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Lizentiatsarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Didaktik für das Fach Deutsch - Grammatik, Stil, Arbeitstechnik, Note: 1, Universität Zürich (Deutsches Seminar), Sprache: Deutsch, Abstract: Die Rezeption von Informationen über das Medium Radio erfordert die Aufmerksamkeit und Konzentration des Hörers in besonderem Masse, denn Hörfunkkommunikation spielt sich einzig über den akustischen Kanal ab. Diese spezifische mediale Voraussetzung veranlasste die Sprachforschung schon früh, die Verständlichkeit von Hörfunktexten1 als besonders wichtig zu erachten. Am Radio wird gesprochen und gehört, nicht geschrieben und gelesen, was sprachlich adäquate, d. h. in ihrem Stil gesprochen sprachliche Formulierungen verlangt. Was in einer freien Moderation leicht umzusetzen ist, erweist sich in Radionachrichten als schwieriger, denn bei den Nachrichten handelt es sich in der Regel um einen geschriebenen Text, der am Mikrofon monologisch verlesen wird. Die Anforderung an einen hörergerechten Nachrichtentext bleibt aber dieselbe: «Die Nachrichtensprache muss der Alltagssprache möglichst ähnlich sein.» (Zehrt 1996: 46) Mit anderen Worten: Das Charakteristikum einer gut verständlichen Nachrichtensprache am Radio ist ihre Orientierung an einem mündlichen Sprachstil, d. h. ihre geplant konzeptionell mündliche Ausrichtung. Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, inwiefern sich die Nachrichtensprache des Schweizer Radios DRS (SR DRS) im Spannungsfeld von konzeptioneller Mündlichkeit/ Schriftlichkeit verändert hat. Wie weit konnte sich die Sprache der Radionachrichten von Merkmalen der Schriftlichkeit, die das Hörverständnis erwiesenermaßen behindern, lösen?
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Die Rezeption von Informationen über das Medium Radio erfordert die Aufmerksamkeit und Konzentration des Hörers in besonderem Masse, denn Hörfunkkommunikation spielt sich einzig über den akustischen Kanal ab. Diese spezifische mediale Voraussetzung veranlasste die Sprachforschung schon früh, die Verständlichkeit von Hörfunktexten1als besonders wichtig zu erachten. Am Radio wird gesprochen und gehört, nicht geschrieben und gelesen, was sprachlich adäquate, d. h. in ihrem Stil gesprochensprachliche Formulierungen verlangt. Was in einer freien Moderation leicht umzusetzen ist, erweist sich in Radionachrichten als schwieriger, denn bei den Nachrichten handelt es sich in der Regel um einen geschriebenen Text, der am Mikrofon monologisch verlesen wird. Die Anforderung an einen hörergerechten Nachrichtentext bleibt aber dieselbe: «Die Nachrichtensprache muss der Alltagssprache möglichst ähnlich sein.» (Zehrt 1996: 46) Mit anderen Worten: Das Charakteristikum einer gut verständlichen Nachrichtensprache am Radio ist ihre Orientierung an einem mündlichen Sprachstil, d. h. ihre geplant konzeptionell mündliche Ausrichtung.
Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, inwiefern sich die Nachrichtensprache des Schweizer Radios DRS (SR DRS) im Spannungsfeld von konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit verändert hat. Wie weit konnte sich die Sprache der Radionachrichten von Merkmalen der Schriftlichkeit, die das Hörverständnis erwiesenermassen behindern, lösen? Dazu werden die Abendnachrichten von SR DRS im Zeitraum zwischen 1973 und 2006 empirisch auf Eigenschaften der Mündlichkeit/Schriftlichkeit hin untersucht. Die Wahl des Nachrichtenformats als Untersuchungsgegenstand hat sich hauptsächlich aus zwei Gründen ergeben: Einerseits handelt es sich bei den Radionachrichten um eine Sendung mit unbestrittener Bedeutung und Wichtigkeit für die Hörer
1In der vorliegenden Arbeit wird von einem allgemeinen Textbegriff ausgegangen, nach dem ein Text
mündlich oder schriftlich vorliegen kann (vgl. z. B. Vater 2001: 14). Auf eine Differenzierung zwischen
Text und Diskurs (vgl. z. B. Koch/Oesterreicher 1985: 21f.) wird verzichtet.
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und auch für das Radio selbst; andererseits weisen Radionachrichten seit ihren Anfängen eine grosse Konstanz in Form und Inhalt auf und sind daher für diachrone Analysen besonders geeignet.
In einem ersten Schritt werden die theoretischen Grundlagen für die Untersuchung gelegt: Den allgemeinen historisch-publizistischen Betrachtungen zu den Radionachrichten (Kap. 2) folgt die spezifisch linguistische Abgrenzung und Beschreibung der Radionachrichten in Form einer Textsortenanalyse (Kap. 3). Danach werden die Bereichegesprochene/geschriebene Sprachemithilfe theoretischer Modelle ausführlich dargestellt und erläutert (Kap. 4). Im empirischen Teil der Arbeit erfolgt die eigentliche Textanalyse und Auswertung der Daten (Kap. 5). Auf mögliche Ursachen einer qualitativen Sprachverschiebung - man denke an die Dualisierung des Schweizer Rundfunks in den 1980er-Jahren oder an allgemeinere, unter dem Begriff des Sprachwandels einzustufende Tendenzen der Gegenwartssprache2- kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden.
2Vgl. zur Dualisierung: Merten (1994), Schlicker (2003) u. a.; zum Sprachwandel: Sieber/Sitta
1986: 159-168), Sieber (1998), Braun (1998), Duden (2005: 1254ff.) u. a.
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Die Geschichte der Informationsvermittlung am Schweizer Radio ist geprägt durch eine langjährige Abhängigkeit von den Printmedien. Von 1922, dem offiziellen Anfang des Schweizer Hörfunks, bis 1971 durften die regionalen Radiogenossenschaften bzw. ab 1931 die SRG3ihre Nachrichten nur bei der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA) beziehen, welche so faktisch fast 50 Jahre lang Produzentin der Radionachrichten war. Die SDA gehörte dem Schweizerischen Zeitungsverlegerverband (SZV), der sich über Jahrzehnte mit Erfolg gegen die aufkommende Radiokonkurrenz wehrte, indem er die Radioredaktionen über die SDA nur bedingt mit politischen Informationen belieferte. Dies war auch im Sinne des zuständigen Bundesrates Marcel Pilet-Golat, der 1935 verlauten liess: «In der Schweiz hat die Politik im [Radio-]Studio nichts zu suchen.» (zit. nach Gschwend 2005: 18) Folglich strahlte die SRG bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges nur zwei Nachrichtenbulletins pro Tag aus, ab 1939 deren vier. Die Sendungen wurden sowohl von der SDA verfasst als auch mittels hauseigener Sprecher verlesen. Der Nachrichtendienst der SRG war damit vollständig abhängig von der SDA. (Vgl. ebd.) In sprachlicher Hinsicht ist zu vermuten, dass die Texte der Radionachrichten damals aufgrund ihrer Presseorientierung sehr schriftnah formuliert waren, aus heutiger Sicht also wenig hörergerecht vermittelt wurden.
1963 begann der damalige Studiodirektor der SRG, Max Bolliger, trotz Gängelband der SDA mit dem Aufbau einer AbteilungInformation.So wurden die vier Nachrichtensendungen der SDA ab 1966 um stündliche Kurzbulletins aus eigener Nachrichtenredaktion im Studio Bern ergänzt (vgl. Häusermann 1998: 70f.). Die Vormachtstellung der Printmedien im Informationsbereich wurde erst 1971 endgültig aufgehoben, indem sich die SRG von der SDA als übermächtiger Nachrichtenlieferantin lösen konnte. Seither trägt die SRG die alleinige Verantwortung für ihre Nachrichtensendungen und kann ihre
3Damals noch Abkürzung fürSchweizerische Rundspruchgesellschaft.1960 erfolgte mit der Aufnahme
des Fernsehbetriebs die Umbenennung inSchweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft(SRG). (Vgl.
