Didaktik und Situationen (E-Book) - Gianni Ghisla - E-Book

Didaktik und Situationen (E-Book) E-Book

Gianni Ghisla

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Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. 50 Jahre Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB: Eine lange Zeit, in der die Didaktik der Berufsbildung in der Schweiz gereift ist – und Anlass für einen Jubiläumsband. Erstmals werden die aus den Erfahrungen hervorgegangenen Ansätze und Modelle versammelt, in theoretischer Hinsicht begründet und aus der Perspektive verschiedener Lernkontexte diskutiert. Dabei werden die pädagogisch-didaktischen Traditionen aller Landesteile und Sprachregionen der Schweiz gewürdigt.

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Gianni Ghisla / Elena Boldrini / Christophe Gremion / Fabio Merlini / Emanuel Wüthrich (Hrsg.)

Didaktik und Situationen

Ansätze und Erfahrungen für die Berufsbildung

 

ISBN Print: 978-3-0355-2017-0

ISBN E-Book: 978-3-0355-2018-7

 

Übersetzungen: Eva Bartilucci, Gianni Ghisla, Andreas Münzner

Lektorat: Ursula Scharnhorst, Gianni Ghisla

 

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 hep Verlag AG, Bern

 

hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einführung

Zum Selbstverständnis der Berufsbildungsdidaktik

Didaktische Modelle und theoretische Grundlagen

Situationsdidaktik – Anwendungsgrundsätze eines vielseitigen Ansatzes

Situationsdidaktik – eine historisch-begriffliche Kontextualisierung

Zur Grammatik des unterrichtlichen Handelns – theoretische Grundlagen der Situationsdidaktik

Analyse der Arbeitstätigkeit und duale Berufsbildung

Auf dem Weg zu einer pädagogischen Umsetzung der dualen situationsbasierten Berufsbildungsdidaktik

Die Berufsbildung im internationalen Kontext – ein holistischer Ansatz der EHB

Kern der kompetenzorientierten Situationsdidaktik – Wissen instrumental nutzen am Beispiel des ABU-Unterrichts

Situiertes Lernen: Theoretische Ursprünge und Bedeutung für die duale Berufsbildung

Erfahrraum und Situationsdidaktik. Analogien, Unterschiede und Herausforderungen

Pädagogische Begeisterung – ein Paradigma für den Wunsch nach neuen Situationen

Spezifische Fragestellungen

Situationsdidaktik in der Aus- und Weiterbildung: Evaluationsansätze und erste Ergebnisse

Integriertes Lernen zwischen Schule und Arbeit

Situationsdidaktik im Unterricht an der Berufsmaturität: Argumente und Grundsätze

Situationsdidaktik und Problemsituationen: Wie lassen sich Innovationen im Unterricht entwickeln?

Kompetenzen in der Schule beurteilen: Der Beitrag der Situationsdidaktik

Berufsdidaktik und Situations-analyse in der Ausbildung von Lehrpersonen – ein ethnografischer und entwicklungsbezogener Ansatz

Interdisziplinarität, Projektunterricht und Problemsituationen

Praxiserfahrungen

Zur Einführung in die Situationsdidaktik – Herausforderungen und Lösungsansätze

Situationsdidaktik und Praxisanalyse in der Ausbildung von Lehrkräften

Die Situationsdidaktik in den Zertifikatslehrgängen für Ausbildende

Lehrpläne für einen situationsorientierten Unterricht an Berufsfachschulen

Situationen und Referenzialisierung zur Förderung und Beurteilung sozialer Kompetenzen

Design einer Sportuhr – Situationsdidaktik zur Verknüpfung von Unterricht und Realität

Die Situation im Bereich der angewandten Künste – berufliche Norm und «évaluation formatrice»

Anhang

Literatur

Abbildungen

Tabellen

Autorinnen und Autoren

© EHB / Anaïs Rithner für «skilled» 2/18 Kompetenz

«Die Vielfalt unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Traditionen unseres Landes zeigt sich auch in der Bildung. Das Bewusstsein, dass diese Vielfalt der sorgsamen Pflege bedarf, um sich entfalten und Früchte tragen zu können, gehört seit Anbeginn zum Selbstverständnis der EHB, die vor 50 Jahren als Schweizerisches Institut für Berufspädagogik SIBP entstanden ist.»

Vorwort

Neue Horizonte für den Dialog zwischen Schule und Betrieb

Ihre beinahe 150-jährige Geschichte zeugt vom bemerkenswerten Erfolg unserer dualen Berufsbildung. Das Sprichwort «Aller guten Dinge sind drei» zeigt sich dabei in bester Manier: Die drei Lernorte Betrieb, Schule und überbetriebliche Kurse sind die Eckpfeiler unserer Berufsbildung. Das einzigartige Dreigespann in Form der Verbundpartnerschaft zwischen Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt bietet zudem seit je Gewähr für eine qualitativ hochstehende und bedürfnisgerechte Ausbildung.

Auch in Zeiten einer weltweiten Pandemie hat sich unser Berufsbildungssystem als äusserst resilient erwiesen. Aber dieser Erfolg, der auch im Ausland auf Resonanz stösst, ist nicht in Stein gemeisselt. Er bedarf der kritischen Aufmerksamkeit und der Bereitschaft, unsere Berufsbildung immer wieder neu anzupassen. Das vorliegende Buch zur Didaktik erscheint anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB – vormals Schweizerisches Institut für Berufspädagogik SIBP – und steht beispielhaft dafür.

Es vermag neue Horizonte für den so wichtigen Dialog zwischen Schule und Betrieb zu zeigen. Nur mit einer fundierten und gegenseitig akzeptierten Zusammenarbeit zwischen Schulen und Ausbildungsbetrieben kann der Erfolg der dualen Berufsbildung weiterhin gesichert werden. Das Buch vereint erstmals Beiträge und Erfahrungen aus der italienischen, der französischen und der deutschsprachigen Schweiz. Aus dem Dialog der Kulturen geht ein unersetzliches Kapital für unser Land hervor, das in Zukunft noch intensiver genutzt werden sollte. Das ist ein Wunsch, den ich gerne an alle Akteurinnen und Akteure in der Berufsbildung weitergebe.

 

 

 

Bundesrat Guy Parmelin

Vorsteher Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF

Ein Beitrag zu einem lebendigen Berufsbildungsdiskurs

Als im Jahr 1972 die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung als Schweizerisches Institut für Berufspädagogik SIBP gegründet wurde, herrschte eine Zeit des kulturellen und bildungspolitischen Umbruchs, die zu tiefgreifenden Veränderungen in der schweizerischen Schullandschaft geführt hat. 1973 scheiterte zwar ein Verfassungsartikel für eine stärker national geprägte Bildung äusserst knapp am Ständemehr, die Berufsbildung konnte sich jedoch mit ihrer nationalen Identität in den darauffolgenden Jahrzehnten auf Kurs halten. Auch als gegen Ende des Jahrhunderts politische Stimmen laut wurden, die ihre Kantonalisierung forderten.

Heute, in einer Zeit mit noch radikaleren, ja epochalen Umbrüchen, bewährt sich die duale Berufsbildung mit ihren ursprünglichen Stärken. Sie ist geprägt von den Eigenheiten unseres viersprachigen Landes und dem Engagement vieler Berufsleute. Weit davon entfernt, grundsätzlich in Frage gestellt zu werden, gilt die Berufsbildung als Garantin für eine qualitativ hochstehende Ausbildung der jungen Generationen und trägt zugleich auch zur sozialen Stabilität und zu einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes bei.

Voraussetzung dafür ist jedoch die Fähigkeit, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen, in der Aus- und Fortbildung der Berufsbildungsverantwortlichen ebenso wie in der Berufsbildungsforschung. Mit dem vorliegenden Band, der sich umfassend mit aktuellen Fragen der Didaktik beschäftigt, bestätigt die EHB ihre diesbezügliche Rolle, die sie seit nunmehr 50 Jahren wahrnimmt. Der Band zeugt von jener intellektuellen und praktischen Lebendigkeit, die für den Diskurs über die Zukunft der Berufsbildung in der Schweiz von zentraler Bedeutung ist.

 

 

 

Adrian Wüthrich

Präsident EHB-Rat

Ein starkes Modell für eine situationsorientierte Vernetzung

50 Jahre Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB stehen für die Vielfalt, wie sie für die Schweiz typisch und identitätsstiftend ist. Es ist die Vielfalt unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Traditionen, die sich auch in der Bildung zeigt. Das Bewusstsein, dass diese Vielfalt der sorgsamen Pflege bedarf, um sich entfalten und Früchte tragen zu können, gehört seit Anbeginn zum Selbstverständnis der EHB, die vor 50 Jahren als Schweizerisches Institut für Berufspädagogik SIBP entstanden ist.

Angesprochen sind dabei nicht nur die konstruktiven Diskussionen zwischen den Mitarbeitenden unserer drei Standorte in Lugano, Lausanne und Zollikofen, sondern auch der Dialog zwischen Forschung, Lehre und Praxis der Berufsbildung, den die EHB fördert. Daraus können neue, für die Berufsbildung vielversprechende Lösungen erwartet werden, sowohl was die Verbindung der Lernorte als auch was den Ausgleich unterschiedlicher Interessen betrifft.

Der vorliegende Sammelband widerspiegelt diese Haltung. Er stellt eine Didaktik vor, die aus der Perspektive der drei pädagogischen Kulturen des Landes konzipiert wurde und ein starkes Modell für eine situationsorientierte Vernetzung zwischen Schule und Arbeitswelt bietet. Dass sich diese Didaktik gegenüber den Ansprüchen der Praxis und der Erfahrung öffnet, ohne dabei die zentrale Bedeutung des tradierten, wissenschaftlich fundierten und sich stetig weiterentwickelnden Fachwissens zu vernachlässigen, erweist sich als entscheidender Vorteil. So profitieren die Berufsbildungsverantwortlichen, die wir an der EHB aus- und weiterbilden, seit vielen Jahren von diesem in unseren Ausbildungskonzepten integrierten situationsdidaktischen Ansatz.

«Didaktik und Situationen»: Dieser Titel steht sinnbildlich für eine konzeptionelle Vernetzung zwischen Hochschule und Praxis der Berufsbildung. Ein starkes Modell für eine Zukunft, die sich nur gemeinsam gestalten lässt.

 

 

 

Dr. Barbara Fontanellaz

Direktorin EHB

Hinweise

Dank

Dieser Sammelband erscheint aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB), die 1972 als Schweizerischer Institut für Berufspädagogik (SIBP) gegründet wurde. Die darin vereinigten Beiträge sind Ausdruck einer Tradition und einer individuellen und kollektiven Schaffenskraft, die sich der Berufsbildung in allen Landesteilen verpflichtet fühlt. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die verantwortungsvoll, mit kreativem Geist und in Zusammenarbeit mit den angehenden Lehrkräften während fünf Jahrzehnten ihren Beitrag geleistet und so, direkt oder indirekt, die Grundlage für die Texte dieses Buches geschaffen haben, sind die Herausgeber zu tiefem Dank verpflichtet. Aber ohne den grossen Effort der Autorinnen und Autoren wäre die Publikation nicht möglich gewesen. Ihnen gebührt eine besondere Anerkennung.

