Die 7. These - Enno de Vries - E-Book

Die 7. These E-Book

Enno de Vries

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Beschreibung

In diesem Kriminalroman mit Schauplätzen in Oldenburg und Ostfriesland dreht sich alles um Öffentlichkeit und Privatheit, um Selbst-Inszenierung und Authentizität, um Ruhm und Diskretion.

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Seitenzahl: 151

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ähnliche


Enno de Vries

Die 7. These

Ein Theaterkrimi aus dem Nordwesten

© 2016 Jens Aden

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-8660-6

Hardcover:

978-3-7345-8661-3

e-Book:

978-3-7345-8662-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen …

(Vorwort Luthers zu den 95 Thesen)

Jetzt wissen Sie: ich spiele nun und nie. –

(Börries Frh. von Münchhausen)

1

Sonntag, 29. Oktober 2011

Herta Schweismüller aus Siegen stapft durch den Sand des Nordstrandes von Spiekeroog. Erst musste sie von ihrer Pension einmal quer durchs Dorf laufen, an sich eine nette Strecke, denn der Ort ist nicht besonders groß und zudem ohnehin der malerischste der ostfriesischen Inseldörfer, aber jeden Tag diese Strecke, nur um zum Strand zu gelangen, ist eigentlich eine kleine Zumutung. Warum die Spiekerooger nicht wie alle anderen Inselgemeinden auch Fahrräder für die Urlaubsgäste vermieten? So viel Ruhe müsste Hertas Meinung nach nun auch wieder nicht sein. Gerade heute, an ihrem letzten Urlaubstag tut es ihr um jede Minute leid, die sie nicht am Wasser sein kann, egal ob nachher im Hafenrestaurant beim Frühstück oder eben jetzt beim Morgenspaziergang.

Endlich hat sie die Dünenkette erreicht, geht weit ausschreitend die Holzbohlen zum Strand hinauf und hinunter und schirmt mit der Hand ihre Augen gegen die Sonne ab – heute zeigt sich der Oktober von seiner sonnigsten Seite. Die letzten Tage waren eher windig und ein bisschen regnerisch, eher herbstlich eben, was man natürlich erwarten muss, wenn man in dieser Jahreszeit nach Ostfriesland fährt, aber heute erweist es sich, dass es eben doch auch anders geht. Immerhin ein schöner Abschiedstag.

Der Strand ist um diese Zeit noch fast menschenleer, verschiedene Vögel – Möwen, Austernfischer und Rotschenkel – picken im Schlick am Rande des Strandes. Herta legt einen Schritt zu, um ihren Kreislauf nun noch einmal richtig in Gang zu bringen. Ein Zwischending von Gehen und Joggen, das ist das Tempo, das ihr am besten gefällt und das ihr am meisten Entspannung bringt: Sport, aber ohne Stress.

Heute Nachmittag wird sie schon in der Bahn sitzen, auf dem Weg nach Siegen, zwei entspannte Wochen gehen zu Ende. Morgen sitzt sie dann um diese Uhrzeit schon wieder bei ihrer Arbeit, in einer großen Brauerei in Kreuztal, wird dann von acht bis halb fünf im Büro Bestellungen aufgeben und Rechnungen schreiben, und danach geht’s wieder zurück per Bahn nach Siegen.

Die Vorstellung ist nicht verlockend. Hier ist die Luft so frisch und gesund, und die Einheimischen sind so nett und zurückhaltend, manche nennen sie auch stur, aber Herta nicht, die findet das angenehm unaufdringlich. Nicht immer sofort einen Schnack auf den Lippen, kein Aufplustern bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ja, im Alter könnte Herta sich durchaus vorstellen, sich hier niederzulassen. Aber ob dafür das Geld reichen wird?

Ach Mensch, sieh mal an: Das hatte sie gar nicht zu wünschen gewagt, da liegt sogar ein Seehund am Strand, noch ist er nur schemenhaft zu erkennen, aber sie wird sich langsam anpirschen, um ihn nicht zu verscheuchen. Der Wind steht günstig, so dass er nicht ihre Witterung aufnehmen kann. Schade, dass sie ihre Taschenkamera nicht dabei hat, kann ja auch keiner ahnen, dass ausgerechnet hier und heute …, also den Zweistundenausflug zu den Seehundsbänken mit der ‘Spiekeroog III’ hatte sie sich ja nun ausdrücklich gespart, das ist nicht dasselbe, als wenn man selbst am Ende der Insel oder eben hier am Strand...

