick und Track ihren Onkel in den Wahnsinn.

Mein Großvater und ich konnten uns auf jeden Fall ausschütten vor Lachen. Er lachte eigentlich viel lauter als ich und knuffte mir dabei jedes mal auf den Oberarm.

*

Und nun sollte all dies unwiderruflich der Vergangenheit angehören? Unsere Kinoabende im Keller mit Donald, Mickey und dem großen Führer. Das Vorlesen am Bett, die lustigen Zungenbrecher, das Knuffen auf den Oberarm und die unruhig wandernde Hand. Die für meinen Großvater so typischen überschäumenden Begrüßungen, wenn er wieder einmal von einer wochenlangen Geschäftsreise aus Übersee zurückgekommen war. Seine Mitbringselorgien für die ganze Familie und den großzügig erweiterten Bekanntenkreis:

Amerikanische Zigaretten, Kisten voller Coca Cola, Bourbon-Whiskey aus Tennessee und Kentucky. Schallplatten mit Swingmusik und Jazz von Benny Goodman oder Charlie Parker. Manchmal auch Hochglanzautogrammkarten berühmter Hollywoodstars, elektronische Küchengeräte, batteriebetriebenes Spielzeug und Sonnenbrillen aus Florida.

Eines Morgens stand sogar ein fabrikneuer amerikanischer Straßenkreuzer in der Sonne auf unserem Vorplatz. Ein DeSoto Custom, wie ich heute weiß. Perlmutt-Weiß mit einem chromblitzenden Haifischmaul wie eine Gefährt aus einer Fantasiewelt. Er war im Bauch eines Frachters mit einer Ladung Gasturbinen über den Atlantik gekommen. Der Wagen verschwand dann allerdings für Jahre in einer unserer Garagen, weil mein Großvater es, Anfang der Fünfziger, noch nicht wagte, mit dem auffälligen Automobil durch das kriegsversehrte Hamburg zu rollen.

Sollte es denn wirklich nie wieder die spontan organisierten Hauskonzerte mit den Mitgliedern der Hamburgischen Staatsoper geben? Herr Fehringer und Frau Reuter waren auch immer dabei gewesen. Diese Abende, an denen mein Großvater bisweilen selbst einige Soloarien sang oder hoch aufragend am Flügel saß? Denn er war nebenbei auch ein ambitionierter Amateurmusiker, der, aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung, beste Kontakte zu Chor und Orchester der Philharmonie besaß.

Sollte unser Rundflug über Hamburg für immer ausfallen? Hatte ich mich im Stillen doch längst für den Fieseler Storch entschieden. Der Zeppelin erschien mir zu altmodisch und zu behäbig und mit der Tante Ju war schon dieser gebeugte Mann mit dem Oberlippenbärtchen und dem unfreundlichen Gesicht immer herumgeflogen. Erst im Wahlkampf und später auf der Flucht vor den verdammten Bolschewiken. Zumindest hatte mir das mein Großvater anvertraut.

Richtig begriffen hatte ich die Tatsache seines Todes sowieso erst, nachdem erneut mehrere Wochen vergangen waren. Nachdem die Küstenwache Mitte Oktober zuerst seine zerstörte Zwölf-Meter-Segeljacht Norne und etwas später die Leiche meines Großvaters selbst geborgen hatte. Irgendwo in der sturmgepeitschten Nordsee zwischen der Elbmündung und Helgoland.

Ich hörte meinen Vater, einige Male vom Schiffe verschlingenden Monster Großer Vogelsand reden. Und von dem Jahrhunderte alten Schiffsfriedhof im umliegenden Seegebiet. Worauf ich mir eine Art Magnetberg und einen riesigen, auf diesem Magnetberg stehenden Sturmvogel vorstellte, der mit aufgerissenem Schnabel nach jedem Boot hackte, das ihm zu nahe käme. Ähnlich wie der Vogel Roch aus den Märchen von Tausendundeiner Nacht.

2

Von der Trauerfeier in der Backsteinkapelle des Krematoriums des Friedhofs Ohlsdorf - ein von außen auf mich düster wirkender Bau in Form eines gigantischen Brennofens - erinnere ich eine flüsternde Menschenmenge, eingehüllt in schwüle Parfums und dunkle Stoffe.

