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Überarbeitete Fassung mit 153 Zeichnungen Das 1884 erstmals veröffentlichte Buch beschreibt die Flucht des aus "Tom Sawyers Abenteuer" bekannten jungen Außenseiters Huckleberry Finn vor seinem Vater. Gemeinsam mit dem entflohenen Sklaven Jim begibt er sich auf eine Reise entlang des Mississippis. Sie müssen sich mit Betrügern, Puritanern und Rassisten auseinandersetzen. Schließlich triff Huckleberry Finn auch seinen alten Freund Tom Sawyer wieder, der ihn zu einem weiteren aberwitzigen Abenteuer überredet. Das Buch liefert eine ergreifende Beschreibung der Menschen und Orte am Ufer des Mississippi und gibt Einblick in die Verhaltensweisen dieser Zeit. So werden insbesondere Rassismus und Sklaverei in der amerikanischen Gesellschaft vor dem amerikanischen Bürgerkrieg thematisiert. Jeder sollte diesen Klassiker der Kinderbuchliteratur einmal gelesen haben. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 458
Mark Twain
Die Abenteuer des Huckleberry Finn
mit 153 illustrationen
Mark Twain
Die Abenteuer des Huckleberry Finn
mit 153 illustrationen
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Illustrationen: Edward Winsor KembleÜbersetzung: Henriette Koch 2. Auflage, ISBN 978-3-954181-40-7
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Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel – Huck soll »stevilisiert« werden – Moses in den »Schilfern« – Mik Watson – Tom Sawyer wartet.
Zweites Kapitel – Die Jungen entwischen. – Jim! – Tom Sawyers Räuberbande. – Finstre Pläne!
Drittes Kapitel – Eine ordentliche Strafpredigt. – Die Gnade triumphiert. – Die Räuber. – Die Dämonen. – »Eine von Toms Lügen!«
Viertes Kapitel – »Langsam aber sicher.« – Huck und der Kreisrichter. – Aberglaube.
Fünftes Kapitel – Hucks Vater. – Der zärtliche Verwandte. – Bekehrung.
Sechstes Kapitel – Der Alte geht zum Kreisrichter. – Huck entschließt sich Reißaus zu nehmen. – Ernsthaftes Nachdenken! – Politisches. – Nächtliche Lustbarkeit.
Siebentes Kapitel – Auf dem Anstand. – In die Hütte eingeschlossen. – Vorbereitung zur Flucht. – Versenken der Leiche. – Ein neuer Plan. – Ruhe.
Achtes Kapitel – Schlafen im Walde. – Auferweckung der Toten. – Auf der Wacht! – Expedition ins Innre der Insel. – Ruhelose Nacht. – Jim erscheint. – Jims Flucht. – Schlimme Anzeichen. – »Das einbeinerige Nigger.« – »Balam.«
Neuntes Kapitel – Die Höhle. – Das schwimmende Haus. – Reiche Beute.
Zehntes Kapitel – Der Fund. – Vater Bunker. – Verkleidet.
Elftes Kapitel – Huck und die Frau. – Nachforschungen. – Ausflüchte. – »Ich will nach Gohsen!« – »Jim, Jim, sie sind hinter uns her!«
Zwölftes Kapitel – Langsame Fahrt. – Geliehene Dinge. – Besteigung des Wrack. – Die Verschwörer. – »Das ist unmoralisch!« – Jagd nach dem Boot.
Dreizehntes Kapitel – Flucht aus dem Wrack. – Der Wächter an der Fähre. – Untergang. – Gesunder Schlaf.
Vierzehntes Kapitel – Gelehrte Unterhaltungen. – Der Harem. – Französisch.
Fünfzehntes Kapitel – Huck verliert das Floß aus Sicht. – Im Nebel. – Wiederfinden. – Träume. – Unrat!
Sechzehntes Kapitel – Erwartung. – »Gute, alte Kairo!« – Eine Notlüge. – Kairo verfehlt! – Wir schwimmen ans Ufer! –
Siebzehntes Kapitel – Jim findet sich wieder. – Floß zurückgewonnen. – Neue Kameraden! – Der Herzog von Somerset. – Königliches Schicksal. – Eine Gebetsversammlung. – Der Wolf unter den Schafen.
Achtzehntes Kapitel – Shakespeares Wiederaufleben. – Das kgl. Non plus ultra. – Aus der Schlinge gezogen.
Neunzehntes Kapitel – Jim als Araber. – Pastor Alexander Blodgett zieht Erkundigungen ein. – Neue Pläne. – Familien-Trauer. – Die Erbschaft. – Rührende Großmut.
Zwanzigstes Kapitel – Huck bringt das Geld beiseite. – Seltsames Versteck. – Trauerfeierlichkeiten. – Zur Erde bestattet.
Einundzwanzigstes Kapitel – Totaler Ausverkauf. – Entdeckter Verlust. – Mary Jane entschließt sich zum Fortgehen. – Huck nimmt Abschied von ihr. – Mumms.
Zweiundzwanzigstes Kapitel – Welche sind die Rechten? – Handschriften. – probe. – Tättowieren. – Die Leiche wird ausgegraben. – Fort! – Befreiung vom königlichen Joche. – Jim wird verschachert.
Dreiundzwanzigstes Kapitel – Jim fort! – Alte Erinnerungen. – Phelps Sägemühle. Eine Verwechslung. – In der Klemme.
Vierundzwanzigstes Kapitel – Ein Nigger-Dieb. – Südliche Gastfreundschaft. – »Er unverschämter junger Flegel!« – Ein dauerhaftes Gebet.
Fünfundzwanzigstes Kapitel – Die einzeln stehende Hütte. – Schändlich! – Der Blitzableiter als Beförderungsmittel. – Eine ganz einfache Sache. – Wieder die Hexen und Geister.
Sechsundzwanzigstes Kapitel – Gut durchgeschlüpft! – Schwarze Pläne. – Gewandtheit im Stehlen. – Ein tiefes Loch.
Siebenundzwanzigstes Kapitel – Der Blitzableiter. – Sein Bestes. – Ein Vermächtnis an die Nachwelt. – Löffel stehlen. – Unter den Hunden. – Eine hohe Summe!
Achtundzwanzigstes Kapitel – Das letzte Hemd. – Jagd nach dem Verlorenen. – Die Zauberpastete.
Neunundzwanzigstes Kapitel – Das Wappen. – Ein geschickter Aufseher. – Unwillkommener Nachruhm. – Ein reuiger Sünder.
Dreißigstes Kapitel – Ratten. – Lebhafte Bettgenossen. – Die Strohpuppe.
Einunddreißigstes Kapitel – Das Floß. – Sicherheitskomitee. – Ein Dauerlauf. – Jim rät zum Arzt.
Zweiunddreißigstes Kapitel – Der Doktor. – Onkel Silas. – Schwester Hotchkiß. – Tante Sally in Nöten.
Dreiunddreißigstes Kapitel – Tom Sawyer verwundet. – Die Erzählung des Doktors. – Jim profitiert etwas. – Tom beichtet. – Tante Polly kommt. – »Briefe heraus!«
Vierunddreißigstes Kapitel – Aus der Gefangenschaft befreit. – Der Gefangene wird belohnt. – Ganz ergebenst Huck Finn!
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Kennen tut ihr mich wohl noch nicht, muss mich also selbst vorstellen und noch ganz geschwind erzählen, was ich bis jetzt alles erlebt habe. Viel ist’s freilich nicht, das weiß ich selbst, aber da mein guter Freund Tom Sawyer1 viel dabei vorkommt und Tom ein solcher Held und Hauptkerl ist, auf den ich furchtbar stolz bin, so denke ich, will ich’s doch einmal probieren. Also ich bin der Huckleberry Finn, eigentlich immer kurzweg Huck genannt. Meine Mutter, wenn ich je eine hatte, habe ich nie gekannt und mein Vater ist seines Zeichens der Trunkenbold der Stadt, der eben Gott sei Dank viel auswärts ist, aber immer ab und an einmal auftaucht, wobei dann stets mein Rücken sein blaues Wunder erlebt. Jetzt ist er schon seit geraumer Weile verschwunden, aber das Geld, fürcht’ ich, wird ihn bald herlocken, wie der Honig die Wespen.