Respektvolle Sprache

Bei der Verfassung der Texte dieses Sammelbandes haben wir uns um eine Sprache bemüht, die klar, verständlich, gut lesbar und zugleich ausdrücklich respektvoll und geschlechtergerecht ist. Die Autorinnen und Autoren haben dabei frei und eigenverantwortlich die als angemessen betrachteten Sprachformen verwendet.

Bildernachweis

Die Illustrationen in diesem Buch stammen aus Grafik- und Fotowettbewerben für das EHB-Magazin «skilled». Sie wurden von angehenden Grafikern/Grafikerinnen und Fotografen/Fotografinnen im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Walliser Schule für Gestaltung ECAV in Siders («skilled» 2/18), der Schule für Gestaltung Zürich (1/19), des Centre d’enseignement professionnel in Vevey (2/20) und der Schule für Gestaltung Basel (1/21) erstellt. Das nachbearbeitete Umschlagbild ist von Farin Woelfert («skilled» 1/21 Zukunft).

Ergänzende Online-Publikation

Zur Ergänzung des vorliegenden Bandes sind einige zusätzliche, thematisch einschlägige Beiträge in einer Online-Publikation enthalten und unter folgendem Link verfügbar: www.ehb.swiss/didaktik-und-situationen.

Einführung

Gianni Ghisla, Elena Boldrini, Christophe Gremion, Fabio Merlini & Emanuel Wüthrich

Zum Selbstverständnis der Berufsbildungsdidaktik

1Grundgedanken

Die Didaktik der Berufsbildung – in der Schweiz wie auf internationaler Ebene – zeichnet sich durch eine besondere Mannigfaltigkeit aus, ob man sie aus der Perspektive der Unterrichtspraxis oder der wissenschaftlichen Auseinandersetzung betrachtet. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben mit strukturell-systemischen Faktoren genauso zu tun, wie mit den sich schnell verändernden Anforderungen der Gesellschaft, mit den innovativen Bestrebungen der berufspädagogischen Diskussion der letzten Jahre und, spezifisch für die Schweiz, mit der Diversität der regionalen und institutionellen Bedingungen.

Die moderne Berufsbildung in Europa entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert in zwei Hauptrichtungen: Im deutschsprachigen Raum und teilweise in den nördlichen Ländern vertraute man auf die Aufgabenteilung zwischen schulischer und betrieblicher Ausbildung, während sich in Ländern wie Frankreich oder Italien, die das Zunftwesen radikaler abgeschafft haben, institutionalisierte Ausbildungsformen etablierten, insbesondere an Technikschulen. Innerhalb dieser zwei Hauptsysteme entfalteten sich jedoch verschiedene, landesspezifische Traditionen, so auch in der Schweiz, wo man noch in den 1970er-Jahren mit der Einführung der sogenannten «überbetrieblichen Kurse» das duale zu einem trialen System erweiterte. Mit der Gründung der Europäischen Union wurden jedoch dem freien Lauf beruflicher Bildungsvielfalt zunehmend Grenzen gesetzt. So versuchte man in den letzten Jahrzehnten z.B. mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR), zumindest gemeinsame Rahmenbedingungen zu schaffen, um damit die Mobilität und Durchlässigkeit auf dem internationalen Arbeitsmarkt zu verbessern.

Die Heterogenität der Systeme geht einher mit der zunehmenden Varietät beruflicher Tätigkeiten und ihrer spezifischen Anforderungen. Parallel dazu, aber auch als unmittelbarer Ausdruck davon, haben sich die gesellschaftlichen Ansprüche rasant ausgeweitet: Die abnehmende Halbwertszeit des tradierten Wissens stellt auch die Berufsbildung vor grosse Herausforderungen, ebenso die zunehmende Mobilität und das damit verbundene Bedürfnis nach lebenslangem Lernen. Darüber hinaus haben die alles erfassende Digitalisierung und der dringende Ruf nach ökologisch verantwortungsvollen Lebensformen zusätzliche Spannungen erzeugt, was, neben der Bewältigung der vielen sozialen Probleme, die Vorbereitung der jungen Generationen auf eine Zukunft anmahnt, die neue Horizonte eröffnet und sozusagen neu zu erfinden ist.

Zur Vielfalt der schweizerischen Berufsbildungslandschaft tragen, wie angedeutet, die föderalistische Struktur der Institutionen und der Verwaltung sowie die Multikulturalität bei. Im Gegensatz zu allen anderen Bildungsbereichen wird die Berufsbildung unter der Federführung des Staatssekretariats für Bildung Forschung und Innovation (SBFI) vom Bund gesteuert. Da dies im Rahmen einer Partnerschaft mit den Kantonen und der Arbeitswelt erfolgt, verfügen die wichtigsten Player über bedeutsame Freiräume in der konkreten Umsetzung der normativen Vorgaben. Auch die Impulse zur Forschung und Entwicklung gehen hauptsächlich vom SBFI aus, doch beanspruchen Universitäten, pädagogische Hochschulen und Kantone aufgrund einer langen Tradition einen Teil der Initiative und der Entscheidungshoheit, u.a. hinsichtlich der didaktischen Ausbildung der Berufsbildungsverantwortlichen. Nicht zu unterschätzen ist schliesslich der Einfluss der jeweiligen Bezugskulturen der drei sprachlichen Hauptregionen. So konkurrenziert in der italienischen und französischen Schweiz die vollschulische Berufsbildung seit je das duale Modell, und in allen drei Regionen hinterlassen das spezifische kulturelle und pädagogische Erbe sowie die Schultradition in der beruflichen Bildung deutliche Spuren.

Diese national wie international von den objektiven Systembedingungen abhängige Wirklichkeitsvielfalt mit ihren neuen Anforderungen hat die Pädagogik und Didaktik beruflicher Bildung in den letzten Jahrzehnten nicht untätig gelassen. Der breitgefächerte Gegenstandsbereich und die sich ausdifferenzierenden Wirkungsfelder wurden mit neuen Ideen und einem neuen Begriffsinstrumentarium angegangen. Solche Erneuerungen hängen auch mit dem wachsenden Interesse für die Berufsbildung zusammen, das sich, im Vergleich zu den Reformbestrebungen der Volks- und allgemeinbildenden Schule, erst ab den 1980er-Jahren zeigte.

 

Wie Ghisla in seinem Beitrag in diesem Band kontextualisierend darstellt, führte diese Entwicklung zu einer Art Revival der Pädagogik und Didaktik der beruflichen Bildung, besonders auffallend im deutschsprachigen Raum und in Frankreich – weniger in Italien. Kaum zu unterschätzen ist aber auch das im angelsächsischen Raum aufkeimende Interesse, das von Leumann und Scharnhorst mit Bezug auf die deutschsprachige Diskussion dokumentiert wird. Vor diesem Hintergrund hat sich die pädagogisch-didaktische Diskussion anfangs der 1990er-Jahre in der Schweiz stärker zurückgemeldet. Dazu beigetragen hat auch der Umstand, dass die Option einer Kantonalisierung der Berufsbildung auf dem politischen Parkett abgewendet wurde und der Bund seine Initiative u.a. auf der Basis des neuen Berufsbildungsgesetzes stark intensivierte. Frühere, die Pragmatik des Unterrichts privilegierende Ansätze wurden zwar fortgeführt, aber man hat sich nachdrücklich in die Erneuerung des berufspädagogischen und -didaktischen Gedankenguts eingebracht und Ideen und Tendenzen aus der internationalen Diskussion aufgenommen (vgl. Ghisla sowie Maubant & Gremion). So wurden auch hierzulande Antworten auf die aktuellen Anforderungen gesucht, was sich relativ rasch auf der curricularen Makrobene der Steuerungsinstrumente zeigte, vorab der Berufsbildungsverordnungen und der Bildungspläne. Im Anschluss daran wurde aber auch die Mikroebene der didaktischen Gestaltung der Unterrichtsaktivitäten tangiert.

Die Rolle der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) in diesem Prozess war, neben anderen Playern, massgebend. Einerseits haben dabei die Denk- und Handlungsmuster der deutschsprachigen Tradition das Wirken der EHB (und des SBFI) entscheidend geprägt. Andererseits wurde die Suche nach einem neuen Selbstverständnis der Berufsbildungsdidaktik auch durch die Identität der EHB als nationale Institution von den italienischen und französischen Kulturkomponenten beeinflusst.

Zum Selbstverständnis der Didaktik der Berufsbildung

Die Vielfalt der Berufsbildungswelt führt zur berechtigten Frage, «ob sich überhaupt eine Didaktik beruflicher Bildung bestimmen lässt oder ob dies nur noch aus dem Kontext der Berufsbildungstheorie vertretbar wäre» (Tramm et al. 2018, 5). Offensichtlich strebt die Berufsbildungsdidaktik aber nach einem neuen Selbstverständnis, sowohl in Bezug auf ihre disparaten Wirkungsfelder als auch auf ihre Positionierung im wissenschaftlich-akademischen Kontext. Die verschiedenen Orientierungen und Ansätze, die in den letzten Jahrzehnten die Auseinandersetzung belebten, zeugen von einer kreativen Dynamik, machen aber die Suche nach einem gemeinsamen Kern des didaktischen Denkens und Handelns weder leichter noch zielstrebiger. Auf jeden Fall muss das erneuerte Selbstverständnis der Berufsbildungsdidaktik an den «Perspektiven und Grundpositionen einer zukunftsfähigen berufsdidaktischen Forschung und Praxis» (ibid.) gemessen werden. Die Texte in diesem Band verstehen sich auch als Beitrag in diese Richtung, obwohl sie eher spontan aus einem doppelten Erfahrungshintergrund hervorgegangen sind: Zum einen die intensive Arbeit, die sowohl konzeptionell als auch operativ in der Begleitung von zahlreichen Projekten zur Revision der Bildungspläne und der Bildungsverordnungen geleistet wurde; zum anderen die Neugestaltung der Ausbildung von Lehrkräften und Berufsbildner/innen, wofür die EHB schweizweit die Hauptverantwortung trägt.[1]

Dank – oder vielleicht auch trotz – diesen Bedingungen gehen die Texte des Sammelbandes auf die Vielfalt der didaktischen Kontexte in der Berufsbildung ein und profilieren sich zugleich durch kohärente Grundmuster und Zielsetzungen des berufsbildnerischen Denkens und Handelns. Um ihre Einordnung zu ermöglichen, ist es sinnvoll, vorerst die grundlegende Unterscheidung zwischen der pädagogischen, der curricularen und der didaktischen Ebene in Erinnerung zu rufen, wobei letztere auch als Makro- und Mikrodidaktik bezeichnet werden.