EINE VON DIESEN

stand draußen in goldenen Lettern unter einer goldenen Uhr am Giebel, deren Zeiger um eine Dornenkrone kreisten. Ich überlegte, was dieses eine von diesen wohl heißen sollte und erschrak bei dem Gedanken an meinen eigenen Tod. Was wohl als Mahnung an die Lebenden gedacht war, empfand ich als gruselige Androhung: Wenn deine letzte Stunde gekommen ist: Auch du wirst hier brennen! Ich stellte mir vor, gefangen in einem Sarg aufzuwachen, weil die Ärzte mich versehentlich für tot erklärt hätten. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn die Flammen anfingen, an mir zu fressen.

Drinnen in der Kapelle war es vergleichsweise hell und freundlich. Ich saß ganz vorne in der ersten Bankreihe zwischen meinen Eltern und starrte auf diesen Kasten, in dem sich mein Großvater jetzt befinden sollte. Von einer Empore aus dunklem Holz hinter uns wehte ernste Streichermusik - wahrscheinlich eine Abordnung der Philharmonie zusammen mit meinem Geigenlehrer Herrn Fehringer - und an einem Rednerpult vor mir wechselten sich Männer mit erschütterten Gesichtern und schwarzen Krawatten ab. Männer, die exemplarische Geschichten über meinen Großvater erzählten. Anekdotenreiche Begebenheiten, in denen es meistens um seine Bedeutung, Vorbildfunktion und Selbstdisziplin ging. Innere Größe und dergleichen.

Natürlich verstand ich nicht alles, was von den am Pult Stehenden geredet wurde, aber was ich verstand, deckte sich mit den Erfahrungen, die ich selbst mit meinem Großvater gemacht hatte. Ganz offenkundig hatte ein großer und wertvoller Mensch die Welt verlassen. Vor allem mich, sein einziges Enkelkind, hatte er verlassen.

Am beeindruckendsten fand ich jedoch die Geschichte eines schmalen, irgendwie unterernährt wirkenden Mannes, der als einziger einen grauen, statt einen schwarzen Anzug trug, und der zwischen den übrigen Rednern ein wenig deplatziert wirkte. So als hätte er nicht zu den allerbesten Geschäftspartnern und Freunden des Verstorbenen gehört, sondern in einem anderen Verhältnis zu ihm gestanden. Wahrscheinlich war er ein hochgestellter Gewerkschaftler oder einer der Betriebsratsvorsitzenden bei Blohm & Voss oder den Howaldtswerken. Dieser Mann sah sich gezwungen, seine Rede des öfteren zu unterbrechen, weil ihm seine Stimme in Abständen versagte.

*

Der Mann im grauen Anzug berichtete, wie mein Großvater, ihn, seine Familie und viele andere Menschen vor dem sicheren Hungertod bewahrt habe. In den allerschlimmsten ersten Jahren direkt nach dem Krieg und besonders im mörderischen Winter 1946/47. Mein Großvater hätte ihnen Arbeit, Brot und vor allem wieder einen Sinn im Leben gegeben. Einen Grund überhaupt weiterzumachen.

Denn die Arbeiter hätten in jenen Tagen schließlich wie Gestrandete unten am Hafen gesessen. Zwischen all den ausgebrannten Hallen, verbogenen Stahlträgern und abgeknickten Kränen. Wie eine verlorene Armee, die sie ja schließlich auch waren. Viele noch in ihren abgerissenen Uniformen und Wehrmachtsmänteln. Ohne Gegenwart und ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Entmenscht von der hinter ihnen liegenden Hölle in Stalingrad oder einer der anderen Höllen, die sie als Soldaten überlebt hätten. Das von Eisschollen zerklüftete Wasser der Elbe sei, wie immer, träge und unbeteiligt an ihnen vorbeigeflossen. Richtung offenes Meer. Richtung Freiheit und Amerika. Fort von all dem Zerfall und der Agonie.