Meier 2003: 548f.).
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Informationsquellen selbst bestimmen. (Vgl. Gschwend 2005: 28−34; SRG SSR idée suisse 2006)4
Die Zeit zwischen 1971 und heute ist bei SR DRS vor allem durch zwei umfassende Programmrevisionen geprägt, welche auch die Nachrichtensendungen betrafen: 1984 wurden u. a. die bisherigenAbendinformationeninAbendjournalumbenannt und in ihrer Form und Präsentation neu gestaltet. Die Dualisierung des Rundfunks 1983 formierte die Radiolandschaft der Schweiz komplett neu, was die SRG in vielerlei Hinsicht zum Handeln veranlasste. In der Publizistikwissenschaft wird davon ausgegangen, dass sich die öffentlich-rechtlichen und privaten Radio- und Fernsehsender formal wie auch inhaltlich gegenseitig angepasst haben (Konvergenzthese).5Die Vermutung liegt nahe, dass sich die neue Konkurrenz der Privatsender auch auf die Sprache bei SR DRS ausgewirkt hat, und zwar im Sinne einer Vermündlichung. Der Grund für diese Annahme liegt in der regional-lokalen Orientierung der Privatsender, welche die geografische Nähe zum Hörer verstärken, indem sie ihn in einem betont lockeren Sprachstil ansprechen.6Diese Hypothese hinsichtlich der Ursachen einer möglichen Verschiebung der Sprachqualität bedarf jedoch genauerer Untersuchungen, welche im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden können. Im Zuge der zweiten grösseren Konzeptänderung 1995 integrierte SR DRS dasAbendjournalin das jeweils im Anschluss daran gesendete politische HintergrundmagazinEcho der Zeit,d. h., die rund zehnminütige Hauptausgabe der Abendnachrichten wurde mit dem Politmagazin zu einer 45-minütigen Sendung unter dem NamenEcho der Zeitzusammengeführt. Dies hatte auf Form und Inhalt der Nachrichten aber praktisch keinen Einfluss, denn die Nachrichten-Redaktion und die RedaktionEcho der Zeitarbeiten bis heute eigenständig. (Vgl. SR DRS 2006) Da die Hauptausgabe der Abendnachrichten
4Ausführliche Informationen zur Geschichte der SRG: Drack (Hrsg.) (2000); Mäusli/Steigmeier (Hrsg.)
(2006).
5Langzeitstudien zu dieser Entwicklung beim Fernsehen bieten Merten (1994) und Schlicker (2003).
6Eine verbreitete Programmstrategie der Privatsender ist der Einbezug der Hörer. Ein aktuelles Beispiel
bietet Radio Ri, Ostschweizer Privatradio undRadio of the year 2006.Der Lokalsender erklärt seinen
Erfolg durch ein Programm, das auf die aktive Teilnahme des Publikums setzt und soNähezu den
Rezipienten schafft (vgl. http://www.radiori.ch). Es ist anzunehmen, dass dabei vorwiegend mündliche
Sprachregister zur Anwendung kommen. Spezifisch zur Nachrichtensprache konstatiert Häusermann (vgl.
1998: 62) in den Anfängen der Privatradios sehr dynamische Sprechweisen, ähnlich der Art von Werbe-
spots. Der ungezwungene Sprachstil, in dem sich der Hörer wiedererkennen soll, weist auf mündlichere
Formulierungen hin. Auch bei SR DRS heisst es heute: «[E]rst ein klares, dem Publikum zugewandtes
Sprechen am Mikrofon ermöglichtPublikumsnäheund Glaubwürdigkeit.» (Geiger et al. 2006: 5; Her-
vorh. M. B.) Der Zusammenhang zwischen Nähe-Sprache und konzeptioneller Mündlichkeit wird unter
Kap. 4.2 erläutert.
