Die Afghaninnen - Shikiba Babori - E-Book

Die Afghaninnen E-Book

Shikiba Babori

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Beschreibung

Das Schicksal der afghanischen Frauen ist schon immer eng mit den politischen Interessen der jeweiligen Machthaber im Land verknüpft. Sie müssen als Eigentum, Druckmittel oder Alibi herhalten, um Politik zu rechtfertigen. Afghanistanexpertin Shikiba Babori zeigt, welche Rolle Frauen in der afghanischen Gesellschaft zugewiesen wird. Sie blickt in Geschichte und Gegenwart, hat in weiten Teilen des Landes Gespräche geführt und präsentiert nun ein hochaktuelles, erschütterndes Bild. Ihr Buch ist ein Appell, weiter hinzusehen und zu handeln. »Shikiba Babori gehört zu den klarsten Stimmen gegen die Frauenunterdrückung im Taliban-Kalifat.« Emma

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Shikiba Babori

DIE AFGHANINNEN

Spielball der Politik

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Das Schicksal der afghanischen Frauen ist schon immer eng mit den politischen Interessen der jeweiligen Machthaber im Land verknüpft. Sie müssen als Eigentum, Druckmittel oder Alibi herhalten, um Politik zu rechtfertigen.Afghanistanexpertin Shikiba Babori zeigt, welche Rolle Frauen in der afghanischen Gesellschaft zugewiesen wird. Sie blickt in Geschichte und Gegenwart, hat in weiten Teilen des Landes Gespräche geführt und präsentiert nun ein hochaktuelles, erschütterndes Bild. Ihr Buch ist ein Appell, weiter hinzusehen und zu handeln.»Shikiba Babori gehört zu den klarsten Stimmen gegen die Frauenunterdrückung im Taliban-Kalifat.«Emma

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

INHALT

Impressum

INHALT

 VORWORT

1.

WIR HABEN VERSAGT!

2.

ZAN-E AFGHAN – AFGHANINNEN ALS PR-INSTRUMENT DES WESTENS

3.

AFGHANISCHE FRAUENRECHTE ALS SPIELBALL DER POLITIK IM HISTORISCHEN RÜCKBLICK

4.

DIE RECHTLICHE SITUATION DER FRAUEN IN AFGHANISTAN

5.

ALS MÄDCHEN IN AFGHANISTAN GEBOREN – GEWALT BESTIMMT DAS TÄGLICHE LEBEN

6.

WIR SOLLTEN DIE LEHREN ZIEHEN

7.

AFGHANINNEN – DIE WAHREN HELDINNEN DER AFGHANISCHEN NATION. EIN FAZIT

 DANKSAGUNG

 ANMERKUNGEN

VORWORT

Das Schicksal der afghanischen Frauen ist schon immer eng mit den politischen Interessen der jeweiligen Machthaber und/oder der Invasoren verknüpft gewesen. Ihr Leben und ihre Rechte sind Spielball sowohl der nationalen als auch der internationalen Politik. Frauen werden als Eigentum, Druckmittel oder Alibi instrumentalisiert, um ein ausschließlich von Männern bestimmtes politisches Handeln zu rechtfertigen. Diese seit vielen Jahrzehnten etablierten Muster zeigten sich auch während der jüngsten Ereignisse.

Ende August 2021 haben die NATO und ihre Verbündeten Afghanistan verlassen, 20 Jahre nach der Intervention infolge der Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon. Die Gründe für den Einsatz der fremden Truppen waren auch viele Jahre nach Beginn der Invasion noch nicht eindeutig definiert. Legitimiert wurde er aber unter anderem mit der Befreiung der Frauen und dem Ziel ihrer Gleichstellung in der afghanischen Stammesgesellschaft. Der Verbleib der internationalen Truppen im Land war eng verknüpft mit dem Narrativ der erneut drohenden Unterdrückung der Frauen und Mädchen.

Mit dem Abzug der NATO-Truppen und der widerstandslosen Übergabe des Landes an die Taliban wurde deutlich, dass weder die vorgebliche Befreiung der Frauen noch Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit konsequent verfolgt worden waren, geschweige denn irgendeines dieser Vorhaben nachhaltig umgesetzt worden wäre. Am Tag der Besetzung Kabuls durch die Taliban fiel auch hier wie ein Kartenhaus zusammen, was an demokratischen Strukturen vorhanden war. Alle Freiheiten, die sich die Frauen in der Zwischenzeit erkämpft und die sie unter Einsatz ihres Lebens verteidigt hatten, waren verloren.

Mein Name ist Shikiba Babori, ich wurde in Kabul geboren und begleite die Entwicklungen im Heimatland meiner Vorfahren seit vielen Jahren regelmäßig als Journalistin und Ethnologin. Daher weiß ich: Die westliche Berichterstattung über Afghanistan ist sehr ungenügend und tendenziös.

Seit vielen Jahren reise ich immer wieder nach Afghanistan und spreche dort mit den Frauen. Die Sicherheitslage hat es in den vergangenen 21 Jahren nicht zugelassen, dass ich als Frau alle Landesteile besuchen konnte. Den Großteil meiner Aufenthalte habe ich in den Regionen um die Hauptstadt Kabul, Balkh und Mazar-e Sharif im Norden sowie Herat im Westen verbracht. Durch diese Reisen und meine privaten und beruflichen Kontakte konnte ich mit sehr vielen und sehr unterschiedlichen Frauen ins Gespräch kommen. Anhand meiner Erfahrungen und ihrer Geschichten schildere ich in diesem Buch Facetten und Hintergründe, die die Weltgemeinschaft kennen muss, bevor sie neuerlich versucht, afghanische Frauen im Interesse der eigenen Politik zu instrumentalisieren.

Der Blick auf die vergangenen 100 Jahre hilft, besser verstehen zu können und trotz der politischen Veränderungen und der jeweiligen Machtinteressen wiederkehrende Muster zu erkennen.

In diesem Buch gebe ich Ihnen einen Eindruck von der Lebensrealität der afghanischen Frauen, beschreibe und erläutere, welcher Platz den Frauen in der von Männern dominierten Gesellschaft zugewiesen wird und inwieweit sie darüber hinaus von all denen benutzt werden, die geostrategische, innen- oder außenpolitische und machtorientierte Ziele in Afghanistan verfolgen.

1.WIR HABEN VERSAGT!

Wenige Wochen nach dem Abzug der NATO-Truppen im August 2021 genügten, und die Taliban nahmen den Frauen alle Erfolge, die sie in den vergangenen Jahren erlangt hatten, Stück für Stück wieder ab. Die Zugeständnisse, die man den Taliban während der ersten sogenannten Friedensgespräche zwischen 2013 und 2014 abgerungen hatte, erwiesen sich als das, was sie von Anfang an waren: Lippenbekenntnisse. Die Taliban waren nur vermeintlich auf die Besorgnisse der Verhandlungspartner eingegangen und erwarteten stattdessen sehnlichst den Tag, an dem sie erneut die Kontrolle über das ganze Land haben würden.

Für jene, die die früheren Appelle der internationalen und lokalen Menschen- und Frauenrechtsorganisationen verfolgt haben, war dies keine wirkliche Überraschung. Denn sie machten schon lange darauf aufmerksam, was in den Provinzen geschah, die die Taliban lange vor Kabul eingenommen oder nie aufgegeben hatten.

In über der Hälfte der 34 Provinzen Afghanistans hatte sich die prekäre Lage der Frauen ohnehin nie verändert. Und so gehört auch dies zur Wahrheit: Wenn man das Schicksal der afghanischen Frauen anschaut, die außerhalb der Großstädte leben, wird deutlich, wie gering die Zahl der Frauen war, die tatsächlich von den wenigen Chancen profitieren konnten, die sich in den letzten 20 Jahren boten. Auch unter den Augen des Westens konnte sich weder das ambitionierte Ziel, afghanische Frauen zur Gleichberechtigung zu verhelfen, noch die Idee, dass Menschenrechte auch für Frauen gelten, landesweit etablieren. Milliarden von Hilfsgeldern wurden jahrelang im Namen der Förderung von Frauen bedingungslos an die afghanische Regierung ausgezahlt und befeuerten eher die Korruption, als dass sie den Frauen tatsächlich genutzt hätten. Nicht nur in dieser Hinsicht hat die internationale Gemeinschaft komplett versagt.

Einmal mehr sind es nun vor allem die Afghaninnen, die die Folgen dieser gedankenlosen internationalen Politik ausbaden müssen. Die wenigen von ihnen, die von der Phase des Aufschwungs während des internationalen militärischen Einsatzes profitiert haben, werden erneut Opfer der frauenfeindlichen Taliban und sind schutzlos der Willkür der patriarchalen afghanischen Gesellschaftsordnung ausgeliefert. Auf der internationalen Ebene wird das vollmundig bedauert, aber niemand fühlt sich zuständig und übernimmt dafür die Verantwortung. Zwar wurde im Zuge der Evakuierungen neben lokalen MitarbeiterInnen der internationalen Organisationen auch Personen die Ausreise ermöglicht, die in der Zivilgesellschaft, den Medien, der Kultur oder der Wissenschaft tätig waren, aber die Mehrzahl der Afghaninnen hat dieses Privileg nicht.

Zum großen Teil ist die den Mädchen und Frauen zugewiesene Rolle in den extrem frauenfeindlichen Traditionen der afghanischen Gesellschaft verankert. Die Schwierigkeiten und Herausforderungen, denen die sogenannte nassl-e nau, die »neue Generation«, gegenüberstand, sind keinesfalls neu. Nicht selten zwingt dieser große Spagat zwischen traditionellen Regeln und moderner Lebensweise Mädchen und Frauen dazu, resigniert aufzugeben und oft genug den einzigen Ausweg aus ihrer Situation in der Selbsttötung zu sehen. Wer sich organisiert und gegen die Traditionen auflehnt, geht ein hohes Risiko ein. So selbstverständlich der Wunsch nach Veränderung für jede gebildete moderne Frau auch scheint, bleibt doch vor dem Hintergrund der afghanischen Realität jeder Schritt in diese Richtung erwähnenswert, denn wer sich hier nicht an die zugewiesenen Regeln hält, läuft schnell Gefahr, umgebracht zu werden.

Erschwert wurde und wird die Situation der Frauen durch den mehr als vier Jahrzehnte herrschenden Krieg. Diese Tatsache hat auch dazu beigetragen, dass viele Männer nichts anderes gelernt haben, als sich und ihre Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen, statt mit Argumenten zu überzeugen. Da viele Ehemänner keinerlei Interesse daran haben, dass ihre Frauen irgendein traditionelles Gesetz in Frage stellen, geschweige denn demokratische Rechte in Anspruch nehmen, wird von ihnen jeder Versuch des Ausbruchs mit Gewalt unterbunden. So werden die Frauen, die ihre Stimme erheben, eingeschüchtert, bedroht und getötet. Die Konsequenzen aus ihrer auflehnenden Haltung bekommen oft nicht nur sie, sondern unter Umständen ihre ganze Familie zu spüren.

Es steht zu befürchten, dass sich daran nichts ändern wird. Ende März traf sich der chinesische Außenminister Wang Yi mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow, um multilaterale Beratungen über die Lage in Afghanistan zu führen und um ihre »strategische Partnerschaft« sowie ihre außenpolitische Kooperation zu festigen. Russische Medien zitierten Lawrow, dass für Russland »die Präsenz jeglicher US- und NATO-Infrastruktur in Afghanistans Nachbarländern inakzeptabel« sei.1 Die Bemühungen Chinas in Afghanistan machen sichtbar, dass sie in der Region immer mehr die Rolle der USA übernehmen wollen. Das sollte uns aufhorchen lassen.

Vor allem kommt den Taliban diese Annäherung sehr entgegen. Denn ihren beiden mächtigen Partnern ist der Umgang der Islamisten bezüglich der Rechte der Frauen und Minderheiten im Land nicht wichtig. Sie müssen sich daher auch den moralischen Ansprüchen des Westens nicht verpflichtet fühlen und können die ohnehin viel zu leisen Forderungen, unverzüglich ihre neue Direktive zu revidieren, dass Mädchen ab der siebten Klasse bis auf Weiteres der Schulbesuch untersagt wird, ignorieren. Zudem hat der Ukrainekrieg die Frage nach der Aufarbeitung des militärischen Scheiterns in Afghanistan aus den westlichen Medien verdrängt, was den an der Macht Interessierten am Hindukusch ebenfalls sehr gelegen kommt.