Niemand habe sich für das besondere Schicksal der Heimkehrer wirklich interessieren können. Außer Almosen, Suppenküchen und warmen Worten wäre da am Anfang nicht viel gewesen. Draußen vor der Tür hätte man gestanden, um mit Wolfgang Borchert zu sprechen. Die an der Heimatfront gebliebenen Frauen hätten schließlich mit sich selbst und den Kindern genug zu tun gehabt. Verständlicherweise. Nach all den Bombennächten mit den Kleinen im Keller. Nach Feuerstürmen, Leichenbergen und den Durchhalteparolen der Nazis. Manche der Männer hätten damals endgültig ihren Lebensmut verloren und hätten vor Verzweiflung und Elend zum Alkohol gegriffen. Oder sie seien für immer in die Elbe gegangen. Oder sie hätten, zusammen mit ihrer Familie, den Gashahn aufgedreht, sagte der dünne Mann um Fassung ringend. Das sei doch alles schließlich erst wenige Jahre her.

Aber dann sei Karl-Hermann Tauber gekommen und habe sie alle gerettet. Ja, man dürfe diese Formulierung durchaus wählen: Er war ein Retter! Denn Karl-Hermann Tauber habe ihnen den Glauben an das Leben wiedergegeben, weil er das Wagnis eingegangen sei, wieder Schiffe für die Weltmeere zu bauen. Schiffe für seine Tauber & Tauber Linien. Und das - so sagte der kleine Mann, der sich mit bebenden Worten zum wiederholten Male nur einen einfachen Arbeiter nannte, der stellvertretend für alle anderen Werftarbeiter und deren dankbaren Familien hier stünde - das sei nach den überstandenen Jahren der Finsternis ein wahrhaftes Geschenk des Himmels gewesen! Und darüber hinaus ein Hoffnungszeichen für alle Arbeiter des in Trümmern liegenden Hamburgs und ganz Deutschlands.

Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Erwachsenen so weinen sehen und spürte auch meine eigenen Tränen aus mir hervorschießen. Ich kann mich nicht erinnern, ob meine Eltern neben mir ebenfalls geweint haben. Irgendwann setzte die Musik wieder ein und der Sarg mit meinem Großvater verschwand lautlos in einer Klappe im Fußboden.

*

Einige Tage später fand sich am Grab nur der engste Familienkreis ein. Immerhin auch um die zwanzig Personen. Genaugenommen fast alle Menschen, die noch wenige Wochen zuvor bei meiner zehnten Geburtstagsfeier anwesend waren. Neben meinen Eltern und meinen Großeltern mütterlicherseits, meine sämtlichen Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins. Außerdem ein jüngerer Bruder und eine ältere Schwester meines Großvaters mit ihrem neuen Ehepartner, den ich noch nie gesehen hatte. Und natürlich die Witwe des Hauses, meine Großmutter.

Meine Großmutter war eine stille, schlichte Frau, die treu und ergeben an der Seite meines Großvaters durchs Leben gegangen war. Sie sprach selten, und wenn man ihr in die Augen schaute, hatte man häufig das Gefühl, sie wüsste viel mehr über das Leben und die Menschen, als sie einem preisgab. Manchmal wirkte sie sogar ein wenig abweisend auf andere Menschen, und man konnte den Eindruck gewinnen, ihre beflissene Emsigkeit sei nur eine Methode, um nicht all zu viel über das nachzudenken, was sich an Wissen und Erfahrung in ihrem stets perfekt frisierten Kopf angesammelt hatte. Auch am Grab ihres Ehemannes wirkte sie eher pflichterfüllend als verzweifelt. Und als ich in ihrem Gesicht nach Tränen suchte, fand ich es stumm und trocken. So, als wäre sie mit ihren Gedanken schon längst beim anschließend geplanten Totenmahl im Hotel Prem. Denn dort war ein Saal reserviert worden.

Doch mein Großvater muss meine Großmutter, die in ihrer Jugend eine talentierte Balletttänzerin gewesen war, sehr geliebt haben. Anders war für mich vieles nicht zu erklären.