Auf den pädagogischen Diskurs sei hier nur deshalb hingewiesen, weil er im deutschsprachigen Raum den eigentlichen Hintergrund mit den Prinzipien, Werten und Orientierungen bildet, worauf sich Curricula und Didaktik beziehen (vgl. Ghisla), während er in der französischsprachigen Tradition direkt in die didaktische Ebene hineinreicht.

Die Hauptfunktion der curricularen Ebene ist die Steuerung des Systems. Somit gehört sie zum Zuständigkeitsbereich politisch-institutioneller und administrativer Entscheidungen. Auch dank den Impulsen aus diesem Bereich waren Berufsbildungscurricula ab den 1990er-Jahren einem eindrücklichen Paradigmenwechsel unterworfen: Die tradierten fachorientierten Lehrpläne, die in Europa einen Teil der typischen Input-Steuerung der Schule ausmachten, wurden zugunsten von kompetenz- und handlungsfeldorientierten Bildungsplänen aufgegeben, die eine stärkere Ouput-Logik favorisierten. Die damit verbundene Zielsetzung, die Lernenden möglichst vom sogenannten trägen Wissen zu befreien, um sie mit praxisnahen und verwertbaren Kompetenzen auszustatten, wird in verschiedenen Beiträgen diskutiert (Boldrini & Cattaneo; Ghisla; Schmuki). Der Paradigmenwechsel ist aber auch deshalb besonders wichtig, weil damit die Herausforderung verbunden ist, die Unterschätzung der zentralen Bedeutung des tradierten Fachwissens zu vermeiden. Denn nur die funktionale und flexible Integration des wissenschaftlich fundierten Wissens in das situativ, auf die Bedürfnisse der Praxis ausgerichtete Wissen ermöglicht eine umfassende und erfolgreiche Berufsbildung.

Es ist unmittelbar einsichtig, dass sich diese curriculare Herausforderung auch stark auf die didaktische Mikroebene auswirkt, zumal ein verbreiteter Konsens darüber besteht, das curriculare Instrumentarium – v. a. Bildungsverordnungen und Bildungspläne – als einen Brückenpfeiler zwischen der betrieblichen Praxis und der schulischen Ausbildung zu betrachten. Die Fähigkeit, die Grenzen zwischen der Schule und dem Arbeitsplatz zu überwinden, ist daher eine wesentliche Komponente der Identität der Berufsbildungsdidaktik.

 

Die zwei Begriffe Kompetenz und Handlung haben als kontinuierlich präsente Trendsetzer zum geschilderten Paradigmenwechsel beigetragen.

Zur Kompetenz- und Handlungsorientierung

Unabhängig von der Vielfalt der Berufsbildung sind beide Begriffe Zeugen eines Zeitgeistes, der sich spätestens in den 1990er-Jahren in der beruflichen Bildung durchzusetzen begann. Sie standen von Anfang an für jene gesellschaftliche Entwicklungen, die sich im Vorwurf gegenüber der tradierten (Berufs-)Bildung verdichteten, sie sei in der Vermittlung von trägem Wissen gefangen und nicht imstande, die duale Spaltung zwischen Schule und Arbeitswelt (Lebenswelt) zu überwinden. Auf diesem fruchtbaren Boden entstanden pragmatische Reformvorstellungen, wonach die Berufsbildung klar auf die Unterweisung unmittelbar verwertbarer Kompetenzen auszurichten sei. Mit anderen Worten: Es müsse eine neue Art der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis angestrebt werden, die den Akzent auf die Praxis und die Output-Orientierung lege. Zwar wurde versucht, die individuellen und allgemeinen gesellschaftlichen Ansprüche nicht aufzugeben, in Deutschland etwa mit der Betonung der Persönlichkeitsentwicklung gemäss der humanistischen Bildungstradition oder in der Schweiz mit der Erneuerung der sogenannten Allgemeinbildung, aber die Grundausrichtung wurde so gesetzt und von den bildungspolitischen und administrativen Instanzen übernommen.

Während sich in Deutschland das sogenannte Lernfeldkonzept aufgrund eines administrativen Aktes der Kultusministerkonferenz etablieren konnte, richtete sich der Trend in der Schweiz auf die curricular massgebende Handlungskompetenzorientierung (HKO). Die theoretische und empirische Kritik an der Kompetenz- und Handlungsorientierung als Grundpfeiler des Lernfeldkonzepts und der HKO liess zwar nicht auf sich warten und hat zahlreiche Mängel offengelegt bzw. zu zwiespältigen Befunden geführt (Leumann & Scharnhorst; Ghisla). Diese mussten allerding in der praktischen Umsetzung der Macht des Faktischen weichen und harren weitgehend ihrer Entkräftung.

Zum Situationsbegriff in der Didaktik

Der Begriff der Situation vermochte das Selbstverständnis einer sich international neu konstituierenden Berufsbildungsdidaktik (im französischsprachigen Kontext auch der Berufspädagogik) auf der Makro- und der Mikroebene zu prägen. Zwar reicht der Karriereanfang des Begriffs einige Jahrzehnte zurück (vgl. Ghisla), dank kreativer und erfahrungsgeleiteter Schritte wurde er aber theoretisch und praktisch zu didaktischer Reife gebracht. So ist aus den Erfahrungen und Erprobungen an der EHB das Modell der Situationsdidaktik (SiD) hervorgegangen, das explizit grundlegende Begriffe aus der internationalen Diskussion aufnimmt und zu integrieren sucht. Das Modell wird ausführlich dargestellt (Boldrini & Wüthrich), kontextualisiert und theoretisch begründet (Ghisla). Die Beschreibung der konkreten Anwendung der SiD erfolgt für verschiedene Kontexte: Etwa für die Entwicklung von Lehrplänen an den Berufsfachschulen (Schuler & Vogt), für internationale Berufsbildungsprojekte (Wüthrich), für das neue Ausbildungskonzept der Lehrkräfte an der EHB (Boldrini & Cattaneo), für die Weiterbildung (Burch & Petrini), für die Berufsmaturität (Piccini) und den allgemeinbildenden Unterricht (Schmuki) aber auch für zahlreiche konkrete Praxisbeispiele, in denen die Verarbeitung von Lernerfahrungen eine zentrale Rolle spielt (Jöhr, Kammermann & Meier; Le Bolloc’h). Aufschlussreich und interessant sind auch weitere Modelle und methodenspezifische Applikationen, die den Situationsbegriff ins Zentrum des didaktischen und pädagogischen Handelns stellen. Für den Ansatz Duale Situationsbasierte BerufsbildungsDidaktik (DSBD) bilden Situationen u.a. die Basis für eine Pädagogik des Staunens und der Entwicklung eines persönlich grundierten Berufsstils (Gremion & Maubant; Maubant & Gremion) sowie für die Praxisanalyse. Der Ansatz wird auch in praktischen Beispielen illustriert (Gagnebin-de Bons; Sello & Gremion). Das Konzept des Erfahrraums stützt sich auf die neuen technologischen Kommunikationsmittel und versucht dies in Anlehnung an die SiD didaktisch und pädagogisch konsistent zu machen (Cattaneo & Boldrini). Die Idee der pädagogischen Begeisterung verweist schliesslich darauf, dass Lebenssituationen motivational und kognitiv genutzt werden können (Matter).

Der Sammelband zeigt auf, dass der Begriff bzw. das Konzept der Situation auf der Modellebene zu einem gemeinsamen Nenner der didaktischen und pädagogischen Auseinandersetzung werden kann. Zudem erweist sich das Konzept als nützlich, um die Vielfalt in der Berufsbildung theoretisch zu fassen und der Suche nach einem epistemologischen Selbstverständnis der Didaktik als Disziplin neuen Schub zu verleihen. Möglich ist dies dank einiger Eigenschaften, die in verschiedenen Beiträgen, sowohl bei der didaktischen Modellierung als auch in den konkreten Umsetzungen, vertieft werden. Dazu gehören die Konsistenz des Begriffs, sein Beitrag zu einer Grammatik des didaktischen Handelns, seine Flexibilität in der Anwendung und die Akzentuierung der reflexiven Verarbeitung der Erfahrung.

2Herausforderungen

Das Buch ist in drei Hauptkapitel eingeteilt: Im ersten werden die didaktischen bzw. pädagogischen Modelle vorgestellt, kontextualisiert und theoretisch begründet, im zweiten werden spezifische Fragestellungen aufgegriffen, und im dritten wird aus der Praxis berichtet. In den Texten kommen die zahlreichen Herausforderungen zum Ausdruck, mit denen die Berufsbildung und spezifisch die situationsorientierte Didaktik konfrontiert sind. Diese haben v.a. mit vier Fragekomplexen zu tun: Die Rolle des Wissens und dessen Systematisierung, die Ausbildung der Berufsbildungsverantwortlichen, die Prozesse der Digitalisierung und die Evaluation der laufenden Erfahrungen.

Die Lehrkräfte, die sich mit der situationsorientierten Didaktik vertraut gemacht und erste Erfahrungen damit gesammelt haben, weisen häufig auf die Schwierigkeit hin, dass sie das Fachwissen als Grundlage des Unterrichts vermissen und mit der Systematisierung des situativen Erfahrungswissens überfordert sind (Schuler & Vogt; Burch & Petrini). Das bringt wohl eine der grössten Herausforderungen des neuen Berufsbildungsparadigmas und der Situationsdidaktik auf den Punkt: Das Kind soll nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden! Ohne Fachwissen wäre Berufsbildung anämisch, weshalb die verallgemeinerte Form des Wissens zu stärken ist, und zwar so, dass es zu einer konstruktiven, transferorientierten Verschränkung mit dem situativen, erfahrungsbezogenen und spontanen Wissen kommen kann. Dazu bietet die Situationsdidaktik mit dem virtuosen Kreislauf der Didaktik, der eine doppelte, sich wiederholende Verbindung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Schule und Arbeitsplatz vorsieht, einen praktikablen Weg (Boldrini & Wüthrich). Diese Idee wird aufgenommen, wenn es darum geht, Situationen aus unterschiedlichen Fachperspektiven, also projektmässig und interdisziplinär, anzugehen (Rebord, Murat & Hefhaf). Spannend ist auch die Diskussion von Erfahrungen im Kontext der Berufsmaturität, wo der Bezug zu realen Arbeitssituationen gegenüber dem Fachwissen in den Hintergrund tritt: Wie dabei mit Situationen, insbesondere mit sogenannten Entwicklungssituationen, umgegangen werden kann, wird aufgrund von zahlreichen Erfahrungen diskutiert (Piccini).