Ja so, da sprech’ ich von Geld und hab’ doch noch gar nicht gesagt, wie ich zu Geld komme. Wir haben’s nämlich den Räubern abgenommen, der Tom und ich, deren Höhle wir zufällig entdeckten, d.h. wir sahen aus sicherem Versteck zu, als sie’s eingruben und machten uns hernach, als sie weg waren, dahinter und nahmen die Bescherung für uns. Die mögen schöne Gesichter gemacht haben, als sie das Nest leer fanden! Aber die Geschichte ist viel zu groß und zu lang um sie zu erzählen und so will ich nur sagen, dass wir also richtig das Geld erwischten und zwar einen ordentlichen Haufen, sechstausend Dollars für jeden von uns und der Bürgermeister nahm meinen Teil in Empfang und »legte ihn an«, wie er sagte und ich habe nun jeden Tag einen Dollar zu verzehren. Ich – einen Dollar!
Na, lange wird mich der Alte nicht in ungestörtem Besitz der Herrlichkeit lassen, das spüre ich schon in allen Gliedern. Tom Sawyer, das ist nämlich mein bester Freund, der Stolz, die Blüte, das Haupt von allen Jungens der Stadt, der ist glücklich, der hat noch eine Tante Polly, eine gute alte Seele und einen Bruder Sid und eine Schwester Mary und der muss in die Schule und kriegt seine Kleider allemal schön geflickt, wenn er sie zerrissen hat und setzt’s dabei auch manchmal Hiebe, so gibt’s doch auch ganze Hosen. Meine Lumpen flickte keiner, die hielten freilich auch keinen Stich mehr aus, und doch weiß ich nicht, was mir lieber war: die schöne alte Lumpenzeit, die Zeit, da ich mich ungefragt in Wald und Feld umtrieb, sich keiner um mich kümmerte, ich mir mein Essen bei mitleidigen Seelen zusammenbettelte oder irgendwie verschaffte und schlief, wo mich eben gerade die Nacht überraschte – oder jetzt! – Ja so, da hab’ ich ja noch nicht gesagt, dass ich jetzt auch eine Heimat habe und zwar ein ganz ordentliches, steinernes Haus mit vielen Zimmern, und ich hab’ auch mein eigenes und da steht ein Bett drin, ein wirkliches, wahrhaftiges Bett und in dem soll ich alle Nacht schlafen, wird mir aber zuweilen herzlich sauer und dann lege ich mich auf die Diele davor und ruhe mich so ein wenig aus.
Das Haus gehört einer Witwe, die Douglas heißt und eine freundliche alte Frau ist und die probieren will, mich zu »sievilisieren«, wie sie sagt. Das schmeckt mir aber schlecht, kann ich euch sagen, das Leben wird mir furchtbar sauer in dem Hause mit der abscheulichen Regelmäßigkeit, wo immer um dieselbe Zeit gegessen und geschlafen werden soll, einen Tag wie den anderen. Einmal bin ich auch schon durchgebrannt, bin in meine alten Lumpen gekrochen, und – hast du nicht gesehen, war ich draußen im Wald und in der Freiheit. Tom Sawyer aber, mein alter Freund Tom, trieb mich wieder auf, versprach, er wolle eine Räuberbande gründen und ich solle Mitglied werden, wenn ich’s probiere und noch einmal zu der Witwe zurückkehre und mich weiter »sievilisieren« lasse. Da tat ich’s denn.
Die Witwe vergoss Tränen, als ich mich wieder einstellte, nannte mich ein armes, verirrtes Schaf und sonst noch allerlei, womit sie aber nichts Schlimmes meinte. Ich musste auch wieder in die neuen ganzen Kleider kriechen und weiter schwitzen drin, und mich quälen und den Krampf in allen Gliedern haben: und nun ging’s vorwärts im alten Trab. Wenn die Witwe die Glocke läutete, musste man zum Essen kommen. Saß man dann glücklich am Tisch, so konnte man nicht flott drauf los an die Arbeit gehen, Gott bewahre, da musste man abwarten bis die Witwe den Kopf zwischen die Schultern gezogen und ein bischen was vor sich hin gemurmelt hatte. Damit wollte sie aber nichts über die Speisen sagen, o nein, die waren ganz gut so weit, außer dass alles besonders gekocht war und nicht Fleisch und Gemüse und Suppe, alles durcheinander. Eigentlich mag ich das viel lieber, da kriegt man so einen tüchtigen Mund voll Brühe dabei und die hilft alles glatt hinunter spülen. Na, das ist Geschmacksache!
Nach dem Essen zog sie dann ein Buch heraus und las mir von Moses in den »Schilfern« vor und ich brannte drauf, alles von dem armen kleinen Kerl zu hören. Da mit einemmale sagt sie, der sei schon eine ganze Weile tot. Na, da war ich aber böse und wollte nichts weiter wissen, – was gehen mich tote und begrabene Leute an? Die interessieren mich nicht mehr! –
Dann hätt’ ich gern einmal wieder geraucht und fragte die Witwe, ob ich’s dürfe. Da kam ich aber gut an! Sie sagte, das gehöre sich nicht für mich und sei überhaupt »eine gemeine und unsaubere Gewohnheit«, an die ich nicht mehr denken dürfe. So sind nun die Menschen! Sprechen über etwas, das sie gar nicht verstehen! Quält mich die Frau mit dem Moses, der sie weiter gar nichts angeht, der nicht einmal verwandt mit ihr war und um den sich doch gewiss kein Mensch mehr kümmert da drunten unter der Erde und verbietet mir dabei das Rauchen, das doch gewiss mehr Wert für lebendige Menschen hat. Na und dabei schnupft sie, aber das ist natürlich ganz was andres und kein Fehler, weil sie’s eben selbst tut.
Ihre Schwester, Miss Watson, eine ziemlich dürre, alte Jungfer, die gerade gekommen war, um bei ihr zu leben, machte nun einen Angriff auf mich, mit einem Lesebuch bewaffnet. Eine Stunde lang musste ich ihr Stand halten und dann löste sie die Witwe mit ihrem Moses wieder ab und ich war nun sozusagen zwischen zwei Feuern. Lange konnte das nicht so weiter gehen und es trat denn auch glücklicherweise bald eine Ruhepause ein, in der ich erst aufatmete, bald drauf aber tot-langweilig und ziemlich unruhig wurde. Nun begann Miss Watson: »Halt’ doch die Füße ruhig, Huckleberry«, oder »willst du keinen solchen Buckel machen, Huckleberry, sitz’ doch gerade!« und dann wieder: »so recke dich doch nicht so, Huckleberry, und gähne nicht, als wolltest du die Welt verschlingen, wirst du denn nie Manieren lernen?« – bis ich ganz wild wurde. Nun fing sie an, mir von dem Ort zu erzählen, an den die bösen Menschen kommen und ich sagte, ich wünsche mich dahin. Da wurde sie böse und zeterte gewaltig, so schlimm hatte ich’s aber gar nicht gemeint, ich wäre nur gern fort gewesen von ihr, irgendwo, der Ort war mir ganz einerlei, ich bin überhaupt nie sehr wählerisch. Sie aber lärmte weiter und sagte, ich sei ein böser Junge, wenn ich so etwas sagen könne, sie würde das nicht um die Welt über die Lippen bringen und ihr Leben solle so sein, dass sie dermaleinst mit Freuden in den Himmel fahre. Der Ort, mit ihr zusammen, schien mir nun gar nicht verlockend und ich beschloss bei mir, das meinige zu tun, um nicht mit ihr zusammenzutreffen. Sagen tat ich aber nichts, das hätte nur alles viel schlimmer gemacht und doch nichts geholfen.
