Dickschädels Reisen - Florian Sedmak - E-Book

Dickschädels Reisen E-Book

Florian Sedmak

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Beschreibung

Kegeln, zechen und schmausen mit einem großen Musiker Der 200. Geburtstag von Anton Bruckner liefert 2024 einen hochwillkommenen Anlass für einen informellen Streifzug durch weite Teile seines Heimatbundeslandes. Trotz der damaligen Beschwerlichkeit des Reisens besuchte oder bewohnte der so wunderliche wie willensstarke Landlergeiger, Lehrer, Sinfoniker, Tourist und Organist insgesamt an die drei Dutzend oberösterreichische Orte: um alte Kollegen und Verwandte zu treffen und Orgeln so zu traktieren, dass sie anschließend repariert werden müssen. Um zu kegeln, zu zechen und zu schmausen. Um auf Sommerfrische zu gehen und All-inclusive-Urlaub im Kloster zu machen. Um seine Faszination für das Morbide auszuleben. Um Musikunterricht zu nehmen und zu geben, von einer schweren psychischen Krise zu genesen, zwanghaft Dinge zu zählen und die persönliche Bestzeit im Tauchen zu verbessern. Viele Jahrzehnte später hält Dickschädels Reisen an Ort und Stelle Nachschau und knüpft bei verschiedensten Begegnungen an Bruckner und seine Zeit an. Die Bruckner-Orte: Ansfelden, Attersee, Bad Goisern, Bad Ischl, Bad Kreuzen, Eferding, Enns, Gmunden, Grein, Hörsching, Kirchdorf an der Krems, Klaus an der Phyrnbahn, Kremsmünster, Kronstorf, Leonding, Linz, Luftenberg an der Donau, Micheldorf, Neufelden im Mühlkreis, Ottensheim, Perg, Ried im Innkreis, Schlierbach, Schwanenstadt, Sierning, St. Florian, St. Marienkirchen an der Polsenz, Steyr, Steyregg, Ternberg, Vöcklabruck, Wels, Wilhering, Windhaag bei Freistadt, Wolfern - Zum 200. Geburtstag Anton Bruckners 2024 - Eine ungewöhnliche Reise an 35 oberösterreichische Orte - Ein unterhaltsamer Brückenschlag in die Gegenwart - Lebensstationen und Wirkstätten Bruckners - inklusive QR-Codes mit Musikproben

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Florian Sedmak

DICK SCHÄDELS REISEN

Durch Oberösterreich mitAnton Bruckner

Inhalt

Bitte beachten zu wollen

Aussi, eina. Eine Bruckner’sche Standortvermessung

Der Bruckner, das Land und die Zeit: Eine Art Einleitung

Im Zeichen der Jungfrau

Mahlzeit

Prinz Schnudi und das Ende mit Schrecken

Singet den Herren ein neues Lied

Wie arm

Prost mit Most

Gefesselt

Im Krebsgang

Die Qual der Zahl

Klassenbester

Nur geträumt

Mahlzeit!

Der Nachfolger

Maestro Schulmeister

Der Locus

Akte X

Untertauchen

Landler und ihre Tanz

Affenzirkus

Ahoi

G’schamster Diener

Weinwurm und der Nationalgardist

Alle Neune: in Stein gemeißelt

Freispruch

Salon Mayfeld

Zum guten Ton

Am Salzamt

Aus dem Gästebuch

Der Gipfel

Seensucht

Auf Zug

Hossa! Hossa! Fiesta Mexicana!

Große Schwärze

Ein Bier für Professor Bruckner

Männermusik, ein Korb und eine Reisekappe

Frei nach dem Motto

Hin und weg

Das letzte Abendmahl von Apostel Anton

Gefangen

Balsam

Ferner noch

Bruckner auf einen Blick

Vielen Dank noch einmal

Zum Nachschlagen

Escortservice

Bildnachweis

Impressum

Bitte beachten zu wollen

Obwohl sich dieses Buch in so gut wie allem, was Anton Bruckner betrifft, auf die gesicherten Ergebnisse von jahrzehntelanger und mit uhrmachermeisterlicher Akribie betriebener methodischer Lebens- und Werkerforschung stützt, ersetzt es keine seriöse Brucknerbiografie. Sondern ist nicht mehr – aber auch nicht weniger – als ein zwangloser Streifzug durch die gut drei Dutzend Orte, die Anton Bruckner in Oberösterreich seinerzeit bewohnt beziehungsweise besucht hat. Mag es auch dem einen und anderen populären Bruckner-Irrtum aufgesessen und nicht vollkommen fe|lerlos sein, ist es doch eine Einladung, sich zwischen Ansfelden und Wolfern nach eigenem Dafürhalten an die Spuren eines Menschen zu heften, den man nicht zwingend mögen muss, aber nur schwerlich uninteressant finden kann. In diesem Sinne …