Auch bei der Leistungsbeurteilung geht es um Wissen. Die gesonderte Betrachtung der Ressourcen (Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen), welche kompetentem Handeln zugrunde liegen, ist für die Schule sehr nützlich, um spezifisches Wissen unabhängig von den Kompetenzen beurteilen zu können, zumal die Evaluation der letzteren einer äusserst komplexen Aufgabe gleichkommt (Bausch; Sello & Gremion; Gagnebin-de Bons).

All diese Aspekte werden in der Ausbildung der Lehrkräfte angesprochen, die sich in ihrem Kern auf die Verarbeitung von didaktisch transponierten Situationen konzentriert. Eine solche Verarbeitung erfordert den bereichernden Beitrag des Fachwissens und stützt sich methodisch grundsätzlich auf die heuristischen Muster der Analyse und der Synthese, die in reflexiver Absicht und unter aktivem Einbezug der Lernenden aktiviert werden. Dazu steht eine relativ offene Palette von Methoden und Techniken zur Verfügung, so etwa der systematische Rekurs auf Videomaterial (Boldrini & Cattaneo; Sappa; Jöhr, Kammermann & Meier), die Verwendung eines ethnografischen Instrumentariums (Fristalon) oder der Einbezug von problemorientierten Strategien (Salini, Piccini & Romanelli-Nicoli). Als besonders wichtig erweist sich auch eine umfassende Begleitung der Lernenden, v.a. im Hinblick auf die Entwicklung einer persönlichen Berufsidentität (Sappa) und einer ausgeprägten, auf Verantwortung gründenden Handlungsautonomie, die zu einem persönlichen Berufsstil führen kann (Gremion & Maubant) und das sogenannte Fähigsein beansprucht (Matter).

Die Herausforderung der Digitalisierung liegt sozusagen quer zu all diesen Aspekten und deutet auf eine Komplexität und auf Perspektiven hin, die beinahe sämtliche didaktische Prozesse betreffen und über den Status einer blossen Technik der Kommunikation und Informationsverarbeitung hinausgehen. Auf dem Spiel stehen längst neue Formen des Umganges mit einer potenzierten Realität, deren Auswirkungen kaum absehbar sind, jedenfalls aber mit der Vorbereitung der neuen Generationen auf die digitale Gesellschaft zu tun haben. Damit beschäftigen sich Cattaneo & Boldrini, die, in einem Vergleich mit der SiD, die Idee einer Erfassung der Arbeitserfahrungen mit technologischen Mitteln diskutieren. Der Arbeitsplatz wird als Ort der primären Erfahrungen betrachtet, als Erfahrraum, der in digitalisierter, allenfalls potenzierter Form dem didaktischen Prozess und damit den Lernenden zugänglich gemacht werden kann.

 

Das bereits umfangreiche Ensemble der Erfahrungen mit einer situationsorientierten Didaktik, auch auf internationaler Ebene, sollte möglichst systematisch und empirisch fundiert evaluiert werden. In zahlreichen Beiträgen wird aufgrund einschlägiger Methoden des Monitorings von Ergebnissen und Problemen aus bereits gemachten und laufenden Erfahrungen berichtet, und zwar in einem durchwegs positiven Ton. Auch die systematische Evaluation, die im Rahmen der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte an der EHB durchgeführt wird, bestätigt diesen Befund, der jedoch vorläufig bleibt (Laupper, Eicher & Balzer). Aus den sehr aufschlussreichen Einführungskursen zur SiD (Burch & Petrini; Vogt & Schuler) wird ersichtlich, dass die Situationsdidaktik für viele Lehrkräfte abstrakt wirken und in der Anwendung Mühe bereiten kann. Deshalb bedarf sie der Vereinfachung und Flexibilisierung, um das ‹Ausprobieren› ausgehend von vertrauten Praktiken zu erleichtern.

In Zukunft steht nicht nur viel didaktische und curriculare Entwicklungsarbeit an, auch eine möglichst systematische, empirisch fundierte Evaluation von Konzepten und Modellen in ihrer praktischen Umsetzung, unter Einbezug der Adressaten und womöglich in den verschiedenen Wirkungsfeldern ist unabdingbar.

© EHB / Pierre Daendliker und Loris Theurillat für «skilled» 2/20 Upskilling

«Menschliche Tätigkeit, im weitesten Sinne als Erfahrung begriffen, umfasst Handlungen und Operationen, die, im Unterricht bewusst und kritisch verarbeitet, zur Aneignung von Wissen und zum Aufbau von praxisbezogenen Kompetenzen führen können.»

Teil I

Didaktische Modelle und theoretische Grundlagen

Elena Boldrini und Emanuel Wüthrich

Situationsdidaktik – Anwendungsgrundsätze eines vielseitigen Ansatzes

1Die Herausforderung der Kompetenzen in der Bildung

Das Kompetenzparadigma als Eckpfeiler von Bildungsangeboten hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten etabliert und als Competence-Based Education (CBE) auf globaler Ebene breiten Anklang gefunden (van Griethuijsen, & al. 2020; Boldrini & Ghisla, 2006; Boldrini & Cattaneo 2007; Mulder 2017). Dafür ausschlaggebend war die Idee, die Handlungsfelder der einzelnen Berufe als Grundlage für die Entwicklung der Bildungspläne und der didaktischen Aktivitäten heranzuziehen und so zur Kontinuität zwischen Arbeit und Schule beizutragen. Mit den ersten Umsetzungsversuchen des kompetenzorientierten Ansatzes an der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) ging ab 2005 auch eine Reflexion über dessen didaktische Implikationen einher. Daraus entstand nach mehrjähriger Erprobung die Situationsdidaktik (SiD). Seit sie 2014 erstmals als konzeptionell kohärenter und für die Praxis der beruflichen Bildung funktionaler Ansatz vorgestellt wurde[2], hat die SiD in zahlreichen Bildungsbereichen und in verschiedenen spezifischen Anwendungsformen im Rahmen von kompetenzorientierten Ausbildungsformen weite Verbreitung gefunden[3].

Aus didaktischer Sicht besteht die Herausforderung der SiD in der Suche nach einer grundlegenden Entsprechung zwischen der für die Bildungspläne massgebenden Arbeitsanalyse und einer didaktischen Aktivität, die die Aneignung der Ressourcen sichern kann, die für ein kompetentes Handeln in der Arbeit erforderlich sind (Pastré 2011b). Da die theoretischen Grundlagen der SiD in einem anderen Beitrag in diesem Bd. erörtert werden (Ghisla), beschränken wir uns hier auf die Konturierung von wesentlichen Begriffen, um dann deren pädagogisch-didaktischen Merkmale in praktischer Absicht und unter Berücksichtigung wichtiger Anwendungsprinzipien vorzustellen.

2SiD – Einige Grundbegriffe

Hauptziel der SiD sind Bildungsparcours, die sich ausdrücklich und gezielt auf berufliche Situationen beziehen und so strukturiert sind, dass sie den Erwerb von Ressourcen und den Aufbau von Kompetenzen ermöglichen. Zwar eignet sie sich durchaus zur Anwendung am Arbeitsplatz[4], aber die SiD konzentriert sich auf die Bedürfnisse der schulischen Ausbildung, die keinen direkten Zugang zur beruflichen Praxis hat, auch wenn sie die Entwicklung von Kompetenzen zum Ziel hat. Während im Betrieb Trainingspraktiken möglich sind, die vom Learning by Doing und vom Modelllernen profitieren, muss die Schule neben prozeduralem vor allem deklaratives Wissen vermitteln, und sie verfügt über nur beschränkte Möglichkeiten einer Unterrichtsgestaltung in realen beruflichen Situationen (in diesem Band Sappa; Cattaneo & Boldrini).

Der SiD-Ansatz stützt sich auf die folgenden drei Grundkonzepte:

Situationen als Sinneinheiten von beruflicher Tätigkeit und Ausbildung. Die Situation erscheint als natürlicher Referent beruflicher Kompetenzen, zumal diese von «einem sinnstiftenden Zweck und einer kontextualisierenden Situation geprägt werden» (Jonnahert 2002, 33). Der Situationsbegriff gilt als zentrales Konstrukt sowohl für die moderne Soziologie (Esser 2000) als auch für die Theorien des situierten Lernens (in diesem Band Leumann und Scharnhost; Lave & Wenger 1991). Situationen sind Sinneinheiten, die einem bestimmten Ausschnitt, einem Punkt auf dem Kontinuum reeller menschlicher Praxis entsprechen (Marcel, Tupin & Maubant 2012). Subjekte handeln darin und aktivieren dabei ihre Ressourcen ganzheitlich und entsprechend den Gegebenheiten. Es lassen sich so Situationen identifizieren, die zum Beruf oder aber zum übrigen Alltag gehören, wie z.B. die Teilhabe an zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Die SiD bietet einen hinreichend flexiblen Rahmen, um beiden Kategorien solcher bedeutsamen Lebenssituationen didaktisch gerecht zu werden.

Kompetenz als situatives, übertragbares Wissen. Die zentrale Stellung der Situation im SiD-Ansatz impliziert auch eine situierte und phänomenologische Konzeption der beruflichen Kompetenz (Sarchielli 2002). Diese wird nicht als A-priori-Disposition, sondern als adaptive Reaktion des handelnden Subjekts auf die von ihm jeweils interpretierten Situation betrachtet. So erhält auch das Wissen eine starke Verankerung in der Situation selbst (Le Boterf 1994). Dementsprechend sind bei einer auf die Entwicklung von Kompetenzen ausgerichteten Didaktik drei Aspekte zu beachten:

Kompetenz impliziert Wissensressourcen, die sie zu einem komplexen Konstrukt machen; es geht nicht nur um Fähigkeit (wissen, wie man etwas tut; Know-how), sondern auch um deklaratives Wissen und um Haltungen (Rychen & Salganik 2003; Cattaneo & Boldrini 2007a, 2007b, 2009; Baartman & de Bruijn 2011; Weinert 2001).

Kompetenz ergibt sich nicht einfach aus den einzelnen kognitiven Komponenten, namentlich Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen, und auch nicht aus ihrer Summe, sondern aus dem Akt der situationsabhängigen Kombination und Mobilisierung dieser Ressourcen. Daraus entsteht eine kompetente Performance (Le Boterf 2000).

Eine Kompetenz ist nicht nur auf eine einzelne, spezifische Situation anwendbar, sondern eignet sich für analoge Situationen, sogenannte «Situationsfamilien», die «relativ differenzierte, aber strukturell ähnliche» Aufgaben beinhalten (Maccario 2006, 114).