Sie war aber nun einmal am Himmel, dem »Ort der Glückseligen«, wie sie’s nannte, angelangt und teilte mir alles mit, was sie drüber wusste. Sie sagte, alles was man dort zu tun habe, sei, den ganzen Tag lang mit einer Harfe herumzumarschieren und dazu zu singen immer und ewig. Das leuchtete mir nun gar nicht ein, ich schwieg aber und fragte nur, ob sie meine, mein Freund Tom Sawyer werde auch dort sein, was sie entschieden verneinte. Wie mich das freute! Tom muss zu mir kommen, der soll nicht wohin gehen, wo ich nicht sein kann, wir beide müssen zusammen sein!
Miss Watson predigte unterdessen immer weiter und mir war miserabel elend und einsam zu Mute. Dann kamen die Nigger herein, es wurde gebetet und jedermann ging zu Bett. Ich auch. Ich stieg mit meinem Stummel Kerze in mein Zimmer hinauf, stellte das Licht auf den Tisch, setzte mich davor und probierte, an etwas Fröhliches zu denken. Das nutzte aber wenig. Ich fühlte mich so allein, dass ich wünschte, ich wäre tot. Die Sterne glitzerten und blitzten und die Blätter rauschten im Walde. Ich hörte eine Eule von der Ferne, dazwischen heulte ein Hund so jämmerlich und der Wind ächzte und stöhnte und schien mir etwas klagen zu wollen, sodass mir bald vor lauter Angst der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Die ganze Nacht draußen schien von lauter armen, unglücklichen Geistern belebt, die keine Ruhe in ihren Gräbern fanden und nun da draus herum heulten und jammerten und zähneklapperten. Mir wurde heiß und kalt und ich hätte alles drum gegeben, wenn ich nicht allein gewesen wäre. Da kroch mir auch noch eine Spinne über die linke Schulter, ich schnellte sie weg und geradewegs ins Licht, und ehe ich noch zuspringen konnte, war sie verbrannt. Dass das ein schlimmes Zeichen ist, weiß ja ein Kind, und mir schlotterten die Knie, als ich nun begann, meine Kleider abzuwerfen. Ich drehte mich dreimal um mich selbst und schlug mich dabei jedes Mal an die Brust, nahm dann einen Faden und band mir ein Büschel Haare zusammen, um die bösen Geister fern zu halten; viel Vertrauen aber hatte ich nicht zu diesen Mitteln, die nutzen wohl, wenn man ein gefundenes Hufeisen wieder verliert, anstatt es über der Türe anzunageln oder bei dergleichen kleineren Fällen; wenn man aber eine Spinne getötet hat, da weiß ich nicht, was man tun kann, um das Unglück fernzuhalten.
So setzte ich mich zitternd auf meinen Bettrand und zündete mir zur Beruhigung mein Pfeifchen an. Das Haus war so still und die Witwe weit. So saß ich lange, lange. Da schlug die Uhr von der Ferne bum – bum – bum – bum, zwölfmal und wieder war alles still, stiller als vorher. Plötzlich höre ich etwas unten im Garten unter den Bäumen, ein Rascheln und Knacken, ich sitze still, halte den Atem an und lausche. Wieder hör’ ich’s und dabei leise wie ein Hauch, das schwächste »Miau« einer Katze. »Miau, miau« tönt’s kläglich und langgezogen. Und »miau, miau« antworte ich ebenso kläglich, ebenso leise, schlüpfe rasch in meine Kleider, lösche das Licht und steige aus dem Fenster auf das Schuppendach davor. Dann lasse ich mich zu Boden gleiten, krieche auf allen Vieren nach dem Schatten der Bäume und da war richtig und leibhaftig Tom Sawyer, mein alter Tom und wartete auf mich.
Die Abenteuer und Streiche Tom Sawyers sind im I. Bande der Mark Twainschen Schriften erschienen. <<<
Wir also vorwärts und auf den Fußspitzen weiter geschlichen, den kleinen Weg hinunter, der unter den Bäumen hin nach der Rückseite des Gartens führt, mussten aber den Kopf gewaltig bücken, dass uns die Zweige nicht kitzelten. Gerade als wir an der Küchentüre vorüber wollen, muss ich natürlich über eine Wurzel stolpern und hinfallen, wodurch ein kleines Geräusch entsteht. Jetzt heißt’s still liegen und den Atem anhalten! Miss Watsons Nigger Jim saß an der Türe, wir konnten ihn ganz gut sehen, weil das Licht gerade hinter ihm stand. Er steht auf, streckt den Kopf heraus, horcht eine Minute lang und sagt dann:
»Wer’s da?«
Dann horcht er wieder und da, – jetzt schleicht er sich auf den Zehenspitzen heraus und steht gerade zwischen uns, ich hätte ihn zwicken können, wenn ich gewollt hätte. Er steht und wir liegen still wie die Mäuse und so vergehen Minuten und Minuten. An meinem Fuß fängt’s mich zu jucken an, kratzen kann ich nicht. Jetzt juckt’s am Ohr, dann am Rücken, gerade zwischen den Schultern, es ist zum toll werden! Warum’s einem nur immer juckt, wenn man nicht kratzen kann oder darf! Darüber hab’ ich oft nachgedacht seitdem. Entweder wenn man bei feinen Leuten ist, oder bei einem Begräbnis, oder wenn einen der Lehrer was fragt, oder in der Kirche, oder wenn man im Bett liegt und will schlafen und kann nicht, kurz, wo man nicht kratzen kann und darf, da juckt’s einem gerade erst recht an hundert verschiedenen Plätzen. Endlich sagt Jim:
»He da, wer’s da? Ich mich lassen tot hauen, ich haben was gehört! Aber Jim sein nicht so dumm! Jim sitzen hier hin und warten!«
Und damit pflanzt er sich gerade zwischen mich und Tom auf den Boden, lehnt den Rücken an einen Baum und streckt die Beine aus, dass das eine mich beinahe berührt. Jetzt beginnt mein Juck-Elend von neuem. Erst die Nase, bis mir die Tränen in den Augen stehen, ich wage nicht zu kratzen, dann allmählich jeder Körperteil, bis ich nicht weiß, wie ich still halten soll. Fünf, sechs Minuten geht das Elend so weiter, mir scheinen’s Stunden. Ich zähle schon elf verschiedene Orte, an denen mich’s juckt. Gerade, als ich denke, nun kannst du’s aber nicht mehr aushalten, höre ich Jim tief aufatmen, dann schnarchen und – ich bin gerettet.
Tom gab mir jetzt ein Zeichen, er schnalzte leise mit den Lippen, und wir krochen auf allen Vieren davon. Vielleicht zehn Fuß weit entfernt hielt Tom an und flüsterte mir zu, er wolle Jim zum Spaß am Baum festbinden. Ich sagte nein, ich wollte nicht, dass er aufwachte, Lärm schlüge und man dann entdecken würde, dass ich nicht im Bett sei. Dann sagte Tom, er habe nicht Lichter genug und er wolle sich in der Küche ein paar mitnehmen. Das wollte ich auch nicht erlauben aus Angst vor Jim, aber Tom ließ sich nicht halten, und so schlichen wir uns in die Küche, fanden die Lichter und Tom legte fünf Cents zur Bezahlung auf den Tisch. Ich schwitzte nun förmlich vor Angst, fortzukommen, Tom aber ließ sich nicht halten, er kroch zu Jim zurück, um ihm einen Streich zu spielen. Ich wartete bis er wiederkam, ziemlich lange, und alles war so still und dunkel und einsam um mich herum.
