Die Akte Hürtgenwald - Lutz Kreutzer - E-Book

Die Akte Hürtgenwald E-Book

Lutz Kreutzer

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Beschreibung

Mai 1956. Eine Explosion zerreißt die Stille am Rande der Schlachtfelder des Hürtgenwalds. Ein Stolberger Industrieller kommt durch eine Tretmine ums Leben. 53 Jahre später wird Kommissar Straubinger nach einer Prügelei mit einem Taxifahrer aus Köln in die Eifel strafversetzt, um in der Dienststelle Stolberg Akten zu sortieren. Dabei stößt er auf die alten Unterlagen und auf Ungereimtheiten in dem Fall, der nie wirklich aufgeklärt wurde. Er beginnt zu ermitteln und kommt einem Familiengeheimnis auf die Spur, für das Menschen immer noch morden …

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Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Lutz Kreutzer

Die Akte Hürtgenwald

KRIMINALROMAN

Zum Buch

Lauernder Tod Von der Frau verlassen, Fuß im Gips und dann auch noch wegen dieser Schlägerei mit dem Taxifahrer zum Aktenwälzen nach Stolberg versetzt. Es könnte besser laufen für Kommissar Straubinger. Da stößt er im Archivkeller der Stolberger Dienststelle auf die Unterlagen zum Todesfall eines Großindustriellen aus dem Jahr 1956. Bei Waldarbeiten im Gressenicher Wald soll der Magnat auf eine Weltkriegsmine getreten sein. Doch was hatte der schwerreiche Fabrikant im Wald zu suchen? Straubinger rollt den Fall neu auf. Sein einziger Zeuge ist der alte »Wolkenmaler«, ein offenbar verwirrter Künstler, der unweit einer verfallenen Bunkeranlage wohnt und ausschließlich den Himmel malt, stets ohne Horizont. Während Straubinger in die Vergangenheit eintaucht, kommt es zu einem weiteren Mord. Ein junger Belgier wird mit einer Axt erschlagen, ganz in der Nähe der Stelle, an der der Industrielle ums Leben kam. Ein Zufallsopfer? Oder wusste er zu viel über die Geheimnisse, denen Straubinger auf die Schliche zu kommen droht?

Lutz Kreutzer wurde 1959 in Stolberg geboren. Er schreibt Thriller, Kriminalromane sowie Sachbücher und gibt Kurzgeschichten-Bände heraus. Auf den großen Buchmessen in Frankfurt und Leipzig sowie auf Kongressen coacht er Autoren, ebenso richtet er den Self-Publishing-Day aus. Am Forschungsministerium in Wien gründete der promovierte Naturwissenschaftler ein Büro für Öffentlichkeitsarbeit, weshalb im Hörfunk und TV zahlreiche Beiträge über seine Arbeit gesendet wurden. Er arbeitete lange als Manager in der IT- und Hightech-Industrie. Seine beruflichen Reisen und alpinen Abenteuer nimmt er zum Anlass, komplexe Sachverhalte in spannende Literatur zu verwandeln. Seine Arbeit wurde mit mehreren Stipendien gefördert. Heute lebt er in München. Mehr unter: www.lutzkreutzer.de

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Brigipix / Pixabay

ISBN 978-3-8392-6724-0

1956 – Montag, 21. Mai

Gressenicher Wald, 9.20 Uhr

– eine halbe Stunde vor dem Moment

Der alte Zweitakter machte einen Lärm wie ein Dutzend Hornissenschwärme. »Wie weit müssen wir noch fahren?«, rief der kleine Junge, nachdem sie die Waldlichtung »Buche 19« passiert hatten. Verkrampft hielt er seine Mutter umschlungen, die Hände in den Gürtel ihres Trenchcoats gekrallt. Er saß etwas erhöht auf dem Sozius, sodass er einem Sack Mehl gleich auf ihrem Rücken hing.

Die Mutter wendete den Kopf über ihre Schulter. »Die Kurve noch, dann sind wir da.«

Der Wald rechts und links war so dicht, dass die Blicke des Jungen keinen Meter hineindrangen. Die Mutter bremste und drehte kurz am Gasgriff, der 7-PS-Motor heulte ein letztes Mal auf, bevor sie ihn zum Absterben brachte. Sie kippte das dunkelgrüne Meldekrad der Wehrmacht, ein NSU 201 ZDB, nach links, um den Jungen absteigen zu lassen.