Auf der didaktischen Ebene implizieren diese Aspekte, dass sich die Ausbildung auf die Aneignung der einzelnen für die Kompetenz relevanten Wissensressourcen konzentriert, zugleich aber auch deren effektive Mobilisierung anstrebt. Damit lässt sich der Transfer auf ähnliche, komplexere Situationen fördern, die von der Ausgangsituation auch entfernt sein können (Perkins & Salomon 1992)[5].

Integration von Fach- und situativem Wissen. Die zentrale Rolle von Situationen und Kompetenzen im Unterricht sollte jedoch nicht zu einer Art didaktischem Absolutismus führen, der den Fokus einseitig auf erfahrungs- und handlungsorientiertes Wissen legt. Vielmehr sollte Kompetenz auf der Ebene der Bildungspläne wie in den didaktischen Entscheidungen für die Integration von praktischem Erfahrungswissen und Fachwissen aus den Referenzdisziplinen stehen. Diese integrative Perspektive lässt sich auf einem «curricularen Kontinuum» (Ghisla 2009) veranschaulichen, das die Notwendigkeit einer variablen und ausgewogenen Beanspruchung der zwei Wissensarten hervorhebt. Eine SiD-orientierte Gestaltung von Bildungsparcours soll deshalb auf eine angemessene, funktionale und flexible Konvergenz der zwei Organisationsprinzipen achten: einerseits des tradierten und in wissenschaftlichen Disziplinen systematisierten Fachwissens und andererseits des situativen, konkret erlebten Erfahrungswissens (in diesem Band Ghisla; Ghisla, Bausch & Boldrini, 2008).

Im Folgenden geht es um die konkrete Umsetzung dieser konzeptionellen Grundlagen der SiD.

3Situationsdidaktik – Grammatik des didaktischen Handelns

Die SiD bildet zunächst ein Ensemble von Leitlinien, die sich zu einem für das Lehrerhandeln wegweisenden Schema verdichten. Es geht um eine Art Grammatik des Unterrichts, die relativ offen und anpassungsfähig für die unterschiedlichsten Unterrichtssituationen ist. Die SiD ist also keine spezifische Lehrmethode oder -technik und schon gar nicht ein ‹Unterrichtsrezept›. Vielmehr öffnet sie den Horizont für Unterrichtsstrategien, die sich je nach Inhalt, nach den Eigenschaften der Lernenden und nach gewählten Arbeitsformen einsetzen lassen.

3.1Das Konzept der didaktischen Transposition

Vom Prinzip der Übertragung von Lebens- auf schulische Situationen als der Grundlage der SiD geht die praktisch relevante Frage aus: Wie lassen sich, ausgehend von beruflichen Referenzsituationen, die naturgemäss adidaktisch sind (Brousseau 1998), didaktische Szenarien entwickeln, die die Aneignung jener Kompetenzen ermöglichen, welche in denselben oder ähnlichen beruflichen Situationen eingesetzt werden können?

Wir verdanken es der französischen Tradition, die Bedeutung der Transposition von authentischen Situationen in den didaktischen Kontext – v.a. für die Berufsbildung – erkannt und das entsprechende Konzept entwickelt zu haben (in diesem Band Ghisla; Chevallard, 1991; Brousseau 1998; Pastré, Mayen & Vergnaud 2006). Unter Transposition versteht sich die direkte oder indirekte, partielle oder vollständige, möglichst authentische Reproduktion realer (beruflicher) Lebenssituationen in didaktischer Umgebung. Der Übertragungsprozess erweist sich als komplex. Er setzt bei der Auswahl der Situationen an[6], geht über deren Didaktisierung weiter und endet bei der analytischen und synthetischen Verarbeitung. Dieser Prozess bliebe unvollendet, würde sich der Kreis nicht mit der Rückkehr zur Ausgangs- oder zu ähnlichen Situationen, also mit einem Transfer schliessen. So kommt auch der Kreis zustande, den wir den tugendhaften, virtuosen Kreislauf der Didaktik nennen.

3.2Der «virtuose Kreislauf der Didaktik»

Die dargelegten Umsetzungsschritte lassen sich im virtuosen Kreislauf der Didaktik veranschaulichen. Darin erfolgt die Aktivierung von Lehr- und Lernmechanismen, die ausgehend von beruflichen Situationen auf das Erlernen der notwendigen Ressourcen und den Aufbau der Kompetenzen abzielen.

Diese erste externe Kreisbewegung wird in der Abbildung durch den äusseren Kreis repräsentiert (Figur 1): Damit ist der Fortgang von einer didaktisch transponierten und verarbeiteten Ausgangssituation (Situation 1) zu anderen Situationen gemeint, auf die ein Transfer erfolgt (Situation 2-n). Zusätzlich besteht die Möglichkeit, dass Lernende mit ihren Erfahrungen wieder zum didaktischen Anfang zurückgelangen.

Die zweite interne Kreisbewegung entspricht der rekursiven Beziehung zwischen Praxis und Theorie. Diese gewährleistet Kontinuität und Integration zwischen dem situativ-praktischen und dem theoretisch fundierten Fachwissen. Es geht dabei um einen Dialog: Dank der analytischen und synthetischen Verarbeitung begegnen sich Praxis und Theorie, Erfahrung und Reflexion.

Figur 1: Der virtuose Kreislauf der Didaktik

Mit der analytischen Verarbeitung erfolgt erstens die Zerlegung der Ausgangssituation, was ihre konstitutiven Bestandteile und ihre Struktur ersichtlich macht: Welche Aktivitäten, Handlungen und Vorgänge werden ausgeführt, mit welchen Zielen, nach welche Normen und mit welchen Instrumenten? Welche Probleme treten auf? Zweitens ermöglicht die Analyse, die in der Situation benötigten Wissensressourcen (Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen) zu ermitteln und dabei die Wissenslücken zu identifizieren, die für das Verständnis der Situation und für die Handlungsfähigkeit gefüllt werden müssen.

Die synthetische Verarbeitung hingegen bezweckt sozusagen eine (Neu-)Zusammenfügung der Bestandteile, d.h. hauptsächlich der Ressourcen, die für das Verständnis der Situation und für die Handlungsfähigkeit notwendig sind. Es geht dabei nicht um eine mechanische Aggregation der Situationselemente, sondern um eine begriffliche Systematisierung des Wissens sowie um dessen Konsolidierung und Aktivierung in situationsgerechten Übungen und Aktivitäten.

3.3Die SiD-Phasen

Der tugendhafte Kreislauf stellt die Makroprozesse der didaktischen Inszenierung dar. Die konkrete, praktische Umsetzung erfolgt in spezifischen Mikrophasen, die in den folgenden Abschnitten näher beschrieben werden.

Ein didaktisches Szenario, das der SiD verpflichtet ist, fusst auf vier Makro- und sechs Mikrophasen, welche die Verarbeitung der Situation strukturieren (vgl. Figur 2).

Figur 2: Die Makrophasen der SiD

Die Phasen lassen sich wie folgt beschreiben:

Vorbereitung. Die Lehrperson wählt eine oder mehrere bedeutsame Lebenssituationen aus und arbeitet sie didaktisch auf (Situation 1 in Fig. 1/Mikrophase I siehe unten).

Analytische Verarbeitung. Damit beginnt die eigentliche Unterrichtsaktivität mit der Präsentation und der Analyse der Struktur und der Inhalte der Situation sowie der Ermittlung der Ressourcen (Mikrophasen II und III).

Synthetische Verarbeitung. Damit erfolgt die Systematisierung und Ausweitung der Wissensressourcen sowie deren strukturierte, transferorientierte Einübung (Mikrophasen IV und V).

Beurteilung. Den Abschluss bildet die Beurteilung der erlernten Ressourcen und Kompetenzen (Mikrophase VI).

Diese vier Makrophasen können rekursiven Charakter haben, etwa dadurch, dass es in der Konsolidierungsphase von bestimmten Kompetenzen der Lernzyklus durch die Bearbeitung weiterer Situationen wiederaufgenommen wird.

3.4Die Umsetzung der SiD-Phasen

In Tabelle 1 findet sich eine synthetische, unterrichtsorientierte Darstellung der sechs Mikrophasen, die dann in praktischer Absicht näher beschrieben werden.

Definition

Didaktische Fragestellungen[7]

Prioritäres Lehrdesign[8]

1. Vorbereitung

I-Identifizierung

Ermittlung von typischen, für das Zielpublikum bedeutsamen Situationen; Auswahl einer Situation, die in den Unterricht eingebracht werden soll.

Welche Berufs- und Lebenssituationen eignen sich zur Erreichung der Ziele im Bildungsplan?

Wie lassen sich solche Situationen bezogen auf den Berufs- und Lebenskontext erkennen und beschreiben?

Wie wird eine Situation ausgewählt, die Gegenstand des Unterrichts sein soll?

2. Analytische Verabeitung

II-Präsentation

Präsentation der ausgewählten Situation im Klassenzimmer. Die Situation kann authentisch sein (tatsächlich erlebt) oder von der Lehrkraft modellhaft nachgestellt werden.

Wie wird die Situation im Unterricht dargestellt?

Ist die Situation authentisch/direkt erlebt oder wird sie modelliert/simuliert werden?

Mit welchen didaktischen Techniken/Hilfsmitteln wird die Situation wirkungsvoll dargestellt?

Wer präsentiert die Situation (Lernende, Testimonials, Lehrkraft …)?

Unterweisend

Simulativ

Explorativ

III-Strukturierung

Analyse der Situationsmerkmale (Aktivitäten, Akteure, Ziele, Normen) und der Wissensressourcen (Kenntnisse, Fähigkeiten, Haltungen), die zur Bewältigung der Situation erforderlich sind.

Wie gelangt man zu einer gemeinsamen Analyse der Tätigkeit, der Kontextelemente der Situation (Regeln, Instrumente, Akteure usw.) und der relevanten Wissensressourcen?

Welche dieser Ressourcen werden explizit und prioritär behandelt?

Auf welche Vorkenntnisse kann man zurückgreifen?

Unterweisend

Simulativ

Explorativ

3. Synthetische Verarbeitung

IV-Systematisierung

Vertiefte Systematisierung und Erweiterung der Wissensressourcen, die in der jeweiligen Situation benötigt werden.

 

Welche Ressourcen (Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen) müssen fach- und bildungsplanbezogen vertieft werden?

Wie können sie didaktisch eingeführt werden, damit sie den Bezug zur Ausgangssituation wahren?

Welche didaktische Strategien und Techniken können angewendet werden?

Unterweisend

Explorativ

Verhaltensorientiert

Kollaborativ

V-Konsolidierung

Konsolidierung der Ressourcen durch Praxis- und Anwendungs-aktivitäten.

Konsolidierung der Kompetenzen durch modulierte (nah/fern) Transferaktivitäten.

Mit welchen Strategien soll die Konsolidierung von Ressourcen und Kompetenzen gefördert werden?

Welche Strategien eignen sich zur Förderung von Transfer auf ‹nahe› oder ‹ferne›?