Endlich kam Tom und nun rannten wir eilig den Pfad hinunter und kletterten den steilen Hügel hinter dem Hause hinauf. Tom erzählte, dass er Jim mit einem Strick an den Baum gebunden habe und seinen Hut an einen Ast oben gehängt, und dass der Kerl immer weiter geschlafen und sich nicht gerührt. Späterhin behauptete Jim steif und fest, er sei behext gewesen in dieser Nacht und war sehr stolz auf sein Abenteuer und wenn die anderen Nigger von ihrer Bekanntschaft mit Hexen erzählten, zuckte Jim verächtlich mit den Schultern und trumpfte alle mit seinem Erlebnis ab. Ja, Jim war stolz auf seine »Hexen«, und wurde ordentlich berühmt deshalb. –
Tom und ich standen endlich ganz oben auf dem Hügel und konnten gerade ins Dorf hinunter sehen und da blinkten noch drei oder vier Lichter, wahrscheinlich bei Kranken oder dergleichen. Und die Sterne über uns blitzten nur so und drunten zog der Strom dahin, so breit, so breit und ohne Laut und furchtbar großartig. Wir rannten dann auf der anderen Seite den Hügel hinunter und fanden Joe Harper und Ben Rogers und noch ein paar Jungens, die auf uns warteten. Ein Boot wurde losgemacht und wir ruderten den Fluss hinunter, bis dahin, wo der große Einschnitt im Ufer ist. Dort legten wir an.
Wir kletterten auf ein dichtes Buschwerk zu und nun ließ Tom uns alle schwören, das Geheimnis nicht zu verraten und zeigte uns ein Loch im Hügel, mitten in den Büschen drin. Wir steckten die Lichter an und krochen auf Händen und Füßen hinein. Es ging ungefähr 200 Meter in dem engen Gange fort, bis sich eine Höhle auftat. Tom tastete an den Wänden umher und verschwand auf einmal unter einem Felsen, wo niemand eine Öffnung vermutet hatte. Wir folgten ihm durch einen schmalen Gang, bis wir in einen Raum gelangten, ungefähr wie ein Zimmer, nur etwas kalt feucht und dumpfig, und da blieben wir dann. Tom hielt nun eine feierliche Ansprache und sagte:
»Hier wollen wir also eine Räuberbande gründen und sie ›Tom Sawyers Bande‹ nennen. Jedermann, der beitreten will, muss einen Eid schwören und seinen Namen mit Blut unterzeichnen!«
Jedermann wollte denn auch und so zog Tom einen Bogen Papier aus der Tasche, auf den er einen furchtbaren Eid geschrieben hatte, den er uns jetzt vorlas. Darin stand, dass jeder Junge treu zur Bande halten müsse und niemals deren Geheimnisse verraten dürfe bei Todesstrafe. Wenn irgendjemand irgendeinem von uns irgend etwas zu Leid täte, müsse einer das Racheamt übernehmen, den man dazu erwähle, und er dürfe nicht essen und nicht schlafen, ehe er den Beleidiger und seine ganze Familie getötet und ein blutiges Kreuz jedem in die Brust geritzt habe, was das Zeichen der Bande sein solle. Und niemand außer uns dürfe dies Zeichen benutzen und wenn er es doch täte, solle er gerichtlich belangt und wenn dies nichts helfe, einfach getötet werden. Wenn aber einer aus der Bande die Geheimnisse verrate, werde ihm der Hals abgeschnitten, der Körper verbrannt und die Asche in alle vier Winde zerstreut, sein Name dann dick mit Blut von der Liste gestrichen, ihn auszusprechen bei Strafe verboten und er selbst solle vergessen sein für immer und ewig.
Wir alle fanden den Eidschwur prächtig und fragten Tom, ob er ihn ganz allein aus seinem eignen Kopf gemacht habe. Er sagte ja, zum größten Teil, aber einiges habe er auch in alten Piraten- und Räuberbüchern gefunden und jede ordentliche Bande, die Anspruch darauf machen wolle, anständig zu sein, schwöre einen solchen Eid.
Jetzt meinte einer, man solle doch auch die Familie töten von den Jungens, die das Geheimnis verrieten. Tom sagte, das sei eine gute Idee, nahm ein Bleistift und korrigierte es noch hinein in den Eidschwurbogen. Da meinte Ben Rogers:
»Ja, aber, hört einmal, wie ist denn das? Dort, Huck Finn«, dabei zeigte er auf mich, »hat doch gar keine Familie nicht – wen sollen wir denn da töten?«
»Er hat doch auch einen Vater«, sagte Tom Sawyer.
»Den hat er wohl, aber wo ihn finden? Früher lag er doch manchmal betrunken in der Straße, aber seit einem Jahr hat ihn niemand gesehen hier herum!«
Nun berieten sie hin und her und hätten mich beinahe ausgestoßen, denn jeder, so sagten sie, müsse jemanden zum töten haben, was dem einen recht, sei dem anderen billig, und so saßen sie und überlegten und ich heulte beinahe, so schämte ich mich. Da fiel mir plötzlich Miss Watson ein, und ich bot ihnen die zum töten an, das leuchtete ihnen ein und alle riefen:
»Das geht, die ist recht dazu, Huck kann eintreten!«
Dann nahmen wir alle Stecknadeln, stachen uns in die Finger und unterzeichneten unsern Namen mit unsrem ›Herzblut‹, wie Tom sagte.
»Nun«, meinte jetzt Ben Rogers, »auf was soll unsere Bande sich hauptsächlich verlegen?«
»Auf weiter nichts«, versetzte Tom, »als Raub und Mord und Totschlag!«
»Wen sollen wir denn berauben? Häuser – oder Vieh – oder –«
»Unsinn!« schrie Tom, »das nennt man diebsen und stehlen, nicht rauben und plündern! Wir wollen keine Diebe sein sondern Räuber! Das ist viel vornehmer! Räuber und Wegelagerer! Wir überfallen die Postkutschen und Wagen auf der Landstraße, mit Masken vor dem Gesicht und schlagen die Leute tot und nehmen ihnen Uhren und Geld ab!« –
»Müssen wir immer alle tot hauen?«
»Gewiss, das ist am einfachsten. Ich hab’s auch schon anders gelesen, aber gewöhnlich machen sie’s so. Nur einige schleppt man hie und da in die Höhle und wartet, bis sie ranzioniert1 werden!«
»Ranzioniert? Was ist denn das?«
»Das weiß ich selber nicht, aber so hab’ ich’s gelesen und so müssen wir’s machen!«
»Ho, ho, das können wir ja nicht, wenn wir nicht wissen, was es ist!«
»Ei zum Henker, wir müssen’s eben! Hab’ ich dir nicht gesagt, dass ich’s gelesen habe? Willst du’s anders machen, als es in den Büchern steht, und alles untereinander bringen?«
»Oh, du hast gut reden, Tom Sawyer, aber wie in der Welt sollen wir die Burschen ›ranzionieren‹, wenn wir nicht wissen, wie man’s macht? Das ist’s, was ich wissen will! Wie, zum Beispiel, denkst du dir’s eigentlich?«
»Ich, – ich weiß nicht, aber ich denke, wenn wir sie behalten, bis sie ranzioniert sind, so wird das heißen, bis sie tot sind!«
»Das lässt sich hören, das begreife ich, aber warum hast du das nicht gleich gesagt? Natürlich behalten wir sie, bis sie zu Tode ranzioniert sind. Aber Last werden sie uns machen genug und genug, uns alles wegfressen und dabei immer auskneifen wollen!« –
»Wie du schwatzest, Ben! Wie können sie auskneifen, wenn einer immer Wache steht, der bereit ist, sie niederzuschießen, wenn einer nur den Finger krumm macht?«
»Einer, der Wache steht? Das ist gut! Das freut mich! Also soll einer die ganze Nacht dastehen, ohne zu schlafen und sie bewachen? Das ist eine grässliche Dummheit. Warum nimmt man da nicht sofort einen Knüttel und ranzioniert sie, wenn sie hierher kommen?«
»Weil’s so nicht in den Büchern steht, darum! Ich frag’ dich, Ben Rogers, willst du alles den Regeln nach tun oder nicht? Darauf kommt’s an! Ich glaube, die Leute, welche die Bücher schreiben, wissen besser, wie man’s macht, als du! Denkst du, sie könnten von dir etwas lernen? Noch lange nicht? Und drum wollen wir die Bursche genau so ranzionieren, wie’s da angegeben ist und nicht ein bisschen anders!« –
»Schon recht, mir liegt nichts dran, ich sage aber, es ist grässlich dumm so. Sollen wir die Weiber auch töten?«
»Ben Rogers, wenn ich so dumm wäre wie du, hielt ich lieber den Mund! Die Weiber töten! Wer hat je so etwas gehört oder gelesen! Nein, die werden in die Höhle geschleppt und man ist so höflich und rücksichtsvoll gegen sie, als man kann. Nach einer Weile verlieben sie sich dann in einen und wollen gar nicht mehr wieder fort.«
»Gut, damit bin ich einverstanden! Ich für mein Teil aber danke. Bald werden wir die ganze Höhle voll Weiber haben und voll Kerle, die auf’s ranzonieren warten, sodass am Ende kein Platz mehr für die Räuber da sein wird. Ich seh’s schon kommen! Aber mach’ nur weiter, Tom, ich bin schon still!«
Der kleine Tommy Barnes war inzwischen eingeschlafen und als sie ihn weckten, fürchtete er sich und weinte und wollte zu seiner Mama und gar kein Räuber mehr sein.