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seit 1995 nicht mehr als eigenes Sendegefäss geführt wird, muss sie in der vorliegenden Arbeit über die SendungEcho der Zeiterfasst werden.
Folgende Darstellung zeigt die wichtigsten Veränderungen in den Abendnachrichten von SR DRS während des Untersuchungszeitraums 1973 bis 2006:
1nur Nachrichtenblock, ohne Hintergrundberichte; Gesamtdauer der Sendung: 45 Min. Abb. 1: Abendnachrichten SR DRS, 1973-2006 (vgl. SR DRS 2006)
Neben der Bezeichnung der Sendung hat sich aufgrund der Programmrevisionen auch die Anfangszeit verändert, was für die vorliegende Untersuchung jedoch nicht von Bedeutung ist. Die Länge der Ausgaben bleibt mit durchschnittlich 7 bis 10 Minuten konstant. Hinsichtlich der Präsentationsform ist zwischen der klassischen Nachrichtensendung bis 1983 und dem Nachrichtenjournal ab 1984 zu unterscheiden. Auf die Eigenschaften der verschiedenen Formen von Nachrichtensendungen wird in Kap. 3.2 näher eingegangen, wenn es um die Beschreibung der TextsortenRadionachrichtenundNachrichtenjournalgeht.
2.2Echo der Zeit- das «Flaggschiff» von SR DRS
Die Hörerzahlen eines Radioprogramms geben Aufschluss über seine Wichtigkeit und Beliebtheit bei den Rezipienten. Seit 2001 misst SR DRS die Radionutzung in der Schweiz mit dem elektronischen MesssystemRadiocontrol.7In früheren Jahren geschah dies über die so genannte Medienstudie: Radiohörer wurden im Rahmen von Stichtagsbefragungen über ihren Medienkonsum des Vortages befragt. Aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsmethoden sind die Daten vor 2001 nicht mit den aktuellen vergleich-
7Vgl.http://www.radiocontrol.ch.
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bar und werden daher von SR DRS nicht mehr zur Verfügung gestellt. Die Reichweiten älterer Nachrichtensendungen wie derAbendinformationenoder desAbendjournalskönnen somit nicht mehr eruiert und für einen Vergleich herangezogen werden; die statistischen Werte beschränken sich auf dasEcho der Zeitseit 2001. (Vgl. Radiocontrol 2006; SR DRS 2006)
Die Zahlen zeigen die Nutzung der SendungEcho der Zeitvon Personen über 15 Jahren in der Deutschschweiz im Zeitraum von 2001 bis Mitte 2006. Mit der Nettoreichweite ist der prozentuale Anteil der Personen gemeint, die an einem durchschnittlichen Tag dasEcho der Zeitmindestens drei Minuten lang gehört haben. Auf DRS 1 sind dies im 1. Semester 2006 13.1 % oder 579'400 Personen. Im Vergleich zu 2001 ergibt sich ein minimaler Rückgang von 1.6 %. Auch die durchschnittliche Nutzungsdauer pro Hörer zeigt aktuell mit 18 Minuten einen leicht tieferen Wert als in früheren Jahren, wobei der diachrone Vergleich keine klare Tendenz erkennen lässt. Der Marktanteil, also der Anteil der Nutzung des Senders DRS 1 an der Gesamt-Radionutzung in der Deutschschweiz, verdeutlicht aber eindrücklich die Beliebtheit der Sendung: Beinahe die Hälfte aller Radiohörer über 15 Jahren in der Deutschschweiz hören um 18 Uhr dasEcho der Zeit.Aus den Zahlen ist leider keine weitere Differenzierung zwischen Nachrichten-
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und Hintergrundteil der Sendung möglich. Mit der nächsten Tabelle wird die Popularität desEchosnoch verdeutlicht.