Ordnung muss nicht sein, hilft aber mitunter

Es wäre möglich gewesen, die oberösterreichischen Orte im Leben von Bruckner scheinobjektiv alphabetisch zu ordnen. Unter Verzicht auf diese Option sind sie stattdessen chronologisch der ungefähren zeitlichen Reihenfolge von Bruckners Aufenthalten nach sortiert. Da er zweimal länger in Linz und – seinen bis heute andauernden Aufenthalt als Mumie eingerechnet – dreimal in Sankt Florian gewesen ist, sind diesen beiden Orten dementsprechend viele Kapitel gewidmet.

Aussi, eina.Eine Bruckner’scheStandortvermessung

Norbert Trawöger

In Oberösterreich finden viele Richtungs- und Ordnungsadverbien dialektale Anwendung, die bis heute schwer in eine hochdeutsche Gemeinsprache zu übersetzen sind. Hierzulande kennt man viele Richtungen: aussi, eina, eini, uma, aufi, owi, drent und viele mehr. Der Dialekt findet präzisen Ausdruck für die vielen Richtungsmöglichkeiten, die im oberösterreichischen Raum und darüber hinaus nicht nur möglich, sondern auch selbstverständlich sind. Sogar Bruckners Orgel hat sich donauabwärts, auf Schiffen owi, durchs Land bewegt. Ursprünglich stand sie im Stift Engelszell, bevor sie am Ende des 18. Jahrhunderts in die neu etablierte Bischofskirche, den Alten Dom Linz, transferiert wurde. Dort hat sie noch mehr als ein halbes Jahrhundert auf ihren Genius Loci gewartet. Bruckners Orgel hat schon viel gesehen, bevor sie bis heute von sich und ihrem Meister hören ließ. Die Vielfalt der Richtungen schlägt sich in der Sprache und ihrem Klang nieder. Sprache bildet Wirklichkeit ab, gestern wie heute, und Oberösterreich zählt zu den vielfältig klingendsten Landstrichen Europas.

Hier ereignete sich am frühen Morgen des 4. September 1824 die Geburt eines Klanggiganten. Anton Bruckner erblickt als erstes von elf Kindern – von denen nur fünf das Erwachsenenalter erreichen – im Ansfeldner Schulhaus das Licht der Welt. Er kommt vom Land, das er und das ihn nie verließ, selbst als er seine letzten Lebensjahrzehnte kaiserlich und universitär angestellt in der Donaumetropole Wien verbracht hat. Er war auch ein Sozialaufsteiger, der dem Prozess, dem Werden traute und den Zweifel nicht außer Acht gelassen hat. Wenige Komponisten von Weltrang kommen aus ländlichem Umfeld.

Hier ereignete sich Bruckner zwischen Kyrierufen und Landlerschritten, Tanzboden und Kirchtürmen, Hügeln und Wäldern. Wir können es in seiner Musik hören. Bruckner gehört zu uns, gehört uns aber nicht. Er öffnet uns eine Tür zur Welt. Aussi. Holt sie uns herein. Eina. Seine Musik gehört der ganzen Welt, wird in der ganzen Welt gespielt und gehört. Seine Musik schafft Raum, Weltraum!

Begünstigt der oberösterreichische Luftraum den Möglichkeitssinn in besonderem Maße? Kepler, Stifter und Bruckner könnten dies annehmen lassen. Ich glaube aber nicht. Die hierzulande nicht übertriebene, aber doch vorhandene Lust an der Avantgarde liegt eher an einer Neigung zum Randständigen als einer ausgeprägten Passion fürs Neue, Andere oder Fremde. Das Widerständige, die Sturköpfigkeit hat hierzulande eine gewisse Tradition und die damit verbundene Beharrlich-, Standhaftig- und Widerspenstigkeit führen am Rande gelegentlich ins Neuland. Naturgemäß viel öfter ins Alte. Die Exzellenz bewundern wir bevorzugt aus der Ferne, von zu Hause aus. In der dritten Strophe des „Hoamatgsangs“, der oberösterreichischen Landeshymne, heißt es treffend: „Dahoam is dahoam, wannst net fort muaßt, so bleib. Denn die Hoamat is ehnter, der zweit Muaderleib.“ Wer nicht unbedingt fort muss, soll daheimbleiben, im zweiten Mutterleib. Bruckner musste bei aller Verwurzelung fort, von einem Ort zum andern, auch außerhalb des Landes ob der Enns. Leidenschaft, Mut und unerhörte Anstrengung führten ihn jenseits der Grenzen.