Welche Routineübungen, allenfalls rekursive Phasen sind zur Konsolidierung vorzusehen?

Instruktionsorientiert

Simulativ

Explorativ

 

4. Beurteilung

VI-Beurteilung

Summative Beurteilung der Wissensressourcen und der Kompetenzen.

Wie sollen die individuellen Ressourcen und die Kompetenzen beurteilt werden Situationen?

Wie können die Lernenden in die Lage versetzt werden, die angestrebte Kompetenz in einer Situation anzuwenden?

Instruktionsorientiert

Simulativ

Tabelle 1: Die sechs SiD-Mikrophasen

Phase I – IDENTIFIZIERUNG der bedeutsamen Situation und einer Anfangssituation

In der vorbereitenden Identifizierungsphase ermittelt die Lehrperson die bedeutsamen beruflichen und ausserberuflichen Lebenssituationen und nimmt eine lernzielgerechte Selektion vor. Diese Auswahl fällt leichter, wenn im Bildungsplan die berufsspezifischen konstitutiven Situationen mittels Arbeitsanalysen ermittelt wurden (Ghisla, Bausch & Boldrini 2008). Allenfalls kann die Lehrkraft Erkundungen vor Ort durchführen, z.B. durch Beobachtungen oder Zusammenarbeit mit anderen Experten. Bei der Gestaltung des Unterrichtsszenarios wählt sie aus vorgesehenen Situationen jene aus, die fach- und lernzielspezifisch besonders interessant und funktional sein kann. Selbstredend lassen sich solche Situationen immer wieder aufgreifen, auch im Rahmen weiterer Unterrichtsszenarien. Auf dieser Basis kann die Lehrkraft Szenario und Aktivitäten konkret planen, wobei sie u.a. von den in Tabelle 1 angegebenen didaktischen Fragestellungen ausgehen kann.

Phase II – PRÄSENTATION der Situation

Nach sorgfältiger Planung beginnt in der zweiten Phase die eigentliche Unterrichtsarbeit mit der Präsentation der Situation, die ins Klassenzimmer ‹gebracht› wird. Dabei achtet die Lehrkraft darauf, a) was für eine Situation vorgestellt wird (direkt von den Lernenden erlebt oder modelliert), b) wer sie präsentiert und c) wie, d.h. mit welchen Formen, Methoden und Mitteln sie präsentiert wird. Mit dieser Didaktisierung ändert die Situation sozusagen ihren Charakter und wird von einer beruflichen (oder ausserberuflichen) zu einer didaktischen Situation.

Die Bedeutung dieser Phase hängt u.a. von der Art der gewählten Situation ab, die entweder «authentisch» ist, d.h. von den Lernenden oder anderen Akteuren direkt erlebt, oder «modelliert», d.h. im Unterricht vermittelt oder «reproduziert». Im Falle von erlebten Situationen kann die Lehrperson Lernende im Voraus damit beauftragen, darüber authentisches Material zu sammeln und vorzubereiten, z.B. mit Bild- oder Videoaufnahmen von persönlich oder durch andere vollzogenen Arbeits- oder Produktionsprozessen.[9] Natürlich sind aber auch schriftliche Beschreibungen und Unterlagen zweckdienlich. Authentisches Material kann auch von der Lehrkraft selbst oder von externen Testimonials vorgelegt werden.

Authentische Situationen haben einen besonderen Mehrwert: Dadurch, dass sie direkt erlebt und erfahren werden, sind sie für die didaktische Verarbeitung, d.h. für die Diskussion, die Analyse und die Synthese leichter zugänglich, sie bergen weiter ein hohes Motivationspotenzial und können die persönliche und berufliche Identitätsentwicklung anregen. Insbesondere weisen sie die vorzügliche Möglichkeit auf, das Geschehen und die Anforderungen am Arbeitsplatz den beruflichen Normen und den persönlichen Bedürfnissen gegenüberzustellen. Ein solcher Vergleich kann das Selbstverständnis der Lernenden stärken und ihr Bewusstsein für die eigenen Autonomiespielräume fördern.

Gibt es aber keine Gelegenheit, auf direkte Erfahrung in bedeutsamen Situationen zurückzugreifen, etwa wenn die berufliche Praxis nicht parallel zur schulischen Ausbildung erfolgt oder weil die behandelte Situation Entwicklungscharakter hat und sich ausserhalb der aktuellen Kompetenzen der Lernenden befindet, kann die Lehrkraft die Situation nachstellen, d.h. ‹modellieren›. Dazu eignen sich allerlei didaktische Mittel wie a) eine selbst strukturierte Situation schriftlich, mündlich, anhand von Fallrekonstruktionen oder mit Videos zu präsentieren oder b) die Lernenden die Situation mit Rollenspielen oder Simulationen nachspielen und reproduzieren zu lassen (für eine Palette von Simulationstechniken vgl. Bonaiuti 2014).

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass in dieser Phase die entscheidende Rolle bei der Situationsdarstellung mit Vorteil den Lernenden, allenfalls anderen Testimonials, zugewiesen wird. Andererseits kann aber auch die Lehrkraft solche Situationen rekonstruieren und im Unterricht präsentieren. Vielfältige didaktische Strategien können in diesem Fall benutzt werden, etwa spezifisch explorative Methoden (z.B. problembasiertes Lernen, Fallmethode, Fehlerdidaktik usw.) oder eben Simulationsarchitekturen.

Phase III – STRUKTURIERUNG der Situation

Die vorgestellte Situation bietet das Material für eine verallgemeinerbare Analyse und damit auch für die Ermittlung der für ein kompetentes Handeln notwendigen Wissensressourcen. Auch die analytische Verarbeitung kann sich auf verschiedene Unterrichtsstrategien und -techniken verlassen.[10] Die Fähigkeit der Lehrperson, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Klärungsfragen zu den relevanten Inhalten zu stellen, bleibt jedoch zweifellos entscheidend.

Unter Anleitung der Lehrkraft ermöglicht so die analytische Verarbeitung die Zerlegung und Dekontextualisierung der komplexen Realität einer Situation. Damit können die Lernenden die Bestandteile isolieren und ordnen, aber auch mögliche Probleme und Herausforderungen erfassen. So erlangen sie Einsicht in die Bedeutung von theoretischen Begriffen für das Verständnis einer Situation und werden sich gleichzeitig der Lücken in den eigenen Ressourcen bewusst. Ihr spontanes und intuitives Erfahrungswissen wird expliziert, diskutiert und mit dem kodifizierten Fachwissen verglichen, das von der Lehrkraft gezielt eingebracht wird. Die Verarbeitung bezieht sich selbstredend nicht nur auf Fachkenntnisse, sondern gleichsam auf Fähigkeiten und Haltungen. Es liegt dabei im Ermessen der Lehrkraft, lernzielabhängig und je nach Anforderungsniveau zu entscheiden, welche Aspekte der Situation vorrangig und mit welcher Tiefe zu behandeln sind.

Diese Phase eignet sich besonders für die explizite Strukturierung beruflicher Situationen und die metakognitive Reflexion über die eigenen Ressourcen. Beide Aspekte begünstigen die Fähigkeit zum Transfer des Gelernten auf andere Kontexte und Situationen.

Phase IV – SYSTEMATISIERUNG und Ausweitung der Wissensressourcen

Eine der grössten Herausforderungen für die Didaktik in den letzten Jahren liegt in der Tatsache, dass kompetenzorientierte Curricula und Bildungspläne den Schwerpunkt auf situiertes, instrumentelles und praktisches Wissen legen. Häufig fühlen sich Lehrkräfte, insbesondere im schulischen Kontext, orientierungslos, weil ihnen die fachliche Unterstützung der Unterrichtsfächer fehlt, die für die Konsistenz des Wissens bürgen und den Unterricht anleiten (in diesem Band Schuler & Vogt). Andere wiederum unterliegen dem Missverständnis, dass ein kompetenzorientierter Unterricht ohne systematisches und strukturiertes Wissen aus den Fächern beziehungsweise den wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen auskommen könnte.

Die synthetische Verarbeitung nach SiD bietet die Möglichkeit, diesem Problem durch die Integration der Fach- und Situationslogik beizukommen. Bei der Systematisierung erwartet man von der Lehrkraft nicht nur, dass sie das aus der Erfahrung hervorgehende Wissen ordnet, sondern es auch anreichert, vervollständigt und, je nach den Anforderungen der Situation und der Referenzfächer, strukturiert. Dieser Vorgang kann entweder an einzelnen oder am Gesamt der Wissensressourcen unter Anwendung von spezifisch auf die Erweiterung und die Festigung des Wissens ausgerichteten Strategien erfolgen. Dabei kann die Unterrichtsarchitektur unterschiedlich konzipiert werden, unterweisend, kollaborativ, instruktional … Die SiD ist diesbezüglich flexibel und ermöglicht der Lehrkraft den Einsatz verschiedener Lehrmethoden und die Modulierung des Zeitaufwandes in Abhängigkeit von den gesetzten Zielen, von den Anforderungen der Systematisierung und der Komplexität der behandelten Ressourcen.

Dies ist eine zentrale Phase des Lernprozesses, denn erst durch die Ergänzung und Vervollständigung des Wissens können die in der Ausgangssituation gemachten direkten oder indirekten Erfahrungen veredelt werden und zu einem effektiven Lernfortschritt führen. Entscheidend ist, dass der Sinnzusammenhang zwischen dem disziplinären Wissen, den zu entwickelnden Ressourcen und der Ausgangssituation gewahrt und verstärkt wird. Die funktionale Beziehung des Wissens zur Ausgangsituation darf dabei nicht ausser Acht gelassen werden.

Phase V – Konsoldierung

Die Konsolidierung der neuen Ressourcen ist der nächste unabdingbare Schritt, der in zwei Richtungen zu vollziehen ist: Die Festigung der einzelnen Ressourcen und Kompetenzen einerseits und deren Transfer, d.h. deren praktische Projektion auf ‹nahe› oder ‹ferne› Situationen.

Im Falle der Konsolidierung geht es erstens um die Gestaltung von Lernbedingungen zum Festigen, Memorisieren und Einüben einzelner Ressourcen, aber auch zur Einprägung von Handlungsschemata (Routine), von Konzepten und Begriffen. Dazu eignen sich kontextbezogene Übungen, formative Tests, Peer-Tutoring, usw.

Ähnliches gilt zweitens für die Kompetenzen, die, wie man gesehen hat, als situationsgerechte Mobilisierung und Kombination von Ressourcen zu betrachten sind. Anwendungssituationen können mit der ursprünglichen, erlebten oder modellierten Situation identisch oder ähnlich sein, sie können sich aber auch davon unterscheiden oder komplexer, also der Anfangssituation sozusagen fern liegen und so künftige Entwicklungen begünstigen (in diesem Band für die BM Piccini). Zu den verfügbaren Lehrstrategien gehören Fallstudien, Simulationen, Projekte usw. Gegebenenfalls können im Falle von erlebten Situationen die Lernenden damit beauftragt werden, ihr neues Wissen am Arbeitsplatz anzuwenden, Erfahrungen zu sammeln, um dann damit wieder ins Klassenzimmer zurückzukehren.

