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Lot und Brandung - Gedichte und Illustrationen aus der dritten Welle
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Seitenzahl: 34
Für Marionette
Es gab damals keine individuellen Schicksale mehr, sondern eine kollektive Geschichte, nämlich die Pest und von allen geteilte Gefühle. Am stärksten waren das des Getrenntseins und des Exils, mit allem, was dies an Angst und Auflehnung mit sich brachte.
So brach die Krankheit, die die Einwohner scheinbar zu einer Solidarität von Belagerten gezwungen hatte, gleichzeitig die traditionellen Vereinigungen auseinander und überließ die Einzelnen ihrer Einsamkeit. Das schuf Verwirrung.
Während sie trotz Gefangenschaft und Exil monatelang mit dumpfer Ausdauer wartend durchgehalten hatten, genügte der erste Hoffnungsschimmer, um zu zerstören, was Angst und Verzweiflung nicht hatten erschüttern können. Sie stürzten wie Irre vorwärts, um der Pest zuvorzukommen, und waren unfähig, bis zum letzten Augenblick mit ihr Schritt zu halten.
Im Übrigen kann man sagen, dass die Herrschaft der Pest von dem Augenblick an beendet war, als für die Bevölkerung ein kleiner Funke Hoffnung möglich wurde.
Albert Camus, „La Peste“, 1947
ANFANG
OBEN UND UNTEN
NAH UND FERN
ÜBER WELLEN FLOG ICH
MORGENS SINGEN WIR NOCH
Corona I
– AN DER REELING
EIN GLAS KALTE MILCH
Corona II
– PICKNICK
LAVAODEM
WÄRE ICH ICH SELBST
Corona III
– DIE LUFT IST REIN
FRÜHLINGSVOGEL
Corona IV
– NÄCHTLICHER ANRUF EINES EHEMALIGEN FREUNDES
BERGSTEIGER
Corona V
– GALERIE
HÜTTE AM STRAND
Corona VI
– MUMMENSCHANZ
AUF KÜCHENSTÜHLEN
ICH BIN
Corona VII
– WELTEMPFÄNGER
PETERSDOM
ERWARTUNG
AUSNAHMSWEISE
Corona VIII
– NEMO
POINTE
LOT UND BRANDUNG
Corona IX
– DANN KAM DER TAG
LANDSCHULHEIM ´74
Corona X
– HELLAS
AUF DER KAIMAUER
DIE TÜR
HALLO
NACHGEDANKEN
Am Anfang
geschah mir das Leben
Klein war die Welt
wie ein Zimmer
und größer als alles
der Hunger
Und die Stimme der Mutter
war Gott
stand lange im Türrahmen
und flüsterte mir etwas zu…
Oben schweben
Licht- und Gasgedanken
wie feines Klingen
hinter meiner Stirn
Unten schlafen
dunkle Kindheitsbilder
träumen ächzend
vor sich hin
Nah steht die Wand
der graue Turm
und die Bank
am Waldesrand
Fern schlitzen die Flügel
des Rades
den Himmel auf
und Licht
fließt hinaus…
Über Wellen flog ich
und Töne versanken
unter meinen Händen
wie Steine im Meer
Über Gipfel segelte ich
und Rhythmen verhallten
unter meinen Füßen
wie Echos zwischen Felsen
Über Schluchten schoss ich
und Akkorde stürzten
aus mir heraus
wie Vogelschwärme in die Tiefe
Über Wälder schwebte ich
und Melodien quollen
aus meinem Nabel
um die Äste der Bäume
Über Ebenen jagte ich
und Symphonien verloren sich
in meinem Kopf
wie Geräusche im Nebel
Morgens singen wir noch
mit den Amseln
und neben uns in seinem Grab
hebt Beethoven wohlwollend
die Brauen
Mittags brüllen wir schon
über die Kreuzung
und auf dem Beifahrersitz
nickt ein Rallyeweltmeister
uns aufmunternd zu
Nachmittags klagen wir dann
mit den Rentnern
und vom Hügel im Park
blickt ein steinerner Bismarck
ohne Mitleid über uns hinweg
Abends schweigen wir nur
am Küchentisch
und im Radio
erklärt uns eine Stimme
das Leid der Welt
Nachts träumen wir wild
von uns selbst
und von irgendwoher
dringt der Gesang der Amseln
in unseren Schlaf
AN DER RELING
An der Reling lehnen
vorne am Bug
während das Schiff sich
durch ein Meer
aufgewühlter Erinnerungen kämpft
Gleich verlassenen Inseln
ziehen Weihnachtsfeiern vorbei
Tage auf Standesämtern
wie Sandbänke
mit Seehundbabys
Stunden in Trauerhallen
ragen aus dem Wasser
wie schwarze Wracks
Und in überfüllten Rettungsboten
treiben all meine Versprechen und Wünsche
zum Horizont
Ängstlich wende ich mich
zum Kapitän auf der Brücke
der lächelt mir zu
und lenkt sein Schiff
in die aufgehende Sonne
Eines Nachts
um kurz nach zwei
schrecke ich auf
mit brennendem Hals
geh auf Toilette
dann in die Küche
um Wasser zu trinken
ein Glas kalte Milch
Am Tisch in der Dunkelheit
mit grauem Gesicht
und weißem Haar
ein uralter Mann