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Vollständig überarbeitete, korrigierte und illustrierte Fassung Mit 52 Illustrationen Wie kann man Sherlock Holmes nicht kennen? Den berühmtesten Detektiv der Geschichte, der mit seinem messerscharfen Verstand und seiner Ermittlungsart als Vorlage für fast alle kriminalistischen Nachfolger diente. Hier lernen Sie das lesenswerte Original kennen. Dieser Band beinhaltet folgende Kurzgeschichten: "Das gesprenkelte Band" ("The Speckled Band"), 1892 "Der Daumen des Ingenieurs" ("The Engineer's Thumb"), 1892 "Der adlige Junggeselle" ("The Noble Batchelor"), 1892 "Die Beryll-Krone" ("The Beryl Coronet"), 1892 "Silberstrahl" ("Silver Blaze"), 1892 "Die Blutbuchen" ("The Copper Beeches"), 1892 Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 276
Arthur Conan Doyle
Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Vollständige & Illustrierte Fassung
Arthur Conan Doyle
Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Vollständige & Illustrierte Fassung
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Margarete JacobiIllustrationen: Sidney Paget EV: Verlag R. Lutz, Stuttgart, 1903 6. Auflage, ISBN 978-3-954180-75-2
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Inhaltsverzeichnis
Die Sherlock Holmes-Sammlung
Die einzelnen Geschichten
Arthur Conan Doyle & Sherlock Holmes
Einführung
Das gesprenkelte Band
Der Daumen des Ingenieurs
Der adlige Junggeselle
Die Beryll-Krone
Silberstrahl
Die Blutbuchen
Danke, dass Sie sich für ein E-Book aus meinem Verlag entschieden haben.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr Jürgen Schulze
Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Der sterbende Sherlock Holmes und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Der Hund von Baskerville
Sherlock Holmes – Das Zeichen der Vier
Sherlock Holmes – Der Bund der Rothaarigen und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Eine Studie in Scharlachrot
Sherlock Holmes – Der Vampir von Sussex und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Sein erster Fall und andere Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Sein letzter Fall und andere Geschichten
Sherlock Holmes – Der erbleichte Soldat und weitere Detektivgeschichten
und weitere …
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»Das gesprenkelte Band« (»The Speckled Band«), 1892
Eine aufgeregte Frau bittet Holmes um Hilfe. Helen Stoner berichtet vom mysteriösen Tod ihrer Zwillingsschwester Julia. Nun fürchtet sie um ihr eigenes Leben. Wie wird sich Holmes dieses Geheimnisses annehmen?
»Der Daumen des Ingenieurs« (»The Engineer’s Thumb«), 1892
Der junge Ingenieur Victor Hatherley sucht Watsons Praxis auf, weil er während eines nächtlichen Vorfalls seinen Daumen verloren hat. Natürlich erregt er damit Holmes’ Aufmerksamkeit, der sich nur zu gerne der Sache annimmt.
»Der adlige Junggeselle« (»The Noble Batchelor«), 1892
Eine kurz nach der Trauung verschwundene Braut, ein Millionenvermögen und ein adliger Junggeselle sind die Zutaten in diesem Geheimnis, das darauf wartet, von Holmes und Watson gelöst zu werden. Sicherlich werden sie gemeinsam die Antworten finden, oder nicht?
»Die Beryll-Krone« (»The Beryl Coronet«), 1892
An einem Wintermorgen erhalten Holmes und Watson Besuch von Alexander Holder, den Teilhaber einer großen Privatbank; dieser ist verzweifelt, weil ihm eine wertvolle Krone als Kreditpfand kurzfristig überlassen worden war. Sein stets in Geldnöten befindlicher Sohn wird nun verdächtigt, Juwelen aus dieser Krone herausgebrochen und gestohlen zu haben.
»Silberstrahl« (»Silver Blaze«), 1892
Der berühmte Stallmeister und Trainer John Straker wird ermordet aufgefunden, gleichzeitig ist das in seiner Obhut befindliche, schnellste Rennpferd Englands mit Namen Silberstrahl verschwunden. Besteht ein Zusammenhang? Schnell fällt der Verdacht auf einen Widersacher – zu schnell womöglich?
»Die Blutbuchen« (»The Copper Beeches«), 1892
Die junge Erzieherin Violet Hunter erhält ein verlockendes Stellenangebot. Dieses Angebot ist aber so gut, dass ihr Misstrauen geweckt wird, nicht zuletzt, weil man von ihr verlangt, sich die Haare kurz zu schneiden und während der Arbeit ein spezielles Kleid zu tragen. Keine Frage, dass Holmes dieser Geschichte auf den Grund gehen muss.
Womöglich wäre die Literatur heute um eine ihrer schillerndsten Detektivgestalten ärmer, würde der am 22. Mai 1859 in Edinburgh geborene Arthur Ignatius Conan Doyle nicht ausgerechnet an der medizinischen Fakultät der Universität seiner Heimatstadt studieren. Hier nämlich lehrt der später als Vorreiter der Forensik geltende Chirurg Joseph Bell. Die Methodik des Dozenten, seine Züge und seine hagere Gestalt wird der angehende Autor für den dereinst berühmtesten Detektiv der Kriminalliteratur übernehmen.