Abb. 3: NutzungszahlenEcho der Zeitim Vergleich
Universum: Bevölkerung ab 15 Jahren, Deutschschweiz
Quelle: Radiocontrol (mit freundlicher Genehmigung des Medienreferats SR DRS 2006)
Die Tabelle zeigt einen Vergleich der Reichweiten desEchosmit anderen ausgewählten Sendungen von DRS 1. Um möglichst viele Hörer zu erreichen, wird dasEcho der Zeitheute auf DRS 1, DRS 2 und DRS MW 531 ausgestrahlt. Mit 15.6 % bzw. rund 690'000 Hörern pro Tagesausgabe steht die Informationssendung damit an zweiter Stelle bei SR DRS; einzig dasRendez-vous am Mittagverzeichnet höhere Einschaltquoten. In Prozenten beläuft sich der Marktanteil desEchosauf 46.6 (DRS 1) bzw. 10.2 (DRS 2). Ein Vergleich mit den durchschnittlichen Marktanteilen (DRS 1 rund 40 %, DRS 2 etwa 5 %) belegt die Beliebtheit der Sendung. (Vgl. Radiocontrol 2006; Forschungsdienst SRG SSR idée suisse 2006) Mit dem 60-jährigen Jubiläum im Jahre 2005 gehört dasEchonicht nur zu den beliebtesten, sondern auch zur «wahrscheinlich älteste[n] noch immer existierende[n] politische[n] Wortsendung der Welt» (Geschwend 2005: 225). Gerne wird dasEchodaher auch als «Flaggschiff der Informationssendungen von Radio DRS» (ebd.: 228) bezeichnet.
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Die Zahlen unterstreichen die verbreitete Rezeption der zu untersuchenden Sendung. Da es sich beimEcho der Zeit(und auch bei den früheren Nachrichtensendungen) um ein Informationsformat handelt, ist davon auszugehen, dass SR DRS bei der Nachrichtenvermittlung besonderen Wert auf eine adäquate Sprache legt. Eine Nachrichtensendung muss nicht nur gut verständlich, sondern auch kompetent und glaubwürdig daherkommen. In der aktuellen BroschüreSprechen am Mikrofon bei Schweizer Radio DRS(Geiger et al. 2006) formuliert SR DRS Leitlinien der sprachlichen Präsentation, die sich vor allem aus den kommunikativen Bedingungen am Radio ergeben. Für das Nachrichtenformat zentral ist die Forderung, Nachrichtentexte gezielt für die auditive, nicht-visuelle Rezeption zu schreiben (vgl. ebd.: 57-76). Was dies bezüglich konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit konkret bedeutet, wird die vorliegende Untersuchung sowohl theoretisch als auch empirisch aufzeigen.
Diesen allgemeineren historisch-publizistischen Erläuterungen zu den Abendnachrichten von SR DRS folgen im nächsten Kapitel unter dem BegriffTextsortespezifische Darstellungen aus linguistischer Perspektive.
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Zur linguistischen Beschreibung von mündlich und schriftlich realisierten Texten bietet sich die Kategorisierung nach Textsorten an. Textsorten sind «Mengen von Texten mit bestimmten gemeinsamen Eigenschaften» (Hartmann 1964: 23). Dieser einfachen Definition würden wohl die meisten Linguisten noch zustimmen; bei einer Präzisierung verschiedener Typen und Spezifika von Textsorten ist aber bis heute kein Forschungskonsens auszumachen. Das folgende Zitat beschreibt die gegenwärtige Situation noch immer treffend:
Eine allgemein akzeptierte Textklassifikation und damit einen allgemein akzeptier-
ten Begriff des Texttyps (der Textsorte) gibt es heute noch nicht, geschweige denn
eine verbindliche Terminologie. (Nussbaumer 1991: 257)
In der Forschung lassen sich vier Grundkonzepte voneinander abheben, welche Textsorten nach je spezifischen Merkmalskomplexen unterscheiden: 1. nach grammatischen Aspekten, 2. nach semantisch-inhaltlichen Aspekten, 3. nach der kommunikativen Situation, 4. nach der kommunikativen Funktion (vgl. Heinemann 2000: 9−15).8Während die ersten beiden Ansätze von sprachinternen, strukturellen Parametern ausgehen und den Text selbst ins Zentrum der Betrachtung stellen, steht bei den letztgenannten Modellen die pragmatische Orientierung im Vordergrund. Prägende Merkmale eines Textes sind entsprechend sein situativer Rahmen und seine kommunikative Funktion. Als Folge dieser unterschiedlichen Positionen wurden verschiedene integrative, mehrdimensionale Modelle zur Klassifizierung von Texten entworfen.9Diese beschreiben Textsorten als Träger von verschiedenen Merkmalen auf unterschiedlichen Ebenen und versuchen so, alle vier genannten Differenzierungskategorien mit einzubeziehen, wobei mehrheitlich die Typologisierung nach funktionalen Kriterien im Vordergrund steht. Nussbaumer (1991: 260) bezeichnet dies als «Ausdruck der allmählichen Pragmatisierung der Textlinguistik».