»Pass auf und verbrenn dich nicht am Auspuff!« Jedes Mal, wenn sie zusammen irgendwo hinfuhren, warnte sie ihn vor dem heißen Metallrohr. Und so achtete der Junge beim Absteigen darauf, das Bein weit auszustrecken, bevor er es über den Sattel schwang.

»Hier?«

»Ja, hier ist es«, flüsterte sie, »de Höll.« Sie bückte sich vor, riss die Augen auf und schnappte mit der Hand nach seiner Nase, wobei sie ein grimmiges Geräusch machte, als wolle sie ihn auffressen.

Der Junge schreckte zurück. »Nicht! Da krieg ich ja Angst!«

Es war das liebevolle Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mutter und Sohn. Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. »Hör zu, mein Junge! Du bleibst dicht hinter mir, hörst du? Du machst keinen Schritt, ohne dass ich es dir sage, ist das klar?«

Der Junge nickte.

Die Mutter forderte ihn mit erhobenem Zeigefinger auf: »Sag es laut!«

»Ja, Mama, ich mach keinen Schritt.«

»Gut. Du weißt, hier gibt es immer noch Tote. Der Förster und der Dorfpolizist müssen ab und zu jemanden rausholen.«

»Ja, Mama, ich weiß. Minen. Sie liegen immer noch im Boden.«

»Man kann sie erkennen. Es ist eine ganz leichte Erhebung über ihnen.« Sie machte eine Bewegung mit der rechten Hand, als würde sie einem Hund den Kopf streicheln. »Aber wenn Blätter draufliegen … Man weiß nie. Wir gehen da auf keinen Fall rein, hörst du?«

»Wo gehen wir nicht rein?« Ängstlich sah der Junge sie an. »In de Höll?«

»Ja, hab ich dir erklärt«, mahnte die Mutter, »zu gefährlich.«

Der Junge ließ nicht locker. »Wieso heißt das so?«

»So nennen die Leute hier das nun mal.« Die Mutter holte zwei Baumwollbeutel aus der kofferartigen Motorradtasche aus Leder hervor und drückte sie dem Jungen in die Hände. »Wirst schon sehen.«

Seine viel zu große Jacke hing ihm bis zu den Knien und verdeckte fast komplett die kurze Hose. Seine Unterschenkel waren blau vor Kälte. Er hauchte in die Hände, rieb sie schnell und fest aneinander und hielt sie an seine Beine.

Die Mutter bückte sich, rubbelte seine Waden warm und sagte: »Bald bekommst du eine lange! Zum Geburtstag, wenn du acht wirst. Ich werde dir eine nähen, versprochen.«

Sie schoben die kleine Maschine hinter zwei Bäume und bedeckten sie mit Astwerk. »Damit sie niemand findet«, sagte sie lachend. »Das Gute ist, dass sich niemand aus den Dörfern hierhertraut. Außer uns beiden«, ergänzte sie flüsternd. »Und deshalb können wir die besten Pilze finden! Im späten Mai wachsen die ersten. Und die können wir gut verkaufen.«

Der Junge machte ein enttäuschtes Gesicht. »Nur verkaufen?«

»Nachdem wir uns kugelrund gegessen haben.« Sie lachte abermals und presste den Kopf des Jungen gegen ihre Brust. »Und wir nehmen nur die guten Pilze, die Steinpilze. Alles andere lassen wir stehen. Pilzschnitzel machen wir uns, die werden dir schmecken. Wirst sehen!«

»Hmm!« Voller Vorfreude leckte der Junge sich über die Lippen, rollte mit seinen Augen und rieb sich den Bauch.

Die Mutter gab ihm einen Klaps. »Und nun los, alles klar?«

Der Junge nickte. Sie schlichen einen kleinen Pfad entlang, und obwohl die Sonne bereits hell über dem dichten Wald hing, kam dem Jungen der Weg so düster vor, als würde es dämmern. Durch die eng gesetzten Fichten drang kaum ein Lichtstrahl. Nach einer Weile öffnete sich eine Lichtung.

Die Mutter blieb stehen und hob warnend die Hand. »Keinen Schritt weiter!«

Sie hatte ihm einige Male davon erzählt und er hatte so lange gequengelt, bis sie ihm versprach, ihn mitzunehmen. Für diese Stelle im Gressenicher Wald galt immer noch eine Betretungswarnung seitens des Forstamts, die Einheimischen wussten das. Und jetzt wurde dem Jungen schlagartig klar, warum die Leute dieses Inferno »de Höll« nannten. Er starrte auf ein monströses Chaos aus umgeknickten, explodierten und zerschossenen Bäumen. Zur Hälfte abgerissen, die Baumkronen am Boden, die trotz der Zertrümmerung noch Leben in sich zu tragen schienen, bizarr zerborstene Stämme, wild ineinander verhakt, rohes gesplittertes Holz, ein Mahnmal totaler Zerstörung.

»Hier hat der Krieg gewütet.« Ihre Stimme klang heiser und belegt. »Noch nicht lange her. Wenige Jahre, bevor du geboren wurdest, da ist das passiert. Und die Soldaten, die hier gestorben sind, die kamen aus der Heimat, wie ich damals, aus dem Osten. Viele Jungs, nur ein paar Jahre älter als du.«

Der Junge hatte kaum ein Ohr für seine Mutter. »Alles kaputt.« Seine Stimme bibberte. »Der ganze Wald geplatzt.« Er machte ein Knallgeräusch und ließ die gespreizten Hände auseinanderschnellen. Ängstlich sah er sich um und flüsterte: »Da ist was abgestürzt oder so.«

»Und überall Minen, vom Krieg, weil sie noch nichts weggeräumt haben.« Mit festem Griff packte sie ihn an der Schulter, sodass der Junge den Druck deutlich spürte. »Man muss ein Stück wegbleiben.«

»Aua!« Der Junge befreite sich mit einer schnellen Drehung. »Und hier hast du das Moped, die NSU, gefunden?«

»Ja, dahinten, am anderen Ende. Und den Mantel auch. Ich hab ihn umgenäht, er war mir viel zu lang.«

»Von wem war der?«, fragte der Junge.

»Von einem Soldaten.« Beiläufig hob sie die Schultern. »Hat ihn wohl liegen gelassen.«

Der Junge griff kurz nach dem dunklen Trenchcoat, sah auf die geflickte Stelle in halber Höhe und nickte.

»Und dahinten wachsen auch die besten Pilze.« Sie lächelte gütig. »Also, mein Liebling, sei schön vorsichtig«, mahnte sie ein letztes Mal, »und bleib immer dicht bei mir, hörst du?«

Dienstag, 24. März – 53 Jahre später

Köln

Es war zu heiß an diesem Tag, dabei war es erst März. Frau weg, zu viel Bier im »Colonia« und jetzt dieser Taxifahrer! Erst mokierte sich der Kerl über das »fremde Gesocks«, das die Stadt unsicher mache, und als Straubinger ihn bat, ihn nur nach Hause zu fahren und die Klappe zu halten, meckerte er, dass die Bayern ja genauso eine Pest wären. Die Bayern, eine Pest. Er, Straubinger, eine Pest! Das war zu viel.

Straubinger herrschte ihn an, er wolle sofort aussteigen. Doch der Taxifahrer gab Gas, raste um die Ecke und machte erst am Parkplatz vor dem Kölner Zoo eine Vollbremsung. Er beschimpfte Straubinger als Scheißbayer, bezeichnete, noch frecher, das Münchner Bier als Kotzbrühe und wollte zehn Euro zusätzlich. Schmerzensgeld, weil Straubinger im Gegenzug Kölsch als Rollmopspiesel bezeichnet hatte, wegen Beleidigung und so.

»Ja geht’s no?«, lallte Straubinger in breitem Oberbayerisch den Taxilümmel an. »Schmerzensgeld? Ja, da brauchst erst mal a richt’ge Watschn, damit’s überhaupt schmerzen tut!« Straubinger holte aus und verpasste dem Taxifahrer eine, dass es knallte.

Der Taxifahrer hielt sich die Nase. Straubinger griff nach seinen Sandalen, die er zuvor ausgezogen hatte, riss die Tür auf und stieg aus. Er warf fünf Euro auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu. In dem Moment gab der Flegel Gas.

Verflucht! Was war das? War der Scheißkerl ihm tatsächlich über den Fuß gefahren? Straubinger kippte wie in Zeitlupe nach hinten und sah, wie der Taxifahrer mit blutiger Nase, zitternden Lippen und gehässigem Blick zweimal zum Abschied mit der Faust auf die Hupe schlug und weiterfuhr. Straubinger fiel zur Seite, der Mistkerl überrollte mit dem Hinterrad ein zweites Mal seinen nackten Fuß. Es krachte.