Als sie sich auf dreißig Meter genähert hat, kann sie, ohne von der Sonne geblendet zu werden, genauer hingucken, um zu erkennen, ob es ein erwachsenes Tier ist oder ein Heuler, um den man sich vielleicht kümmern müsste.

So genau kennt sich nämlich Herta in der Zoologie nicht aus, um zu wissen, dass es um diese Zeit keine gefährdeten Jungtiere mehr gibt. Und so menschenleer ist der Strand, dass keiner Hertas gellenden Schrei hören kann, als sie genauer erkennt, was da von den Wellen hin- und hergeschaukelt wird.

2

Donnerstag, 12. Oktober 2011

Die Stiftskirche von Surwold ist dunkel und kalt, nur im Chor der Klosterkirche brennen ein paar Kerzen. Jeder Sitz des alten Chorgestühls in der Apsis wird nur wenig beleuchtet von einer Kerze, die jeweils links an der Seitenwand in einem Halter steckt. Es zieht ständig, und so flackern die Lichter und lassen den Kirchenraum mystischer wirken, als wenn der große Pendelleuchter angeschaltet würde, geschweige denn der Scheinwerfer, der eigentlich nur für die Reinigung des Chors oder zum Fotografieren des Altars dient. Die Schönheit des gotischen Schnitzaltars mit der Kreuzigungsszene lässt sich in dieser fahlen Beleuchtung kaum erkennen.

„In nomine Patri et Filii et Spiritu sancti.“ –

„Amen.“

Die Oberin beendet die Hora. Jeden Abend um sechs werden für ein Viertelstündchen biblische Texte gelesen und ein paar liturgische Gesänge angestimmt; öffentlich sind diese kleinen Andachten, aber meist kommen nur wenige Dorfbewohner und nur gelegentlich bleiben ein paar Touristen, wenn die Besichtigungszeit der Kirche endet und sie von den Ordensschwestern auf die anschließende Hora hingewiesen werden. So bietet der Chorraum mit dem alten, schlicht geschnitzten Chorgestühl links und rechts des Altars immer genügend Platz für die Teilnehmer.

Und wenn auch sonst nur wenige Besucher an der kleinen Andacht teilnehmen, waren heute gar keine Gäste zugelassen; nur die Ordensschwestern waren zugegen. Schwester Felicitas löscht die Lichter der Kerzen, knickst noch einmal vor dem Altar, bevor sie als letzte die Apsis verlässt, den langen Gang durch die Sitzreihen der Kirche abschreitet und schließlich den Haupteingang erreicht. Sie schließt die große Eingangspforte von innen ab und geht schnellen Schrittes die Wände entlang, vorbei an den Seitenaltären, erreicht das Tor zum Kreuzgang, über den sie das Wohngebäude der Ordensschwestern ansteuern will. Doch im Kreuzgang wird sie von der Oberin erwartet. Sie erschrickt, weil sich zunächst nur schemenhaft erkennen lässt, wer hier steht und weil sie ohnehin unter einer enormen Anspannung steht.

„Die lungern immer noch vor dem Haupttor herum“, beginnt die Klosterleiterin, „obwohl wir bekannt gegeben haben, dass das Kloster geschlossen ist und wir nicht für eine Stellungnahme zur Verfügung stehen. Überall Kameraleute und Reporter. Schwester Veronika hat schon einen in den Obstbäumen gesehen, der versuchte, über die Klostermauer zu klettern!“

Schwester Felicitas zuckt mit den Schultern, äußerlich schuldbewusst, doch innerlich unsicher, was sie dagegen tun könnte.

„Die Zeitungen sind auch voll davon“, fährt die Oberin halb vorwurfs-, halb mitleidsvoll fort. „Ich habe sie Ihnen unter der Tür zu Ihrer Zelle durchgeschoben. Warum lassen die Ihre Familie nicht in Ruhe?“

Felicitas zuckt erneut mit den Schultern, räuspert sich und begibt sich zur Essenstafel.

3

Hannas Bericht

Ich habe auch einmal mit Mike seine Tante im Kloster Surwold besucht. Damals, im Sommersemester 1994. Natürlich durften wir nicht gemeinsam in einem der Gästezimmer schlafen, wir waren ja nicht verheiratet, – das ging gar nicht. Aber immerhin hatte sie nicht grundsätzlich was gegen unsere Freundschaft oder dagegen, dass wir zusammen verreisten.