In dieser Phase können Konsolidierungszyklen eingeschaltet werden, etwa zu einer angemessenen Stabilisierung und Verstärkung der anvisierten Ressourcen.

Phase VI – Beurteilung

Am Ende der Systematisierung und Konsolidierung der Ressourcen und der Entwicklung der Kompetenzen bahnt sich der Übergang zur letzten Phase mit der summativen Beurteilung an (in diesem Band Bausch). Diesbezüglich kann die Lehrperson ohne weiteres traditionelle Methoden zur punktuellen Kontrolle der einzelnen Wissensressourcen anwenden (Tests, theoretische Prüfungen usw.), aber die SiD plädiert ebenso für eine partielle oder vollständige Kompetenzbeurteilung, unabhängig davon, ob sie real oder simuliert geschieht. Falls möglich soll die Leistungsbeurteilung im reellen Rahmen der Berufspraxis erfolgen, andernfalls im schulischen Kontext, wo die Situation dank Unterrichtsstrategien, die bereits in der Konsolidierungsphase verwendet wurden, nachgebildet bzw. simuliert werden kann. Die in der Situation vorgenommene Leistungsbeurteilung, wie auch immer sie gestaltet ist, lässt die Option offen, entweder zur Vorbereitungsphase zurückzukehren, z.B. indem eine ähnliche Situation erneut bearbeitet wird, oder zur Phase der synthetischen Verarbeitung, um die Ressourcen wieder aufzugreifen und zu vertiefen.

4Schlussfolgerungen und Herausforderungen

In diesem Beitrag wurde die Situationsdidaktik als die allgemeine Grammatik eines didaktischen Handelns vorgestellt, das sich an Situationen orientiert, auf die Entwicklung von Kompetenzen abzielt und vornehmlich für den schulischen Ausbildungskontext typisch ist. Der Ansatz stützt sich auf bestimmte Begriffe (berufliche Situation, Kompetenzen und Ressourcen, Wissensintegration) und didaktische Kategorien (Transposition, Transfer, Kreislauf), die den konzeptionellen Bezugsrahmen liefern. Dieser wird in einem Modell operationalisiert, das aus vier Makrophasen und sechs didaktischen Mikrophasen besteht, die idealerweise den Weg zum Erwerb von Ressourcen und zur Entwicklung von Kompetenzen vorzeichnen. Das Modell ist explizit rekursiv in der Sequenzialität der Phasen, vor allem jene der Verarbeitung, und vielseitig in der Verwendung von Strategien und Methoden, die auf die Bedürfnisse der Lehrperson und auf die Anforderungen des Kontextes passen. Als Grammatik muss die SiD in gewissem Sinne als ‹Handlungsschema› assimiliert werden. Den Lehrpersonen ist es beschieden, sie auf verschiedene Weise zu deklinieren.

Die SiD hat in den verschiedenen Bereichen der Berufsbildung bereits eine breite, teilweise experimentelle Anwendung gefunden. Daraus ergeben sich Herausforderungen und Arbeitsperspektiven, die zur intensiven, auch empirischen Evaluation verschiedener Aspekte verpflichten. Die Autoren halten es deshalb für angebracht, ein Monitoring der derzeitigen Unterrichtspraktiken zu entwickeln und spezifische Forschungsperspektiven zu aktivieren, um die Auswirkungen dieses Ansatzes auf die Aneignung und den Transfer von Ressourcen und Kompetenzen zu untersuchen.

Gianni Ghisla

Situationsdidaktik – eine historisch-begriffliche Kontextualisierung

1Einführung

Didaktik und Situationen. Situationsdidaktik.

Mit den weitreichenden Schulreformen der 1970er-Jahre verstärkte sich auch das Interesse für die allgemeine Didaktik und die Fachdidaktiken. Die Beziehung zwischen ‹Didaktik und Anwendungssituation› regte die theoretische Auseinandersetzung sowie generelle und berufsbildungsspezifische Umsetzungen in der Praxis an und so wuchs an der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) die Idee einer eigenständigen Situationsdidaktik (SiD) mit einer spezifischen Identität und eigenen konzeptionellen Grundlagen heran. Diese Grundlagen sowie das Modell der SiD selbst werden in anderen Beiträgen in diesem Bande diskutiert (Boldrini & Wüthrich und Ghisla). Hier sollen kurz einige historisch-institutionelle Koordinaten skizziert werden, in der Hoffnung, die Einordnung der SiD in den weiten Kontext der didaktischen Reflexion zu ermöglichen und die begrifflichen Verbindungen zu jenen Traditionen aufzeigen zu können, welche für den pädagogisch-didaktischen Diskurs hierzulande bedeutsam sind. Es geht dabei insbesondere um die deutsche, die französische, die italienische sowie, übergreifend, auch um die angelsächsische Tradition.

Mit diesem Rekonstruktionsversuch, der vorerst die Didaktik im Allgemeinen ins Auge fasst, um sich dann auf die Besonderheiten der beruflichen Bildung zu konzentrieren, wird keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben.

2Ein Blick auf die Entwicklung der Didaktik und der Didaktiken

Die modernen Ursprünge der Didaktik (griechisch didàskein: lehren) liegen in den Anfängen der Neuzeit, als die Suche nach einer Methode, nach einer Logik (ratio) des Unterrichts begann. Comenius erhob sie dann in der Didactica magna zur Kunst des Lehrens und zur Seele des Lehrberufs. Der mittelalterlichen Sorge um die Inhalte fügte er die Frage hinzu, wie man diese lehren kann, und ging dabei von der Idee aus, dass alle Menschen dank einer universellen Methode alles lernen können (Comenius 1657/1992). Diese Idee einer Rationalisierbarkeit der Lehre behielt bis heute ihre Gültigkeit.

Lange blieb jedoch die Didaktik Teil des pädagogischen Diskurses, ohne zu einer eigenen Identität zu gelangen. Das änderte sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, als sich dafür ein eigenständiges Interesse herausbildete, insbesondere in Deutschland.[11] In Frankreich hingegen tauchte der Begriff der Didaktik erst in den 1970er-Jahren auf (Martinand 2005), während er sich in der angelsächsischen pädagogischen Kultur nicht durchsetzen konnte, da man dort den zu Beginn des Jahrhunderts eingeführten Begriff des Curriculums bevorzugte (Gundem & Hopman 1998, Wigger 2004, 248).

Der Beginn des 20. Jahrhunderts war geprägt von einer internationalen Reformbewegung, die für die verschiedenen nationalen Traditionen, in Italien wie in Frankreich und in der Schweiz, in Deutschland wie in den USA, eine Art fil rouge darstellte. Aus all diesen Bewegungen gingen wichtige Impulse für die Didaktik hervor, auch im Berufsbildungsbereich, etwa mit Kerschensteiner, Freinet und Dewey.

3Der Kontext in der Nachkriegszeit und in den 70er-Jahren

Die Nachkriegszeit war geprägt vom Wiederaufbau, aber auch vom Kalten Krieg, der den internationalen Wettbewerb anheizte. In diesem Kontext und als Folge der sozialen und kulturellen Bewegungen in den 1960er-Jahren nahmen sowohl die ehrgeizigen Pläne für die strukturellen Schulreformen als auch eine lebhafte pädagogische Debatte Gestalt an, die sich tiefgehend auf die Entwicklung der Didaktik und der Didaktiken auswirkte. Einer der Dreh- und Angelpunkte der Reformen in Europa war die Lehrerbildung, ein wesentlicher Bestandteil jener kontinentalen Tradition, wonach eine gute Schule auf guten Ressourcen beruht – dem sogenannten Input –, zu denen v.a. gute Lehrkräfte gehören: Dies führte einerseits zur Akademisierung der Lehrerbildung und zur Abschaffung der Tradition der Lehrerseminare und andererseits zur Überzeugung, dass die Beherrschung eines (Schul-)Faches für dessen Unterweisung nicht ausreicht, sondern beruflicher Fähigkeiten bedarf, die bei der Didaktik und ihren Bezugswissenschaften zu suchen sind.

Auf der anderen Seite wehte aus den USA ein neuer Wind, der auf die Steuerung der Schule über den Output, d.h. über die Kontrolle der Ergebnisse des Bildungssystems, abzielt. Die curriculare Perspektive, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts skizziert worden war (Bobbit 1918), hatte jenseits des Atlantiks in der Nachkriegszeit Fahrt aufgenommen und das Interesse von den Inhalten zu den Lernzielen und deren Kontrolle verschoben (Taylor 1949). Dieser Output-orientierte curriculare Ansatz bot sich u.a. als Alternative zu den klassischen Schullehrplänen der europäischen Tradition an (Westbury 1998). Die technizistische, auf Zweckrationalität beruhende Logik des Curriculums setzte sich so auch in Europa durch und überschattete zunehmend die Inhalte und Bildungsideale der humanistischen Tradition. Es verbreiteten sich sowohl eine Lernzieldidaktik als auch der Kompetenzbegriff, der als Schlüssel zur Überwindung einer Schule gilt, die dafür kritisiert wird, ein träges, für die Bedürfnisse des Lebens und der Arbeit (angeblich) unbrauchbares Wissen zu vermitteln. Der Begriff wirkte sich auch auf die Entwicklung der Fach- und Bereichsdidaktiken aus, die zusammen mit allerlei Methoden v.a. im deutschsprachigen Raum die Allgemeindidaktik in den Schatten stellten und drei grosse Tendenzen hervorbrachten: die Didaktik, in einem weiten Sinne verstanden und offen für verschiedene Kontexte (allgemein, disziplinär, sektoriell usw.), die Methoden (Methodik/Didaktik der Methoden) und die Rezepturen (Didaktik der Rezepte).[12] Die Grenzen zwischen diesen drei Orientierungen sind fliessend, und ihre Identität wird durch jene sprachlich-kulturellen Traditionen bestimmt, welche auch die schweizerische Realität beeinflussen.

Angesichts der Grenzen dieses Beitrags konzentrieren wir uns im Folgenden auf die Zusammenfassung einiger wesentlicher Aspekte der deutschen und französischen Tradition, die für die Idee einer SiD relevant sind. Eine italienische Berufsbildungsdidaktik ist hingegen schwer abzugrenzen und kann hier nicht näher betrachtet werden (Ghisla 2022). Zur angelsächsischen Tradition siehe in diesem Band den Beitrag von Leumann & Scharnhorst.