Geburt und Tod des Holmes
Der erste Roman des seit 1883 in Southsea praktizierenden Arztes teilt das Schicksal zahlloser Erstlinge – er bleibt unvollendet in der Schublade. Erst 1887 betritt Sherlock Holmes die Bühne, als »Eine Studie in Scharlachrot« erscheint. Nachdem Conan Doyle im Magazin The Strand seine Holmes-Episoden veröffentlichen darf, ist er als erfolgreicher Autor zu bezeichnen. The Strand eröffnet die Reihe mit »Ein Skandal in Böhmen«. Im Jahr 1890 zieht der Schriftsteller nach London, wo er ein Jahr darauf, dank seines literarischen Schaffens, bereits seine Familie ernähren kann; seit 1885 ist er mit Louise Hawkins verheiratet, die ihm einen Sohn und eine Tochter schenkt.
Ginge es ausschließlich nach den Lesern, wäre dem kühlen Detektiv und seinem schnauzbärtigen Mitbewohner ewiges Leben beschieden. Die Abenteuer der beiden Freunde nehmen freilich, wie ihr Schöpfer meint, zu viel Zeit in Anspruch; der Autor möchte historische Romane verfassen. Deshalb stürzt er 1893 in »Das letzte Problem« sowohl den Detektiv als auch dessen Widersacher Moriarty in die Reichenbachfälle. Die Proteste der enttäuschten Leserschaft fruchten nicht – Holmes ist tot.
Die Wiederauferstehung des Holmes
Obwohl sich der Schriftsteller mittlerweile der Vergangenheit und dem Mystizismus widmet, bleibt sein Interesse an Politik und realen Herausforderungen doch ungebrochen. Den Zweiten Burenkrieg erlebt Conan Doyle seit 1896 an der Front in Südafrika. Aus seinen Eindrücken und politischen Ansichten resultieren zwei nach 1900 publizierte propagandistische Werke, wofür ihn Queen Victoria zum Ritter schlägt.
Eben zu jener Zeit weilt Sir Arthur zur Erholung in Norfolk, was Holmes zu neuen Ehren verhelfen wird. Der Literat hört dort von einem Geisterhund, der in Dartmoor1 eine Familie verfolgen soll. Um das Mysterium aufzuklären, reanimiert Conan Doyle seinen exzentrischen Analytiker: 1903 erscheint »Der Hund der Baskervilles«. Zeitlich noch vor dem Tod des Detektivs in der Schweiz angesiedelt, erfährt das Buch enormen Zuspruch, weshalb der Autor das Genie 1905 in »Das leere Haus« endgültig wiederbelebt.
Das unwiderrufliche Ende des Holmes
Nach dem Tod seiner ersten Frau im Jahr 1906 und der Heirat mit der, wie Conan Doyle glaubt, medial begabten Jean Leckie befasst sich der Privatmann mit Spiritismus. Sein literarisches Schaffen konzentriert sich zunehmend auf Zukunftsromane, deren bekanntester Protagonist der Exzentriker Professor Challenger ist. Als populärster Challenger-Roman gilt die 1912 veröffentlichte und bereits 1925 verfilmte Geschichte »Die vergessene Welt«, die Conan Doyle zu einem Witz verhilft: Der durchaus schlitzohrige Schriftsteller zeigt im kleinen Kreis einer Spiritistensitzung Filmaufnahmen vermeintlich lebender Saurier, ohne zu erwähnen, dass es sich um Material der ersten Romanverfilmung handelt.
Die späte Freundschaft des Literaten mit Houdini zerbricht am Spiritismus-Streit, denn der uncharmante Zauberkünstler entlarvt zahlreiche Betrüger, während der Schriftsteller von der Existenz des Übernatürlichen überzeugt ist. Conan Doyles Geisterglaube erhält Auftrieb, als sein ältester Sohn Kingsley während des Ersten Weltkriegs an der Front fällt.
Noch bis 1927 bedient der Autor das Publikum mit Kurzgeschichten um Holmes und Watson; zuletzt erscheint »Das Buch der Fälle«. Als Sir Arthur Conan Doyle am 7. Juli 1930 stirbt, trauern Familie und Leserschaft gleichermaßen, denn diesmal ist Holmes wirklich tot.
Von der Bedeutung eines Geschöpfes
Oder vielmehr ist Holmes ein ewiger Wiedergänger, der im Gedächtnis des Publikums fortlebt. Nicht wenige Leser hielten und halten den Detektiv für eine existente Person, was nicht zuletzt Conan Doyles erzählerischem Geschick und dem Realitätsbezug der Geschichten zu verdanken sein dürfte. Tatsächlich kam man im 20. Jahrhundert dem Bedürfnis nach etwas Handfestem nach, indem ein Haus in der Londoner Baker Street die Nummer 221 b erhielt. Dort befindet sich das Sherlock-Holmes-Museum.
Conan Doyles zeitgenössischer Schriftstellerkollege Gilbert Keith Chesterton, geistiger Vater des kriminalistischen Pater Brown, brachte das literarische Verdienst seines Landsmanns auf den Punkt: Sinngemäß sagte er, dass es nie bessere Detektivgeschichten gegeben habe und dass Holmes möglicherweise die einzige volkstümliche Legende der Moderne sei, deren Urheber man gleichwohl nie genug gedankt habe.
Dass der Detektiv sein sonstiges Schaffen dermaßen überlagern konnte, war Conan Doyle selbst niemals recht. Er hielt seine historischen, politischen und später seine mystizistisch-spiritistischen Arbeiten für wertvoller, während die Kurzgeschichten dem bloßen Broterwerb dienten. Vermutlich übersah er bei der Selbsteinschätzung seiner vermeintlichen Trivialliteratur deren enorme Wirkung, die weit über ihren hohen Unterhaltungswert hinausging.