Ohne Werk und Schöpfer verwechseln zu wollen, ist der Raum das zentrale Bruckner’sche Stichwort. Er kommt vom ländlichen Raum, seine durchaus widersprüchliche Persönlichkeit eröffnete viel Platz, in die viele zweifelhafte Geschichten und Anekdoten hineingekippt wurden, und in seinem Werk schlägt er eine räumliche Perspektive auf, die so neu ist, dass sie zu seiner Zeit auch unverstanden bleiben musste. Bruckner errichtet aus den Materialien der Sinfonie eine eigene Welt, er schafft einen sinfonischen Kosmos, der keine Erzählung, die uns ohne Worte von der Dunkelheit ins Licht führt, ist. In seiner Musik ist kein erzählendes Ich spürbar, die Ego-Position des Komponisten fehlt. Dieser Raum kann Fläche, Kubus, Kosmos, Hochnebel, Platz, Areal, Halle oder Höhle sein. Man hat das Gefühl, als würde einen diese Atmosphäre längst umgeben, nur bemerkt man dies erst, wenn jemand das Licht aufdreht. Erst dann spitzt man die Ohren, wird hellhörig. Und während des Bemerkens stolpert im nächsten Moment ein Thema herein, oft auf einem unbetonten Taktteil oder auch ganz selbstsicher und markant, wenn wir an die Trompete in der Dritten oder an das Horn in der Vierten Sinfonie denken. Der Anfang liegt vor dem Anfang. Das Thema ist zuallererst der Raum selbst.

Das Land und die Zeit

Blick von der Traun bei Gmunden auf den Traunsee, gemalt von einem unbekannten Künstler, um 1860.

Der Bruckner,das Land und die Zeit

Eine Art Einleitung

Halbe Sachen waren seine Sache nicht: Was immer Anton Bruckner tat, das tat er gründlich, um nicht zu sagen exzessiv und radikal. Er lernte, studierte und übte fanatisch, saß Stunde um Stunde an seinen Kompositionen, verlor beim Improvisieren an der Orgel jedes Zeitgefühl, trank Kaffee wie andere das Wasser, verschlang gigantische Portionen, schnupfte Tabak am laufenden Band, ließ sich des Abends mit bis zu dreizehn kleinen Bieren volllaufen, betete im Akkord, machte jungen und sehr jungen Frauen fast wahllos Heiratsanträge und zählte, was sich nur zählen ließ.

Auch als Reisender tat sich Bruckner durch Ausdauer und Eifer hervor. Allein in Oberösterreich weiß man von gut drei Dutzend Orten, an denen sich der „oberösterreichische Dickschädel“, als welcher er sich selbst verstand, aufgehalten hat. In manchen auf Jahre, in anderen wiederum nur für eine Stippvisite oder einen Kegelabend im Dorfwirtshaus.

Den Exkursionen im Obderennsischen stehen etliche Reisen nach Deutschland, Frankreich, England und die Schweiz gegenüber, die Bruckner als wie ein Rockstar von Tausenden und Zehntausenden gefeierter Orgelvirtuose, als Tonsetzer, als treu ergebener Fan von Richard Wagner, als dem Reiz des Hochgebirges Erlegener und nicht zuletzt auch als ganz gewöhnlicher Tourist unternahm.

Er selbst lebte die längste Zeit seines zweiundsiebzigjährigen Lebens in der Weltstadt Wien, in der er achtundzwanzig Jahre lang seinen physischen Lebensmittelpunkt hatte. Ohne dort wirklich vollständig heimisch geworden zu sein, wie es scheint, wenngleich sich seine in Wien gesetzten Karrierehoffnungen nach einigen Niederlagen und Rückschlägen zum Schluss doch noch erfüllten.