Sie war mir sofort sympathisch, eine Frau, die zu dem steht, was sie tut. Ihr Gang ins Kloster war wohl in der Familie nicht ganz unumstritten gewesen, aber sie hatte darin die einzige Chance gesehen, nicht in einer unglücklichen Ehe oder als frustrierte Chefsekretärin zu enden. Felicitas ist die Schwester von Mikes Vater. Die stammten aus kleinen Verhältnissen, Mikes Vater hatte studieren dürfen, seine Schwester sollte nach der Mittelschule nicht weiter zur Schule, wollte aber lernen, war auf der Suche, wollte nicht irgendeine xbeliebige Arbeit anfangen, also ging sie wohl zunächst nur zum Ausprobieren hierher ins Emsland als Novizin in den Benediktinerinnenorden, ins Kloster Surwold. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist der Orden hier relativ liberal, Mikes Tante konnte sogar zu Familienfesten und Feiertagen zu ihrer Familie und musste nicht auf Teufel komm ‘raus – ach, schlechtes Bild –, also nicht um jeden Preis mit ihren Ordensschwestern Weihnachten oder Ostern begehen, obwohl die ja immer mit Nachwuchsproblemen und so zu kämpfen haben. Naja, ohne diese gewissen Freiheiten hätte sie auch einige Dinge nicht getan, die einigen Stress gemacht haben, und letztlich wäre sie nicht in die ganze Chose hineingeraten, um die es hier geht.

4

Hannas Bericht

Also, angefangen hat das Ganze mit dieser Theatergruppe. Mein damaliger Freund Michael, – er selbst nennt sich ja immer nur Mike –, der hatte mit mir in Oldenburg Germanistik studiert. Ich bin dann nach dem Studium ans Theater gegangen, Mike blieb an der Uni – erst als Assistent, dann machte er seine Doktorarbeit, kriegte dann eine feste Stelle als Dozent, inzwischen ist er Professor dort. Aber so richtig ausgelastet hat er sich mit seiner Wissenschaft in der Provinz nie gefühlt. Oldenburg als Lebensmittelpunkt hat er geliebt, aber er hatte eben auch seine künstlerischen Pläne, und die gingen viel, viel weiter.

Er hat sich damals Gleichgesinnte gesucht und auch gefunden: ein abgebrochenes Germanisten-Pärchen, eine arbeitslose drittklassige Schauspielerin und eine Sprecherzieherin. Und mit denen hat er Theater gemacht. In Oldenburg, – aber natürlich immer die große deutsche Kulturszene im Blick.

Das Germanistische Institut unserer Uni, also der Karl-Jaspers-Universität in Oldenburg, die hatte einige Jahre vor unserem Studienbeginn Räume in einer ehemaligen Klinik bekommen, das war ein großes Gebäude, damals frisch renoviert, und da war in dem früheren Operationssaal ein Theaterraum eingerichtet worden, für studentische Theatergruppen. Jedenfalls, mein Freund Mike, der hatte die Idee, dort könne doch auch eine, sagen wir mal, semiprofessionelle Schauspielertruppe proben und aufführen. Und weil der Theaterraum „Theater im OP“, also abgekürzt: „TOp“ hieß, nannten die sich „LiLiTOp“, das stand für „Literatur-Liebhaber im TOp“.

Ich sagte ja schon, dass Mike durchaus über Kontakte in der deutschen Kulturszene verfügte, weil natürlich auch unsere früheren Kommilitonen bei diversen Kulturträgern arbeiteten, was man halt so tut als Germanist, wenn man nicht Deutschlehrer oder Feuilletonredakteur in Buxtehude wird.

Also, die Gruppe trat im „Schlachthof“ in München auf, in Berlin in der „Hebebühne“ oder in der Hamburger „Kulturfabrik“. Immer, wenn Mike und seine Leute eine Produktion fertig hatten, sind sie damit durch die Lande getourt. Natürlich stand Mike in der Zeit nicht für seine Lehrveranstaltungen zur Verfügung, und das sorgte gelegentlich für Unmut unter den Studenten und auch unter den Kollegen in der Germanistik-Abteilung, aber andererseits fanden es natürlich auch alle toll, wenn einer aus der Abteilung, also ein Kollege oder später eben der Chef, in den „Neuesten Münchner Nachrichten“, der „Bremer Abendzeitung“ oder dem „Göttinger Blickpunkt“ eine Rezension bekam (meistens geschrieben von ehemaligen Kommilitonen von uns, die als freie Journalisten arbeiteten). Wenn das Applausometer mal wieder kräftig ausgeschlagen hatte, dann waren sie schon stolz darauf, Mike als Assistenten, Kollegen oder Dozenten zu haben, auch wenn sie sich manchmal über ihn ärgerten, – dass er eben so oft nicht anwesend war.