Da neckten sie ihn alle und hießen ihn Mamakind und er wurde wild und schrie, nun wolle er auch alles sagen und alle Geheimnisse verraten. Da gab ihm Tom fünf Cents um ihn stille zu machen und sagte, nun gingen wir alle nach Hause und kämen nächste Woche wieder zusammen und dann wollten wir ein paar Leute berauben und töten.
Ben Rogers sagte, er könne nicht viel loskommen, nur an Sonntagen und wollte deshalb gleich nächsten Sonntag anfangen. Aber die Jungens meinten alle am Sonntag schicke sich so etwas gar nicht und so ließen wir’s sein. Sie machten aus, so bald als möglich wieder zusammen zu kommen und dann einen Tag zu bestimmen. Hierauf wählten wir noch Tom Sawyer zum Hauptmann und Joe Harper zum Unterhauptmann der Bande und brachen dann nach Hause auf.
Ich kletterte wieder auf’s Schuppendach und von da in mein Fenster, gerade als es anfing Tag zu werden. Meine neuen Kleider waren furchtbar schmutzig und voller Lehm und ich war hundemüde.
Durch Lösegeld befreit, losgekauft. <<<
Das setzte eine ordentliche Strafpredigt für mich von Miss Watson am anderen Morgen über meine schmutzigen Kleider! Die Witwe aber, die zankte gar nicht, sondern putzte nur den Schmutz und Lehm weg und sah so traurig dabei aus, dass ich dachte, ich wolle eine Weile brav sein, wenn ich’s fertig brächte. Dann nahm mich Miss Watson mit in ihr Zimmer und betete für mich, aber ich spürte nichts davon. Sie sagte mir, ich solle jeden Tag ordentlich beten, und um was ich bete, das bekäme ich. Das glaub’ ein anderer! Ich nicht. Ich hab’s probiert, aber was kam dabei heraus? Einmal kriegte ich wohl eine Angelrute, aber keine Haken dazu und ich betete und betete drei- oder viermal, aber die Haken kamen nicht. Da bat ich Miss Watson es für mich zu tun, die wurde aber böse und schimpfte mich einen Narren. Warum, weiß ich nicht, sie sagte es mir nicht und ich selbst konnt’s nicht herausfinden.
Ich hab’ dann lange im Wald gesessen und darüber nachgedacht. Sag’ ich zu mir selber: wenn einer alles bekommen kann, worum er betet, warum bekommt dann der Nachbar Winn sein Geld nicht zurück, das er an seinen Schweinen verloren hat? Und die Witwe ihre silberne Schnupftabaksdose, die ihr gestohlen worden? Und warum wird Miss Watson nicht fetter? Nein, sag’ ich zu mir, da ist nichts dran, das ist Dunst. Und ich ging zur Witwe und sagte ihr’s und die belehrte mich, man könne nur um ›geistliche Gaben‹ beten! Da dies viel zu hoch für mich war, so suchte sie mir’s deutlich zu machen: – ich müsse brav und gut sein und den anderen helfen, wo ich könne und nicht an mich, sondern immer nur an die anderen denken. Damit war auch Miss Watson gemeint, dachte ich und ging hinaus in den Wald und überlegte mir’s wieder. Aber, meiner Seel’, dabei kommt nur was für die anderen heraus und gar nichts für mich und so ließ ich denn das Denken sein und quälte mich nicht länger damit. Den einen Tag nahm mich die Witwe vor und erzählte mir von der gütigen, milden Vorsehung, die’s so gut mit dem Menschen meine und wie sie sich meiner in Gnaden erbarmen wolle, bis mir der Mund wässerte und die Augen nass wurden. Dann, vielleicht schon anderen tags, kam Miss Watson und ließ ihre Vorsehung donnern und blitzen, dass ich mich ordentlich duckte und den Kopf einzog. Es muss zwei Vorsehungen geben, dachte ich mir, und ein armer Kerl wie ich, hat’s sicher bei der Witwe ihrer besser, denn bei Miss Watson’s ihrer ist er verloren. So dachte und dachte ich und nahm mir vor, zu der Witwe ihrer Vorsehung zu beten, wenn die sich überhaupt aus so einem armen, unwissenden, elenden, traurigen Kerl, wie ich einer bin, etwas macht und sich nicht viel wohler befindet ohne mich. –
Mein »Alter« war nun schon seit einem Jahre nicht mehr gesehen worden, was für mich nur eine Wohltat war; ich hatte also kein Heimweh nach ihm. So lange er da war, verkroch ich mich meist im Wald, um mich vor seinen Schlägen zu retten; denn sobald er mich erwischte, – auch wenn er ganz nüchtern war – setzte es Prügel. Eines Tages sagten die Leute, man habe meinen Vater im Flusse, etwas oberhalb der Stadt, ertrunken gefunden. Sie meinten wenigstens, er müsse es sein. Sie sagten, der Ertrunkene sei gerade so groß, so zerlumpt gewesen und habe so ungewöhnlich langes Haar gehabt, was alles mit meinem Alten stimmte, das Gesicht aber war nicht zu erkennen gewesen, es hatte zu lange im Wasser gelegen. Sie verscharrten ihn am Ufer, aber ich war nicht ruhig, glaubte nicht an den Tod des alten Mannes und dachte, der würde schon mal wieder irgendwo auftauchen, um mich zu quälen und zu hauen.
Wir spielten hie und da einmal Räuber, vielleicht einen Monat lang und dann verzichtete ich auf das Vergnügen, – die anderen auch. Wir hatten keinen einzigen Menschen beraubt, keinen getötet, immer nur so getan. Wir sprangen aus dem Wald und jagten Sautreibern nach oder hinter Frauen her, die Gemüse in Karren zum Markte führten, nahmen aber nie irgend etwas, oder irgend wen in unsre Höhle mit. Tom Sawyer nannte das Zeug das auf den Karren lag ›Goldbarren‹ und ›Edelgestein‹ und ’s waren doch nur Rüben und Kartoffeln und wir gingen dann zur Höhle zurück und nahmen den Mund voll und prahlten, was wir alles getan hätten, wie viel Kostbarkeiten geraubt und Leute getötet und Kreuze in die Brust geritzt. Aber allmählich fing die Sache an mich zu langweilen.
Eines Tages sandte Tom einen Jungen mit einem brennenden Kienspan, einem ›Feuerbrand‹ wie er es nannte, durch die Straßen der Stadt, das war das Zeichen für die Bande sich zu versammeln. Als wir alle bei einander waren, teilte er uns mit, wie er gehört, dass anderen tags ein ganzer Haufen spanischer Kaufleute und reicher ›Ah-raber‹ wie er sagte, samt zweihundert Elefanten und sechshundert Kamelen und über tausend ›Saumtieren‹ – was das für Tiere waren, wusste er selber nicht – alle schwer mit Diamanten beladen in der Nähe im ›Höhlen-Grunde‹ lagern wollten. Da nur eine kleine Bewachung von vielleicht vierhundert Soldaten dabei sei, sollten wir uns in ›Hinterhalt‹ legen, wie er’s nannte, die Mannschaft töten und die Diamanten rauben. Er gebot uns unsere Schwerter zu wetzen, die Flinten zu laden und uns bereit zu halten. Er konnte niemals auch nur hinter einem alten Rübenkarren hersetzen, ohne dass die Schwerter und Flinten, die eigentlich Holzlatten und Besenstiele waren, mit von der Partie sein mussten. Ich für meinen Teil glaubte nun nicht, dass wir es mit einem solchen Haufen Spanier und Ah-raber aufnehmen könnten, hatte aber große Lust die Kamele und Elefanten zu sehen und stellte mich am Sonnabend zur bestimmten Stunde ein und legte mich mit in ›Hinterhalt‹.