K. k. Hoforganistenamt und Konservatoriumsprofessur für Harmonielehre, Kontrapunkt und Orgelspiel hin, Ehrendoktorat der Universität Wien her, haben sich Oberösterreich und Bruckner wohl nie wirklich losgelassen. Bereits in Linz hatte er als Pädagoge mit Lehrbefugnis für höhere Schulen, als privater Musik- und Klavierlehrer von Sprösslingen begüterter Bürgerfamilien sowie als Domorganist zur gesellschaftlichen Elite seiner Zeit gehört, und auch in Wien war er dank seiner Ämter, Kenntnisse und Fähigkeiten nominell zu den oberen Zehntausend der Stadt zu zählen.

Dass er trotz seines lebenslangen Strebens nach Anerkennung nicht dazu bereit war, sich in seinem Habitus den verfeinerten Umgangsformen von Adeligen, Industriellen, Unternehmern, Großhandelskaufleuten und Intellektuellen anzupassen, gehört zu den faszinierenden Widersprüchen, die den Menschen und nicht allein den Komponisten Bruckner bis heute so rätselhaft und spannend machen. Und dass seine hoch über den Knöcheln endenden Hosen, die so weit waren wie der Rest seiner Kleidung, als auch seine Gewohnheit, einen Braten in einige wenige große Stücke zu schneiden und diese mit den Fingern zu essen, wahlweise Amüsement oder Befremden auslösten, muss Bruckner klar, aber egal gewesen sein. Auch seinen Traunviertler Zungenschlag legte der Hoforganist, Hochschullehrer und Orgelstar in Wien der Überlieferung nach nie ab.

Möglicherweise, weil er ahnte, dass er sich infolge seiner Prägungen ohnehin nie hundertprozentig angleichen können würde, und möglicherweise aber auch, weil er – vielleicht gerade deshalb – eine Art Punk-Attitüde pflegte wie sie hundert Jahre nach ihm beispielsweise Hans-Peter Falkner und Markus Binder im radikal oberösterreichischen Ziehharmonika-Schlagzeug-Duo Attwenger an den Tag legten und legen. (Durchaus interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die beiden wie Bruckner ebenfalls eher spät aus Linz nach Wien umgezogen sind.)

Der Unbekümmertheit des Punks steht Bruckners notorisches Erpichtsein auf Zeugnisse, Ehrungen und Leistungs- beziehungsweise Kompetenzhinweise – kurz: eine Fixierung auf Autoritäten – gegenüber. Selbst wertschätzend und vorsichtig artikulierte Kritik von Dirigenten etwa traf Bruckner tief und veranlasste ihn, ganze Sinfoniesätze zu überarbeiten oder gar neu zu komponieren. Andererseits brach er mit den bis dahin gültigen musikalischen Konventionen so gründlich, dass er das Gros seiner Zeitgenossen damit überforderte und verstörte. Zu diesem Widerspruch gesellen sich noch manche andere, und es ist weder möglich noch notwendig, sie aufzulösen. Die Bruckner-Ambivalenz liegt wohl im Kontrast zwischen dem provinziell auftretenden, gründlich neurotisch gestörten und suchtkranken Menschen Bruckner und seinem Œuvre, zu dem seine legendären, aber unwiederbringlich verklungenen Orgelimprovisationen zählen.

Alle zusammen gehören, nicht ausschließlich, zu Oberösterreich, wohin Bruckner auch als Wahlwiener vor allem in den Sommern regelmäßig zurückkehrte. Um Verwandte, alte Freunde und Kollegen zu treffen, um als Composer-in-Residence in Stiften (Sankt Florian, Kremsmünster, Wilhering) und Pfarrhöfen (Steyr) zu arbeiten, um Orgel zu spielen (von Schlierbach bis Bad Ischl) und um Wirtshäuser, Ausflugsziele und Liedertafeln zu besuchen.

Bemühen wir unsere Vorstellungskraft, um den Reisenden Anton Bruckner in und durch Oberösterreich zu begleiten, begegnen wir einer vielseitigen Persönlichkeit in verschiedenen Rollen und Funktionen. So unter anderem dem Schüler und Langzeitmusikstudenten, dem Schul- und Musiklehrer, dem Landlergeiger und Tänzer, dem ausgezeichneten Schwimmer und Eisstockschützen, dem Kirchenorganisten und zügellosen Improvisator, dem in den schönen Worten eines Bruckner-Spezialisten nur „eingeschränkt gesellschaftstauglichen Geselligen“, dem Stammtisch-, Gastgarten- und Kaffeehaussitzer, dem Orgelprüfer und Sommerfrischler und nicht zuletzt dem Kind, das zu Verwandten gegeben und früh zum Halbwaisen wird.