Das Problem an der ganzen Sache war aber eigentlich nicht so sehr, dass er gelegentlich Ausflüge in die Theatersubwelt machte, sondern vor allem, was er und seine Leute da spielten. Und Sie ahnen schon, darin liegt eigentlich auch die Tragik seines Endes.

Also, gespielt wurde kein traditionelles Guckkastentheater – das ging im „TOp“ ja ohnehin nicht, weil ja da die Zuschauer von den Rängen auf die Bühne guckten wie früher die Medizinstudenten rund um den Operationstisch. Wie so eine Art Mini-Amphitheater. Und was die spielten, waren auch keine fertigen Theaterstücke, sondern was die machten, das war sogenanntes biographisches Theater. Also eigentlich -, meine Freundin Frauke sagt immer: Psychotherapie auf der Bühne. Psychotherapie, die nicht von der Krankenkasse bezahlt wird, sondern von den Zuschauern an der Theaterkasse. Ganz am Anfang haben sie ja noch auf aktuelle Anlässe geschielt, ein Stück über Schulerlebnisse zu Pestalozzis soundsovieltem Geburtstag, oder zum Oldenburger Stadtjubiläum irgendwas über ehemalige Studenten, die dann zu Berühmtheiten wurden, August Hinrichs, Karl Jaspers und so weiter. Das war noch zu unseren Studienzeiten.

Aber als wir dann beide fertig waren mit dem Studium, ging es immer mehr um das Leben der Schauspieler selbst. Die haben mal ein Stück auf einem Jahrmarkt spielen lassen, und da zogen sie an der Losbude Schicksalslose, ob sie sich verlieben, krank werden, sterben oder heiraten oder was sonst noch so möglich ist im echten Leben. Und dann mussten sie dazu was improvisieren, spontan was aus ihrem eigenen Leben erzählen, was zu dem Stichwort passte. Es gab also keinen festen Text, auch keinen eigentlichen Autor, keinen Regisseur; es gab kein Textbuch, sondern eben Text aus dem Stegreif, je nach Loszettel. So war das Stück bei jeder Aufführung ein wenig anders, weil eben jeder jedes Mal andere Lose zog, tja, und darauf waren die auch mächtig stolz.

Eigentlich nannten sie das alles auch gar nicht mehr Theater, sondern Performance. Nichts, was man später gedruckt nachlesen konnte. Die waren auch nicht interessiert am Verfassen, sondern am Spielen –, naja, was man so spielen nennt, das war ja schon oft auch mehr als nur Spiel, das war ja schon auch richtiges Leben. Und immer Action fürs Publikum, das war vor allem Mikes Devise. Dem war kein Tabu zu gering, um nicht gebrochen zu werden. Mal ließen sie sich verkloppen wie das Krokodil im Kaspertheater, mal ließen sie sich von den Zuschauern an- und ausziehen wie Barbie-Puppen. Und dazu wurde immer ein Text improvisiert, der was mit den Darstellern selbst zu tun haben sollte. Keine Rolle spielen. Authentisch sein – das war das Credo der Gruppe. Also meine Art von Theater war das nicht.

5

Hannas Bericht

Kennengelernt habe ich Mike gleich zu Beginn des Studiums, er war in meinem Semester. Ich war nicht sofort verliebt bis über beide Ohren, wir mussten uns erst aneinander gewöhnen. Wir haben gemeinsam Referate gehalten, zum Beispiel über die Dramentheorie von Aristoteles, und dann kam eine größere Hausarbeit über die Inszenierungen von Christoph Schlingensief, den haben wir zu diesem Zweck in Braunschweig interviewt – da hatte der gerade eine Gastprofessur an der Kunsthochschule, – später hat er ja mehr mit seiner Krankheit als mit seiner Theaterarbeit Furore gemacht –.