8Für einen ausführlicheren Forschungsüberblick: Adamzik (1995).
9vgl. z. B. Nussbaumer (1991); Heinemann/Viehweger (1991).
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Trotz dieser Versuche besteht bis heute kein Forschungskonsens über eine Gesamttypologie im Sinne von verbindlichen Analysemethoden und -kategorien, und im Hinblick auf die Vielfalt und Fülle von Textformen, deren Funktionen und Kontexte, bleibt die Realisierung eines «Modells der Modelle» möglicherweise auch eine Idealvorstellung.
Grundlage für die folgende Textsortenanalyse der Nachrichtensendung von SR DRS bildet das in der Forschungsliteratur viel zitierte Modell nach Brinker (62005), das ebenfalls eine Textsortenabgrenzung auf verschiedenen Ebenen erlaubt, indem es strukturellen, kontextuellen wie auch kommunikativ-funktionalen Aspekten der Textka-tegorisierung Rechnung trägt.
Als Basiskriterium der Textkategorisierung dient Brinker die Textfunktion, welche er als «die im Text konventionell ausgedrücktedominierendeKommunikationsintention des Emittenten» definiert (Brinker 2005: 157; Hervorh. M. B.). Es ist klar, dass ein Text (auch abhängig vom jeweiligen Rezipienten) mehrere Funktionen innehaben kann, wobei hier nur die vorherrschende berücksichtigt wird. In Anlehnung an den Klassifika-tionsvorschlag für Sprechakttypen von J. R. Searle (1979) unterscheidet Brinker (ebd.: 146) fünf «Textsortenklassen» im Sinne von «Grossklassen», welche einer ersten Grobeinteilung von Texten nach ihrer Funktion dienen. Es sind dies: Informationstexte, Appelltexte, Obligationstexte, Kontakttexte, Deklarationstexte. Die Abendnachrichten von SR DRS, welche heute wie erwähnt Teil der SendungEcho der Zeitsind, tragen eine klar informative Funktion.10Auf der Homepage von SR DRS ist zu lesen:
10Wobei die Grenze zwischen Informations- und Unterhaltungsfunktion gerade in neueren Informations-
formaten zunehmend aufgeweicht wird. Die Publizistikwissenschaft beschreibt dieses Phänomen mit dem
vagen BegriffInfotainment,von dem bis heute eine allgemeingültige Definition fehlt, da der Begriff der
Unterhaltung und sein Verhältnis zur Information schwierig zu beschreiben ist - dies nicht zuletzt, weil es
in der Individualität des Rezipienten liegt, ob er eine Sendung als eher informativ oder unterhaltend
erlebt. Auch Brinker (2005: 88f.) erwähnt die Möglichkeit, die Nachrichtensendungen zu Unterhaltungs-
zwecken zu rezipieren. Zentral für die Bestimmung der Textsortenfunktion nach Brinker ist jedoch, was
der Emittent mit dem Text ursprünglich bezwecken wollte.