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Dickens war bereits früh fasziniert von der modernen Londoner Polizeiarbeit. Seine Erkenntnisse schrieb er in diesen Geschichten nieder. Sie spiegeln nicht nur das Verhältnis von Polizei und Verbrechertum wider, sondern zeigen auch die zugrunde liegenden Auswirkungen sozialer Konflikte. Und am Schluss sind es auch unterhaltsame Geschichten, die bestens in die Tradition eines Doyle oder Poe passen. Kommentiert und in angepasster Rechtschreibung Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 106
Charles Dickens
Dickens’ Detektivgeschichten
Charles Dickens
Dickens’ Detektivgeschichten
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Franz Franzius 1. Auflage, ISBN 978-3-962810-20-7
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Inhaltsverzeichnis
Charles Dickens
Der Bettelbriefschreiber
Die Geheimpolizei
Drei Geheimpolizisten-Geschichten
Die Handschuhe
Der Kunstgriff
Das Sofa
Auf Runde mit Inspektor Field
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Charles Dickens, geboren am 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth, ist am 9. Juni 1870 in Rochester gestorben.
Die typisch englische Tradition der Newgate-Novels, die sich seit Defoe und Swift mit faszinierenden Verbrecherfiguren beschäftigte, hat mit Charles Dickens ihren literarischen Höhepunkt erreicht.
Bereits vor der Gründung des Londoner CID (Criminal Investigation Department) im Jahre 1845 war Dickens mit der Problematik der Verbrechen durch intensives Studium von Polizeiberichten vertraut. Er verfolgte fasziniert die neue Einrichtung der nichtuniformierten Polizisten, die, durch Zylinderhüte gekennzeichnet und mit Alarmrasseln ausgestattet, zunächst für die Bewachung der Eisenbahnlinien zuständig waren, recht bald aber die entscheidende Rolle bei der Verbrechensbekämpfung in der Londoner Unterwelt spielen sollten.
Kurz nach der Gründung dieser Polizeitruppe schreibt Dickens Detektiverzählungen unter dem Titel »Geheimpolizei«. Diese Geschichten zeigen nicht nur das Verhältnis Polizei/Verbrecherwesen auf, sondern reflektieren auch die hinter den Verbrechen stehenden zeittypischen Sozialkonflikte.
(The Begging-Letter Writer)
Die Summe Geldes, die er im Vereinigten Königreich alljährlich vernünftigen und nützlichen Zwecken abwendig macht, würde dem Ertrag der Fenstersteuer gleichkommen. Er ist einer der schamlosesten Schwindler und Betrüger der Gegenwart. Mit seiner Faulheit, seiner Verlogenheit und bei dem unermesslichen Schaden, den er dem Würdigen zufügt — dadurch, dass er den Strom echter Güte trübt und törichten Richtern das Hirn verwirrt, die unfähig sind, zwischen der unechten Münze des Elends und ihren echten Stücken zu unterscheiden, die es stets unter uns gibt —, da gehört er eher nach Norfolk-Island als Dreiviertel der schlimmsten Fälle, die dorthin verschickt werden. Unter jeder verständigen Regierung wäre er schon lange hingeschickt.
Ich, Schreiber dieses, war eine Zeit lang ein auserwählter Empfänger von Bettelbriefen. Vierzehn Jahre lang war mein Haus eine ebenso regelrechte Annahmestelle für derartige Mitteilungen, wie irgendwelches größeres Nebenpostamt es für Briefe allgemeiner Beschaffenheit ist. Daher muss ich wohl einige Kenntnis über den Bettelbriefschreiber besitzen. Zu allen Stunden des Tages und der Nacht hat er meine Tür belagert — mit meinen Dienstboten hat er gekämpft, mir selbst hat er beim Ausgehen und Heimkommen Hinterhalte gelegt, hat mich aus der Stadt aufs Land verfolgt; in kleinen Landgasthöfen, in denen ich mich nur ein paar Stunden aufhielt, tauchte er auf; aus riesenhaften Entfernungen schrieb er mir, wenn ich aus England fort war. Er wurde krank; er starb und wurde beerdigt; er gelangte wieder zum Leben und verließ diesen flüchtigen Schauplatz abermals: er war sein eigener Sohn, seine eigene Mutter, sein eigener Säugling, sein blödsinniger Bruder, sein Onkel, seine Tante, sein betagter Großvater. Er brauchte einen Überzieher, um drin nach Indien zu gehen; zwanzig Mark, um sich für immer eine Lebensstellung zu erwerben; ein Paar Stiefel, um die Küsten Chinas zu erreichen; einen Hut, um eine Lebensstellung bei der Regierung zu bekommen. Oft fehlten ihm genau sieben Mark fünfzig zu unabhängiger Lebensführung. Er hatte so schöne Aussichten in Liverpool — große Vertrauensstellungen in Kaufhäusern, zu deren sicherer Erlangung ihm nichts weiter als sieben Mark fünfzig fehlten —, dass ich mich immer gewundert habe, warum er im gegenwärtigen Augenblick nicht Bürgermeister dieser aufblühenden Stadt ist.
Die Naturerscheinungen, deren Opfer er wurde, sind die allererstaunlichsten. Er hatte zwei Kinder, die nicht wachsen wollten; für die er nie etwas besaß, um sie nachts zuzudecken; die ihn fortwährend durch ihr vergebliches Betteln um Nahrung zum Wahnsinn trieben; die niemals aus Fieber und Masern herauskamen (was meiner Ansicht nach wohl erklärt, weshalb seine Briefe immer so nach Tabakrauch duften, als einem Entseuchungsmittel); die sich im Laufe vierzehn langer Jahre nie im geringsten veränderten. Und seine Frau, was dies Unglücksweib durchzumachen hatte, ahnt kein Mensch! Sie hat sich während ebendieses selben Zeitraums stets in andern Umständen befunden und ist doch niemals niedergekommen. Seine Ergebenheit für sie hat nie nachgelassen. Nie hat er sich für sich selbst gesorgt; er selber hätte ja gern zugrunde gehen können — wäre es sogar gern —; aber war es nicht seine Christenpflicht als Mann, als Gatte, als Vater, einen Bettelbrief zu schreiben, sobald er sie ansah? (Gewöhnlich schloss er hieran die Bemerkung, er würde abends vorsprechen, um sich die Antwort auf diese Frage zu holen.)
Er wurde zum Spielball der sonderbarsten Unglücksfälle. Was sein Bruder ihm angetan, hätte jedem andern das Herz gebrochen. Sein Bruder trat mit ihm in Geschäftsverbindung und lief mit dem Gelde davon; sein Bruder brachte ihn dazu, für eine Riesensumme Bürgschaft einzugehen, und ließ ihn sie dann zahlen; sein Bruder hätte ihm eine Anstellung gegeben, mit Tausenden jährlich, hätte er sich dazu verstehen können, auch sonntags Briefe zu schreiben; sein Bruder äußerte Grundsätze, die er mit seinem Gottesglauben nicht in Einklang bringen konnte, und (folglich) konnte er seinem Bruder doch nicht gestatten, für ihn zu sorgen. Sein Hauswirt zeigte niemals auch nur einen Funken menschlichen Gefühls. Wann er die letzte Pfändung vornahm, weiß ich nicht mehr, aber ausgelöst hat er sie nie. Dem Pfandleiher sind bereits graue Haare drüber gewachsen. Sie werden ihn noch eines schönen Tages begraben müssen.
An jedes nur erdenkliche Unternehmen hat er sich herangemacht. Er ist im Heere gewesen, bei der Flotte, im Kirchendienst, beim Gericht; hat mit der Presse in Verbindung gestanden, den schönen Künsten, öffentlichen Einrichtungen, mit Geschäftsunternehmungen aller Art und jeden Grades. Er ist standesgemäß erzogen, hat jedes College in Oxford und Cambridge besucht, kann in seinen Briefen Latein anführen (verbuchstabiert sich aber gewöhnlich bei kleineren englischen Wörtern); er vermag uns zu erzählen, was Shakespeare über das Betteln sagt, besser als wir selbst. Zu beachten ist, dass er inmitten all seiner Heimsuchungen stets die Zeitung liest und dass er seine Bitte immer mit irgendeiner Anspielung auf einen grade volkstümlichen Gesprächsgegenstand zu Ende bringt, von dem man annehmen sollte, er läge mir.
Sein Lebenslauf stellt eine Kette innerer Widersprüche dar. Zuweilen hat er noch nie zuvor einen derartigen Brief geschrieben. Er wird rot vor Scham. Dies ist das erste Mal; es wird aber auch das letzte sein. Antworten wir nicht drauf und machen uns nur klar, dass er sich dann in der Stille umbringen wird. Zuweilen (und das ist öfter der Fall) hat er bereits ein paar solche Briefe geschrieben. Dann legt er die Antworten bei mit dem vertraulichen Zusatz, sie seien für ihn von ganz unschätzbarem Wert, und zugleich mit der Bitte, sie ihm doch ja sorgfältig wieder zuzustellen. Anlagen sind eine seiner Liebhabereien — Verse, Briefe, Abschriften von Pfandzetteln, irgend etwas, was eine Antwort erforderlich macht. Er ist von großer Strenge gegen ›den verwöhnten Günstling des Glücks‹, der ihm die zehn Mark verweigert hat — siehe Anlage 2 -, aber mich kennt er besser.
Er schreibt in den verschiedensten Ausdrucksarten, zuweilen in niedergedrückter Stimmung, manchmal auch ganz scherzhaft. Ist er niedergedrückt, so schreibt er mit abfallenden Zeilen und wiederholt einzelne Wörter — kleine Anzeichen von großer Beweiskraft für Gemütsstörungen. Ist er lebhafter, so ist er ganz offen gegen mich; dann ist er ein angenehmer Plauderer. Ich kenne ja die menschliche Veranlagung — wer kennte sie besser? Na schön! Er besaß mal ein bisschen Geld und wurde damit fertig — wie so viele vor ihm auch! Nun findet er, seine alten Freunde wenden sich von ihm ab—auch das haben viele vor ihm durchgemacht! Soll er mir mal erzählen, warum er grade mir das schreibt? Weil er eine Art von Anrecht auf mich hat. Ganz offen lediglich aus diesem Grunde; und darum (weil ich die menschliche Veranlagung kenne) bittet er mich um ein Darlehen von vierzig Mark, rückzahlbar nächsten Donnerstag in sechs Wochen, vor zwölf Uhr mittags.
Mitunter, wenn er gemerkt hat, dass ich ihn erkannt habe und dass keinerlei Aussicht auf Geld besteht, schreibt er mir, um mir mitzuteilen, nun endlich wäre ich ihn los. Er hat sich von der Ostindischen Kompanie anwerben lassen und soll sofort hinaus — nur braucht er dazu einen Käse. Der Unteroffizier hat ihm gesagt, das sei für seine Aussichten im Regiment ganz besonders wichtig, dass er einen Käse mit hinausbrächte, einfachen Gloucester — im Gewicht von etwa zwölf bis fünfzehn Pfund. Acht oder neun Mark reichten hin. Er bittet nach dem zwischen uns Vorgefallenen nicht um Geld; aber wenn er morgen früh um neun vorspräche, dürfte er dann hoffen, den Käse vorzufinden? Und kann er irgend etwas tun, um mir in Bengalen seine Dankbarkeit zu beweisen?
Einmal schrieb er mir einen ganz eigenartigen Brief, in dem er mir eine Naturalunterstützung vorschlug. Er war in eine kleine Verlegenheit geraten, indem er bei allerhand Leuten Klumpen Dreck in Packpapier zurückgelassen hatte, unter der Vorgabe, er wäre Kofferträger bei der Bahn, und in dieser Eigenschaft Fuhrgeld erhoben hatte. Dieses Spiel seiner Einbildungskraft sühnte er jetzt im Arbeitshause. Nicht lange nach seiner Freilassung und an einem Sonntagmorgen kam er mit einem Briefe zu mir (nachdem er sich vorher von Kopf bis Fuß mit Staub eingeschmiert hatte), in dem er mir zu verstehen gab, er habe sich entschlossen, nunmehr seinen Lebensunterhalt ehrlich zu verdienen, und sei also mit einem Wagen voller Töpferwaren durchs Land gereist. Das sei auch ganz gut gegangen bis gestern, wo ihm in der Nähe von Chatham, Kent, sein Pferd tot zusammengebrochen sei. Dies hätte ihn in die unangenehme Notwendigkeit versetzt, sich selbst vorzuspannen und seinen Geschirrwagen nach London zu ziehen — eine etwas erschöpfende Schlepperei von fünfundvierzig Kilometern. Um Geld zu bitten wage er nicht wieder; aber wenn ich die Güte haben würde, ihm einen Esel zur Verfügung zu stellen, dann wolle er das Tier vorm Frühstück abholen!
Bei einer andern Gelegenheit stellte sich mein Freund (ich beschreibe tatsächliche Vorkommnisse) als Schriftsteller in höchst bedrängter Lage vor. Eins seiner Stücke war an einem gewissen Theater angenommen worden — an dem tatsächlich gespielt wurde; seine Aufführung aber war durch die Erkrankung des Hauptdarstellers hinausgeschoben worden — der tatsächlich krank war —; und er und die Seinen befanden sich in einem Zustand völliger Erschöpfung. Falls er seine schlimme Lage dem Theaterleiter bekannt gäbe, die Behandlung, die ihm dann zuteil werden würde, überließ er mir selbst auszumalen. Also gut; über diese Schwierigkeit kamen wir zu unserer beiderseitigen Befriedigung hinweg. Kurze Zeit nachher befand er sich wieder in der Klemme. Ich glaube, Mrs. Southcote, seine Frau, war in höchster Verlegenheit — auch diesen Punkt brachten wir in Ordnung. Kurz darauf hatte er ein neues Haus bezogen und war auf dem gradesten Wege in den Abgrund, weil ihm eine Regentonne fehlte. Ich hatte meine Bedenken wegen dieser Regentonne und beantwortete das Schreiben nicht. Aber schon bald darauf bekam ich allen Grund, diese Nachlässigkeit zu bereuen. Er schrieb mir ein paar kurze, herzzerreißende Zeilen, die mich benachrichtigten, die liebe Teilhaberin seiner Sorgen sei gestern abend neun Uhr in seinen Armen gestorben.