Tom kommandierte und wir brachen los, stürmten aus dem Walde und rannten den Hügel hinunter. Mit den Spaniern, den Ah-rabern, Kamelen, Elefanten aber war’s Essig. Nur eine Sonntags-Schulklasse hatte einen Ausflug gemacht und sich im Gras gelagert und noch dazu nichts als die allerkleinsten Mädchen. Wir jagten sie auf und rannten hinter den Kindern her, eroberten aber nur etwas Eingemachtes und ein paar Stückchen Kuchen, Ben griff nach einer Puppe und Joe nach einem Gesangbuch, aber als die Lehrerin kam, warfen wir die Sachen weg und rannten davon.
Diamanten hatte ich ebensowenig gesehen und sagte das Tom auch. Es seien doch massenhaft dagewesen, erwiderte er, desgleichen Ah-raber und Kamele und alles. Warum haben wir’s dann aber nicht gesehen? fragte ich. Er sagte, wenn ich kein so Dummkopf wäre und ein Buch gelesen hätte, das ›Domkuischote‹ oder wie er’s nannte, hieß, so wüsste ich warum, ohne ihn zu fragen. Er sagte, es sei alles nur Zauberei gewesen. Es wären hunderte von Soldaten und Elefanten und Schätze dort gewesen, aber wir hätten mächtige Feinde, Zauberer, die uns zum Trotz alles in eine Kleinkinder-Sonntagsschule verwandelt hätten. Darauf meinte ich, das sei alles ganz schön, dann wollten wir einmal ordentlich gegen die Zauberer losgehen. Tom Sawyer sagte, ich sei ein Esel.
»So ein Zauberer«, sagte er, »würde ein ganzes Heer von Dämonen zu Hilfe rufen und die würden dich in Stücke hauen, ehe du Amen sagen könntest. Die sind so groß wie Bäume und so dick wie Kirchtürme.«
»Gut«, sagte ich, »lass uns doch ein paar Dämonen nehmen, die uns helfen, dann wollen wir die anderen schon zwingen.«
»Wie willst du sie denn bekommen?«
»Das weiß ich nicht. Wie kriegen die sie denn?«
»Die? O, ganz einfach. Die reiben eine alte Blechlampe oder einen eisernen Ring und dann kommen die Dämonen angesaust mit Donner und Blitz und Dampf und Rauch und was man ihnen befiehlt, das tun sie. Es ist ihnen eine Kleinigkeit, einen Kirchturm aus der Erde zu reißen und ihn dem nächsten besten um den Kopf zu hauen.«
»Wer befiehlt ihnen denn?«
»Nun, der Zauberer, der die Lampe oder den Ring reibt und sie müssen tun, was er sagt. Wenn er ihnen sagt, sie sollen einen Palast bauen, vierzig Meilen lang und ganz aus Diamanten und ihn mit Brustzucker oder Hustenleder, oder irgend etwas füllen und dann die Tochter vom Kaiser von China holen zum heiraten und – Gott weiß was noch – sie müssen’s alles tun. Und wenn man den Palast wo anders hingestellt haben will, müssen sie ihn rings im Lande herum schleppen, bis er an der rechten Stelle ist, und« –
»Aber«, sag’ ich, »warum sind sie denn solche Esel und behalten den Palast nicht für sich selber, anstatt damit herumzukutschieren für andre. Wegen meiner könnte, wer wollte, eine alte Blechlampe oder einen eisernen Ring reiben bis er schwarz würde, mir fiel’s drum doch nicht ein, zu ihm zu laufen und mir befehlen zu lassen.«
»Wie du jetzt wieder redest, Huck Finn, du müsstest eben kommen, wenn du ein Dämon wärst und einer riebe den Ring, ob du wolltest oder nicht.«
»Was? Und dabei wär’ ich so groß wie ein Baum und so dick wie ein Turm? Gut, ich wollte kommen, ich käme, aber der riefe mich nicht zum zweiten Mal, das kannst du mir glauben!«
»Pah, mit dir ist nicht zu reden, Huck Finn, du weißt und verstehst auch rein gar nichts – der vollkommenste Hohlkopf!« –
Zwei oder drei Tage lang überlegte ich mir nun die Sache, und dann beschloss ich zu probieren, ob wirklich etwas dran sei. Ich verschaffte mir eine alte Blechlampe und einen eisernen Ring, ging hinaus in den Wald und rieb und rieb, bis ich schwitzte wie ein Dampfkessel, – ich hätte so gerne einen Palast zum verkaufen gehabt. Aber es war alles umsonst, es kam kein Donner und kein Blitz und kein Dampf und kein Rauch und am allerwenigsten ein Dämon. Da begriff ich denn, dass all’ der Unsinn wieder einmal eine von Tom’s Lügen gewesen war. Er glaubt vielleicht an die Ah-raber und die Elefanten, ich aber denke anders – es schmeckte alles zu sehr nach der Sonntagsschule.
So vergingen drei oder vier Monate und wir waren nun mitten im Winter drin. Ich ging fleißig zur Schule, konnte buchstabieren, lesen, schreiben, das Einmaleins her sagen bis zu sechs mal sieben ist fünfunddreißig,1 weiter kam ich nicht und wäre auch wohl nie weiter gekommen und wenn ich hundert Jahre dran gelernt hätte – ich habe einmal kein Talent zur Mathematik.
Erst verabscheute ich die Schule, dann gewöhnte ich mich allmälich daran. Strengte sie mich einmal übermäßig an, so schwänzte ich einen Tag und die Tracht, die ich dafür anderen tags bekam, tat mir gut und frischte mich auf.
Je länger ich hinging, desto leichter wurde mir’s. Auch an der Witwe ihre Art gewöhnte ich mich nach und nach und ärgerte mich nicht mehr über alles. Nur das im Hause wohnen und im Bette schlafen wollte mir noch immer nicht hinunter und eh’ das kalte Wetter kam, rannte ich manchmal des Nachts in den Wald und ruhte dort einmal gründlich aus. Ich liebte mein altes, freies Leben viel – viel mehr als das neue, aber ich fing doch an, auch das ein klein wenig gern zu haben. Die Witwe und ich, wir kamen uns »langsam aber sicher« näher und waren ganz zufrieden miteinander. Sie sagte auch, sie schäme sich meiner gar nicht mehr.
Eines Morgens stieß ich beim Frühstück das Salzfass um und wollte eben ein paar Körnchen von dem verschütteten Salz nehmen, um es über die linke Schulter zu werfen, damit es mir kein Unglück bringe, da kam mir Miss Watson zuvor: »Die Hand weg, Huckleberry«, zetert sie, »du musst auch immer Dummheiten machen!« Die Witwe wollte ein gutes Wort für mich einlegen, aber das konnte das Unglück nicht abhalten, das wusste ich nur zu gewiss. Ich war ganz zitterig und zerschlagen, als ich vom Tisch aufstand und schlich mich hinaus, mir den Kopf zerbrechend, wo mir wohl etwas Schlimmes zustoßen und was in aller Welt es sein werde. Ich weiß auch noch andre Mittel, um Unglück fern zu halten, aber die ließen sich hier nicht anwenden und so hielt ich still und tat gar nichts, schlängelte mich nur niedergeschlagen meines Weges weiter, immer auf der Hut vor irgend etwas Unbekanntem. Ich ging den Garten hinunter und kletterte über den hohen Bretterzaun. Es war in der Nacht frischer Schnee gefallen und ich sah Fußspuren in demselben. Sie führten direkt vom Steinbruch hierher und rings um den Gartenzaun. Im Garten selbst sah ich nichts und das machte mich stutzig, was hatte einer da draußen herum zu lungern? Ich wollte den Spuren nachgehen, bückte mich aber erst noch einmal, um sie zu untersuchen. Zuerst fiel mir nichts dran auf, dann aber, Herr du mein Gott, da sah ich etwas, das mir bekannt war und ich wusste sofort, was die Uhr geschlagen hatte. Am linken Absatz der Fußspur befand sich ein mir nur allzu bekanntes Kreuz aus dicken Nägeln, um den Bösen fern zu halten.