So wie Joseph Bell, Conan Doyles Dozent an der Universität, durch präzise Beobachtung auf die Erkrankungen seiner Patienten schließen konnte, sollte Sherlock Holmes an Kriminalfälle herangehen, die sowohl seinen Klienten als auch der Polizei unerklärlich schienen. Bells streng wissenschaftliches Vorgehen stand Pate für Deduktion und forensische Methodik in den vier Romanen und 56 Kurzgeschichten um den hageren Gentleman-Detektiv. Professor Bell beriet die Polizei bei der Verbrechensaufklärung, ohne in den offiziellen Berichten oder in den Zeitungen erwähnt werden zu wollen. Die Ähnlichkeit zu Holmes ist augenfällig. Wirklich war in den Geschichten die Fiktion der Realität voraus, denn wissenschaftliche Arbeitsweise, genaue Tatortuntersuchung und analytisch-rationales Vorgehen waren der Kriminalistik jener Tage neu. Man urteilte nach Augenschein und entwarf Theorien, wobei die Beweisführung nicht ergebnisoffen geführt wurde, sondern lediglich jene Theorien belegen sollte. Zweifellos hat die Popularität der Erlebnisse von Holmes und Watson den Aufstieg der realen Forensik in der Verbrechensaufklärung unterstützt.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Erzählungen betrifft Conan Doyles Neigung, seine eigenen Ansichten einzuarbeiten. Zwar bevorzugte er zu diesem Zweck andere Schaffenszweige, aber es finden sich gesellschaftliche und moralische Meinungen, wenn Holmes etwa Verbrecher entkommen lässt, weil er meint, dass eine Tat gerecht gewesen oder jemand bereits durch sein Schicksal genug gestraft sei. Gelegentlich ist dabei festzustellen, dass er Angehörige niedriger Stände gleichgültiger behandelt als die Vertreter der »guten Gesellschaft«.
Fiktive Biografien des Detektivs, Bühnenstücke, Verfilmungen und zahllose Nachahmungen, darunter nicht selten Satiren, von denen Conan Doyle mit »Wie Watson den Trick lernte« 1923 selbst eine verfasste, künden von der ungebrochenen Beliebtheit des kriminalistischen Duos, ohne das die Weltliteratur weniger spannend wäre.
berüchtigtes, britisches Gefängnis in einer Moorgegend gelegen <<<
Die Haushälterin hatte eben den Nachmittagstee hereingebracht. Nun zog sie die Vorhänge vor den Fenstern zu und zündete die Stehlampe an, die ein warmes Licht über den gedeckten Tisch warf. Das Feuer im Kamin verbreitete eine angenehme Wärme. Doktor Watson saß in einem bequemen Sessel und las, als sich die Türe öffnete und Sherlock Holmes eintrat. »Das ist heute mal wieder ein Nebel!« sagte er und rieb sich die Hände vor dem Feuer warm. »Ein scheußliches Wetter draußen! Keinen Hund möchte man da hinausjagen!« Dann wandte er sich dem Hausgenossen zu: »Was liest du denn da so interessiert, Doktor?«
Watson legte rasch, fast in leichter Verlegenheit, die Blätter beiseite. Es waren eine Anzahl fortlaufender Nummern des ›Telegraph‹.
»Ach, nichts weiter«, sagte er in offensichtlichem Bemühen, der Sache keine weitere Bedeutung zuzuschreiben. »Komm, setz dich lieber her und trinke gleich einen heißen Tee, wenn du so ausgefroren bist.«
Damit füllte er ihm eine Tasse, rückte einen Sessel zurecht und bot ihm einen Teller mit belegten Broten an. Kaum hatte Holmes sich gesetzt, so klingelte es. Sie stellten beide zugleich, wie auf Verabredung, ihre Tassen nieder und lauschten.
War es ein Besuch oder ein Ruf? Und wem von ihnen beiden mochte er gelten?
Dr. Watson hatte zwar seit seiner Rückkehr aus dem afghanischen Feldzug, an dem er als Militärarzt teilnahm, offiziell noch keine Praxis aufgenommen. Aber es kam doch vor, dass er gelegentlich, etwa bei Unglücksfällen, zur dringenden Hilfeleistung geholt wurde und sie dann selbstverständlich nicht verweigerte.
Die Haushälterin kam herein. »Ein Kind ist überfahren worden, Herr Doktor –«
»Ich komme«, unterbrach Watson ihren Bericht und stand sofort auf. Ein Mensch in Gefahr – da wurde jede Frage nach Zeit und Wetter gleichgültig für ihn. Er eilte hinaus, und Holmes hörte noch, wie er draußen mit einem Mädchen verhandelte, sich Name und Wohnung sagen ließ, während er alles Nötige zur Hilfeleistung einpackte. Gleich darauf fiel die Haustüre ins Schloss. Frau Hudson kam mit ihrem schweren Schritt die Treppe herauf und verschwand in der Küche.
Es war wieder still geworden im Hause. Nichts war mehr zu hören, als das Aufflackern des Feuers im Kamin. Der Lärm der Straße und der vorbeifahrenden Wagen drang nur gedämpft herauf, wie etwas Fernes, das die Abgeschlossenheit dieses Raumes nicht stören konnte.