Keine leichte Übung, als wir uns außerdem noch so viel weg- und dazu denken müssen: ein Oberösterreich ohne asphaltierte Straßen und Plätze, ohne Einkaufszentren und Gewerbemischgebiete, ohne schnelle Verkehrsverbindungen, ohne Zersiedelung und ohne uniforme Fertighaussiedlungen, ohne Tiefkühlkost und Lebensmittel aus aller Welt, ohne Unfall-, Kranken-, Sozial- und Pensionsversicherung, ohne Klimaanlagen und ohne 24/7-Zugang zu Musik.

Stattdessen sind wir gefordert, uns eine Welt vorzustellen, in der sie – die Musik – nur als Live-Ereignis vorkommt: als Haus-, Tanz- und Kirchenmusik, wobei die Orgel und die lokale Blechmusik für die meisten Zeitgenossen das imposanteste Klangerlebnis waren und blieben. Wer ein Orchester von heutigen Dimensionen hören wollte, musste dafür in eine Stadt wie Wien reisen. In einem heute nur mehr schwer vorstellbaren Zeitlupentempo: in Schrittgeschwindigkeit, mit zehn Stundenkilometern in der Kutsche beziehungsweise mit vierzig in der Eisenbahn. Vergegenwärtigen wir uns das, erscheinen die Ausflüge, Wanderungen und Reisen von Bruckner umso bemerkenswerter.

In der Welt, die für ihn selbstverständlich war, wurde überwiegend körperlich hart und in der Landwirtschaft gearbeitet, gleichzeitig gab es im Alltag im Gegensatz zu heute so etwas wie Muße. Demokratie und Gleichberechtigung waren noch fern, die Zugänge zu höherer Bildung so eingeschränkt wie die Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg. Die Kindersterblichkeit war auch in Bruckners Herkunftsfamilie enorm, die Hygiene mangelhaft, die Gewaltbereitschaft im Alltag höher und Abtreibung das gängige Mittel der Geburtenkontrolle.

So gesehen ist es dann bei allen Vorzügen der Vergangenheit nicht so schlecht, dass wir nur sehr bedingt in sie zurückkehren können – was wir auf den folgenden Seiten dennoch tun wollen, ohne die Gegenwart dabei aus den Augen zu verlieren.

4052 & 4053

Ansfelden

Ansfödn

48° 12’ N, 14° 17’ O

Im Zeichen der Jungfrau

Oben steht die Pfarrkirche, auf halber Höhe der Pfarrhof. Und unten das Schulhaus, in dem Anton Bruckner am 4. September 1824 im Tierkreiszeichen Jungfrau geboren wird. Eines der im Vergleich zum Löwen oder Skorpion nur wenig attraktiven Sternzeichen, das über die Zuschreibung von Pedanterie hinaus auch noch recht zuverlässig zu anzüglichen Bemerkungen über sexuellen Erfahrungsmangel animiert, der auf Bruckner perfiderweise aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich zutrifft: Der Forschung sind keine Sexpartnerinnen oder Sexpartner von Anton Bruckner bekannt.

In Ansfelden ist die Welt noch kein Dorf; eher ist das Dorf die Welt, an deren Rand Nachbarorte wie Sankt Florian und Ebelsberg sowie Steyr und Linz als richtige Städte mit zwanzigtausend (Linz) beziehungsweise knapp zehntausend Bewohnern (Steyr) liegen. Nach Ebelsberg sind es zu Fuß eineinhalb Stunden, nach Linz und Sankt Florian jeweils zweieinhalb Stunden. Die fünf Stunden Gehzeit nach Steyr bedeuten schon eine halbe Tagesreise, die dennoch ein Spaziergang im Vergleich zum vier Tage und siebzehn Fußreisestunden beziehungsweise fünfhundertzweiundzwanzig Kilometer entfernten Wettswil am Albis im Kanton Zürich sind. Am Fuße des Uetliberges hat dort unter anderem die Astrodata AG ihren Firmensitz, an dem sie laufend die verschiedensten Horoskope erstellt: Persönlichkeits- und Karmadeutungen, Partnerschaftsanalysen und Zukunftsaussichten.

Um in Erfahrung zu bringen, was dem neugeborenen Bruckner in den Sternen gestanden ist, muss man natürlich nicht persönlich vorstellig werden, sondern lediglich das Geburtsdatum und den Geburtsort übermitteln. Was so wie die Beauftragung und Entlohnung des astrologischen Dienstes nun, da die Welt ein Dorf ist, eine Sache von einigen Klicks ist.

Nach kurzem Sondieren der Angebotspalette fällt die Wahl, doppelt hält besser, auf eine Große Persönlichkeitsanalyse sowie eine Analyse der karmischen Bestimmung von Anton Bruckner; ein Zukunftshoroskop ist ja von vornherein keine Option mehr. Wie der vorbildliche Astrodata-Kundendienst mitteilt, ist das Verstorbensein Bruckners allerdings der bedauerliche Grund für die Unmöglichkeit einer Durchleuchtung seiner karmischen Bestimmung, die nur für Lebende möglich ist. Aus dem einleuchtenden Grund, dass sich das Karma des künstlerisch unsterblichen Komponisten durch den Vollzug seines irdischen Daseins und eine etwaige Wiedergeburt ja unweigerlich gewandelt haben muss. So bleibt die Frage nach Bruckners Karma ebenso offen wie die nach seiner allfälligen Reinkarnation.

Im Gegensatz zu jener nach seiner Persönlichkeit, für deren Beantwortung zunächst noch ein unabdingbares Detail fehlt: der auf fünf Minuten genaue Geburtszeitpunkt. Die auf die Schnelle greifbare Bruckner-Literatur muss passen, doch in Wettswil weiß man sich zu helfen. Und zwar mit einer Datenbank voll der Geburtskoordinaten berühmter Persönlichkeiten, laut der Theresia Bruckner bei ihrer ersten Schulhausgeburt in Ansfelden um vier Uhr fünfzehn Ortszeit niedergekommen ist.

Schon wenige Tage später trifft per Elektropost ein dreiunddreißig Seiten starkes Dokument ein, in dem zu lesen sich so indiskret anfühlt wie das Inauftraggeben des Horoskops selber auch.

An Anton Bruckner selbst adressiert – „Diese Analyse will Sie dazu ermuntern, […] die vielfältigen Möglichkeiten, die in Ihrer Geburtskonstellation enthalten sind, zu vertiefen“ – erweist es sich auch bei nüchterner Lektüre erhellend und interessant: von früher Unterdrückung des eigenen Willens durch Autoritätspersonen ist da die Rede, von viel verheimlichter Wut und auch von großen Schwierigkeiten, offen mit Gefühlen umzugehen. Es attestiert Bruckner Ausdauer, Hartnäckigkeit, Improvisationstalent und Perfektionismus wie auch die Gabe, auf einfachen Ideen aufzubauen und Sachverhalte verständlich zu vermitteln. Dazu kommen „ausgeprägte körperliche Kräfte, Beharrlichkeit, Mut und eine große Regenerationsfähigkeit.“

Dem gegenüber stehen eine Art grundsätzliche Tollpatschigkeit, die sich in Form schablonenhaften Verhaltens auch auf das soziale Leben erstreckt, die bereits erwähnten Aggressionen und die Neigung, sich Überforderungen durch Krankheit zu entziehen. Fast prophetisch wird es, wenn es heißt: „Auch wenn Ihnen Gefühle verdächtig sind, so werden Sie viel Sinn haben für konkrete, greifbare Genüsse. Seien Sie dabei auf der Hut, dass Sie keinen Raubbau an Ihren Kräften treiben.“

In Beziehungen dominiert die Angst vor Zurückweisung, in erotischen Fantasien eine Polarität von Macht und Ohnmacht sowie Beherrschung und totaler Hingabe. Dazu kommt ein grundlegendes Dilemma: „Vielleicht haben Sie sich auch ein System zurechtgelegt, nach welchem seriöse Frauen sexuell zurückhaltend und vielleicht gar etwas asexuell sind, während sexuell aktive Frauen mit individuellen Bedürfnissen zu gefährlich sind, um geheiratet zu werden.“

Eine Möglichkeit angesichts dessen wäre „eine Beziehung zu einer wesentlich jüngeren Frau, die ihre romantischen und überschwänglichen Gefühle unkontrolliert zum Ausdruck bringt, die Ihnen aber nicht gefährlich wird, weil Sie ihr einen sicheren Rahmen bieten und aufgrund Ihrer reicheren Lebenserfahrung die Kontrolle wahren können.“

Vor dem Knüpfen mehr oder weniger zarter Bande kommt es jedoch auf etwas Anderes an: „Es wird wichtig für Sie sein, sich in dem Sie interessierenden Bereich ein gründliches und fundiertes Wissen anzueignen, damit Sie über die für Sie wichtige innere Sicherheit verfügen, die es Ihnen ermöglicht, Ihre Fähigkeiten auch kreativ zu nutzen und zu einer echten Autorität zu werden.“

„Freundschaft und Liebe erflehe ich von allen meinen innigstgeliebten Oberösterreichern!“

Bruckner an die Liedertafel „Frohsinn“

4493

Wolfern

Woifan

48° 5’ N, 14° 22’ O

Mahlzeit

Steht der flotte kleine weiße Citroën mit dem Wunschkennzeichen „Jax 1“ auf dem Parkplatz vor dem Pfarrheim mit dem Pfarrgemeindeamt von Wolfern, weiß man als Ortskundiger, dass Altpfarrer Rudi Jachs zugegen ist. Der Eingeweihten sofort auffällige orthografische Unterschied zwischen dem Wortlaut und dem Widmungsträger ist den Vorschriften geschuldet. Die besagen nämlich, dass Wunschkennzeichenbuchstabenkombinationen aus maximal vier Lettern zusammengesetzt sein dürfen. Wofür „Jachs“ um einen Buchstaben zu lange ist, weshalb „Jax“ zur immerhin phonetisch korrekten Alternative geworden ist.

Stellen Geistliche unter Österreichs Automobilisten schon per se eine Minderheit dar, so sind kirchliche Amts- und Würdenträger mit Wunschkennzeichen noch seltener. Wie Pfarrer Jachs glaubhaft versichert, hat er selbst nicht einmal im Traum den Wunsch an ein personalisiertes Autokennzeichen gehegt.

Die Initiative ist stattdessen von den Mitgliedern jener informellen Wandergruppe ausgegangen, mit denen der rüstige Mittachtziger seit Jahren einmal die Woche unterwegs ist. Bis heute schätzt sich der Altpfarrer von Wolfern und Maria Laah glücklich, noch rechtzeitig Wind vom ursprünglich geplanten Wortlaut des Wandergruppengeburtstagsgeschenks bekommen zu haben: Wäre es nach den Gebern gegangen, wäre „Pfaff 1“ auf der Nummerntafel gestanden. Auch wenn das, wie Jachs erklärt, noch zu Bruckners Lebzeiten eine gängige Bezeichnung für Geistliche gewesen sei, wäre ihm der Begriff mit seinen heutigen Konnotationen zu despektierlich gewesen.

Im frühen neunzehnten Jahrhundert hingegen ist „Pfaff“ noch gar nicht abwertend gemeint. Auch nicht in Wolfern, das damals und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs noch Losensteinleiten heißt (was man in Wolfern aufgrund innerkommunaler Ortsteilrivalitäten gar nicht mehr so genau wissen möchte). Der alte Ortsname passt jedenfalls ausgezeichnet zum steilen Abhang – der Leiten –, die hinter der gotischen Kirche des Ortes ansetzt. Sie führt zu einer Senke hinunter, auf deren anderer Seite der alte Pfarrhof von Wolfern steht – untypischerweise also nicht wie fast überall anders direkt neben der Kirche, sondern eine Gehviertelstunde vom zentralen Arbeitsplatz des Pfarrers entfernt. Dieser ist damals über seine spirituelle und kulturelle Funktion hinaus zwangsläufig auch Landwirt, da sich der Pfarrhof der Dreihundertvierzehn-Einwohner-Gemeinde (Stand 1869) in einer Epoche der Kirchensteuerfreiheit weitgehend selbst erhalten muss.