4Berufsbildungsdidaktik in Deutschland und Frankreich

In der deutschen Berufsbildungsdidaktik profilierten sich in den letzten drei Jahrzehnten die Begriffe «Handlung», «Kompetenz» und «Lernfeld»[13], ergänzt durch die auch heute noch flächendeckend dominierende «Lernzieldidaktik» (Mager 1962). Entscheidend für die Entwicklung ab den 1970er-Jahren war jedoch das Aufkommen der bereits erwähnten curricularen Perspektive (Robinsohn 1968), die den Begriff der «Lebenssituationen» als Ausgangs- und Endpunkt jedes pädagogisch-didaktischen Anliegens einführte. Die Idee wurde zwar bald auch im beruflichen Kontext aufgegriffen (Zabeck et al. 1973)[14], ihre Durchsetzung liess jedoch auf sich warten, mindestens bis zur Einführung des Lernfeldkonzepts Mitte der 1990er-Jahre. Das Interesse an der Berufsbildungsdidaktik intensivierte sich jedoch bereits in den 1980er-Jahren und brachte zum einen verschiedene, nach Lernorten differenzierte methodische Entwürfe hervor (Bonz 2009); zum anderen führte es zu den didaktischen Ansätzen der «Handlungsorientierung» (HO), der «Kompetenzorientierung» und des «Lernfeldkonzepts», die sich faktisch nach und nach zu einem komplexen curricularen Konzept zusammenfügten.

Die HO[15] suchte eine Antwort auf das chronische Defizit der beruflichen Bildung, nämlich die dualistische Trennung von Schule und Betrieb (Dörig 2006, 322ff.; Czycholl 2009), und entwickelte sich zu einer Art «Aushängeschild der didaktischen Moderne» (Herkner & Pahl 2020, 190f.; Czycholl 2009, 172; Nickolaus 2009). Sie integrierte die «Kompetenzorientierung» in dem Sinne, dass die Kompetenzen die Rolle der Lernziele übernehmen. Das Ergebnis war ein fragiles didaktisches Konzept, dessen offensichtliche Mängel (z.B. Fehlen einer theoretischen Fundierung und einer Konzeption reflexiver Denkprozesse, Verabsolutierung des praktischen Handelns, Tendenz zum methodischen Monismus) zwar zum Gegenstand umfangreicher empirischer Untersuchungen wurden (Lisop 1998; Dörig 2006; Czycholl 2009; Nicklaus 2018; Herkner & Pahl 2020), jedoch nicht verhindern, dass die HO «geradezu als die Lösungsstrategie für die vielfältigen Problemfelder im dualen System der Berufsbildung im wahrsten Sinne des Wortes ‹gehandelt›» wird (Dörig 2006, 336).

«Handlungs-» und «Kompetenzorientierung» wurden in das curriculare Modell, das «Lernfeldkonzept» und die damit verbundene «Lernfelddidaktik» integriert und bewirkten so einen echten Paradigmenwechsel in der deutschen Berufsbildung. Mit einem politisch-administrativen Beschluss von 1996 sanktionierte die Kultusministerkonferenz (KMK) das neue Modell als einzig legitimen Ansatz für die Entwicklung von Rahmenprogrammen.[16] Damit wurde nicht nur die organisatorisch-institutionelle Struktur der deutschen Berufsbildung neu geordnet, auch die Didaktik musste sich neu erfinden. Die traditionellen, von den wissenschaftlichen Disziplinen abhängigen Unterrichtsfächer liessen sich in ein integriertes Konzept einbinden, das sich an Arbeitssituationen und -anforderungen orientiert. Daraus ergibt sich ein curriculares Kontinuum zwischen Wissen und Erfahrung bzw. zwischen zwei Prinzipien der Organisation und Systematisierung von Wissen: die Logik der wissenschaftlichen Disziplinen und die Logik der situativen, kompetenzbasierten Anwendung (Clement 2003; Ghisla 2009). Die Umsetzung auf der didaktischen Ebene führte zum Grundsatz der Integration von Instruktion und Konstruktion sowie zu einer kompromisslosen Öffnung in Richtung eines methodologischen Pluralismus.

 

Der Beitrag der deutschsprachigen Tradition in den letzten Jahrzehnten lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Aufwertung der Arbeit als Bildungsform und als Beitrag zur sozialen und kulturellen Integration,

Einführung eines neuen curricularen Paradigmas mit dem «Lernfeldkonzept», das ein Gleichgewicht zwischen dem wissenschaftlich begründeten Wissen und dem situierten Wissen sowie die Komplementarität zwischen Instruktion und Konstruktion anstrebt,

Ablehnung jeder Form von theoretischem und methodologischem Monismus zugunsten eines eklektischen, pragmatischen und pluralistischen Ansatzes.

In der französischsprachigen Kultur sind die Ursprünge der Didaktik jüngeren Datums und fallen mit den grossen Reformen der Schulsysteme und der Akademisierung der Lehrerbildung zusammen. Bis in die 1960er-Jahre wurden dem eher negativ besetzten Begriff der Didaktik die Begriffe «Psychopädagogik» und «Methode» vorgezogen (Dorier et al. 2013). Einen entscheidenden Schritt machte die Didaktik 1990 mit der Gründung der Hochschulinstitute für Lehrerbildung (IUFM) (Amade-Escot 2013), aber auch dank der konzeptionellen Beiträge zweier Protagonisten: Chevallard (1991), dem wir den Begriff der «didaktischen Transposition» verdanken, und Brousseau (1998), der das Konzept der «didaktischen Situation» prägte. Die didaktische Transposition unterstreicht den grundlegenden Prozess der Abkehr vom wissenschaftlich etablierten Wissen hin zum Wissen, das es zu lehren gilt, und schliesslich zum tatsächlich gelehrten und zum effektiv erlernten Wissen. Mit dem Konzept der didaktischen Situation[17] leitet Brousseau eine Art kulturellen Wandel in der pädagogisch-didaktischen Diskussion ein. Er versteht die didaktische Situation als eine Situation, die dem Unterricht dient (Brousseau 2011, 2) und die von adidaktischen Situationen zu unterscheiden ist, welche die Realität ausserhalb von institutionellen Lehrkontexten prägen.

 

Auf diesem fruchtbaren Boden entstand in den 1990er-Jahren die sogenannte «didactique professionelle». Deren grundlegende Konzepte wurden in einem zentralen Beitrag von drei der Protagonisten, Pastré, Mayen und Vergnaud (2006), zusammengefasst: die Kontinuität zwischen Tätigkeit und Lernen, die Analyse der realen Arbeit, die Konzeptualisierung der Handlung. Der französische Beitrag bliebe jedoch unvollständig ohne Verweis auf Le Boterf, dem wir die Entwicklung eines anregenden und für die didactique professionnelle[18] fundamentalen Kompetenzkonzepts verdanken. «La compétence est la mobilisation ou l’activation de plusieurs savoirs, dans une situation et un contexte donnés» (Le Boterf 1994): Dies die Definition, die den Begriff der Ressource für die Trias des Wissens einführt: «savoir», «savoir faire», «savoir être». Ressourcen, die in Situationen entsprechend den kontextuellen Bedürfnissen kreativ mobilisiert werden, führen zu kompetentem Handeln und werden in situ zu Kompetenz.

 

Zusammengefasst bezieht sich der Beitrag der französischen Tradition zur Didaktik auf die

Einführung, Systematisierung und Valorisierung der Konzepte der «didaktischen Transposition» (Chevallard) und der «didaktischen Situation» (Brousseau),

Aufwertung der «Arbeitsanalyse»,

Entwicklung eines eigenständigen «Kompetenzbegriffs» (Le Boterf),

Aufwertung des Reflexionslernens auf der Grundlage der «Konzeptualisierung der Handlung»,

«didactique professionnelle» (Pastré, Mayen, Vergnaud et al.).

5Die Berufsbildungsdidaktik in der Schweiz

In unserem Land spielt die Allgemeindidaktik seit dem 19. Jh. eine wichtige Rolle, in der Lehrerbildung und an den pädagogischen Fakultäten, v.a. in der Deutschschweiz (Schneuwly 2005). Doch wie in Deutschland brachen auch in der Schweiz für die Allgemeindidaktik schwierige Zeiten an (Niggli & Reusser 2018; Reusser 2018), als mit den Reformen und der Akademisierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in den 1960er- und 1970e-Jahren die Fachdidaktiken ihren Aufschwung nahmen. Deren Entwicklung wird durch zahlreiche institutionelle Initiativen angeregt, etwa im Rahmen der jüngsten Reorganisation der Universitäten und der Gründung der Hochschulkonferenz swissuniversities, findet aber auch in den neuen pädagogischen Hochschulen eine Verankerung.[19] Die Debatte wird ausserdem vornehmlich in zwei Zeitschriften geführt: in der Schweizerischen Zeitschrift für Bildungswissenschaften (SZB) und in den Beiträgen zur Lehrerbildung (BzL).[20] Zu erwähnen ist auch die Gründung der Konferenz Fachdidaktiken Schweiz (KOFADIS),[21]

Tatsächlich gerät die Didaktik zu einer Art Dauerbaustelle, wobei man in der deutschen und in der französischen Schweiz eigene Wege geht und kaum gegenseitiges Interesse zeigt (Dorier et al. 2013; Aeby Daghé & Schneuwly 2021). Auch die Berufsbildungsdidaktik erweist sich als besonders lebendig, nicht zuletzt dank der institutionellen Förderung des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI), angestossen durch die Vorgaben des Berufsbildungsgesetzes (BBG/2002–2004). Aber auch andere Institutionen wie die EHB und verschiedene Universitäten in St. Gallen, Zürich, Genf und Luzern sowie die Schw. Gesellschaft für angewandte Berufsbildungsforschung (SGAB) leisten einen namhaften Beitrag[22].

Mit den Bestimmungen zur Revision der beruflichen Grundbildung löste das neue BBG einen entscheidenden Prozess aus. Die Federführung lag dabei von Anfang an beim SBFI, dem die operative und koordinierende Verantwortung unter den Berufsbildungspartnern obliegt, das aber auch auf die Unterstützung der EHB zählt. Curriculare und didaktische Instrumente wurden plötzlich zu einer Notwendigkeit, der das SBFI mit dem sogenannten Triplex-Modell eine erste Antwort zu geben suchte. Dieses Modell verfolgt eine strikte Lernziellogik, wonach Lernziele auf drei verschiedenen hierarchischen Ebenen zu definieren sind: Von allgemeinen Leitzielen werden zuerst Richtziele und dann operationalisierte Lern- bzw. Leistungsziele abgeleitet. Die Kritik an diesem Modell liess nicht lange auf sich warten. Bereits 2004 wurde auf Initiative der EHB ein Projekt ins Leben gerufen, das zur Entwicklung von CoRe