Mike wirkte zunächst ziemlich unnahbar, aber je besser wir uns kennen lernten, desto offener wurde er dann doch. Sehr straight. Beeindruckte die Professoren mit seinen unverrückbaren Ansichten, stieg schnell zum Lieblingsstudenten von Professor Minter auf, der war damals einer der ganz großen Germanistikpäpste. Aber nur so kommt man zu was. Mike kriegte die studentischen Jobs angeboten, die HiWi Stellen, um die andere sich gerissen hätten, aber er hat meist abgelehnt, der hielt das für Zeitverschwendung. Stundenlang für den Prof am Kopierer stehen, Literaturlisten tippen, Bücher aus der Unibibliothek schleppen – was man in der Zeit schon wieder alles selbst lesen und erarbeiten konnte! Ab und zu nahm er zwar schon mal so einen Job an, aber eher, um irgendeinen Dozenten nicht vor den Kopf zu stoßen, wenn der ihm was anbot. Für sich selbst brauchte Mike nicht viel Geld, der hat immer bescheiden gelebt, der kam mit einem Brot und etwas Gouda eine Woche lang aus. Dass er trotzdem nicht der Schlankeste war – also wirklich kein Traumtyp – das lag vor allem am Bier.

Später hat er dann doch öfter gejobbt, aber außerhalb der Uni: in Kneipen und Cafés, damit hat er dann die Produktionen von LiLiTOp finanziert, bevor er vor zwölf Jahren die Stelle an der Uni bekam (zunächst als Assistent, später als Professor) und solange die Theatergruppe noch keine eigenen Einkünfte hatte. Von den Eintrittsgeldern konnten die sich ja auch später nicht ernähren, aber immerhin kam einiges an Unterstützung vom Oldenburger Kulturverein, von der Niedersächsischen Sparkassenstiftung und anderen Institutionen; die fanden diese Performance-Sachen aufregend und innovativ und hielten das für eine unterstützenswerte kulturelle Errungenschaft.

Ich war damals schon skeptisch. Diese Art entsprach nicht meiner Vorstellung von einem Theater, das die Menschen erreicht. Des Kaisers neue Kleider! Ich wollte immer die „moralische Anstalt“, ein Theater, das Menschen unmittelbar anspricht, ein Theater, das etwas verändert. Klar, auch mit ihrer Psycho-Schiene haben Mikes Leute anregende Diskussionen ausgelöst, da gab es teilweise heftige Zuschauerreaktionen nach den Vorstellungen, aber irgendwie blieb das immer im Privaten. So verändert man die Welt nicht, hab ich mir immer gedacht, – OK, das wollte Mike auch gar nicht, aber mir war das immer schon zu wenig. Also bin ich von Oldenburg aus nach dem Studium für ein paar Jahre an die Landesbühne in Aachen gegangen. Und dann nach Berlin ans Capito-Theater, als Dramaturgin: Kinder- und Jugendtheater – und das entsprach mehr meinen Vorstellungen, weil man wirklich Leute, und eben vor allem Kinder erreichen kann mit dem, was man so gemeinhin als Gesellschaftskritik bezeichnet.

Aber der Reihe nach.

6

Mikes Vorlesung (10. Oktober 2011)

„Vorlesung: Literatur und Wirklichkeit. Die Verarbeitung biographischen Erlebens in der deutschen Literatur vom Sturm und Drang bis zur Gegenwart / Prof. Dr. phil. Michael Moltke / Hörsaal 5 / Di 17-18“, so lautet der Eintrag ins Vorlesungsverzeichnis im Wintersemester 2011/12. Hörsaal 5 ist einer der beiden großen Vorlesungssäle und es ist ein Zeichen der Anerkennung der Universitätsleitung, wenn Mike diesen Raum zugewiesen bekommt. 600 Zuhörer passen hinein, und selten bleiben mehr als die letzten beiden Reihen unbesetzt. Es kommen natürlich nicht nur Studenten. Mikes Vorlesungen werden auch von den literaturbeflissenen Oldenburgern gehört – pensionierten Oberstudienräten, aber besonders von den berufslosen Ehefrauen der Oldenburger Wissenschaftler und der Wirtschaftselite, denn Mike hat nicht nur ein gewisses Renommee mit seinen Theaterprojekten erzielt, sondern wirkt – trotz einer gewissen Korpulenz – über das Fachliche hinaus mit seiner Ausstrahlung auf die Damenwelt der Stadt und Umgebung. Und nach den Ereignissen der vergangenen Woche und der großen Resonanz in den Medien ist bei manchem Zuhörer das Interesse an der heutigen Vorlesung nicht nur literaturwissenschaftlich begründet. Aber all dies erwähnt Mike, ganz professionell, mit keinem Wort.