Sherlock Holmes hatte seinen Tee getrunken. Nun saß er in behaglicher Entspannung zurückgelehnt in seinem Sessel und blickte gedankenverloren den blauen Wolken seiner Pfeife nach. Da fiel sein Blick auf die Zeitungen, die Watson achtlos liegengelassen hatte und er griff danach. Zuerst blieb sein Blick auf einem Artikel haften, in dem jemand sich weit und breit über die Notwendigkeit frühzeitiger Zahnpflege beim Kleinkind ausließ, dann folgte ein Bericht über den Stand der übertragbaren Krankheiten. Fachsimpelei, die nur Watson angeht, dachte Holmes und war schon im Begriff, den ›Telegraph‹ wieder wegzulegen, als er plötzlich seinen eigenen Namen darin entdeckte. »Aha, Watson scheint mal wieder unter die Schriftsteller gegangen zu sein!« murmelte Holmes vor sich hin. Er überflog einige Spalten, lächelte, legte die Pfeife aus der Hand, setzte sich bequem zurecht, suchte den Anfang und las:
Wenn ich meine Aufzeichnungen von den vielen absonderlichen Fällen überblicke, an denen ich während der letzten Jahre das Verfahren meines Freundes Sherlock Holmes studiert habe, so finde ich darunter manche von tragischer, einige auch von komischer Art; viele lassen sich einfach nur als merkwürdig bezeichnen, aber keiner als alltäglich; denn da Holmes sich bei seiner Tätigkeit weit mehr von der Liebe zu seinem Beruf als von materiellem Gewinn bestimmen ließ, so lehnte er seine Mitwirkung stets ab, wenn die Nachforschungen sich nicht auf einen ungewöhnlichen oder geradezu rätselhaften Vorgang richteten. Unter all diesen verschiedenartigen Fällen weiß ich mich jedoch keines zu entsinnen, der eine gleiche Fülle merkwürdiger Züge dargeboten hätte, wie der, welcher in der bekannten Familie der Roylotts von Stoke Moran in Surrey spielte. Dieses Ereignis fiel in die erste Zeit unseres gemeinsamen Junggesellenlebens in der Baker Street. Ich würde es vielleicht früher schon veröffentlicht haben, wäre mir nicht Stillschweigen darüber auferlegt gewesen – eine Pflicht, von der mich erst jetzt der Tod der Dame entbunden hat, in deren Interesse jenes Versprechen gegeben worden war. Vielleicht ist es ganz gut, dass der wahre Sachverhalt jetzt ans Licht kommt, denn wie ich hörte, haben sich über den Tod des Dr. Grimesby Roylott in weiten Kreisen Gerüchte verbreitet, die jene Ereignisse noch grässlicher ausmalten, als sie in Wirklichkeit waren.
An einem Aprilmorgen erblickte ich beim Erwachen Holmes vollständig angekleidet an meinem Bett. Er stand sonst gewöhnlich spät auf, und da die Uhr auf dem Kaminsims erst ein Viertel nach sieben zeigte, so blinzelte ich ihn einigermaßen überrascht, vielleicht sogar etwas ärgerlich an, denn ich ließ mich selbst nicht gerne in meinen Gewohnheiten stören.
»Es tut mir sehr leid, dass ich dich wecken muss, Watson«, sagte er, »aber es geht heute Morgen keinem im Hause besser. Frau Hudson ist zuerst herausgeklopft worden, sie hat mich aufgeweckt, und jetzt kommt die Reihe an dich.«
»Was gibt es denn? Brennt es?«
»Nein, eine Klientin ist da. Eine junge Dame von auswärts, die mich durchaus sprechen will. Sie soll in großer Aufregung sein. Sie wartet unten im Empfangszimmer. Wenn sich aber eine junge Dame in solcher Morgenfrühe nach London aufmacht und die Leute aus den Federn treibt, so wird sie wohl einen triftigen Grund dafür haben. Einen wirklich interessanten Fall würdest du doch gewiss gern von Anfang an verfolgen. Ich wollte dich deshalb unter allen Umständen wecken, um dich dieser Gelegenheit nicht zu berauben.«
»Das war sehr nett von dir, mein lieber Junge, natürlich möchte ich sie um keinen Preis verpassen.«
Ich kannte keinen größeren Genuss, als Holmes bei den Untersuchungen, die sein Beruf mit sich brachte, Schritt für Schritt zu begleiten und seine kühnen Schlussfolgerungen zu bewundern, die blitzschnell, als entstammten sie höherer Eingebung, und doch stets auf streng logischer Grundlage aufgebaut, Licht in das Dunkel der ihm vorgelegten rätselhaften Fälle brachten. Ich warf mich also rasch in die Kleider und war nach wenigen Minuten so weit, um meinem Freund nach dem Empfangszimmer folgen zu können.
Eine schwarzgekleidete, verschleierte Dame saß am Fenster und erhob sich bei unserem Eintritt.
Holmes stellte sich vor, begrüßte sie freundlich und erklärte ihr, indem er auf mich deutete: »Hier ist mein vertrauter Freund und Kollege Dr. Watson, vor dem Sie Ihre Sache ohne Scheu vorbringen können. – Frau Hudson hat ja Feuer angemacht, wie ich sehe, das war vernünftig von ihr. Bitte, setzen Sie sich nur an den Kamin; ich lasse Ihnen gleich eine Tasse heißen Kaffee bringen, Sie zittern ja ordentlich.«
»Aber nicht vor Kälte«, antwortete die Dame mit leiser Stimme, indem sie der Aufforderung Folge leistete.