In einer Sekunde war ich auf und setzte den Hügel hinunter. Von Zeit zu Zeit sah ich ahnungsvoll über die Schulter zurück, konnte aber niemand entdecken. Wie der Blitz rannte ich zum Kreisrichter, der ruft mir entgegen:
»Junge, du bist ja ganz außer Atem. Kommst du wegen deiner Zinsen?«
»Nein«, sag ich, »hab’ ich denn wieder was zu bekommen?«
»O ja, gestern Abend sind die vom letzten halben Jahr eingelaufen. Über hundertundfünfzig Dollars. Ein ganzes Vermögen für dich, mein Junge. Ich lege dir die Zinsen aber wohl besser mit dem Kapital an, denn wenn du sie hast, gibst du sie auch aus.«
»O, nein«, sag’ ich, »ich will sie gar nicht haben, die Zinsen nicht und auch die sechstausend nicht, Sie sollen’s nehmen, Herr, ich will’s Ihnen geben, alles, alles!«
Er sah mich erstaunt an, schien mich nicht zu verstehen. Dann sagte er:
»Wie, – wie meinst du das, Junge?«
Sag’ ich: »Fragen Sie mich, bitte, nichts weiter, Herr, aber nehmen Sie’s, bitte, nehmen Sie’s!«
Sagt’ er:
»Junge, ich versteh’ dich nicht, was ist denn mit dir?«
»Bitte, bitte nehmen Sie’s und fragen Sie mich nicht weiter – dann muss ich Ihnen auch nichts vorschwindeln!«
Er dacht’ eine Weile nach, dann sagt’ er:
»Holla, ich glaub’ ich hab’s. Du willst mir deine Ansprüche abtreten, verkaufen, nicht schenken. Das liegt dir im Sinn, nicht wahr?«
Und ohne weiteres schreibt er ein paar Zeilen auf ein Stück Papier, liest’s noch einmal durch und sagte dann:
»Da – sieh her. Es ist ein Vertrag und es steht drin, dass ich dir deine Ansprüche abgekauft habe. Hier ist ein Dollar und nun unterschreibe!«
Ich unterschrieb und trollte mich.
Miss Watsons Nigger Jim hatte eine haarige Kugel, so groß wie eine Faust, die einmal aus dem vierten Magen eines Ochsen herausgenommen worden war. Mit der konnte er wahrsagen, da sich ein Geist drin befand, der alles wusste. Ich ging also zu Jim am Abend und sagte ihm, mein Alter sei richtig wieder im Land, ich habe seine Fußtappen im Schnee gefunden. Was ich wissen wollte war, was der Alte im Schilde führte und wie lang er bleiben werde. Jim nahm seine haarige Kugel, brummte etwas drüber hin, hob sie in die Höhe und warf sie dann zu Boden. Sie fiel derb auf und rollte kaum einen Zoll weit von der Stelle. Noch einmal probierte es Jim und noch einmal und immer blieb es gleich. Jetzt kniete Jim nieder und legte sein Ohr an die Kugel und horchte, aber ’s wollte nichts sagen.
Da sagt’ er, manchmal redet es nicht ohne Geld. Ich bot ihm nun eine alte, nachgemachte Münze an, die ich hatte, bei der überall das Messing durchsah, und die so fett und schlüpfrig sich anfühlte, dass sie mir niemand für echt abgenommen hätte. Von meinem Dollar schwieg ich natürlich, denn für die alte Kugel war wahrhaftig die schlechte Münze gut genug. Jim nahm die Münze, roch daran, rieb sie, biss hinein und versprach, es einzurichten, dass die Haarkugel die Unechtheit nicht merke. Er sagte, er wolle eine rohe Kartoffel nehmen und die Münze hineinstecken und die Nacht über drinn lassen, am anderen Morgen sehe man dann kein Messing und fühle keine Fettigkeit und kein Mensch werde den Betrug merken, noch weniger eine Haarkugel. Das Ding mit der Kartoffel wusst’ ich, hatt’s nur vergessen im Moment.
Jim steckte also nun die Münze unter die Kugel und legte wieder das Ohr dran. Jetzt sei alles in Ordnung, sagt’ er und die Kugel werde mir wahrsagen, soviel ich wolle. »Nur zu!« sag’ ich. Und die Kugel sprach nun zu Jim, und Jim sagt’s mir wieder:
»Deine alte Vatter noch nix wissen, was wollen tun. Einmal wollen gehen, einmal wollen bleiben. Du sein ganz ruhig, Huck, lassen tun die alte Mann, wie er wollen. Sein da zwei Engels, fliegen um ihn rum. Sein der eine weiß, der andere schwarz. Wollen der weiß ihn führen gute Weg, kommen der schwarz un reißen ihn fort. Arme Jim nich nix können sagen von Ende, ob schwarz, ob weiß! Bei dir aber allens sein gut. Du haben noch viel Angst im Leben, aber auch viel Freud! Werden kommen Krankheit und Unglück, un dann Gesundheit un Glück! Sein deine Engel zwei Mädels, eine blond un eine braun, eine reich un eine arm. Werden du heiraten erst die arm un dann die reich! Du nix gehen zu nah an Wasser, sonst du müssen fallen rein un ganz ersaufen! Du hören arme, alte Jim, Huck, du nix vergessen, was er sagen!«
Das versprach ich denn auch hoch und heilig und als ich dann mein Licht anzündete und in mein Zimmer kam, – saß da mein Alter in Lebensgröße!
Ja, Huck Finn hat’s eben nach diesem Exempel nicht sehr weit in der Rechenkunst gebracht! <<<
Ich hatte gerade die Türe zugemacht und wie ich mich umdrehte, saß er vor mir. Ich hab’ mich stets vor ihm gefürchtet, er hat mich immer so tapfer gegerbt, aber diesmal merkt’ ich gleich, dass es anders war. – Das heißt, zuerst schnappte ich nach Luft, – es nahm mir den Atem, ihn so plötzlich zu sehen; aber dann rappelte ich mich schnell zusammen und trat näher.
Er war beinahe fünfzig und sah auch so aus. Sein Haar war lang und verwirrt und fettig und hing ihm übers Gesicht, dass seine Augen drunter vorstachen wie hinter Weinreben. Es war noch ganz schwarz, nichts von grau und so war auch sein langer Schnauzbart. In seinem Gesicht, soweit man’s sehen konnte, war keine Farbe, es war ganz weiß, aber nicht von einem gewöhnlichen Weiß, sondern so, dass es einem übel machte, wenn man’s sah; dass es einem eine Gänsehaut über den Rücken jagte, so totenähnlich, so fischbauchartig war es. Seine Kleider – waren Lumpen, weiter nichts. Er hatte den rechten Fuß aufs linke Knie gelegt und der Stiefel sperrte das Maul so weit auf, dass zwei oder drei Zehen heraus sahen, an denen er herum fingerte. Sein Hut, ein alter zerrissener Filzdeckel, lag auf dem Boden.
Ich starrte ihn an. Er hatte den Stuhl etwas übergekippt und starrte mich wieder an. Endlich stellte ich das Licht hin, und sah, dass das Fenster offen war, der Alte war also übers Schuppendach eingestiegen. Der verflixte Schuppen! Er folgte mir mit den Augen, ich spürt’ es, endlich sagt’ er:
»Donnerwetter, feine Kleider – sehr fein! Du bildst dir wohl was d’rauf ein, he? Denkst, du bist ein Herr geworden, he?«
»Vielleicht, – vielleicht auch nicht«, sag’ ich.