Viehhaltung, Landbau und das Führen eines Großhaushaltes wie der Pfarrhof einen darstellt, sind damals eine arbeitsintensive Angelegenheit. Dafür braucht es Personal. Wie Rosalia Mayrhofer, die als Pfarrersköchin am Herd steht und als Wirtschafterin dafür verantwortlich ist, dass in dem auf weiter Flur alleinstehenden Haus mit seinen Nebengebäuden alles in Ordnung ist. Und wie ihre Nichte Theresia Helm, die entweder bereits nach dem Tod ihrer Mutter 1811 oder auch erst um 1817 nach dem Tod ihres inzwischen wiederverehelichten Vaters aus Sierning als Magd auf den Wolferner Pfarrhof kommt. Und dort mit einer längeren Unterbrechung, während der sie einem verwitweten Onkel den Haushalt führt, bis 1822 bleibt – jenem Jahr, in dem sie in Losensteinleiten respektive Wolfern den um zehn Jahre älteren Anton Bruckner senior kennenlernt und mit ihm nach Ansfelden zieht.

Womit das Kapitel „Wolfern“ für sie keineswegs abgeschlossen ist, da die gewesene Magd und Kirchenchorsolistin noch mehrfach an ihre frühere Wirkungsstätte zurückkehrt. Und dabei auch ihren Erstgeborenen Anton junior mitnimmt, der im Pfarrhof bei Großtante Rosalia der Überlieferung nach „glücklichste Zeiten“ verlebt.

Pfarrer Jachs kennt die Geschichten. Dennoch sieht er sich nicht leid, den alten Pfarrhof mit seinen dreißig Joch Grund und dem Wasser aus einer nahen Quelle nicht mehr als Bewohner kennengelernt zu haben. Denn in den 1960er-Jahren wird das Anwesen in Verbindung mit einem Grundstückstausch verkauft. Mit dem Erlös wird auf der eingetauschten Parzelle im Zentrum unweit der Kirche das neue Pfarrheim gebaut.

1975 zieht Rudi Jachs dort in die Dienstwohnung ein, nachdem er gleichsam auf Bruckners Spuren gewandelt ist: nur ein paar Kilometer von Windhaag in Leopoldschlag geboren, in Linz studiert habend und dann nach Enns sowie nochmals nach Linz berufen.

Über seinen neuen Dienstort Wolfern informiert er sich gründlich. Unter anderem aus dem Realschematismus, dem Verzeichnis aller kirchlichen Güter. Die Beschreibung des auf weiter Flur ungeschützt dastehenden alten Pfarrhofes lautet kurz und bündig: „Feucht und windig.“

Im neuen Pfarrhof, in dem Pfarrer Jachs bis 2020 arbeitet und lebt, ist es hingegen warm, trocken und behaglich. Auch an einer Pfarrersköchin und Haushälterin fehlt es dem passionierten Gottesmann nicht: Dank des Geschwisterpaares Theresia Brandstetter und Erna Reichl weiß Jachs sich, das Haus und den Garten gleich doppelt umsorgt.

Noch heute, da er als immer noch rege messfeiernder Unruheständler eine Dreizimmereinheit im Nachbarhaus bewohnt, kümmert sich Frau Reichl um seine Hauswirtschaft und die Küche. Denn im Pfarrhaus sind personell und damit auch kulinarisch andere Zeiten angebrochen: Jachs’ Nachfolger Doktor Innocent Nwafor bekocht sich nach nigerianischer Fasson selbst. Nichts für seinen Vorgänger: Der bleibt lieber bei ganz gewöhnlicher österreichischer Hausmannskost.

„Wo finde ich einen Mann auf dieser Erde, der, seitdem es dem Allerhöchsten gefallen hat, mir meine volle Nervengesundheit zu entreißen (wahrscheinlich um mich zu demütigen), ein größeres Mitgefühl an den Tag gelegt hätte, als Euer Gnaden.“

Aus einem Brief an Domvikar Johann Baptist Schiedermayr

4063

Hörsching

Hööasching bzw. Hörrschink

48° 14’ N, 14° 11’ O

Prinz Schnudi und das Ende mit Schrecken

Die Polizeiinspektion Hörsching hat ihren Sitz in der Neubauer Straße sechsundzwanzig im alten Kern des Ortes Hörsching, der heute von Wohn- und Schlafsiedlungen, dem Flughafenareal und Gewerbegebieten zugewuchert ist. Für die sechshundert Meter kurze Strecke zur Kirche und zum Pfarramt sind regulär zwei Autominuten Fahrdauer zu veranschlagen; bei einsatzmäßiger Fahrt mit Folgetonhorn und Blaulicht ist der Weg bestimmt in der halben Zeit oder schneller zurückgelegt.