Straubinger schrie auf. »Na wart, wenn ich dich erwisch, du Sau!« Mit schmerzverzerrtem Gesicht starrte er ihm nach. Er merkte sich das Kennzeichen, legte sich auf den Rücken und rief die 112.

Fast zwei Monate hatte Straubinger damit verbracht, seinen Fuß zu kurieren. Drei Platten aus chirurgischem Stahl hatten sie ihm eingebaut. »Da nutzt Titan dir auch nix mehr«, hatte der Chirurg gesagt. Komplizierter Mittelfußbruch. »Da brauchen wir was, was nicht reißt!« Mannomann, sein Fuß auf dem Röntgenbild glich eher einem Schraubenregal im Baumarkt als einem menschlichen Körperteil.

Heute war sein Entlassungstag. Er ließ sich direkt zum Dienstgebäude der Kölner Polizei fahren. Als er seine 105 Kilo an zwei Krücken hineinschleppte, trug er immer noch diesen Aircast-Schuh, der ihn ans Skifahren erinnerte.

Irgendwie hatte er sich auf die Kollegen gefreut.

»Zum Chef!«, schlug es ihm als Erstes entgegen. Kein »Wie geht es«, kein »Guten Morgen«, gar nichts.

Nanu, immerhin war er, Hauptkommissar Josef Straubinger, lange krank gewesen. Und er war im Gespräch als stellvertretender Leiter der Kölner Mordkommission. Kein freundliches Wort? »Auch einen schönen guten Morgen, Schmitz, heute eine Katze gefrühstückt?«

Kollege Schmitz reagierte nicht. Wie immer unfreundlich, übergriffig und dümmlich. Blöd wie ein Ochs am Spieß, dieser Kerl! Schmitz wartete nur darauf, Straubinger aus dem Weg zu räumen, denn er wollte seine Stelle haben.

Straubinger schnaubte. »Hey, Schmitz, ich rede mit dir!«

»Warst du Skifahren? Muss man auch können.« Schmitz hielt sich an seinem Kaffeebecher fest und sah auf Straubingers Fuß. »Aber schöner Schuh«, ließ er süffisant fallen.

Straubinger schüttelte den Kopf und humpelte den Flur entlang, klopfte an das Büro von Polizeirat Schmid. Er ging hinein, ohne abzuwarten. »Guten Morgen. Was gibt es denn so Dringendes?«

»Ah, Straubinger, wieder dienstfähig?«, fragte Schmid übertrieben höflich.

»Ich denk schon, wenn ich nicht grad einen Täter im Lauf überwältigen muss.« Er deutete mit dem Kopf auf sein Bein.

»Jaja, setzen Sie sich, Straubinger, setzen Sie sich!« Schmid nickte zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Da denkt man, im Krankenhaus nimmt man ab, und dann … na ja.« Schmid lachte kurz und gequält und zeigte auf Straubingers Bauch. »Also, setzen.«

Straubinger blieb stehen.

Schmid warf ihm einen Aktendeckel hin. »Suspendiert. Bis auf Weiteres.«

»Was?« Straubingers Gesicht entgleiste.

Schmid lächelte und Straubinger hatte keinen Zweifel, dass sein Chef sich heimlich freute. In Köln waren sie gern unter sich, dachte Straubinger grimmig. Vielleicht war das der Grund, warum sie alle ähnliche Namen hatten. Schmitz, Schmid, Schmitt, Schmidt. Er war hier seit seiner Einstellung vor vier Jahren stets wie ein Gastarbeiter behandelt worden.

»Und, die Frau wieder zu Hause? Oder immer noch weg?« Schmid sah ihn an, als ob ihn das etwas anginge.

»Warum bin ich suspendiert?«

»Das mit dem Taxifahrer, das war zu viel.«

»Schmid, hören Sie, der Kerl war eine Zecke!«

Bevor Straubinger weiterreden konnte, fuhr Schmid ihn an. »Ja, und der Neffe des Herrn Staatssekretärs Schmied. Da haben Sie den Falschen erwischt mit Ihrem unnachahmlichen bayerischen Charme. Also! Einstweilen weg vom Dienst. Ich nehme an, Sie werden versetzt. Fällt Ihnen ja jetzt leichter, wo Sie wieder frei sind, also ohne Frau.« Schmid grinste dämlich.

Straubinger ließ sich auf den Stuhl fallen. »Versetzt? Wegen so einer Lappalie?«

»Lappalie?« Schmid schnauzte ihn an. »Der Mann hat einen Zahn verloren, seine Nase gebrochen, Blutverlust, psychisches Trauma!«

»Klar.« Straubinger blieb ruhig. »Und mein Bein hat nix.«

»Notwehr! Reine Notwehr, sagt der Taxifahrer! Und jetzt gehen Sie, Straubinger, bevor ich mich vergesse.«

Straubinger drehte sich weg und humpelte den Flur entlang. Scheißladen, dachte er. Irgendwie gut, dass er hier endlich rauskam.

Donnerstag, 11. Juni

Polizeihauptwache Süd, Stolberg

Die Inspektion 2 der Polizei Aachen lag auf einem Hügel oberhalb der Stadt Stolberg. »Polizeihauptwache Süd, Stolberg«, so lautete der Name der Dienststelle offiziell. Zuständig für die Eifelgemeinden und für Stolberg, die alte Kupferstadt mit der hell leuchtenden Burg im Zentrum.

Seit Tagen hatte es nicht geregnet, ausgerechnet heute herrschte Sauwetter. Straubinger parkte seinen dunkelgrünen 74er-Volvo vor dem Gebäude der Wache und stieg aus. Der Himmel war schwarz, es hatte mächtig abgekühlt. Eine Böe packte ihn, bevor schwere Regentropfen auf das Dach seines Autos prasselten. Er schlug den Kragen seines englischen Tweedjacketts hoch und ging auf das Zweckgebäude zu, dessen trostlose Austauschbarkeit ein hohles Gefühl von Leere in seiner Magengrube auslöste.

Straubinger wurde gleich zum Dienststellenleiter geschickt. Der Erste Polizeihauptkommissar Dietmar Müller begrüßte ihn überschwänglich, doch sein von Falten durchzogenes Gesicht verwandelte sich im Nu in ein fast trauriges Antlitz. »Hauptkommissar Straubinger, ich weiß nicht, ob das wirklich so sein soll. Sie sind uns zugeteilt. Was haben Sie bloß angestellt? Sie müssen sich ja wirklich was Übles geleistet haben.«

»Inwiefern?« Straubinger prüfte Müller mit skeptischem Blick.

»Sind Sie nicht bei der Mordkommission gewesen?«

Straubinger nickte. »In der Tat.«

»Und nun hat man Sie hierhergeschickt, um Ordnung in unseren Keller zu bringen?« Müller, das erkannte Straubinger, war das alles sehr unangenehm. »Das ist wirklich eine Strafexpedition, HK Straubinger.«

Straubinger hörte ihm zu, ohne zu antworten.

»Eines muss klar sein! Sie machen keinen Außendienst. Ich brauch dringend jemanden, der das erledigt. Und Sie, so leid es mir tut, wurden nun mal zu uns geschickt.«

»Jaja, das ist in Ordnung. Ich beschwere mich nicht. Was also soll ich tun?«

Müller seufzte und lehnte sich zurück. »Wir haben vor einigen Jahren eine Kollegin zugeteilt bekommen. Hatte zwei Jahre Elternzeit hinter sich, und«, er beugte sich konspirativ nach vorn und hob die Hand an den Mund, »sie hatte, wie sich herausgestellt hat, keine Lust zu arbeiten. Nur ihr Kind im Kopf.« Er lehnte sich wieder zurück. »Kann man ja irgendwie verstehen. Und wissen Sie was, Kollege? Ich hab lange überlegt, was ich mit ihr machen soll. Dann kam aus Aachen die Anweisung, unseren Keller zur Verfügung zu stellen für jede Menge Akten.«

»Warum? Die lagern doch sicher zentral im Polizeipräsidium, oder?«

»Ja, das stimmt schon. Aber das Präsidium in Aachen platzt aus allen Nähten. Dabei ist es noch keine 30 Jahre alt, Fehlplanung, wenn Sie mich fragen. Da mussten die Sachen teilweise ausgelagert werden. Und man hat das Zeug in Lkw-Ladungen hierhertransportiert. Da hab ich mir gedacht, das ist was für die Kollegin, und hab sie drauf angesetzt, irgendwie für Ordnung zu sorgen. Das war ein Fehler.« Er seufzte nochmals.« Jetzt herrscht Chaos im Keller! Sie hat Fallakten und zugehörige Asservate wahllos in diese wunderschönen Regale gestopft, die man uns aus einem ausgemusterten Archiv, was weiß ich wo, hierhergebracht hat. Das Magazin ist sozusagen unbrauchbar.«