»Weshalb denn sonst?«
»Vor Angst, Herr Holmes, vor Schrecken.« Bei diesen Worten schlug sie den Schleier zurück, und wir sahen nun, dass sie sich tatsächlich in einem Zustand starker Erregung befand; ihr Gesicht war ganz verzerrt und aschfahl, und sie blickte angstvoll um sich wie ein gehetztes Wild. Ihren Zügen und ihrer Figur nach musste man sie für dreißigjährig halten, allein ihr Haar zeigte bereits Spuren von Grau, und es lag etwas Müdes und Abgezehrtes in ihrer ganzen Erscheinung.
Holmes musterte sie mit seinem alles durchdringenden Blick. »Sie müssen keine Angst haben«, sagte er in beruhigendem Tone, indem er sich über sie beugte. »Wir werden gewiss bald alles in Ordnung bringen. Sie sind heute früh mit der Bahn angekommen, wie ich sehe.«
»Kennen Sie mich denn?«
»Nein, ich bemerke nur die eine Hälfte der Rückfahrkarte, die Sie in Ihrem linken Handschuh stecken haben. Sie müssen früh aufgebrochen sein und hatten dann bis zur Bahn eine tüchtige Fahrt in einem Jagdwagen auf schlechten Wegen zu machen.«
Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens starrte die Fremde meinen Freund an.
»Sie brauchen sich nicht zu verwundern«, fuhr Holmes lächelnd fort. »Ich treibe keine Hellseherei. Aber der linke Ärmel Ihrer Jacke ist an nicht weniger als sieben Stellen mit noch ganz nassem Schmutz bespritzt. Kein anderes Fuhrwerk wirft aber so viel Schmutz auf wie ein Jagdwagen, und am allerschlimmsten ist es vollends, wenn man vorne links neben dem Kutscher sitzt.«
»Das mag sein, wie es will, jedenfalls treffen Sie mit Ihren Schlüssen das Richtige«, versetzte sie. »Ich fuhr vor 6 Uhr daheim fort, brauchte 20 Minuten bis nach Leatherhead und traf mit dem ersten Zuge hier an der Waterloo-Station ein. – Es kann nicht länger so fortgehen, ich halte es nicht mehr aus, ich werde wahnsinnig! Ich habe gar niemand, an den ich mich wenden könnte – niemand; nur ein einziger Mensch nimmt Anteil an mir, aber helfen kann er mir auch nicht. Man hat mir von Ihnen erzählt, Herr Holmes. Eine meiner Bekannten, Frau Farintosh, der Sie einmal in ihrer schrecklichen Bedrängnis Beistand leisteten, hat mir Ihre Adresse gegeben. Ach, meinen Sie nicht, Sie könnten mir vielleicht ebenfalls helfen und die furchtbare Finsternis, die mich umgibt, wenigstens durch einen schwachen Schimmer erhellen? Ich habe freilich jetzt kein Geld, aber in sechs Wochen oder einem Monat, wenn ich verheiratet und im Besitz meines Vermögens bin, sollen Sie mich nicht undankbar finden.«
Holmes entnahm seinem Schreibtisch ein kleines Buch mit Aufzeichnungen über frühere Fälle und schlug darin nach.
»Farintosh«, murmelte er, »ach ja, jetzt erinnere ich mich des Falles. Es handelte sich um einen Opalkopfschmuck. – Das war noch vor deiner Zeit, Watson. – Ich kann Ihnen die Versicherung geben, dass ich mich Ihres Falles mit demselben Interesse annehmen werde, wie damals der Angelegenheit von Frau Farintosh. Über die Geldfrage möchte ich Sie beruhigen, meine Belohnung finde ich einzig in meiner Tätigkeit selbst; doch steht es Ihnen frei, mir meine etwaigen Auslagen bei gelegener Zeit zu ersetzen. Und nun bitte ich Sie, uns alles mitzuteilen, was für die Beurteilung des Falles irgend von Wert sein kann.«
»Ach«, begann die Fremde, »das Schreckliche an meiner Lage ist gerade, dass meine Befürchtungen so unbestimmter Natur sind und mein Verdacht sich nur auf geringfügige Umstände stützt, die jedem anderen bedeutungslos erscheinen. Selbst mein Verlobter betrachtet alle meine Vermutungen nur als Eingebungen meiner überreizten Nerven. Er sagt es nicht gerade heraus, allein ich merke es an seinen beschwichtigenden Antworten und ausweichenden Blicken. Aber Sie, Herr Holmes, sollen ja imstande sein wie nur wenige, das menschliche Herz zu durchschauen. Ihr Rat wird mir gewiss einen Weg durch all die Gefahren zeigen, von denen ich jetzt umgeben bin.« Fragend hob sie den Blick zu Holmes.
»Bitte, fahren Sie ruhig fort«, ermunterte er sie.
»Ich heiße Helen Stoner und wohne zusammen mit meinem Stiefvater an der Westgrenze von Surrey. Er ist der letzte der Roylotts von Stoke Moran, die eine der ältesten Familien Englands waren.«
Sherlock Holmes nickte. »Der Name ist mir bekannt«, sagte er.
»Die Familie gehörte einst zu den reichsten in ganz England und ihre Besitzungen erstreckten sich bis über die Grenzen der benachbarten Grafschaften hinaus. Im vorigen Jahrhundert jedoch kam der Besitz viermal hintereinander in leichtsinnige Hände, und als dann noch einer der Erben sich dem Spiel ergab, war der Ruin der Familie besiegelt. Ein paar Hufen2 Landes und der zweihundert Jahre alte Familiensitz, auf dem aber hohe Hypotheken lasteten, war alles, was übrig blieb. Der vorige Gutsherr harrte noch bis zu seinem Tode dort aus, indem er das schwere Los eines verarmten Edelmannes trug; sein einziger Sohn dagegen, mein jetziger Stiefvater, sah ein, dass er sich den neuen Verhältnissen anpassen musste; er verschaffte sich ein Darlehen von einem Verwandten, das ihm das Studium der Medizin ermöglichte. Dann ließ er sich in Kalkutta nieder, wo er sich mit großer Willenskraft und durch seine tüchtigen Kenntnisse eine ausgebreitete Praxis erwarb.
Im Jähzorn über einen Diebstahl in seinem Hause erschlug er jedoch einen eingeborenen Diener und entging nur mit Mühe einem Todesurteil. Er erhielt eine lange Freiheitsstrafe, nach deren Verbüßung er verbittert und enttäuscht nach England zurückkehrte. Während seines Aufenthalts in Indien heiratete Dr. Roylott meine Mutter, die junge Witwe des Generalmajors Stoner von der bengalischen Artillerie. Meine Zwillingsschwester Julia und ich waren damals erst zwei Jahre alt. Die Mutter besaß ein Vermögen, das etwa tausend Pfund im Jahr einbrachte und das sie unserem Stiefvater vollständig überließ mit der Bedingung, im Falle unserer Verheiratung jeder von uns beiden eine gewisse Summe jährlich auszuzahlen. Bald nach unserer Rückkehr nach England kam meine Mutter bei einem Eisenbahnunfall ums Leben – es sind jetzt acht Jahre her. Nun gab Dr. Roylott seine Versuche auf, sich in London eine ärztliche Praxis zu gründen, und zog mit uns in das alte Stammschloss in Stoke Moran. Da die Hinterlassenschaft meiner Mutter unsere Bedürfnisse reichlich deckte, so hätten wir ein zufriedenes und glückliches Leben führen können.
Allein mit unserem Stiefvater ging plötzlich eine schreckliche Veränderung vor. Anstatt freundschaftlichen Verkehr mit unseren Nachbarn anzuknüpfen, die anfangs hoch erfreut darüber waren, wieder einen Stoke Moran auf dem alten Familiensitz einziehen zu sehen, schloss er sich in sein Haus ein, und wenn er es jemals verließ, bekam er mit jedem, der ihm in den Weg lief, den heftigsten Streit. Ein förmlich krankhafter Jähzorn war überhaupt ein Erbstück der Männer in der Familie, und bei meinem Stiefvater mochte durch seinen langen Aufenthalt in den Tropen diese Eigenschaft wohl noch verstärkt worden sein. Die Folge war, dass er in eine Reihe hässlicher Streitigkeiten verwickelt wurde, die ihn zweimal vor Gericht brachten, bis er zuletzt der Schrecken des ganzen Dorfes war und alles bei seinem bloßen Anblick die Flucht ergriff, denn er besitzt eine riesige Stärke und kennt in seiner Wut keine Grenzen.
Vorige Woche erst warf er den Dorfschmied über das Brückengeländer ins Wasser, und ich musste alles, was ich an Geld hatte, opfern, damit die Angelegenheit nicht vor Gericht gebracht wurde. Mit keinem Menschen hielt er Freundschaft, außer mit den herumziehenden Zigeunern; sie durften auf den paar Morgen Brachland, die von dem ganzen Besitztum noch geblieben sind, ihr Lager aufschlagen. Oft kehrte er in ihren Zelten ein, ja er begleitete sie sogar wochenlang auf ihren Wanderzügen. Eine leidenschaftliche Vorliebe hat er für indische Tiere, die er sich aus Kalkutta kommen lässt; gegenwärtig besitzt er einen Leoparden und einen Pavian, die er in seinem Anwesen frei umherlaufen lässt und die den Dorfbewohnern denselben Schrecken einjagen wie ihr Herr selbst.
Nach dieser Schilderung werden Sie mir sicher glauben, dass meine Schwester und ich kein leichtes Leben geführt haben. Niemand wollte bei uns bleiben, und lange Zeit mussten wir die ganze Hausarbeit allein verrichten. Obgleich Julia erst dreißig Jahre alt war, als sie starb, hatte sie doch bereits graue Haare wie ich auch.«
»Ihre Schwester ist also gestorben?«
»Ja; es ist gerade zwei Jahre her; und von ihrem Tode möchte ich Ihnen eben Genaueres mitteilen. Sie werden es verstehen, dass wir unter diesen Umständen wenig Gelegenheit zum Verkehr mit unseresgleichen hatten. Nur bei unserer Tante Honoria Westphail durften wir von Zeit zu Zeit einen kurzen Besuch machen. Sie ist eine unverheiratete Schwester meiner Mutter und wohnt in der Nähe von Harrow. Vor zwei Jahren lernte Julia bei einem solchen Besuch über Weihnachten einen auf Halbsold3 gesetzten Major der Marine kennen, mit dem sie sich verlobte. Unser Stiefvater erhob gegen die Verbindung keine Einwendung; allein vierzehn Tage vor der Hochzeit trat das schreckliche Ereignis ein, das mich meiner einzigen Gefährtin beraubte.«
Holmes, der mit geschlossenen Augen in seinen Armstuhl zurückgelehnt, den Kopf im Kissen vergraben, zugehört hatte, schlug nun die Lider ein wenig auf und warf einen Blick auf die Erzählerin.
»Bitte, vergessen Sie auch nicht den kleinsten Umstand«, sagte er.
»Das wird mir nicht schwer fallen, denn alle Vorgänge dieser entsetzlichen Zeit stehen mir unauslöschlich im Gedächtnis. – Das Wohnhaus ist, wie gesagt, sehr alt, auch wird zur Zeit nur der eine Flügel bewohnt. Die Schlafzimmer befinden sich im Erdgeschoss, während die Wohnzimmer im mittleren Stockwerk liegen. Von den Schlafzimmern hatte das erste unser Stiefvater, das zweite meine Schwester und das dritte ich selbst. Eine Verbindung zwischen ihnen besteht nicht, dagegen führen alle drei Türen auf denselben Gang. – Ich spreche doch verständlich?«
»Vollkommen.«
»Die Fenster der drei Zimmer gehen auf den Rasenplatz vor dem Hause. An jenem schrecklichen Abend also zog sich unser Stiefvater zeitig in sein Schlafzimmer zurück; trotzdem wussten wir wohl, dass er sich noch nicht zur Ruhe begeben hatte, denn meine Schwester wurde durch den Geruch der starken indischen Zigarre belästigt, die er zu rauchen pflegte. Sie kam deshalb in mein Zimmer herüber, um noch eine Zeit lang mit mir über ihre bevorstehende Hochzeit zu plaudern. Es war elf Uhr, als sie mich wieder verließ; an der Tür blieb sie jedoch stehen und schaute noch einmal zurück.
›Sag’ mir, Helen‹, fragte sie, ›hast du jemals ein Pfeifen vernommen, wenn nachts alles totenstill ist?‹
›Nein, niemals.‹
›Ich habe auch schon gedacht, vielleicht seist du es, die nachts im Schlafe pfeift. Aber du glaubst doch auch nicht, dass das sein kann?‹
›Gewiss nicht, warum denn?‹
›In den letzten Nächten ertönte etwa um drei Uhr morgens ein leiser heller Pfiff. Ich habe einen leichten Schlaf und bin daran aufgewacht. Woher der Laut kam, kann ich nicht sagen, – vielleicht aus dem Nebenzimmer, vielleicht auch vom Vorplatz herauf. Ich dachte, ich wollte dich doch fragen, ob du es auch gehört hast.‹
›Nein, ich habe nichts gehört. Das muss von dem Zigeunergesindel unten im Park herkommen.‹
›Höchst wahrscheinlich; aber es wundert mich doch, dass du es nicht auch gehört hast, wenn es wirklich von unten kam.‹
›Ich schlafe eben fester als du.‹
›Nun, es ist ja jedenfalls nichts von Bedeutung‹, versetzte sie lächelnd; damit schloss sie die Tür, und wenige Augenblicke darauf hörte ich, wie sie ihre Türe abschloss.«
»Schlossen Sie sich denn nachts regelmäßig ein?« fragte Holmes.
»Stets.«
»Und warum taten Sie das?«
»Ich glaube, ich habe bereits erwähnt, dass unser Stiefvater eine Tigerkatze und einen Pavian hielt; wir fühlten uns deshalb nicht sicher, wenn unsere Türen nicht verschlossen waren.«
»Ja freilich. Bitte, fahren Sie nur fort.«
»Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden. Ein unbestimmtes Vorgefühl drohenden Unheils bedrückte mich. Sie erinnern sich, dass ich und meine Schwester Zwillinge waren, und Sie wissen sicher auch, wie eng man da miteinander verbunden ist. Es war eine unheimliche Nacht. Draußen heulte der Wind, und der Regen schlug klatschend gegen die Läden. Plötzlich ertönte mitten durch das Tosen des Sturmes ein wilder Angstschrei. Ich erkannte die Stimme meiner Schwester. Rasch sprang ich aus dem Bett und stürzte auf den Gang hinaus. Während ich meine Tür öffnete, war es mir, als hörte ich ein leises Pfeifen, wie meine Schwester es beschrieben hatte, und wenige Augenblicke darauf ein klingendes Geräusch wie vom Fall eines schweren metallenen Gegenstandes. Die Zimmertüre meiner Schwester war schon aufgeklinkt und öffnete sich langsam. Starr vor Angst wartete ich auf den Anblick, der sich mir bieten würde; da sah ich beim Schein der Flurlampe meine Schwester unter der Tür erscheinen; schreckensbleich, die Hände hilfesuchend ausgestreckt, schwankte sie hin und her, als wäre sie berauscht. Ich eilte auf sie zu und schlang die Arme um sie, aber gerade in diesem Augenblick versagten ihr die Knie. Sie stürzte zu Boden, wand und krümmte sich wie in furchtbaren Schmerzen, und ihre Glieder zogen sich krampfhaft zuckend zusammen. Ich meinte zuerst, sie habe mich nicht erkannt, aber als ich mich über sie beugte, stieß sie plötzlich mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde, die abgebrochenen, undeutlichen Worte hervor: ›Oh, mein Gott! Helen! Es war… Band…!… getupfte Band…!‹ Sie machte den Versuch, noch etwas zu sagen, wobei sie in der Richtung nach unseres Stiefvaters Schlafzimmer deutete, als ein neuer grässlicher Krampfanfall ihr die Worte im Munde erstickte. Ich wollte eben unsern Stiefvater herbeiholen und rief laut nach ihm; da kam er mir bereits im Schlafrock entgegengeeilt. Als er zu meiner Schwester trat, hatte sie das Bewusstsein schon verloren. Er flößte ihr noch Kognak ein und ließ auch ärztliche Hilfe aus dem Dorfe herbeiholen, aber es nützte alles nichts mehr, sie wurde immer schwächer und starb, ohne dass sie noch einmal zu sich gekommen wäre. Dies waren die Umstände, unter denen ich meine geliebte Schwester verloren habe.«