»Wirst du mir wohl ordentlich antworten, he?« brüllt er, »du scheinst dir tüchtig Mücken in den Kopf gesetzt zu haben, seit wir uns nicht gesehen. Die treib’ ich dir aus, das lass’ dir gesagt sein! Du gehst auch in die Schule, hab’ ich mir sagen lassen und kannst lesen und schreiben. Glaubst du nun, dass du besser bist, wie dein Vater, he, du Racker? Wart’ ich will dir kommen! Wer hat dir erlaubt da hin zu gehen, wer frag’ ich, wer hat dir’s erlaubt?«
»Die Witwe! Sie hat’s erlaubt!«
»Die Witwe, he? Und wer hat’s der Witwe erlaubt, dass die ihre Nase in Dinge steckt, die sie absolut nichts angehen, wer, he?«
»Niemand!«
»Gut, der will ich’s zeigen! Und du, Bengel, infamer, du lässt das Schulgehen bleiben, verstanden? Ich werd’s den Leuten schon zeigen, was es heißt, einem solchen Flegel, wie dir, in den Kopf setzen, er sei besser, als sein Vater. Lass du dich wieder in der Schule erwischen! Deine Mutter hat nicht lesen und schreiben können eh’ sie starb und keiner von der Familie konnt’s, ich kann’s auch nicht und da kommt so ein Racker und will besser sein als wir alle und bildet sich was drauf ein und tut sich dick mit. Das lass ich mir aber nicht gefallen, verstanden? Da – zeig’ einmal was du lesen kannst.«
Ich nahm ein Buch und stotterte etwas vom General Washington und dem Kriege. Eine Minute lang hörte er zu, dann versetzte er dem Buch einen Stoß, dass es an die andre Zimmerwand klatschte. Sagt er:
»Kann’s der Bengel ja wahrhaftig! Ich hätt’s nicht geglaubt, dacht’, es sei Geflunker. Aber du, wart’, ich werd’ dir die Mücken austreiben, ich leid’s nicht, verstanden? Ich werde aufpassen und erwisch ich dich an der Schule, mein feiner Herr, so gerb’ ich dir das Leder durch, dass du die Engel im Himmel pfeifen hörst! Nächstens wirst du noch fromm werden! Donnerwetter, so ein Sohn!«
Er griff nach einem kleinen blau und gelben Bildchen, auf dem ein Junge und ein paar Kühe abgemalt waren und fragt:
»Was ist das?«
»Das hab’ ich gekriegt, weil ich meine Aufgabe gut gelernt habe!«
Rasch war’s zerrissen und er brüllt:
»Ich will dir was Bessres geben, wart’, ich werd’ dir ein Bild auf den Buckel malen!«
Nun saß er still und murmelte und brummte vor sich hin. Dann fängt er wieder an:
»Hat man je schon so etwas erlebt! Das nenn’ ich einen feinen Herrn! Ein Bett, wahrhaftig und Bettücher! Und ein Stückchen Teppich am Boden! Und der eigne Vater schläft bei den Schweinen oder wo er gerade hinkommt! Und das will ein Sohn sein! Wart’, Kerl, die Mücken fliegen dir aus dem Kopf, das sag’ ich dir, eh’ du Amen sagen kannst. Mit dir werd’ ich noch fertig werden, Racker! Die Leute sagen auch, du hättest Geld! Wie ist das?«
»Die Leute lügen, – so ist das!«
»Ich sag’ dir, Bursche, denk’ dran, dass du mit deinem Vater sprichst, bald bin ich fertig mit meiner Geduld, also sieh’ dich vor! Jetzt bin ich zwei Tage in der Stadt und überall hab’ ich von deinem Geld gehört, schon weiter unten im Tal erzählten sie davon, und so muss doch was dran sein! Deshalb bin ich gekommen. Also morgen schaffst du mir das Geld, verstanden? – Ich brauch’s!«
»Ich hab’ kein Geld!«
»Du lügst! Der Kreisreichter hat’s für dich und du schaffst’s mir her – ich brauch’s, sag’ ich dir!«
»Ich hab’ kein Geld! Frag’ den Kreisrichter selbst, der wird dir’s auch sagen!«
»Gut, ich werd’ ihn fragen und er muss blechen, oder ich will wissen, wieso. Was hast du in der Tasche, he? Ich will’s haben!«
»Ich hab’ nur einen einzigen Dollar und den brauch’ ich um –«
»Das ist ganz Wurst wozu du ihn brauchst, her damit! Raus!«
Er nahm ihn und biss hinein, um zu sehen, ob er echt sei und sagte dann, er gehe in die Stadt, um sich Whiskey zu holen, er habe den ganzen Tag noch keinen Tropfen über die Lippen gebracht, dabei roch er wie ein Schnapsladen. Dann kletterte er zum Fenster hinaus auf den Schuppen, steckte den Kopf wieder herein, fluchte noch einmal auf meine Mücken und darüber, dass ich besser sein wolle als er, und als ich dachte, nun sei er sicher fort, erschien er noch einmal und erinnerte mich an die Schule und die versprochenen Prügel, wenn ich mich dort blicken lasse.
Am anderen Tag war er betrunken, ging zum Kreisrichter und drohte ihm wegen des Geldes, das der nicht herausgeben wollte; sagte, er wolle vor Gericht gehen, und ihn dazu zwingen.
Der aber und die Witwe kamen selbst drum ein, dass man mich meinem Alten wegnehme und eines von ihnen zu meinem Vormund mache. Und das wäre meiner Seel’ das Beste gewesen. Aber da war ein neuer Ortsrichter gekommen, der kannte den alten Mann nicht und meinte es sei unrecht, Familien zu trennen, er könne nichts tun, er wolle dem Vater das Kind nicht rauben. So mussten der Kreisrichter und die Witwe die Sache eben gehen lassen, wie’s ging.
Das war Wasser auf die Mühle meines Alten und stieg ihm riesig zu Kopfe. Er drohte, er wolle mich schwarz und blau dreschen, wenn ich ihm nicht sofort Geld verschaffe. Ich lief also zum Kreisrichter und lieh mir drei Dollars von meinem Geld, der Alte nahm’s, betrank sich, lärmte, schimpfte, fluchte und spektakulierte durch die Straßen der Stadt, bis sie ihn festnahmen und für eine Woche einsperrten. Das war ihm nun nichts neues und genierte ihn weiter nicht. Wenn sie jetzt auch Meister über ihn seien, so bleibe er doch immerhin Herr und Meister seines Sohnes, meinte er, und werde das der ganzen Stadt und seinem Herrn Sohne selbst noch klar beweisen. Dem wolle er schon noch einheizen in seinem Leben!
Nach Verlauf der Strafzeit ließen sie ihn dann laufen. Der Ortsrichter aber sagte, er wolle einen ›neuen Menschen‹ aus ihm machen, nahm ihn mit nach Hause, gab ihm saubere, ordentliche Kleider statt der Lumpen, behielt ihn zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot und schloss so zu sagen dicke Freundschaft mit ihm. Nach dem Abendessen redete er dann auf ihn ein von Gott und dem letzten Gericht, der Bibel und dem ›Temperamentsverein‹, bis der alte Mann zu schluchzen und zu weinen begann und sagte, er sei ein Narr gewesen all’ sein Leben lang, ein elender, erbärmlicher, lumpiger Narr! Jetzt aber gehe er in sich und wolle von neuem beginnen und ein Mann werden, dessen sich kein Mensch in der Welt zu schämen brauche, wenn ihm der Herr Richter nur helfen und ihn nicht verachten wolle. Der sagte, er möchte ihm um den Hals fallen für diese Worte und weinte vor Rührung und seine Frau weinte mit. Mein Alter versicherte nun, er sei immer verkannt worden in seinem Leben; alles, was ein verlorener Mensch brauche, um gerettet zu werden, sei Sympathie; der Richter stimmte ihm zu und dann weinten sie wieder. Als es Zeit war zum schlafen gehen, erhob sich mein bekehrter Vater, hielt seine Hand hin und sagte: