Die Agnellis - Vito Avantario - E-Book

Die Agnellis E-Book

Vito Avantario

0,0

Beschreibung

In Italien sind sie die Agnellis - eine Mischung aus den Kennedys und den Windsors. Der mächtigste Familienclan Italiens ist zugleich auch die stärkste wirtschaftliche Kraft. FIAT, Ferrari, der Fußballclub Juventus Turin und eine weit verzweigte Finanzholding gehören zu ihrem Imperium.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 289

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Agnellis
Die heimlichen Herrscher Italiens
Avantario, Vito
Campus Verlag
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
9783593402093
Copyright © 2002. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
9
16
9
16
false

|5|Meiner Familie

|9|Prolog

Die Geschichte der Familie Agnelli ist die Geschichte von Gewinnern. Doch dort, wo es Sieger gibt, sind auch Verlierer nicht weit. Beginnen wir also mit dem, wohin sich die Verlierer einer Familie häufig stürzen, wenn sie die Erblast der Gewinner nicht länger ertragen können: Beginnen wir mit dem Tod.

Edoardo Agnelli ist wie immer früh am Morgen erwacht. Er ist im Schlafanzug ans Fenster getreten, so wie er es jeden Morgen tat, weil er das Naturschauspiel am Himmel liebte. Auch in dieser Nacht hatte er unruhig geschlafen wie so oft in den letzten Wochen. Ein Gedanke quälte ihn schon lange – doch geredet hatte er mit niemandem darüber. Ein Freund sagte später der Polizei, Edoardo hätte ihn am Vormittag angerufen. Dabei hätte er entspannt gewirkt. Sie hatten sich für den Nachmittag verabredet.

Als die Polizei das Auto von Edoardo Agnelli findet, läuft der Motor noch. Die Fahrertür ist weit geöffnet. Der Sohn des mächtigsten italienischen Großindustriellen, Giovanni Agnelli II., genannt Gianni, ist gegen 7.15 Uhr in seinen Fiat Croma gestiegen. Von Turin aus ist er in Richtung Savona, südwestlich von Genua an der Küste Liguriens gelegen, gefahren. Seelenruhig hatte er einige Gespräche von seinem Mobiltelefon aus geführt, unter anderem mit einigen alten Freunden. Von diesen hatte Edoardo seinen Spitznamen erhalten. Sie nannten ihn »Crazy Eddie« – vielleicht, weil er so gar nicht der Vorstellung von einem Industriellensohn entsprach. 1985 hatte er zuletzt Ambitionen gezeigt, die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Irgendwann gab er dann auf. Zuletzt hatte er keine Anstalten mehr |10|gemacht, das Leben, das seine Familie für ihn ausgewählt hatte, überzustreifen.

Weder hatte er Interesse an den Geschäften noch an dem Erbe, das das Wirtschaftsmagazin FORBES im Juni 2000 auf rund fünf Milliarden Euro taxierte. Edoardo verachtete den Kapitalismus. Daraus hatte er zuletzt auch in Interviews keinen Hehl gemacht. Geld hielt er für so etwas wie die Notdurft von Kapitalisten, die dem Zwang unterliegen, Gewinne machen zu müssen, und die durch ihre Maximierungsmentalität die Welt mit Gier und Neid und Korruption verseuchen.

Anstatt sich mit Wirtschaftsfragen und Geldangelegenheiten zu beschäftigen, brütete Edoardo Agnelli lieber über die Natur des Kosmos und des Menschen. Auf der Suche nach sich selbst und dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, reiste er durch Indien und Afrika. In Kenia wurde er festgenommen, weil er 300 Gramm Heroin bei sich trug. Spätestens, nachdem ihn seine Familie durch diplomatisches Geschick 1990 aus dem Gefängnis befreit und nach Italien zurückgeholt hatte, dürfte ihn sein Vater endgültig als Erben des Familienimperiums abgeschrieben haben.

Bereits in den Jahren zuvor hatte sich Edoardo immer wieder ins Abseits geredet, wenn er nach der Familie und ihrem Wirtschaftsimperium gefragt wurde. Seine Haltung zum Geld erinnerte an die Predigten eines berühmten Bettelmönches. Das kam nicht von ungefähr: Edoardo Agnelli war ein gläubiger Mann und Anhänger des Franziskanerordens. Franz von Assisi gründete den Glaubensbund, nachdem er mit seinem Vater gebrochen hatte, weil er nicht das elterliche Unternehmen übernehmen wollte. Später scharten sich Freunde um ihn, sie nannten sich die »minderen Brüder«. Als Wanderprediger zogen sie umher und verkündeten die Botschaft Gottes. 1223 bestätigte Papst Honorius III. den Orden. 1226 starb Franz von Assisi.

Mittwoch, der 15. November 2000, 10.30 Uhr: Die Autobahnwacht findet die Leiche von Edoardo Agnelli unter dem Viadukt Fossano. An seinem Auto entdeckt die Polizei keine Spuren eines |11|Unfalls, auch die Leitplanken weisen keine Schäden auf. Edoardo Agnelli, so scheint es, hatte seinen Wagen in aller Gemütsruhe zum Stehen gebracht. Dann war er über das Geländer der Brücke gestiegen und hatte sich 80 Meter in die Tiefe gestürzt. Die Polizei findet in seinen Taschen keinen Abschiedsbrief, nur seinen Führerschein. Edoardo Agnelli trägt an jenem Morgen eine graue Kordjacke, darunter seinen Pyjama.

Am folgenden Tag überschlagen sich in Italien die Zeitungen mit Nachrichten über den plötzlichen Tod des Agnelli-Erben. Nicht nur für die Klatschpresse, auch für die bürgerlichen Medien ist der Tod des Kronprinzen der mächtigsten Familie Italiens ein gefundenes Fressen für Spekulationen. Wie konnte es zu dem tragischen Vorfall kommen? Welche Schuld trägt der mächtige Vater an dem Selbstmord des depressiven Sohnes? Warum ist die Familie Agnelli seit jeher Opfer so vieler Schicksalsschläge? Was bedeutet der Tod des Kronprinzen für den italienischen Familienkapitalismus? Wer wird die Dynastie in die dritte Generation führen? Wird sich nun der einzige italienische Automobilhersteller zu einem gesichtslosen Multi verwandeln, wie Coca-Cola, Nestlé, IBM oder General Motors?

Der unerwartete Tod ist ein vertrauter Gefährte der Agnellis. Doch kein Tod hat die Familie so sehr ins Mark getroffen, wie der von Edoardo Agnelli – niemand aus der Familie war bisher freiwillig aus dem Leben geschieden.

Eine Woche nach dem Freitod findet die Trauerfeier auf dem Stammsitz der Familie in dem Ort Villar Perosa statt. Sie dauert eine Stunde. Nur die engsten Freunde Edoardos und der Familie sind auf dem Anwesen versammelt. Die unauffällig auftretende Leibwache hat das Gebiet um das Anwesen herum unter Kontrolle. Einige Fotografen haben sich in sicherer Entfernung mit ihren Teleobjektiven platziert. Am nächsten Tag zeigen ihre Fotos den ergrauten Vater Gianni, wie er sich mit dem rechten Arm auf seinen Stock stützt und mit dem linken am Unterarm seiner Ehefrau Marella Caracciolo di Castagneto. Die Mutter hatte sich zum Zeitpunkt des Todes ihres Sohnes in New York aufgehalten, der zweiten Heimat der Familie. |12|Ein anderes Bild zeigt Umberto, den Bruder Giannis, und Schwester Susanna. Beide blicken zu Boden, als sie in die neoklassizistische Kapelle von Villar Perosa schreiten. Ihre Rücken sind von der Last der Trauer gebeugt, ihre Gesichter vom Schock des Todes gezeichnet. Dann ist da noch John Elkann, einer von Edoardos Cousins und – wie sich später herausstellen wird – designierter Nachfolger Gianni Agnellis als Familienoberhaupt. Seine Mutter Margherita ist Edoardos Schwester. Sie ist aus Paris angereist, wo sie seit Jahren ihren Lebensmittelpunkt hat.

Vater Gianni, Sohn Edoardo: Dort, wo es Sieger gibt in einer Familie, sind Verlierer nicht weit.

Gianni Agnelli weint. Immer wieder laufen ihm die Tränen über das Gesicht. Noch nie zuvor ist das öffentlich passiert. Die Zeitungen berichten am Tag nach der Bestattung, Gianni Agnelli habe gewimmert: »Mein Sohn, mein armer Sohn …«

Nach der Totenmesse um 11.30 Uhr wird Edoardos Sarg aus der Kapelle getragen. Es regnet. Ein Meer von Kränzen liegt vor dem Einlass, |13| darunter einer des Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi, ein anderer von der Bevölkerung von Villar Perosa und ein Kranz der FIAT-Belegschaft mit blauer Schleife. Im FIAT-Werk, nur wenige Kilometer entfernt, ruht im Gedenken an Edoardo in diesem Augenblick die Arbeit.

Edoardo wird im Familiengrab bestattet. Hier ruhen bereits der FIAT-Gründer Giovanni I., dessen Ehefrau Clara, deren Sohn Edoardo – Vater von Gianni – und einer von Giannis Brüdern, Giorgio.

Nach der Beisetzung zieht sich die Familie ins Haus zurück. Draußen scheint es, als ginge das Leben normal weiter: Ein Gärtner fährt auf einem kleinen Trecker über die weichen Wiesen des Anwesens, um dann die Herbstblätter zusammenzuharken.

Die alte Straße, die hinauf nach Villar Perosa führt, wird von einigen Polizeiautos bewacht. Die Beamten schweigen und sind in sich versunken. Neugierige Besucher müssen sie nicht abwimmeln. Es gibt keine. Zwischen Pinerolo und Sestriere liegt das Anwesen der Familie, etwa 50 Kilometer von Turin entfernt, 530 Meter über dem Meeresspiegel. Hier oben riecht die Luft nach Thymian und Rosmarin, und an klaren Tagen sieht man auch Bussarde durch ihr Revier fliegen. Vor dem Rathaus von Villar Perosa thront eine bronzene Statue. Sie erinnert an den Gründer des größten italienischen Automobilherstellers FIAT.

Nicht weit davon entfernt sitzen jeden Abend die immer gleichen vier alten Herren auf einer Parkbank und reden über die immer gleichen Dinge: den letzten Spieltag der Seria A, die Korruption in Italien, die Schönheit der Natur – oder über die Ambitionen des Mannes, der später italienischer Ministerpräsident werden wird, Silvio Berlusconi.

An diesem Novembertag jedoch reden sie wenig, und wenn sie es tun, dann fallen magere Worte über das Drama der Dynastie, die für sie so etwas wie die italienische Königsfamilie ist. »Der Schmerz macht auch nicht vor den Mächtigen und Reichen halt«, sagt der eine, während die anderen drei nicken und sich weiter in Schweigen hüllen. |14|Die alten Herren, die dort mitten in Villar Perosa sitzen, sind vier der rund 4 000 Einwohner des idyllischen Ortes in den Bergen des Piemonts. Am Ortseingang begrüßt ein Schild die Besucher: »Der Mensch prägt die Zeit, die Zeit prägt den Menschen.«

Die Familie, die das gesamte 20. Jahrhundert Italien vor allem wirtschaftlich prägte, hält hier ihr Anwesen. Die alten Männer reden nicht gerne über die Agnellis – ganz einfach deswegen, weil man nicht des Tratsches verdächtigt werden möchte: »Wenn Sie über die Agnellis schreiben wollen«, erklärt der eine, »müssen Sie sich eine Erlaubnis von der Familie holen.« Die anderen drei tun so, als hörten sie weg und wenden sich ihren vorbeiflanierenden Familien zu, die an diesem Sonntag, wie jede Woche, in der Kirche San Pietro die Messe besucht haben. Sie ist eines von zwei Gebetshäusern im Ort, beide wurden mit dem Geld der Familie Agnelli restauriert.

Am Wochenende lässt sich das Familienoberhaupt aus dem muffigen Turin mit dem Helikopter ins frische Chisonetal herüberfliegen. An manchen Sonntagen besucht auch Gianni Agnelli die Messe. Danach plaudert er ein wenig mit den anderen Besuchern. Dabei erscheint er als ein ganz normaler Bewohner des Ortes, erzählt man sich hier.

Wie heute für Gianni war das Dorf im Val Chisone auch für seinen Großvater Giovanni Agnelli I. so etwas wie ein Zufluchtsort. Villar Perosa ist die Lunge und das Herz der Familie. Hier, weit weg vom tobenden Konkurrenzkampf auf dem globalen Automobilmarkt, finden die Agnellis seit jeher Ruhe und Besinnung. In Villar Perosa finden Familienessen statt, bei denen die wichtigen Entscheidungen getroffen werden, die jede Familie dann und wann zu treffen hat. Auf ihrem Anwesen in Villar Perosa rückt die Familie Agnelli zusammen, wenn sie trauert oder einen Grund zum Feiern hat.

Giannis Urgroßvater Edoardo I., verstorben 1871, hatte das Grundstück der Familie Agnelli 1853 von den Erben des Grafen Piccone della Perosa erworben. Der Graf verlieh dem Ort den Namen, die Familie Agnelli jedoch prägte das Leben während des letzten Jahrhunderts in Villar Perosa. Fast jeder Dorfbewohner oder zumindest |15|ein Mitglied jeder Familie im Laufe des letzten Jahrhunderts hat schon für eines der Unternehmen der Agnellis gearbeitet.

In der ganzen Welt steht der Name Agnelli für Geld, Macht und Glamour. Insbesondere für deutsche Ohren klingen italienische Namen häufig poetisch. Übersetzt man den Namen der Familie ins Deutsche, geht allerdings der Zauber rasch verloren. Agnelli ist der Plural des italienischen Wortes agnello, und das bedeutet: Lamm.

17
88
17
88
false

|17|TEIL EINS

Die alte Ordnung: 1830 bis 1945

19
41
19
41
false

|19|1. Giovanni Agnelli – Die Pflicht ruft

Der Name Agnelli sagt alles über die Herkunft der Familie: Die Agnellis haben sich über die Jahrhunderte in die Machtetagen emporgedient – sie haben ebenso geschuftet, wie es heute die Tausende von Arbeitern und Angestellten tun, die für das weit verzweigte Firmenimperium der Familie tätig sind.

Zum ersten Mal taucht der Name Agnelli im Jahr 700 auf. Woher die Familie genau stammt, ist nicht bekannt, vermutlich aber entweder aus der Gegend um Neapel oder aus Mantua. Der erste Agnelli, der sich in die Geschichtsbücher eintrug, war Giannis Urgroßvater Edoardo. Er wurde um 1830 geboren und muss deshalb erwähnt werden, weil er der Vater des Mannes war, der die Agnelli-Dynastie schließlich begründete.

Edoardo Agnelli war zu seiner Zeit in der Umgebung von Villar Perosa ein angesehener Landwirt. Er war mit Aniceta Frisetti verheiratet. Auf seinem Hof züchtete er Seidenraupen und betrieb Viehzucht. Ihr einziger Sohn, Giovanni, wurde am 13. August 1866 geboren.

Nur wenige Jahre zuvor, 1860, war Giuseppe Garibaldi mit einem Heer von Freiwilligen von Genua aus mit einem Schiff nach Sizilien gezogen, um Süditalien von der tyrannischen Herrschaft der Großgrundbesitzer zu befreien. König Vittorio Emanuele II. und sein Minister Cavour rieten ihm zunächst davon ab, doch Garibaldi, der in Südamerika an verschiedenen Befreiungskriegen teilgenommen hatte, war kampferfahren. Sein Unternehmen, das zur Vereinigung Nord- und Süditaliens führen sollte, ging als »Impresa dei Mille« (Unternehmen der Tausend) in die italienische Nationalgeschichte ein. |20|1861 wurde das Vereinte Italienische Königreich ausgerufen. Der neue Staat war der Verfassung nach eine konstitutionelle Monarchie – der politischen Praxis nach aber ein parlamentarisches System, in dem die Regierung abtreten musste, wenn sie die Mehrheit verlor. Die Mitglieder der herrschenden Eliten gehörten allesamt den gehobenen Gesellschaftsschichten an. Sie waren trotz politischer Differenzen stark durch ihre Herkunft verbunden und vertraten demnach nur einen kleinen Teil der Bevölkerung.

In den Jahren nach der Staatsgründung wurden das aktive und das passive Wahlrecht nach und nach reformiert. Die ideologische Distanz zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft wurde dadurch dennoch nicht geringer. Zwischen Süd- und Norditalien vergrößerte sich die soziale und wirtschaftliche Kluft sogar dann, als sich die Linke 1876 zur Macht aufschwang: Der Einfluss der Aristokratie und der Grundbesitzer verringerte sich zwar, die Regierung aber blieb in erster Linie eine Versammlung, die Entscheidungen für das Bürgertum fällte.

1865 wurde die Hauptstadt von Turin nach Florenz verlagert, 1871 erhielt dann Rom diese Funktion. Im gleichen Jahr starb Edoardo I. im Alter von nur 40 Jahren nach langer Krankheit. Kurz zuvor hatte er seiner Frau Aniceta seinen Wunsch mitgeteilt, den gemeinsamen Sohn nach der Schulausbildung auf die Militärakademie in Modena zu schicken. Verlässlich befolgte seine Ehefrau den Wunsch, denn sie wusste, eine erfolgreiche militärische Ausbildung würde ihren Jungen in die vom Vater ersehnten, aber selbst nie erreichten Kreise befördern.

1889 wurde Giovanni I. als Oberleutnant der Kavallerie aus der Akademie entlassen. An diesem Tag stieg die Familie Agnelli von der Schicht der Großgrundbesitzer in die Militärkaste auf und damit auch in die Schicht der politischen Repräsentanten und sozial Mächtigen. Die militärische Laufbahn, die Giovanni I. einschlug, sollte später Vorbild für die Ausbildung der Nachkömmlinge werden. Giovannis Sohn Edoardo wird ebenfalls die Militärakademie von Modena besuchen und wird zeitweise Anhänger der Faschisten sein. |21|Sein Enkel Gianni wird in der Armee dienen, im Zweiten Weltkrieg mit den italienischen Streitkräften in Russland einfallen und sich später der Resistenza anschließen, der antifaschistischen Widerstandsbewegung in Italien. Seinem jüngst verstorbenen Sohn Edoardo hätte Gianni eine ähnliche Ausbildung gewünscht: In einem Interview deutete er einmal seinen Unmut über die Entwicklung seines Jungen an. Die strenge Schule einer Militärakademie hätte das wackelige Gemüt seines Sohnes geradegerückt, sagte er.

Kurz nach seiner Entlassung von der Akademie heiratete Giovanni I. Clara Boselli. Sie war eine Frau, von der ihre Tochter und spätere Außenministerin Italiens Susanna Agnelli sagt, sie sei häufig missgelaunt gewesen, habe Krankheiten vorgetäuscht und mit Vorliebe über andere Menschen getratscht. Nichtsdestotrotz war sie ihrem Mann eine treue und ihn bei seinen Ambitionen als Unternehmer jederzeit stärkende Person.

Nach seiner Entlassung aus der Akademie entdeckte Giovanni I. sein Interesse für das Ingenieurwesen und die Physik. In Verona richtete er eine kleine Werkstatt ein und entwickelte erste Motoren – bis die Werkstatt während eines seiner Experimente in die Luft flog. Er ließ sich von dem Schrecken nicht entmutigen und siedelte 1891 mit seiner Arbeitsstätte nach Turin über. Parallel zu seinen Geschäften in der Stadt begann Giovanni I. mit der technologischen Modernisierung der Agrarunternehmen in Villar Perosa.

Das erste Industrieunternehmen, das der ehemalige Kavallerieoffizier Giovanni Agnelli gründete, hieß RIV und war eine Kugellagerfabrik. Heute heißt das Unternehmen SFK, nachdem es an schwedische Investoren verkauft wurde. Sobald er die Geschäfte der RIV zum Laufen gebracht hatte, beschäftigte Giovanni I. einen Gutsverwalter. Dieser sollte die Ländereien und Unternehmen in Villar Perosa führen, damit er selbst in Turin seinem Traum von einer eigenen Automobilfabrik nachgehen konnte.

In der Stadt wunderten sich immer mehr Fußgänger über die eigenartigen Fahrzeuge, mit denen vor allem Großbürger und Aristokraten umherfuhren. Etwa 100 Autos gab es 1898 in Turin, und das Caffè |22|Burello, das an der Ecke Corso Emanuele/Via Rattazzi lag, wurde zum Treffpunkt der neuen Schickeria. Dort zeigten sie ihre Fahrzeuge vor, rauchten Zigarillos und diskutierten über Chassis, Motoren und Karosserien. Genau hier lernte der 32-jährige Giovanni Agnelli den Grafen Biscaretti di Ruffia kennen, einen Mann, der für seine Vielseitigkeit in aristokratischen Kreisen hoch geschätzt wurde. Biscaretti war Maler, Musiker, Bergsteiger, Ingenieur und Politiker – und hatte zudem beste Kontakte zum Finanzwesen der Stadt.

Zu dem kleinen Kreis gesellte sich auch der Graf Emanuele Bricherasio di Cacherano. Wie Agnelli war auch er ehemaliger Kavallerieoffizier und zudem mit einer Schwäche für sozialistische Ideen ausgestattet. Er war der euphorischste unter den Männern, die sich hier regelmäßig trafen, um über die Zukunft des Automobils zu diskutieren. Dessen Familie sollte später Giovanni I. vorwerfen, er habe den Grafen aus der gemeinsamen Firma FIAT ausgebootet und ihm so den Eintrag in die Annalen der italienischen Industriegeschichte verwehrt.

Dann waren da noch der Devisenhändler Luigi Damevino, der Bankier und Seidenhändler Michele Ceriana-Mayneri, der Grundbesitzer Lodovico Scarfiotti, der Graf Alfonso Ferrero di Ventimiglia, die Juristen Cesare Goria-Gatti und Carlo Racca.

Mitten in diesem erlauchten Kreis befand sich also Giovanni I. und philosophierte mit den einflussreichsten Männern der Stadt über die zwei wesentlichen Fragen des Lebens. Woher kommt der Mensch? Und wohin steuert die Welt?

In vielem waren sie sich uneinig, in einem aber sprachen sie mit einer Zunge: Im Zuge der Industrialisierung würde sich der Mensch immer schneller fortbewegen wollen. Und der Mensch, meinten die Männer, bräuchte folgerichtig ein Automobil.

Giovanni I. tat sich bei den Gesprächen besonders hervor, was die übrigen Männer im Caffè nicht wenig beeindruckte. Er hatte profunde Ideen – und einen enormen Willen, sie auch wahr zu machen, das spürten die anderen sofort. Im Gegenzug war der junge Agnelli vom Adel fasziniert. Diese Begeisterung zieht sich durch die gesamte |23|Familiengeschichte der Agnellis hindurch: Giovannis Sohn Edoardo wird eine amerikanische Prinzessin heiraten, deren Söhne Gianni und Umberto wiederum das Geschwisterpaar eines italienischen Fürstenhofes. Doch an seiner Herkunft konnte Giovanni I. nichts ändern. Noch viel später, als sich bereits in dem Familienunternehmen FIAT die Erfolge überschlugen, nannten viele Giovanni I. noch immer einfach den »schlauen Bauern«.

Die Männer vom Caffè Burrelo wollten endlich eine eigene Autofabrik gründen, denn auf den Straßen norditalienischer Städte wie Turin, Genua und Mailand mussten sie neidvoll mit ansehen, wie immer mehr Automobile ausländischer Fabrikate umherfuhren, vor allem aus Frankreich. Und je öfter sich die Männer trafen, desto spezifischer wurden ihre Fragen: Welche Fabrikate hatten überhaupt eine Überlebenschance? Sollte man Luxusautos für eine kleine und kaufkräftige Klientel bauen? Oder doch lieber Massenprodukte entwickeln? Und wie sollte eine solche Produktionsweise organisiert sein?

Während einer der hitzigen Debatten platzte dem Grafen Bricherasio di Cacherano schließlich der Kragen. Der Conte hatte es satt, nur zu reden. Er war von jeher bekannt als ein Mann, der nicht blendete und täuschte, sondern frei heraus sagte, was er dachte. Und so gab er den Startschuss für das neue Unternehmen: »Wer an das Automobil als zukunftweisende Technologie glaubt, muss nun endlich in das Geschäft einsteigen, bevor es andere im In- und Ausland tun.«

Am 1. Juli 1899, vier Jahre bevor Henry Ford im US-Staat Michigan seine Automobilwerke gründete, riefen acht italienische Herrschaften die neue Gesellschaft ins Leben: die »Società per la costruzione e il commercio delle automobili – Torino«. Kurze Zeit später nannten sie ihr Unternehmen um in »Fabbrica Italiana Automobili Torino« – kurz: FIAT.

Das Startkapital für das Unternehmen betrug beachtliche 800 000 Lire. Im Vergleich dazu startete das Unternehmen Ford nur mit einem Kapital von rund 10 000 US-Dollar, also etwa 50 000 Lire. Mit dem Geld eröffnete FIAT in der Via Dante, Hausnummer 35, die erste  |24|Produktionsstätte. Das 12 000 Quadratmeter große Areal im heutigen Corso Dante wurde zur Firmenzentrale. Sie ist es noch heute. Hier sind die firmeneigenen Ausbildungsstätten untergebracht.

Unter der Geschäftsführung von Giovanni I. arbeiteten bald schon 150 Beschäftigte an der Entwicklung und Konstruktion des ersten Fahrzeugs. Von einem Mercedes-Modell hatte sich Agnelli 1900 bei der Weltausstellung in Paris das System der Motorkühlung abgeschaut, und so beauftragte er seine Ingenieure mit dem Bau eines ähnlichen Modells. Eine Imitation des Mercedes-Motors verursachte geringere Kosten, darüber hinaus, so meinte Agnelli, würde ein schneller Erfolg die Arbeiter zu weiteren Höchstleistungen anspornen.

Nur zwei Jahre nach der Firmengründung verließen 73 Fahrzeuge die Werkhallen von FIAT. Das erste Modell hieß schlicht Typ A. Es hatte zwei Pferdestärken und beschleunigte bis auf 35 Stundenkilometer. Der Kaufpreis des Autos betrug 4 200 Lire. Ein Arbeiter verdiente zu dieser Zeit 18 Cents in der Stunde. Er musste zwei Stunden arbeiten, um sich ein Brot leisten zu können.

Im Jahr 1906 gingen bereits 1 146 Autos vom Band, von denen rund 300 nach Großbritannien und Russland exportiert wurden. Die von Anfang an sehr guten Kontakte nach Russland sollten einerseits in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Geschäfte der FIAT-Manager Valeris Valletta und Gianni Agnelli mit der UdSSR erleichtern, ihnen jedoch auch Schwierigkeiten mit den Interessen der US-Amerikaner in Italien einhandeln.

Im selben Jahr kämpften bereits mehr als 30 Autounternehmen in Italien um die wenigen Kunden. Die meisten hatten sich in Turin niedergelassen, darunter Itala, Rapid, Scat, Croizat-Peugeot und SPA. Kurze Zeit später wurde in Turin auch die Lancia-Fabrik eröffnet, und in Mailand wurden schon bald Autos der Marke Alfa Romeo produziert. Die Marken Alfa Romeo und Lancia sind heute im Besitz der FIAT-Gruppe.

Drei Jahre nach der Firmengründung hatte FIAT vier Modelle auf dem Markt, darunter den FIAT 24 HP Corsa – eine Fortentwicklung des 10 HP. Der Pilot Vincenzo Lancia gewann damit im Auftrag von |25|FIAT erste Autorennen, die zwar sportlich betrachtet kaum von Bedeutung waren, aber das Renommee des Unternehmens durchaus steigerten. Agnelli und die anderen Gesellschafter erhofften sich von der Demonstration der Motorstärke, endlich das Vertrauen der Aristokratie und der Politik für ihren Betrieb zu gewinnen. Der italienische Automobilmarkt blühte zwar, litt aber unter einem schlechten Image. Technologisch gesehen bauten Franzosen und Deutsche Autos höherer Qualität, glaubten die Finanzeliten und verweigerten dem Autohaus Investitionsgelder. Vor allem an das Niveau der Produkte aus den Häusern Renault und Panhard in Frankreich sowie Mercedes und Benz in Deutschland konnten die Fahrzeuge von FIAT ihrer Einschätzung nach nicht herankommen.

FIAT erhöhte also die Schlagzahl. Dasjenige Unternehmen würde am angesehensten sein, das die stärksten und gleichzeitig solidesten Motoren baute. Die Fähigkeit, potente Motoren zu produzieren, war schlicht Ausdruck des Entwicklungsstandes einer Firma und ihrer Ingenieure. Währenddessen verspürte Giovanni Agnelli immer mehr das Bedürfnis, nicht nur einer von vielen Teilhabern des Unternehmens zu sein. Er wollte mehr. In ihm wuchs der Wille, das Unternehmen alleine zu führen.

Im März 1906 arbeiteten über 1 500 Arbeiter im FIAT-Werk. Sie produzierten mehr als 600 Fahrzeuge im Jahr. Der Gewinn in den Jahren von 1903 bis 1905 war um das Zehnfache gestiegen und lag nun bei satten 2 136 000 Lire.

Nicht jeder aber war ein Freund der Moderne. Kein Geringerer als König Vittorio Emanuele III. hatte die Werke in Turin besucht und beim Anblick verschiedener FIAT-Modelle diese angewidert als »verabscheuenswerte Erfindung« bezeichnet. Wenige Wochen später war der italienische König mit dem Zug auf dem Weg von Civitavecchia nach Rom, als eine Panne ihn zwang, die Eisenbahn auf offener Strecke zu verlassen. Prinz Colonna konnte den König schließlich aus der misslichen Lage befreien. Mit seinem FIAT fuhr er das Oberhaupt Italiens von der Eisenbahnstrecke nach Rom, wo er den neuen Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigen sollte. Kurze |26|Zeit später ging eine Bestellung im Hause FIAT ein. Der König hatte seine Ansicht über das Auto revidiert und bestellte mehrere exklusive FIAT-Modelle. So kam es, dass FIAT sich mit dem Etikett schmücken konnte, »Königlicher Autolieferant« zu sein.

Giovanni Agnelli I.: Der Gründer von FIAT prägte den Familien-Mythos – ein Agnelli kennt kein Mittelmaß und keine Niederlage.

Die Marktkapitalisierung des Unternehmens betrug 1906 neun Millionen Lire. FIAT ging an die Börse. Aktionäre wurden mit dem Versprechen ins Boot geholt, schnelle Gewinne machen zu können. In kurzer Zeit erreichte das FIAT-Papier die Rekordhöhe von 1 885 Lire. Der nominelle Wert der Aktie betrug hingegen nur 100 Lire. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits einige der Gründungsgesellschafter ihre Anteile verkauft und sich aus der Führung des Unternehmens zurückgezogen. Giovanni Agnelli hingegen hatte seinen Aktienanteil vergrößert.

|27|Der enorme Sprung der FIAT-Aktie in sehr kurzer Zeit und das gleichzeitige Anwachsen des Anteils von Giovanni Agnelli am Unternehmen erweckten das Misstrauen der Kontrollbehörden. 1907 schaltete sich auch die Turiner Staatsanwaltschaft in die Ermittlungen ein. Sie verdächtigte Giovanni I. der Fälschung der Unternehmensbilanzen, der Streuung von Gerüchten an der Börse zum Zwecke der Stärkung des FIAT-Papiers sowie der Vorteilsnahme durch dubiose Börsengeschäfte auf Kosten kleiner Kapitalanleger. Am 11. August 1908 waren die Verdachtsmomente gegen Giovanni Agnelli und die Mitglieder des Verwaltungsrats zu groß geworden. Sie mussten von allen Ämtern zurücktreten.

Nur ein Jahr später jedoch kehrte Agnelli als Geschäftsführer gestärkt zurück. In keinem Punkt hatte ihn die Anklage der Schuld überführen können, und selbst das Wiederaufrollen des Falles durch die Oberstaatsanwaltschaft einige Jahre später überstand er schadlos. Giovanni Agnelli wurde in allen Punkten freigesprochen.

Wie er das geschafft hatte, blieb vielen ein Rätsel. Genauso wie vielen ein Geheimnis war, wie es Giovanni Agnelli später angestellt hatte, die Macht bei FIAT vollends an sich zu reißen: Nach dem zwischenzeitlichen Kursverfall des FIAT-Papiers während der Affäre stand Giovanni Agnelli nach seinem Comeback nun plötzlich als einer von nur noch drei Hauptaktionären des Unternehmens da.

Dass Agnelli ein Unternehmer mit Mut und Visionen war, hatte er bereits häufig bewiesen. Nun war er auch zum gerissenen Strategen geworden. Ihm war schon immer klar gewesen, dass sozialer und wirtschaftlicher Aufstieg von der Qualität der Seilschaften abhängt, die man imstande ist zu aktivieren, sobald die Situation es erfordert. Nun hatte er sich dieses mühsam und über lange Zeit zusammengestrickte Netzwerk zunutze gemacht. Im Laufe der letzten Jahre hatte er sich in aristokratische und politische Kreise buchstäblich hineingearbeitet. Dabei hatte er den liberalen piemontesischen Politiker Giovanni Giolitti kennen gelernt. Giolitti war in den Jahren zwischen 1892 und 1921 fünfmal Ministerpräsident. Er hatte Giovanni I. zum »Cavaliere al Merite del Lavoro« erhoben – ein Ehrentitel, der auch |28|heute noch in Italien für Verdienste in der Welt der Arbeit verliehen wird. Dieser Verbindung hatte Agnelli seinen Freispruch zu verdanken, behaupteten viele.

Während Giovanni I. das Fundament für eine unvergleichliche Karriere legte, ertrugen die meisten Bewohner Italiens ihr dürftiges Leben mit Demut. Die ländlichen Gebiete litten unter einer agrarwirtschaftlichen Dürrezeit, die Zentren der italienischen Städte glichen Armenhäusern. Die Industrialisierung ging nur langsam voran. 55 Prozent der Gesamtbevölkerung waren immer noch in der Landwirtschaft tätig. In Deutschland und Frankreich waren es zur gleichen Zeit 35 beziehungsweise 43 Prozent. Etwa die Hälfte aller Bewohner Italiens waren Analphabeten.

In wesentlichen Teilen wurde die Politik von der katholischen Kirche bestimmt, doch ihr Einfluss wurde allmählich schwächer, denn in den Augen vieler bot sie nur den Glauben als Stütze, aber keine Konzepte für den wirtschaftlichen Aufschwung. Linksradikale und anarchistische Gruppierungen gewannen an Bedeutung, weil sie den Menschen versprachen, sie durch eine proletarische Revolution aus der Armut zu befreien. 1892 wurde die Italienische Arbeiterpartei gegründet, die 1893 zum Partito Socialista Italiano (PSI) wurde. Die Stimmung in der Bevölkerung radikalisierte sich zunehmend. Dies führte im Jahr 1900 in Monza zu dem Mordattentat des Anarchisten Gaetano Bresci auf König Umberto I. von Savoyen.

Unterstützung in der Bevölkerung genossen solche Taten nicht. Ein großer Teil der Landbevölkerung ließ sich weder von der extremen Linken, noch von Kirchenfunktionären die Sicht auf die Dinge vernebeln, die für sie existenziell waren: Brot, Wasser und Arbeit. Und sie legte ihr Schicksal nicht in die Hände von Politikern, sondern nahm es selbst in die Hand. Viele Menschen verließen das Land und flüchteten in die Städte. Dort erhofften sich die Männer durch den von allen Seiten herbeigeredeten industriellen Aufschwung eine Rettung ihrer Familien. Die Marktplätze der Städte im Norden Italiens verwandelten sich zu Arbeitsbörsen, in denen die ehemaligen Landbewohner ihre Dienste anboten. Andere wiederum hatten den Glauben |29|an Italien gänzlich verloren – oder hatten ihn vielleicht auch nie besessen. Sie kehrten ihrer Heimat den Rücken und folgten ihrer Hoffnung: Die Zuversicht auf ein besseres Leben trug viele Italiener nach Amerika.

In Italien wurde eine Reform des Finanzwesens durchgeführt, die endlich ausländische Investoren anziehen sollte, vor allem aus Frankreich und Deutschland. Turin und das gesamte Piemont erfuhren in dieser Zeit einen sozialen und wirtschaftlichen Umbruch. Die Zahl der abhängig Beschäftigten war in den Jahren zwischen 1881 und 1889 um 25 Prozent gewachsen. Vor allem das textilverarbeitende Gewerbe verzeichnete einen regelrechten Boom. Die mechanische Industrie in Turin zählte Ende der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts immerhin 14 120 Beschäftigte. Sie arbeiteten überwiegend für staatliche Betriebe.

Die Hauptstadt des Piemonts zählte mittlerweile 330 000 Einwohner, und sie entwickelte sich langsam aber stetig zum industriellen Zentrum Italiens. Gemeinsam mit Genua und Mailand würde Turin im folgenden Jahrhundert das magische Dreieck der italienischen Industrie bilden.

Villar Perosa dämmerte derweil wie eh und je im Schönheitsschlaf. Die Menschen hier waren gläubig und blieben bescheiden. Niemand von ihnen klagte über die Lasten des Lebens, im Gegenteil. In ihren Gebeten dankten sie Gott dafür, dass alles so war, wie es war, denn sie glaubten, egal wie schlimm es kam, es könnte einen immer noch härter treffen.

Giovanni I. hatte 1888 die zwanzigjährige Florentinerin Clara Boselli geheiratet, nachdem er sie während eines Urlaubs in Levanto kennen gelernt hatte. Nach der Trauung zogen sie zunächst nach Verona, den Sommer verbrachten sie aber weiterhin mit den Kindern Aniceta und Edoardo Jahr für Jahr in Villar Perosa. Die Menschen hier hatten große Achtung für den Patriarchen und waren beeindruckt von seinem Pioniergeist und seiner Art, Dinge anzupacken. So wählten sie ihn 1895 zu ihrem Bürgermeister, weil sie glaubten, einer wie Giovanni Agnelli, der es schaffte, aus einer Familie vom Land in |30|die Machtetagen der Region aufzusteigen, wäre für Höheres geschaffen und stünde auch dem Ort gut zu Gesicht.

Sie behielten Recht. An der Faszination der Bewohner von Villar Perosa für die Familie Agnelli hat sich bis heute nichts geändert. Seinem Heimatort stand Giovanni I. ununterbrochen bis zu seinem Tod 1945 vor. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm sein Enkel Gianni das Amt des Bürgermeisters und gab es erst 1980 auf. Seit dem Tag, an dem ein Agnelli zum ersten Mal Bürgermeister wurde, führte kein Bewohner von Villar Perosa mehr persönlich Steuern an den Staat ab. Die Familie Agnelli bezahlte für alle.

Durch die Industrialisierung verwandelte sich Villar Perosa immer mehr zu einem Ort, den die Leute nicht nur damals, sondern auch heute noch schmunzelnd »Villa Agnelli« nennen. In den Agraranlagen und der Kugellagerfabrik RIV beschäftigte Giovanni I. Hunderte Menschen aus der Gegend. Für sie ließ er Kasernen bauen, für die Angestellten Häuschen. Hinzu kamen eine Ambulanz und ein Stadion, das auch heute noch existiert und in das sich der familieneigene Fußballverein Juventus Turin zu Trainingslagern zurückzieht.

Das Anwesen der Agnellis thronte abseits des Dorfes auf einem Hügel, zwischen der Via Papacino, dem Corso Oporto und der Via Avogardo. Dort oben genoss Giovanni I. die Ruhe, wenn er nach einem langen Tag von der Arbeit nach Hause kam. In der Zwischenzeit hatte seine Frau Clara jene Dinge im Haus geregelt, die eben Aufgabe einer italienischen Frau waren, während er, der Mann, sich erfolgreich um die Geschäfte gekümmert hatte.

In ihrem Haus war es zunächst noch still. Später schenkten ihnen ihre Kinder, Aniceta und Edoardo, zwölf Enkel – und das Haus füllte sich mit Leben und Geschichten. Geschichten, durch die die Agnellis in Italien den Rang einer Königsfamilie einnehmen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen sollten, so wie die Kennedys in den USA. Jede Hochzeit, jeder Todesfall und jede Affäre wird von den Menschen seitdem bejubelt, beweint oder beklagt, als ginge es um das Schicksal der befreundeten Nachbarsfamilie.

Giovanni Agnellis Ego sollte dabei alle folgenden Generationen |31|prägen. Vor allem die Männer in der Familie wurden an seinen Taten gemessen. Ihnen oblag die Verantwortung für die Fortsetzung der Familiengeschäfte. Seine Botschaft: Setzt mein Werk fort. Sichert das Erbe. Wählt eine Person aus, die die Familie in die nächste Generation führt. So prägte Giovanni I. den Familienmythos: Ein Agnelli kennt kein Mittelmaß und keine Niederlage. Ein Agnelli ist ein Sieger.

Vererbte Familienmythen bezeichnen Familienforscher als Delegation. Im positiven Fall werden sie von Generation zu Generation weitergereicht wie Reichtümer, im negativen aber wie Krankheiten. Kinder und Kindeskinder leben häufig unbewusst die Lebensprogramme vorangegangener Generationen weiter. Vor allem Söhne dominanter Väter leiden häufig unter der psychologischen Erblast des Vorfahren.

Das Siegen ist in der Familie Agnelli vor allem ein Geschäft der Männer. Frauen hingegen waren lange auf die Rolle der Mutter reduziert und damit für die Innenpolitik des Hauses verantwortlich. Sie sorgten in erster Linie dafür, prächtige Jungs zur Welt zu bringen, denen die Aufgabe aufgebürdet wird, sich wiederum als tüchtige Männer zu erweisen, damit sie eines Tages die Erbfolge des Clans antreten.

Tochter Aniceta heiratete in die Familie Nasi hinein. Dem Ingenieur Carlo gebar sie fünf Kinder. Doch obwohl zwei Jungs und potenzielle Nachfolger unter ihnen waren, spielte für das Familienoberhaupt der Zweig der Nasi für den Fortbestand der Agnelli-Dynastie keine Rolle. Blut ist dicker als Wasser, fand Giovanni I. Deswegen wollte er, dass eines Tages sein leiblicher Sohn das Erbe antritt und niemand anderes. Nachdem Aniceta an den Folgen einer Frühgeburt gestorben war, verstieß der dominante Patriarch Giovanni den geschwächten Witwer Carlo aus der Familie. In ihrer Autobiografie berichtet Susanna Agnelli, wie sie den Tod ihrer Tante und das Gebaren ihres Großvaters gegenüber dem Witwer erlebte: »Nach dem Tod wurde Anicetas Mann völlig aus der Familie ausgeschlossen. Das Gericht sprach meinem Großvater die elterliche Gewalt über seine |32|Enkel zu. Der Vater erhielt im selben Haus, in dem seine Kinder wohnten, eine separate Wohnung zugewiesen. Er durfte seine Kinder aber nur alle vierzehn Tage sehen. Als er starb, haben ihn, glaube ich, nicht viele betrauert. Wir haben uns schwarz angezogen und sind hinter dem blumengeschmückten Leichenwagen hergegangen. Das war alles.«

Nur zwei Mitglieder der Familie Nasi schafften es in den folgenden Jahrzehnten, das strenge Selektionsverfahren der Familie Agnelli zu überstehen. Giovanni, einer der beiden Söhne von Carlo und Aniceta Nasi, wurde später Vizepräsident von FIAT. 1995 verschwand er allerdings spurlos von der Bildfläche. Niemand weiß bis heute, was mit ihm geschah. Dessen Tochter Tiziana Nasi war die einzige Frau, die in die Männerdomäne der Geschäftswelt der Agnellis eindringen konnte. Sie leitete die Geschäfte von Sestiere S.p.A. Das Unternehmen war in der Touristikbranche tätig und beschäftigte über 4 000 Mitarbeiter. Mit einem Anteil von 70 Prozent war die FIAT-Gruppe 1998 größter Teilhaber des Unternehmens.