Allerdings gibt es auch Hoffnung: Die Außenministerin Annalena Baerbock hat am Beginn ihrer Amtszeit versprochen, die Außenpolitik Deutschlands weiblicher zu machen. Vor dem Deutschen Bundestag sagte sie im Zusammenhang mit Vergewaltigungen als Kriegswaffe: »Deswegen gehört zu einer Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts auch eine feministische Sichtweise. Das ist kein Gedöns, sondern auf der Höhe dieser Zeit.«2 Denn Kriege und Konflikte gibt es genug, die einer Lösung harren – neben der Ukraine, wo aktuell mit großer Brutalität und Rücksichtslosigkeit Städte bombardiert, Zivilisten umgebracht und Familien auseinandergerissen werden, darf man auch den Jemen, Syrien, Äthiopien und Mali nicht vergessen. Und natürlich Afghanistan. Gemeinsam ist all diesen Ländern, dass die männliche Gier nach Macht und Respektlosigkeit die Basis der Zerstörungswut bilden, Machtbesessenheit anstatt Moral und Menschlichkeit herrschen. Dem steht eine feministische Außenpolitik entgegen.

Die Basis der aus Schweden stammenden Idee, mehr Frauen in Schlüsselpositionen zu verhelfen, ist der Mensch – egal, ob Frau oder Mann –, der Mensch, der ungerecht behandelt wird. Feministische Außenpolitik vollzieht daher grob gesagt einen Paradigmenwechsel bei Sicherheitsfragen »weg vom rein militärischen Denken hin zu einem erweiterten Fokus, der – neben dem Kriegsgeschehen – die Zivilbevölkerung berücksichtigt: Frauen, Kinder, Alte, Kranke.«3 In Zeiten von Kriegen und Krisen sind es vor allem Frauen und Kinder, die benachteiligt werden und leiden. Terroristische und militärische Gruppierungen bestehen ausschließlich aus Männern. Mehr Feminismus in der Politik zu wagen würde bedeuten, männliche Aggressivität einzudämmen und Strukturen von Gewalt aufzubrechen.

Eine feministische Außenpolitik hätte in der Vergangenheit sicherlich sehr viel stärker die Partizipation von Afghaninnen an Friedensgesprächen eingefordert. Eine Forderung, die in Afghanistan leider nie ernsthaft gestellt wurde. Selbst die Teams der an den Verhandlungen beteiligten westlichen Staaten bestanden, bis auf Ausnahmen, ausschließlich aus Männern. Eine Frau an der Spitze der deutschen Vertretung in Kabul würde sich dagegen viel überzeugender dafür einsetzen können, dass Afghaninnen mehr in die Gesellschaft integriert und in politischen und wirtschaftlichen Bereichen berücksichtigt werden. Frauen in Entscheidungspositionen könnten dazu beitragen, tiefgreifende Veränderungen in der patriarchalen afghanischen Gesellschaft zu verankern und somit die Entwicklung der Nation langfristig unterstützen. Aber dafür ist natürlich die schulische Bildung für alle eine grundlegende Basis und von zentraler Bedeutung und darf als Menschenrecht nicht von Entscheidungen Einzelner abhängig gemacht werden. Durch eine Außenpolitik, die Frauenrechte im Visier hat, bleiben Errungenschaften wie die vom damaligen Präsident Ashraf Ghani unterschriebene UN-Sicherheitsresolution 1325, die explizit den Schutz von Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten und die Stärkung von Frauen in politischen Prozessen vorsieht, als nicht verhandelbare Gesetzesgrundlage verankert und werden nicht – wie geschehen – lediglich zu einer symbolischen Aktion.

Das aber wäre so wichtig für Afghanistan, denn im Moment wiederholt sich für viele Menschen ein Albtraum: Sie drohen erneut Opfer von strategischen Machtkämpfen zu werden. Hinzu kommt die prekäre humanitäre Situation im Land: Laut Welthungerhilfe hungert mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung, darunter 13 Millionen Kinder.4

Insgesamt steht es um die Entwicklung des Landes eher bescheiden: Das Bildungs- und Gesundheitswesen steht kurz vor dem Zusammenbruch und die Wirtschaft des Landes befindet sich im freien Fall. Aber diese Tatsachen interessieren weder China noch Russland. Anstatt dem bisherigen internationalen Konsens zu folgen und die Talibanregierung nicht anzuerkennen, machen sie den Islamisten diplomatische Zugeständnisse. Dabei spielen ausschließlich die wirtschaftlichen Interessen Chinas eine Rolle. Konkret geht es um den Zugang zu Rohstoffen. »China hatte sich bereits 2008 in Kabul Konzessionen zur Ausbeutung der Kupfervorkommen von Ainak bei Kabul gesichert, mit die größten der Erde, sowie später für kleinere Öl- und Gasfelder im Amu-Darja-Becken im Landesnorden, konnte aber kriegsbedingt nicht einmal grundlegende Infrastruktur entwickeln.«5

In Afghanistan haben wir in den letzten 20 Jahren versagt und sind aktuell erneut wieder dabei zu versagen. Denn abermals spielen offenkundig wirtschaftliche und geopolitische Interessen von Politikern und Befehlshabern eine zentrale Rolle und die Zukunft der Mädchen und Frauen ist erneut ungewisser denn je – sofern es nicht endlich zu einem Paradigmenwechsel kommt.

2.ZAN-E AFGHAN – AFGHANINNEN ALS PR-INSTRUMENT DES WESTENS

Afghanische Frauen sind stets einem Strudel von Gewalt und Problemen ausgesetzt. Der überwiegende Teil der Afghaninnen kann weder lesen noch schreiben und lebt auf dem Land und somit an abgelegenen Orten. Der Analphabetismus unter Frauen liegt bei über 90 Prozent. Ihr Leben hat sich daher auch in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht verändert. Von den großzügigen Förderungen aus dem Ausland haben sie nie profitieren können. Bereits der Herrscher Amanullah scheiterte in den Jahren 1923 bis 1929, als er die extrem patriarchalen Strukturen aufzuheben versuchte, am gewaltsamen Widerstand der afghanischen Männer, ebenso die pro-sowjetischen Regierungen von 1978 bis 1989.

Nach dem Abzug der Sowjets aus Afghanistan im Jahre 1989, der das Ende des Kalten Krieges einleitete, und mit dem Sieg der Mudschahedin verlor die Weltöffentlichkeit das Interesse an Afghanistan. Dass der Westen dort einen von globaler Machtpolitik angetriebenen Krieg mit Hilfe religiös motivierter Stellvertreter ausgetragen hatte, wurde zunächst geflissentlich unter den Teppich gekehrt.

Das kollektive Wegschauen vor dem, was dann im Land passierte, hatte fatale Folgen für die Frauen. Sie wurden schutzlos ihrem Schicksal und der Willkür der frauenverachtenden Gotteskrieger überlassen und erlebten zwischen 1992 und 2001 die barbarischsten und unerträglichsten Jahre ihrer jüngeren Geschichte. Dabei ist es allerdings nicht geblieben. Denn auch später hat sich nie jemand für die an ihnen begangenen Gräueltaten rechtfertigen müssen – geschweige denn, dass die Verbrechen aufgeklärt und die Täter bestraft worden wären.

Afghanischen Frauen wurde nicht nur stets sehr viel abverlangt, während sie bei der Gestaltung der Gesellschaft kaum Mitspracherecht hatten. Sie wurden zudem stets benutzt und für politische Belange instrumentalisiert, um nicht zuletzt das Kriegsgeschehen zu emotionalisieren und politische Gegner oder ethnische Gruppen gezielt ins moralische Abseits zu stellen.

Dass hinter der Unterdrückung und Instrumentalisierung der Frauen ein perfides System steckte, wurde durch die Veröffentlichungen der Website wikileaks.org, einer Plattform, die sich auf die Publikationen vertraulicher und geheimdienstlicher Dokumente spezialisiert hat, im März 2010 deutlich. Dort war zu lesen, dass die CIA die afghanischen Frauen und ihre prekäre Situation bewusst instrumentalisiert hat, um der ISAF-Mission (2001–2014) einen humanitären Anstrich zu geben. Bei dem veröffentlichten Dokument, welches als »confidential/noforn« (vertraulich/nicht freizugeben an ausländische Staatsangehörige/Regierungen/Nicht-US-Bürger) gekennzeichnet ist, handelt es sich um ein Spezialmemorandum der »Red Cell« (Rote Zelle) der CIA. Seine Aufgabe: »gebrauchsfertige Annäherungen« und »alternative Gesichtspunkte« für den Krieg anzubieten.1 Das Neue Deutschland kommentierte: »Die afghanischen Frauen sind der ideale Botschafter, um den Kampf der ISAF-Truppen gegen die Taliban human erscheinen zu lassen. Denn gerade Frauen können glaubwürdig über ihre Erfahrungen unter den Taliban und ihre Zukunftsträume sprechen.« In dem selben Artikel wurde schon damals die folgende Forderung aufgestellt: »Wir brauchen Reichweiten-starke Medien, in denen afghanische Frauen ihre Erfahrungen mit französischen, deutschen und anderen europäischen Frauen teilen können, damit gerade die bei europäischen Frauen stark vorhandene Skepsis gegen die ISAF-Mission abgebaut werden kann.« Am effektivsten seien »Medienevents, in denen afghanische Frauen von ihrer Situation Zeugnis ablegen.«2

Unmittelbar nach dem Sturz der Taliban 2001 erkannte die afghanische Regierung die UN-Konvention zur Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung gegenüber Frauen an. In der Verfassung wurden sie sogar den Männern rechtlich gleichgestellt.

Auf dieser Basis formierten sich Frauenprojekte, die viele Jahre auf diesen Rückhalt in der Gesetzgebung gewartet hatten und nun auch auf internationaler Ebene fachliche und finanzielle Unterstützung erhielten. Allerdings haben die Frauen von diesen Rechten nie durchgehend Gebrauch machen können, da die afghanische Regierung ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber der afghanischen Nation und vor allem gegenüber den Frauen nicht nachgekommen ist und dadurch Gesetze untergraben hat, die Gewalt gegen Frauen verbieten und Mädchenrechte fördern.3

Dass die CIA-Strategie nichts Neues ist, konstatierte unter anderem Jürgen Rose, Autor der Wochenzeitung Der Freitag, als er auf folgende Definition des modernen Krieges durch Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1925 (mit Blick auf den Ersten Weltkrieg) hinwies: »Der moderne Krieg hat wirtschaftliche Ursachen. Die Möglichkeit, ihn vorzubereiten und auf ein Signal Ackergräben mit Schlachtopfern zu füllen, ist nur gegeben, wenn diese Tätigkeit des Mordens vorher durch beharrliche Bearbeitung der Massen als etwas Sittliches hingestellt wird.«4

Genau nach diesem Muster ging die CIA im Falle des Afghanistankrieges vor. Sie musste fürchten, dass andernfalls die europäischen Bündnispartner abspringen. Daher entwickelte sie eine Strategie, welche die westeuropäische Öffentlichkeit dazu bringen sollte, die ansteigenden Opferzahlen unter den eigenen Soldaten und der afghanischen Zivilbevölkerung zu tolerieren: Sie gaben vor, die Frauen befreien zu wollen.

Dadurch entstand auf absurde Weise eine Win-win-Situation: Auf der einen Seite konnten die westlichen Staaten ihren Einsatz am Hindukusch unter anderem mit der Befreiung der afghanischen Frauen legitimieren; auf der anderen Seite stand eine Generation junger Afghaninnen, die unter den Mudschahedin und Taliban groß geworden und hungrig nach Freiheit und Selbstbestimmung war, in den Startlöchern. Und so wurde jede neue Richterin, Parlamentarierin, Frauenrechtsaktivistin, Ärztin, Hochschulprofessorin, Lehrerin, Pilotin oder Journalistin als Erfolg des Einsatzes gefeiert. Die Schönheitsfehler dieser Idylle wurden erst auf den zweiten Blick erkennbar.

In der 2004 verabschiedeten Verfassung, die den Frauen die rechtliche Gleichstellung zusicherte, stand nämlich noch etwas anderes: Gesetze, die im Widerspruch zu den Grundlagen des Islam stehen, haben keine Gültigkeit. Das afghanische Rechtssystem bekannte sich also einerseits zu der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und andererseits zur Scharia, einem Rechtssystem, das drakonische Strafen wie Steinigung und Abtrennen von Gliedmaßen für gesellschaftliches Fehlverhalten vorsieht und überdies einer großen Bandbreite von Interpretationen unterworfen ist. Mit diesem Zusatz war zum einen versucht worden, den Warlords und den islamistischen Hardlinern, die mit Hilfe der USA und ihrer Verbündeten Teil der afghanischen Regierung wurden, und zum anderen den demokratischen Kräften im In- und Ausland gerecht zu werden.

Für die Demokraten entwickelte sich dieser juristische Drahtseilakt jedoch zu einer Tragödie. Denn ohne eine funktionierende Exekutive, die den politischen Rückhalt einer starken Regierung hat, war dieser Widerspruch in der Gesetzgebung nicht aufzulösen. Den Preis dafür zahlten wieder einmal die Afghaninnen: Sie wurden samt ihrer Rechte im Austausch für den verzweifelten Versuch eines sauberen Ausstiegs aus dem Afghanistan-Krieg geopfert, und es blieb eine gespaltene, verzweifelte und enttäuschte Bevölkerung zurück. Und die Menschen in der westlichen Welt stellten sich, wenn auch verspätet und durch immer kritischer werdende mediale Berichterstattung aufgerüttelt, allmählich doch die Frage nach der Legitimation des zwei Jahrzehnte andauernden Krieges.

Die kanadische Gender-Forscherin Krista Hunt spricht von dem Konzept eines »Embedded Feminism« (eingebetteten Feminismus) in Anlehnung an den militärisch-politischen Begriff »Embedded Journalism«5. Sie beschreibt damit den geschlechtsspezifischen Charakter der von den USA angeführten Invasion in Afghanistan, der den Krieg gegen den Terror für die Öffentlichkeit mit der dramatischen Situation der afghanischen Frauen rechtfertigte. Hunt definiert das Konzept als die Einbindung feministischer Diskurse und feministischer Aktivistinnen in politische Projekte, die vorgeben, den Interessen von Frauen zu dienen, dieses Ziel aber letztlich unterordnen und/oder untergraben.6

Bei den NATO-Truppen in Afghanistan standen die Zeichen bereits 2010 auf Rückzug. Die Taliban sahen sich dadurch als Gewinner und demonstrierten täglich in mehr als der Hälfte des Landes ihre Stärke und Macht. Ihre Rechnung war aufgegangen: Dass die selbsternannten Befreier weder das Budget noch die Ausdauer haben würden, um die Ziele ihres Einsatzes zu erreichen, hatten die Gotteskrieger längst vorausgesehen. Die Befürworter des Engagements in Afghanistan waren angesichts des drohenden Rückzugs alarmiert und nutzten jedes Mittel, um in den westlichen Nationen für einen längeren Verbleib der eigenen Truppen zu werben.

Dass die CIA die afghanischen Frauen bewusst als ideale Botschafterinnen instrumentalisiert hatte, um die ISAF-Mission zu humanisieren, war ja seit der Veröffentlichung der Wikileaks-Dokumente bekannt. So verwunderte es nicht, dass ein Titelbild des Time-Magazins vom August 2010 in genau diese Kerbe schlug.7 Das Cover zeigt eine junge hübsche Afghanin. Dabei war nicht nur auffällig, dass man eine afghanische Frau ohne Burka sah, sondern auch, dass an der Stelle ihrer Nase ein Loch in ihrem Gesicht klaffte. Die Titelzeile zu dem Foto der Frau, der die Nase brutalst abgeschnitten worden war, lautete: »Was geschieht, wenn wir Afghanistan verlassen«. Ich fragte mich damals, ob der Titel nicht besser heißen müsste: »Wie konnte das passieren, wo wir doch seit neun Jahren für die Sicherheit in Afghanistan verantwortlich sind?«

Das Foto demonstrierte, dass nicht nur unter der Herrschaft der Taliban grausame Verbrechen an Frauen begangen wurden. Und wenn man sich mehr mit dem Thema beschäftigt hätte, wäre schnell aufgefallen, dass auch vor den Taliban die Situation der Frauen nicht besser gewesen war. Erschreckend blieb aber, dass der NATO-Einsatz weder dem Leid der Afghaninnen ein Ende gesetzt hatte noch irgendjemand ernsthaft an ihrer Situation interessiert war.

Ohne die Gräueltaten der Taliban gegenüber Frauen verharmlosen zu wollen, muss konstatiert werden, dass der Alltag der afghanischen Frauen bereits zwischen 1989 und 1998 von Gewalt, Folterungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Geiselnahmen geprägt war und die Weltöffentlichkeit davon keine Notiz nahm. Afghaninnen fragen sich deshalb oft, warum der Westen nicht schon damals eingriff, um ihre Qualen zu beenden oder das Unrecht anzuklagen.

Erst eine gewisse Zeit nach den Anschlägen auf das World Trade Center rückte die afghanische Frau plötzlich in den Mittelpunkt der Ereignisse und musste dringend gerettet werden. Dass ihr Schicksal instrumentalisiert wurde, liegt auf der Hand.

Internationale Menschenrechtsorganisationen und Feministinnen haben seit dem Beginn des NATO-Einsatzes beklagt, dass es ein perfides Vorgehen sei, mit den Lebensumständen der Frauen einen militärischen Einsatz zu rechtfertigen. Priyamvada Gopal, Professorin für Postkoloniale Studien an der Universität Cambridge, die sich auf Frauen und Postkoloniale Theorie spezialisiert hat, beschreibt in einem Artikel die Strategie des Time-Magazins folgendermaßen: »Feministinnen argumentieren seit Langem, dass die Berufung auf die Situation der Frauen zur Rechtfertigung der Besatzung ein zynischer Trick ist, und das Time-Titelbild wird bereits dafür kritisiert. Interessanterweise enthüllen die WikiLeaks-Dokumente den Rat der CIA, die Notlage der afghanischen Frauen als ›Druckmittel‹ zu nutzen, um die schwindende öffentliche Unterstützung für den Krieg zurückzugewinnen.«8

Ein legitimes Argument für einen längeren Einsatz hätte der langfristige zivile Aufbau des Landes sein können, ein ernst zu nehmender Kampf gegen die Korruption, das Absichern der Justiz, die Beschaffung von Arbeitsplätzen. Stattdessen machte man Stimmung mit dem Bild einer verstümmelten Frau. Da die Beteiligung der afghanischen Frauen an politischen Ämtern seit der Petersberger Konferenz 2001 von den westlichen Staaten per Quote auf 11 Prozent festgelegt war, gehörten sie auch 2005 in der ersten Ratsversammlung nach den langen Bürgerkriegsjahren dazu. Die Süddeutsche Zeitung betitelte damals einen Beitrag zu diesem Thema mit »Frauen an der Macht«9. Die an der Loya Jirga, der traditionellen Stammesversammlung, teilnehmenden Frauen wurden darin als diejenigen beschrieben, die die Zukunft des Landes unbedingt mitbestimmen wollten. Eine Mitarbeiterin der Vereinten Nationen hielt diese Frauen für besonders »intelligent, redegewandt und willensstark« und wurde mit den Worten zitiert: »Nach 22 Jahren Bürgerkrieg und jahrelanger Taliban-Herrschaft, in denen sie aus dem öffentlichen Leben verbannt wurden«, hätten »sich schon jetzt viele Frauen ihren Platz in der afghanischen Gesellschaft zurückerobert«.10

Eine deutliche Fehleinschätzung, die die wahre Lage vor Ort verkannte und verklärte. Denn wie sollten Frauen, die 22 Jahre gezielt misshandelt, missbraucht und ausgebeutet worden waren, imstande sein, ihren Platz in der afghanischen Gesellschaft in so kurzer Zeit zurückzuerobern? Und wie genau der Platz der Frauen in dieser frauenfeindlichen patriarchalen Gesellschaft aussehen soll, wurde auch nicht umrissen.

Immer wieder widmeten sich die Medien den Frauen, die die Chancen zur Teilhabe nutzten und sich in politischen Ämtern engagierten. So hieß es in einem Artikel der Frankfurter Rundschau: »Afghanistans Emanzen: Sie tragen Flugblätter statt Schleier – afghanische Frauen im Widerstand«.11 Einen kritischeren Ansatz zeigte die Berliner Zeitung 2009: Sie wies bereits damals darauf hin, wovor sich die Menschen fürchteten: »›Würden die Ausländer unser Land verlassen‹, sagt einer ihrer Begleiter zum Abschied, […] ›Frauen wie Safia, Sumaya oder Fatima würden als erste umgebracht, von den Kriegsfürsten oder den Taliban.‹«12

Während die Ergebnisse der Friedensgespräche mit den Taliban zwischen 2020 und 2021 eine Zielrichtung nahmen, die die zuvor formulierten Versprechungen der westlichen Staatengemeinschaft immer unwahrscheinlicher werden ließen, änderte sich auch der Tenor in den Medien. Afghaninnen wurden in den internationalen Medien immer häufiger als eine selbstbestimmte Gruppe dargestellt, die eine Wahl hinsichtlich einer selbstbestimmten Zukunft hätte. Und das, obwohl bereits eindeutig feststand, dass mit dem Rückzug der internationalen Truppen auch die Nischen, in denen sich die wenigen aktiven Frauen bis dahin einigermaßen sicher fühlen konnten, aufgespürt und vernichtet würden. Überschriften wie »Sie fürchtet weder den Tod noch die Taliban« in der Neuen Zürcher Zeitung vom Januar 202013 führten in die Irre. Denn nur anderthalb Jahre nach dem Erscheinen des Beitrages musste die in dem Artikel beschriebene »jüngste Bürgermeisterin Afghanistans«, die international so groß gefeiert wurde, das Land verlassen, weil sie von Traditionalisten wie den Islamisten extrem angefeindet wurde.

Nach 20 Jahren eines vergeblichen Intermezzos westlicher Mächte in Afghanistan wurde noch einmal deutlich, wie die afghanischen Frauen – lebendig, tot oder verstümmelt –, wie ihr ganzes Leid dafür herhalten musste, die Sinnhaftigkeit des NATO-Einsatzes zu belegen. Das plötzliche starke mediale Erscheinen von Frauen hätte uns spätestens nach der Enthüllung von Wikileaks über die taktische Vorgehensweise der USA stutzig machen müssen. Dass sich selbst seriöse Medien dafür missbrauchen ließen, erschwerte sicherlich das Infragestellen der Inhalte. Umso wichtiger wäre es gewesen, dass hier PolitikerInnen und JournalistInnen ihre Verantwortung wahrgenommen und die Verantwortlichen entlarvt hätten. Das Aufdecken der Misere hätte ein Zeichen dafür sein können, dass der Krieg schon lange vor 2021 in eine Sackgasse geraten war.

3.AFGHANISCHE FRAUENRECHTE ALS SPIELBALL DER POLITIK IM HISTORISCHEN RÜCKBLICK

Betrachtet man die Situation afghanischer Frauen im Kontext der Geschichte, so wird schnell deutlich, wie sehr ihre Stellung im Land den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen unterworfen war. Je nach ideologischer Überzeugung der beteiligten Player wurden den Frauen ganz nach Belieben ihre persönlichen Rechte ab- oder zuerkannt. Afghanische Herrscher waren entweder zu schwach und ließen sich daher zum Preis geopolitischer Einflussnahme finanziell und militärisch von den Weltmächten unterstützen, oder es wurde mit denselben Mitteln eine Opposition im Land aufgebaut, um das jeweils herrschende System zu stürzen. In einer multiethnischen und stammesorientierten Gesellschaft wie Afghanistan ist es erstaunlich einfach, für die Durchsetzung eigener Ziele Mitstreiter zu finden, indem man ethnische oder religiöse Gruppen mit unterschiedlichen Überzeugungen gegeneinander ausspielt.

In der Entwicklung des Landes sind daher seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wiederholt Perioden liberaler Politik hinsichtlich der Frauenrechte erkennbar. Aber genauso regelmäßig werden diese von Kräften abgelöst, die alle Errungenschaften zunichtemachen. Dabei hat es allerdings stets große Differenzen zwischen ländlichen und städtischen Gebieten gegeben. Ebenso spielen die ethnische Zugehörigkeit, die Konfession und der Bildungsgrad dabei eine erhebliche Rolle.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich Afghanistan in einem ersten westlich orientierten Modernisierungsprozess. Seitdem haben sich die Herausforderungen, mit denen sich Frauen in Afghanistan im Kampf um ihre Rechte und ihre Beteiligung an der Gestaltung der Gesellschaft konfrontiert sahen, dauernd gewandelt.

Sucht man heute nach Belegen für frühere Entwicklungen der Emanzipation und Partizipation von Frauen in Afghanistan, so werden nicht selten Fotos bemüht, vor allem aus den 60er und 70er Jahren. Anhand ihres Umfelds (in der Universität, im Straßenbild oder bei Feierlichkeiten) und der Kleidung ist schnell zu erkennen, dass Frauen in Afghanistan immer wieder eine Welle der Freiheit und der Gleichberechtigung erlebt haben. Allerdings wird im Westen eine Frau, die keine Burka trägt und in einem Minirock zu sehen ist, fälschlicherweise als gleichberechtigt und selbstbestimmt wahrgenommen. Das eigentliche Problem afghanischer Frauen war und ist nicht das Tragen des Schleiers oder der Burka, sondern dass ihnen grundsätzliche Menschenrechte vorenthalten werden.

Daher ist es wichtig, festzuhalten: Selbst in den Phasen, in denen die Förderung der persönlichen und gesellschaftlichen Rechte der Frauen einen politischen Zweck erfüllte, spielten diese Errungenschaften nur in der Hauptstadt und den wenigen anderen Großstädten und immer nur in der Elite eine zentrale Rolle im Alltag. Wenn von Frauenrechten die Rede ist, so kann man sicher sein, dass die Mehrzahl der Frauen in Afghanistan niemals davon profitiert hat.

Freiheiten, die keine sind

Der Herrscher Amanullah hatte nach dem erfolgreich geführten dritten Krieg gegen Großbritannien dieses 1919 gezwungen, Afghanistan als souverän und unabhängig anzuerkennen. Bereits in den Jahren 1923 bis 1929 (vom Zeitpunkt der neuen Verfassung bis hin zu seiner Abdankung und dem Verlassen des Landes) unternahm er in Anlehnung an das gleichzeitige türkische Vorbild die ersten Versuche, die Frauen von den traditionellen Bindungen an Stammesregeln zu emanzipieren. Doch bald verdrängten ihn Gegner seiner Modernisierungswelle und entrechteten die Frauen erneut.

Auch in den folgenden Jahrzehnten wiederholte sich dieses Muster: Ein Herrscher setzte sich dank finanzieller und militärischer Hilfe des Auslands durch und unterstrich seinen Willen zum Fortschritt, wobei er oberflächliche Maßnahmen in die Wege leitete, um die Gleichberechtigung der Geschlechter voranzubringen, bis seine reaktionären Widersacher, durch andere Kräfte unterstützt, die Macht an sich rissen und die Errungenschaften revidierten. Leidtragende waren am Ende immer die Frauen.

Dass dieser Reflex auch im 21. Jahrhundert zuverlässig funktioniert, zeigte sich, als die USA und ihre Verbündeten im Oktober 2001 Afghanistan militärisch angriffen. Auch sie begründeten ihren Einsatz unter anderem mit der prekären Situation der Frauen und setzten zunächst eine Regierung ein, die eine von außen diktierte Politik umsetzte.

Fortschritte waren schnell zu erkennen. Nach den langen Jahren des Bürgerkriegs und einer Zeit, in der die Talibanherrschaft sie aus dem Straßenbild der Städte verdrängt hatten, sah man immer mehr Frauen, die in der neuen Situation ihre Chance sahen und voller Hoffnung ihre Häuser verließen. Während die meisten Männer ihren alten Gewohnheiten nachhingen, war es bei den Mädchen und Frauen anders: Sie waren aktiv, organisierten ihren Alltag und die Versorgung der Familie und besuchten vor oder nach der Schule Fortbildungskurse in Informatik und Englisch. Man konnte sogar Frauen beobachten, die Auto fuhren.

Für uns mag das im 21. Jahrhundert selbstverständlich klingen. Man muss sich den plötzlichen Umschwung aber in einem Land vorstellen, in dem es Mädchen nicht gestattet war, zur Schule zu gehen, in dem Frauen nicht einmal im Krankheitsfall einen Arzt aufsuchen durften.

Und doch darf man sich von diesen Bildern nicht täuschen lassen. In vielen Teilen des Landes hat sich daran auch in den letzten zwanzig Jahren nichts geändert. Die Tatsache, dass die Zahl der Frauen, die weder von den neuen Freiheiten profitieren noch die ihnen plötzlich zugestandenen Rechte einfordern konnten, ungleich größer war als die der sich emanzipierenden, wurde von den politisch Verantwortlichen geflissentlich ignoriert. Eine Frauenrechtsaktivistin aus Balkh, einer Provinz im Norden Afghanistans, erzählte mir 2005 von einem Fall, in dem eine Frau über viele Jahre von ihrem Mann im Keller des Hauses eingesperrt worden war. Als ihr Bruder sie befreite, waren ihre Oberarme voller Narben, weil sie sich immer wieder blutig gebissen hatte. Aber anstatt solche Missstände ernst zu nehmen, wurde der Blick immer wieder auf die in Wahrheit dürftigen Erfolge in den Großstädten gerichtet.

In den beiden letzten Jahrzehnten gelang es selbst unter internationaler Aufsicht nicht, das Gebot der afghanischen Verfassung von 2004, dass die Menschenrechte im Grundsatz auch für Frauen gelten, über die Grenzen einiger weniger Städte hinaus durchzusetzen. Damit hat sich im Laufe der letzten Jahre leider bestätigt, dass es trotz zahlreicher Bekenntnisse nie wirklich um die Rechte der Frauen gegangen ist. Und solange die Frauen aufgrund fehlender Bildung – 90 Prozent sind Analphabetinnen – nicht in der Lage sind, ihre Rechte einzufordern, und sie keinen Rückhalt aus der Politik bekommen, wird weiterhin das Gesetz des Stärkeren gelten.

Viele intellektuelle und kriegsmüde Afghanen werteten den Angriff der USA 2001 als eine Chance, da sie die Beendigung des Krieges erhofften und sich davon für sich und ihre Familien eine Verbesserung der Lage versprachen. Im Lauf der Zeit wuchs aber dann die Irritation, dass die Lebensumstände der Menschen in den Provinzen nicht besser und Frauen dort immer noch wie Tiere behandelt wurden und dass man ehemalige Kriegsverbrecher und Taliban in Verhandlungen hofierte und sogar an der Regierung beteiligte. Allmählich verlor die große Mehrheit der Bevölkerung ihr Vertrauen in den neuen Staat und seine westlichen Schutzmächte. Vor allem wurde der Unmut über die von den USA eingesetzte Regierung immer lauter, da diese die finanzielle Hilfe, die eigentlich für den Wiederaufbau des Landes – und die Unterstützung der Frauen – gedacht war, in die eigenen Taschen steckte und Netzwerke der Korruption zu ihrem persönlichen Vorteil auslegte. Der Ruf der Menschen nach Gerechtigkeit blieb ungehört. Sie fühlten sich von der Regierung nicht repräsentiert und hätten lieber einige von deren Mitgliedern auf der Anklagebank in Den Haag gesehen.

Auch die Frauen fühlten sich immer mehr verraten. Sie waren wütend, war doch ihre Befreiung erst zu einem Ziel des Krieges in Afghanistan erklärt worden, wurde dann aber aus Feigheit während der Verhandlungen mit den Taliban ignoriert. »Sie haben uns und unsere Rechte verkauft«, höre ich oft seit dem überstürzten Rückzug des Westens.

Mohtaba, eine Lehrerin aus Kabul, die ihre vier Kinder alleine großziehen und versorgen musste, fragte mich 2006 tatsächlich, nachdem sie mir ihre Lebensgeschichte erzählt hatte, ob mir bekannt sei, dass vor dem afghanischen Gesetz Mann und Frau gleichberechtigt sind. Sie hatte in der Nachbarschaft einen schlechten Ruf und wurde bedroht, weil sie notgedrungen gelernt hatte, sich gegen Männer zu wehren und zu behaupten. Ihr Mann war in den 90er Jahren eines Nachts von Regierungsbeamten abgeholt worden, und sie hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen. Sie sagte mir, dass sie das Vertrauen in Gesetze verloren habe, und fügte hinzu: »Solange eine Regierung nicht die Grundrechte der Frauen verteidigt und Straftaten gegen Frauen verfolgt und bestraft, trauen sich die afghanischen Frauen nicht, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen, vor allem die in den Provinzen nicht. Die meisten wissen ja nicht einmal, welche Rechte sie haben.«

Dabei unterscheiden sich die Strategien der afghanischen Männer im Alltag nicht von denen der nationalen und internationalen Politik im Großen. Beide benutzen die Frauen, um ihre Ziele zu erreichen oder ihre Machenschaften zu rechtfertigen. In Afghanistan ist es zum Beispiel üblich, Frauen, die in der Schlange vor Ämtern stehen, vorzulassen, damit sie nicht zwischen den Männern warten müssen. Dieser Umstand wird oft von ihren Ehemännern ausgenutzt, die ihre Frauen vorschicken, um sich durch sie einen Vorteil zu verschaffen, schneller voranzukommen. Überhaupt werden die Rechte der Frauen je nach Zweckmäßigkeit und ihrem Nutzen für die männliche Bevölkerungsgruppe bedacht und kommen innerhalb der vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen nicht vor.1

Afghanistan wird europäisch – die 20er Jahre

Mit dem Friedensvertrag von Rawalpindi endete im August 1919 der Dritte und letzte der Anglo-Afghanischen Kriege. Wenige Tage später erklärte der spätere König Amanullah die Unabhängigkeit seines Landes.2 Der dem Westen zugetane Emir setzte sich für die Modernisierung seines Landes ein. Inspiriert von den Reformen Atatürks in der Türkei und Reza Shahs im Iran, leitete er politische und soziale Veränderungen ein, zu denen die Ausweitung der persönlichen Freiheit und gleiche Rechte für alle Afghaninnen und Afghanen gehörten. Der Emir war durch seine Eindrücke, die er während seiner Reisen in Europa gewann, von der neuen Welt so sehr angetan, dass er sich nach seiner Rückkehr umgehend daranmachte, sein Heimatland kulturell und sozial entsprechend umzugestalten.3

Seine sozialen Reformen umfassten sogar eine neue Kleiderordnung für die Regierungsangestellten. An den Stadtgrenzen Kabuls gab es die Möglichkeit, Anzüge auszuleihen, damit Männer, die in der Stadt Behördengänge zu erledigen hatten, sich dem neuen Stil eines modern ausgerichteten Staates entsprechend kleiden konnten, um nicht mit der als rückständig angesehenen traditionellen Kleidung das Straßenbild zu stören.

Um nach außen den neuen Zeitgeist zu demonstrieren, veränderte er darüber hinaus maßgeblich die Situation der Frauen. So schaffte er zum Beispiel den parda ab. Mit Hilfe dieses Vorhangs wurden bis dahin die beiden Geschlechter sowohl innerhalb des Hauses als auch im öffentlichen Raum physisch voneinander getrennt. Ab jetzt konnten Frauen und Männer gemeinsam ohne eine räumliche Trennung an Veranstaltungen teilnehmen – zumindest in der Öffentlichkeit. Im privaten Bereich hatte diese Vorgabe keine Auswirkung. Da war es weiterhin den Familien selbst überlassen, wie sie leben wollten.

Zum Modernisierungsprogramm Amanullahs gehörte auch die Befreiung der Frauen aus den kulturellen Normen der Stammesgesellschaften. Seine von Europa beeinflusste Politik beeindruckte vor allem die afghanische Elite, die das neue Gesellschaftsmodell unreflektiert nachahmte. Die Frau des Emirs, Königin Soraya, unterstützte das Vorhaben ihres Ehemannes, indem sie als Zeichen der neuen Ära ihren Schleier öffentlich ablegte und damit die Frauen des Landes aufforderte, es ihr gleichzutun. Soraya, die in einem Beitrag des New Lines Magazine als »The Eva Perón of Afghanistan« bezeichnet wurde, gründete die erste Frauenzeitschrift Afghanistans, Ershad-i-Niswan (Anleitung für Frauen).4

Doch nicht nur sie, sondern auch weitere Frauen aus der Familie des Königs beteiligten sich aktiv an der Gestaltung des neuen gesellschaftlichen Lebens. Ein Beispiel dafür war Amanullahs Schwester Kobra, die Anfang der 20er Jahre die Vorsitzende der Organisation Anjuman-i-Himayat-i-Niswan (Vereinigung zum Schutz der Frauen) war. Ziel der Organisation war es, Frauen darin zu ermutigen, sich bei persönlichen Schwierigkeiten an Anjuman-i-Himayat-i-Niswan zu wenden, um sich untereinander zu vernetzen und zu unterstützen und so einen Weg aus ihren alltäglichen Problemen zu finden. Um den Zugang der Frauen zum Gesundheitswesen zu gewährleisten, wurde in Kabul sogar ein Krankenhaus nur für Frauen errichtet.

Anlässlich des 7. Jahrestages der Unabhängigkeit Afghanistans wandte sich Königin Soraya in einer Veranstaltung an die versammelten Frauen mit den Worten: »Denken Sie nicht, dass unsere Nation nur Männer braucht, um ihr zu dienen. Auch Frauen sollten ihren Teil dazu beitragen, so wie sie es in den frühen Jahren des Islam getan haben. […] Aus ihren Beispielen lernen wir, dass wir alle zur Entwicklung unserer Nation beitragen müssen, und das ist nicht ohne Wissen (Bildung) möglich […].«5

Die Nachrichten über die Veränderungen in Kabul und Fotos von den Reisen des Königspaars erreichten bald auch die Provinzen, in denen die dort herrschenden Gouverneure jedoch eine ganz andere Politik verfolgten. Dort sah man überhaupt keine Veranlassung für eine Umgestaltung des sozialen Lebens oder eine veränderte Einstellung gegenüber Frauen. Der Unmut aus den Provinzen wurde immer lauter. Konservative und regionale Clanführer sahen in den Bildern und Berichten einen eklatanten Verrat an der afghanischen Kultur, der Religion und der Ehre der Frauen.