»Einen Augenblick!« unterbrach sie Holmes, »haben Sie das Pfeifen und den metallenen Klang ganz bestimmt wahrgenommen? Könnten Sie darauf schwören?«
»Dasselbe fragte mich auch der Gerichtsarzt bei der Totenschau. Ich habe zwar den durchaus sicheren Eindruck, als hätte ich beides gehört, doch kann ich mich am Ende auch getäuscht haben; bei dem Tosen des Sturmes krachte ja das alte Haus in allen Fugen.«
»War ihre Schwester angekleidet?«
»Nein, sie trug nur ihr Nachtgewand. In der rechten Hand hielt sie noch ein herabgebranntes Lichtstümpfchen und in der linken eine Zündholzschachtel. Sie hatte keinen Lichtschalter am Bett, es war auch kein Steckkontakt vorhanden, um eine Nachttischlampe anzuschließen. Deshalb hielt sie sich immer Kerze und Streichhölzer auf dem Nachttisch bereit.«
»Sie hat also noch Licht gemacht und sich umgeschaut, als das Geräusch entstand. Das ist von Wichtigkeit. Und zu welchem Ergebnis gelangte der Leichenbeschauer?«
»Er untersuchte den Fall sehr sorgfältig, denn das auffallende Treiben unseres Stiefvaters war in der ganzen Grafschaft bekannt; er war jedoch nicht imstande, eine bestimmte Todesursache zu entdecken. Aus meinen Mitteilungen ging hervor, dass die Tür von innen verschlossen gewesen war, und die Fenster waren durch altmodische Läden mit breiten Eisenstäben verrammelt, die jede Nacht vorgelegt wurden. Auch die Wände und der Fußboden wurden untersucht, aber nirgends wurde ein Anhaltspunkt gefunden. Der Kamin ist zwar weit, aber mit vier starken Eisenstäben vergittert. Meine Schwester war also zweifellos ganz allein, als ihr Geschick sie ereilte. Auch von einer Einwirkung äußerer Gewalt war keine Spur an ihr zu entdecken.«
»Und Gift – wie steht es damit?«
»Die Leiche wurde von ärztlicher Seite daraufhin untersucht, aber ohne Erfolg.«
»Was ist nun Ihre Ansicht über die Ursache dieses bedauerlichen Todesfalls?«
»Ich bin der Meinung, dass meine Schwester nur infolge einer durch Schrecken hervorgerufenen Nervenerschütterung starb, obwohl ich von der Ursache dieses Schreckens keine Ahnung habe.«
»Hielten sich zu jener Zeit Zigeuner in der Nähe des Hauses auf?«
»Jawohl; es sind fast immer einige da.«
»Und was glauben Sie, dass Ihre Schwester mit der Andeutung von einem ›getupften Band‹ oder auch einer ›getupften Bande‹ meinte?«
»Das möchte ich fast für eine Ausgeburt des Fieberwahns halten; dann meine ich aber auch wieder, es könnte sich auf eine Bande von Menschen, vielleicht gerade auf die Zigeuner im Park, bezogen haben. Vielleicht haben ihr die getupften Tücher, die viele von ihnen um den Kopf tragen, zu der auffallenden Bezeichnung Anlass gegeben.«
Holmes schüttelte den Kopf, als sei er ganz und gar nicht befriedigt.
»Wir tappen noch ganz im Dunkeln«, meinte er, »aber bitte, erzählen Sie nun weiter.«
»Zwei Jahre sind seitdem vergangen, und mein Leben wurde einsamer als je. Vor einem Monat jedoch hat ein lieber langjähriger Bekannter namens Percy Armitage um mich angehalten. Mein Stiefvater hat nichts dagegen, und so wollen wir noch in diesem Frühjahr heiraten. Seit zwei Tagen werden an dem westlichen Flügel unseres Wohnhauses Ausbesserungen vorgenommen. Dabei wurde eine Wand meines Schlafzimmers durchbrochen. Ich musste deshalb das Zimmer, in dem meine Schwester starb, beziehen und in ihrem Bett schlafen. Stellen Sie sich nun meinen wahnsinnigen Schrecken vor, als ich in der letzten Nacht plötzlich ebenfalls das leise Pfeifen vernahm, das ihren Tod vorherverkündet hatte. Ich sprang aus dem Bett und schaltete das Licht an, vermochte aber nichts Beunruhigendes im Zimmer zu entdecken. Zu aufgeregt, um wieder einschlafen zu können, kleidete ich mich an und schlich mich, sobald es dämmerte, aus dem Hause, ließ mir in dem gegenüberliegenden Gasthaus zur Krone einen Wagen anspannen und fuhr nach Leatherhead und von da mit dem Morgenzug weiter nach London, um Sie aufzusuchen und um Ihren Rat zu bitten.«
»Das war das Vernünftigste, was Sie tun konnten«, versetzte Holmes. »Aber haben Sie mir auch alles gesagt?«
»Gewiss, alles.«
»Ich bin nicht ganz überzeugt davon, Fräulein Stoner. Sie schonen Ihren Stiefvater.«
»Warum? Was wollen Sie damit sagen?«
Statt einer Antwort schlug Holmes die Manschette über dem rechten Handgelenk der Erzählerin zurück.
Fünf kleine blaue Male, sichtlich von fünf Fingern herrührend, zeichneten sich auf ihrem Arm ab.
»Sie sind misshandelt worden«, sagte Holmes.