*

An einem ihrer Geburtstage, es muss ihr fünfzigster 1948 gewesen sein, hatte mein Großvater als Überraschung nahezu sämtliche Balletteleven einer renommierten Hamburger Ballettschule in unsere Villa eingeladen. Vielleicht hatte er der Leiterin des Tanzinstituts vorher als Gegenleistung auch eine großzügige Spende zukommen lassen. Wie dem auch sei, die Kinder wurden mit einem privaten Busunternehmen quer durch die Stadt von der Ballettschule im Blankeneser Hirschpark zu uns nach Winterhude transportiert.

Den ganzen Nachmittag über bevölkerten plappernde Jungen und Mädchen - genaugenommen drei Jungen und vierunddreißig Mädchen im Alter von sieben bis zwölf Jahren - in ihren Tutus, Tüllröcken, Strumpfhosen und Schläppchen unsere Räume und Flure. Selbst aus unserem verlaubten Garten scholl ungewohntes Kindergeschrei in die Nachbarschaft. Das Ganze hatte eher die Atmosphäre eines Kinderfestes, als die des fünfzigsten Geburtstags der Dame des Hauses. Unsere Hauswirtschaftlerin hatte ein mehrere Meter langes kindgerechtes Buffet aufgefahren, auf dem sie ständig für Nachschub sorgte und die arme Frau Mittmann musste den ganzen Nachmittag Kinderspiele wie Sackhüpfen, Topfschlagen und Eierlaufen anleiten. Es war ein rauschhaftes Erlebnis für mich. All das versetzte mich, der ich im Umgang mit Gleichaltrigen ungeübt war und zunehmend soziopathische Züge entwickelte, in eine nie gekannte Euphorie.

Stündlich, immer wenn mein Großvater mit wichtig hochgezogenen Augenbrauen unsere Essensglocke läutete, fanden kurze Tanzdarbietungen in wechselnden Kostümierungen statt. Alle Tänzerinnen und Tänzer versammelten sich dann im großen von Möbeln freigeräumten Salon um ihre Ballettmeisterin. Meine Klavierlehrerin Frau Reuter begleitete am Bechsteinflügel mit den bekannten Melodien aus Schwanensee, Nussknacker und Dornröschen.

Zu meiner Verwunderung hatte sich meine Großmutter selbst an diesem Freudentag in einer eher ernsten Stimmung befunden. Als ich meine Mutter darauf ansprach, mutmaßte sie, dass Großmutter Lisbeth durch die ballettösen Darbietungen vielleicht an ihre vergangene Jugendzeit erinnert würde. Und dass sich ihre eigenen Pläne Tänzerin zu werden, als Papa und Onkel Tillich geboren wurden, endgültig zerschlagen hätten. Auf jeden Fall verfolgte meine, in einem extra positionierten Sessel sitzende, Großmutter die tänzerischen Bemühungen der Eleven zwar wohlwollend aber ohne erkennbare Begeisterung.

Ganz im Gegensatz zu meinem zur Hochform aufgelaufenen Großvater, der am Abend Geschichten erzählend und Witze machend auf dem großen Sofa im Salon hockte. Umringt von einer ausgelassen kichernden Kinderschar; und ich, als der Enkelsohn des Hauses, mittendrin. Mein Großvater verteilte mit urkomischen Gesten und Mienen kleine Geschenke und Süßigkeiten. Zwischendurch das eine oder andere Kind neckisch in den Bauch piksend oder in die Hüfte zwickend. Dann machte er plötzlich eine Stimme wie Frankenstein oder verwandelte sich mit einem krummen Buckel zum grässlichen Glöckner von Notre Dame. Und wer von den kreischend flüchtenden Kindern es wagte trotzdem zurück auf seinen Schoß zu klettern, dem steckte er einen Bonbon oder ein Stück Schokolade direkt in den Mund. Ab und zu wurden seine wippenden Beine auch zum Rücken eines wilden Rodeo-Pferdes und man musste versuchen so lange wie möglich oben zu bleiben. Plötzlich stand meine Großmutter in der Tür:

„Ich glaube, nun reicht es aber, Karl-Hermann!“

Mit diesen ungewohnt strengen Worten beendete sie gegen Abend die Situation.

„Es ist spät geworden und die Kinder müssen jetzt dringend nach Hause zu ihren Eltern.“

Ich erinnere mich, dass von meinem Großvater kaum Widerspruch kam. Dass er lediglich etwas von schließlich Währungsreform und den Kindern mal etwas Gutes tun wollen, vor sich hin nuschelte. Dass er, beinahe ertappt wirkend, anfing das Bonbonpapier um sich herum aufzusammeln. Ohne aufzusehen. Ohne ein Wort der Verabschiedung zu den Kindern.

Meine Großmutter schob mich und die enttäuscht maulende Schar vor sich her aus dem Salon: „Der Bus ist vorgefahren. Es hat mich sehr gefreut, dass ihr heute hier gewesen seid. Ihr habt mir einen sehr schönen Geburtstag bereitet.“

Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich meinen Großvater allein in dem unaufgeräumten Zimmer auf dem Boden hocken. Ein irritierender Anblick. Ein schuldbewusster Schuljunge nach einer Strafpredigt von seiner Mutter.

*

Im Vergleich zur Trauerfeier im Krematorium gestaltete sich die Beisetzung meines Großvaters deutlich weniger erhaben. Die Zeremonie beschränkte sich auf einige dürre Worte des Pfarrers, worauf seine Urne von zwei Mitarbeitern des Bestattungsunternehmens - in steifem Livree und mit weißen Handschuhen - unendlich langsam in einen der drei Sarkophage des Familiengrabes herabgelassen wurde. Die Urne erinnerte mich an die Blechdose, die mir bei der Befragung im Rathaus in Abständen vor mein Gesicht gehalten wurde. Damit ich mich besser erinnern konnte.

Das Mausoleum der Taubers war eine der Antike nachempfundene Rotunde mit einer abschließbaren kupferbeschlagenen Pforte und einem vergitterten Guckfenster. Um in das Innere hineinsehen zu können, musste man drei flache Marmorstufen emporsteigen. Das Mausoleum war zwar nicht das größte seiner Art - in direkter Nachbarschaft entdeckte ich weitaus imposantere Exemplare, in denen ich Kaiser und Könige vermutete -, und doch wurde ich bei seinem Anblick von Ehrfurcht erfasst. Ich erschauerte vor der offensichtlichen Bedeutung meiner Familie und bei der Vorstellung, dass es der Vorsehung und Tradition entsprach, dass ich selbst einmal in dieses Totenhaus einziehen sollte. In diesen Tempel mit seinen halb verwesten Leichen und Aschebehältern. Die Friedhofsverwaltung, oder wer auch immer, sorgte dafür, dass in seinem Inneren stets eine rote Grablampe brannte. Und nun stellte ich mir zwanghaft vor, dass diese Lampe ab jetzt Tag und Nacht bis an mein Lebensende dort auf mich warten würde. Das Licht an der Hafeneinfahrt am Ende einer langen Seereise. Vielleicht auch zu ihrem Beginn. Was wusste ich schon?

Nachdem die mit Kränzen und Blumen belegte Abdeckplatte knirschend über den Sarkophag geschoben worden war, entstand ein kurzer aber intensiver Moment der Stille. In diesem Moment wirkten die Menschen um mich herum wie in graues Blei gegossen. Und während ich mir unsicher war, ob es sich dabei um ein letztes tiefempfundenes Abschiednehmen oder eher um ein betretenes Schweigen handelte, betrachtete ich die gemeißelten Inschriften auf der Platte des Sarkophags. Der Schriftzug mit dem Namen meines Großvaters war der frischeste und größte von allen. Ich rechnete mir aus, wie alt er geworden war und wie lange meine Eltern noch leben würden, wenn sie im selben Alter stürben wie er.

KARL-HERMANN TAUBER 1883 - 1952

Dann gingen alle zurück zum Parkplatz. Mit zügigen Schritten, denn es war ein feucht-kalter Novembertag und es hatte kaum merklich angefangen zu regnen. Doch wenn ich ganz ehrlich bin, weiß ich nicht mehr, was für ein Wetter an jenem Tag herrschte. Vielleicht erstreckte sich auch ein klarer azurblauer Himmel über dem Friedhof. Vielleicht war es für diese Jahreszeit, wie so oft heutzutage, auch deutlich zu warm. Aber der unverbesserliche Regisseur meiner Erinnerungen besteht darauf, dass nur Wolken, Regen und Kälte für diese Szene in Frage kommen können.

Meine Mutter hatte mir, nachdem sie ihren Regenschirm aufgeklappt hatte, kurz über den Kopf gestreichelt und mich fest an die Hand genommen.

„Nun ist es überstanden, Frieder“, sagte sie fast flüsternd, so, dass nur ich es hören konnte. „Einmal ist immer das erste Mal im Leben eines Kindes. Der Mensch kann sich den Zeitpunkt dieser Erfahrungen leider nicht aussuchen. Aber du bist ja mein tapferer großer Junge. Denke immer dran: Das Leben geht weiter und wird noch viele schöne Überraschungen für dich bereithalten.“

Bei diesen Worten bekamen die Absatzgeräusche ihrer Schritte für einen Moment etwas Resolutes. Ich spürte plötzlich eine weitere Hand über meinen Kopf streicheln. Wobei es sich dabei weniger um ein Streicheln, als um ein linkisches Abklopfen meiner Haare handelte. Als ich mich umdrehte, ging hinter mir meine Tante Johanna aus Bremen. Sie zwinkerte mir zu.

Mein Vater ging abseits der Gruppe; vertieft in ein leises Gespräch mit seinem Bruder Tillich, dem Mann von Tante Johanna. Die beiden großen schlanken Männer hatten sich Zigaretten angezündet und zogen weiße Rauchfahnen hinter sich her. Zwischen den herbstbunten Baumkronen kam schon die dunkelrote Backsteinfassade der Kapelle des Krematoriums in Sicht.

Ich hatte schrecklich kalte Füße und musste immer an den weinenden Redner im grauen Anzug denken: Ein Retter! Ein Geschenk des Himmels! Mein Großvater musste wirklich ein ganz besonderer Mensch gewesen sein.

*

Als mein Vater sich plötzlich von der Gruppe löste und auf einen Mann mittleren Alters zustürmte, erschreckten sich alle. Ich meinte selbst meine schweigsame Großmutter einen unterdrückten Laut von sich geben zu hören. Es war allerdings eher ein Stöhnen tief aus ihrem Inneren. Fast so, als würde sie den Mann kennen.

Der Mann, auf den mein Vater zu rannte, war auch mir schon aufgefallen, denn er war auf einem Parallelweg bereits einige Minuten neben uns her geschritten und hatte in Abständen zu uns rübergeschaut.

Wir sahen, wie mein Vater sich dem Fremden in den Weg stellte und auf ihn einredete. Unzweideutig wütend und drohend, denn er tippte ihm beim Reden wiederholt mit seinem Zeigefinger gegen die Brust. Außerdem hatte er seine Stimme so erhoben, dass zumindest einige Satzfetzen zu uns herüberdrangen. Ich konnte nicht genau verstehen, worum es ging, aber einige Worte flogen zusammen mit dem Zigarettenrauch aus seinem Mund zu uns herüber; stoßweise und unmissverständlich: „Nie wieder! … Letztes Mal! … unverfrorene Dreistigkeit! … Gottseidank vorbei!“

So ging es eine Weile.

„So mach doch irgendjemand etwas!“, hörte ich meine Mutter irgendwann neben mir in die Runde sagen. „Helmuth wird ihn noch umbringen!“

Als mein Vater anfing, den Mann mit ausgestrecktem Arm schimpfend vor sich herzutreiben - vorbei an tropfenden Wasserhähnen und den hängenden Schwingen patinagrüner Trauerengel -, eilten mein Onkel und der Pfarrer an seine Seite. Um ihn zu beruhigen, um möglicherweise Schlimmeres abzuwenden, um ihn an seinen Armen von dem zurückweichenden Fremden wegzuziehen. Denn es machte durchaus den Eindruck, dass mein Vater drauf und dran war, den Mann zu schlagen.

Doch bevor dieser sich abwandte und hinter einer hohen Hecke verschwand, blickte er noch einmal kurz zu uns herüber. Genaugenommen schien er den gezielten Blickkontakt mit mir zu suchen. Zumindest bilde ich mir das bis heute ein. Der Mann hatte ein helles, großflächiges Mondgesicht. Er grinste zu mir herüber, als würde er mich kennen oder unbedingt näher kennenlernen wollen.

Ich war fasziniert und beunruhigt zugleich von der soeben erlebten Szene, denn bis dato hatte ich meinen Vater immer äußerst beherrscht und zurückhaltend erlebt. Wie hatte Großvater neben mir in der Lichtburg noch gesagt? Es gibt Menschen, die sich lieber im schattigen Hintergrund aufhalten und den Drang haben sich vor aller Welt zu verstecken, als ihr mutig ins Gesicht zu sehen.

Doch damals, beim Begräbnis seines eigenen Vaters, sah ich meinen Vater zum ersten Mal regelrecht aus der Haut fahren.

Als Onkel Tillich und der Pfarrer ihn wieder zur Gruppe zurückbrachten, hatte mein Vater einen roten Kopf, und wenn er atmete war da ein pfeifendes Geräusch, das ich noch nie bei ihm gehört hatte. Meine kleinen Cousinen aus Bremen hatten sich weinend unter den Schirm an meine Tante Johanna gedrückt. Der Regen hatte an Intensität zugenommen.

Auf dem Parkplatz neben der Kapelle des Krematoriums standen nur die Autos unserer Familie. Überhaupt wirkte der ganze Friedhof um uns herum wie leergefegt. Als wäre er reserviert worden für diese eine letzte Amtshandlung, mit der das Kapitel Karl-Hermann Tauber für alle Zeit als physisch abgeschlossen erklärt werden sollte.

*

Unser Chauffeur ließ den Wagen an und war im Begriff den Pullman-Mercedes auf die Fuhlsbüttler Straße zu lenken, als es plötzlich an der Beifahrerscheibe meines Vaters klopfte. Ein Mann in nassem Regenmantel hielt ein Mikrofon an das Fenster und rief meinem Vater aufgeregt Fragen zu. Von seiner Hutkrempe rann das Wasser. Hinter ihm stand ein zweiter Mann, ebenfalls im Regenmantel, mit einem an Riemen um seine Schulter hängenden Koffer, in dem das Mikrofonkabel verschwand. Der Mann mit dem Mikrofon hörte nicht auf seine Fragen zu stellen und immer wieder an die Scheibe zu klopfen, so dass ich befürchtete, diese würde gleich zerspringen. Genaugenommen schrie er seine Fragen durch das Glas zu uns ins Auto hinein. Er war mir so nah, dass ich seine schadhaften Zähne erkennen konnte. Meine Mutter legte beschützend ihre Arme um mich.

Natürlich kann ich den genauen Wortlaut der Fragen des Reporters nicht wiedergeben, aber ich verstand so viel, dass sie alle um die endgültige Klärung der Todesursache meines Großvaters kreisten und um irgendwelche weit in der Vergangenheit zurückliegenden Geschehnisse. Geschehnisse aus den Zeiten des Krieges. Aus den Zeiten des kleinen grimmigen Mannes mit dem Schnauzbart. Es ging um Kontakte und Verbindungen zu Parteioberen. Insbesondere zu Karl Otto Kaufmann. In persona Gauleiter und Reichsstatthalter von Hamburg sowie Reichskommissar für Seeschifffahrt, wie ich später erfuhr. Auch die Begriffe Arisierung und Judenrat fielen einige Male.

„Was wissen Sie darüber?“, schrie der Reporter hinter der Scheibe. „Gab es über das Kriegsende hinausgehende Verbindungen? Was können Sie uns und der Öffentlichkeit darüber mitteilen?“

Mein Vater machte einige abwehrende Handbewegungen zu den Regenmänteln, die sich aber nicht abwimmeln ließen und deren nasse Gesichter neben ihrem Mikrofon jetzt schon fast an der Scheibe klebten. Und ich weiß noch genau, wie meine Mutter, die mich mit ihren Armen umschlang, panisch „Um Gotteswillen, wie lange wollen Sie denn noch warten?“ zu Emil, unserem Chauffeur schrie.

„Nun fahren Sie doch los! … Bitte!“