»Und sie hat nichts verzeichnet?«

»Den Eingang schon, aber den Lagerort hat sie nie festgehalten. Nix. Unauffindbar.« Er atmete tief durch, legte die Hände zusammen und sah Straubinger an. »Und jetzt haben wir jemanden beantragt, der System in das Durcheinander bringen soll. Jemanden mit Erfahrung in der Polizeiarbeit wollten wir haben. Und nun hat man Sie geschickt, einen Hauptkommissar! Was haben Sie bloß angestellt?«, fragte er erneut und raufte sich kurz die Haare. »Da werden Sie Monate dran knabbern, HK Straubinger.« Müller setzte eine Mitleidsmiene auf, als würde er ihn in die Unterwelt zur Reinigung der Abwasserkanalisation schicken.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich wurde vorgewarnt. Es muss Ihnen nicht peinlich sein. Ich hab schon ganz andere Sachen machen müssen. Zeigen Sie mir, wo ich hinsoll. Den Rest schaffe ich schon. Und was meine Untaten betrifft, ich hab bloß einen Taxifahrer vermöbelt. Der hatte es verdient. Aber er hatte die falsche Verwandtschaft.«

»Sieht ja eigentlich ganz ordentlich aus.« Straubinger schaute sich in dem fensterlosen Raum mit den Archivregalen um, auf denen jede Menge abgelegte Gegenstände und Akten herumlagen.

Die junge Polizistin, die zuvor die feuerfeste Stahltür geöffnet hatte, grinste. »Na ja, versuchen Sie mal, hier was zu finden.« Für einige Sekunden starrte sie in seine tiefbraunen Augen und schien kurz in seinem Blick gefangen zu sein.

Straubinger streckte sich und fuhr sich durch die schwarzen lockigen Haare. Prüfend ließ er seinen Blick zwei Sekunden auf ihr ruhen, woraufhin sie rot anlief. Er schlug die Augen nieder und sah zu dem großen Metallschrank am Ende des Raums. »Was ist da drin?«

»Ach, das ist ein alter verstaubter Schrank, der stand schon immer hier. Waren früher Kisten mit Lampen, altes Schreibtischzeugs, Schreibmaschinen und so drin.« Verschwörerisch beugte sie sich vor und flüsterte: »Der Chef, der schmeißt nicht gern was weg, verstehen Sie?«

Straubinger nickte und setzte eine konspirative Miene auf.

»Jetzt hat die Kollegin erst mal die alten Fälle reingepackt … äh … soweit ich weiß«, stammelte sie. »Aus den eingemeindeten Gebieten.«

»Aha, eingemeindete Gebiete.« Straubinger sah sie erneut an. »Was ist das?«

Mit beiden Händen rückte sie ihren Gürtel zurecht. »Na ja, all das, was in den Stadtteilen passiert ist, die damals noch eigenständige Gemeinden waren, Breinig, Venwegen oder Gressenich.«

»Gemeinde Gressenich, aha. Hört sich geheimnisvoll an.«

»Ist es auch irgendwie. Dörfer rund um Stolberg, die in den 70er-Jahren der Stadt zugeschlagen wurden. Damals hatte fast jedes Dorf eine eigene Polizeiwache. Mit einem Polizisten, den jeder kannte, und so.« Sie sah auf die Wanduhr. »Ich muss leider …«

»Nur noch eine Frage. Müssen die Akten in dem Schrank auch neu sortiert werden?«

»Nee, da ist ja in den letzten Jahren niemand rangegangen. Nicht so wichtig. Aber so genau weiß ich das nicht.« Sie lachte. »Will eigentlich keiner wissen.« Dann tippte sie auf ihre Armbanduhr, hob verlegen die Schultern, wandte sich zum Gehen und winkte zum Abschied. »Viel Spaß hier unten.«

»Jaja, klar. War schön, Sie kennenzulernen. Und lassen Sie die Tür bitte offen.«

»Gemeinde Gressenich«, murmelte Straubinger leise, als sie den Raum verließ. »Was für ein klingender Name.«

Fünf Stunden lang hatte Straubinger Akten gesichtet, ihre Registriernummern herausgesucht und mit der Datei abgeglichen, die seine Vorgängerin so unfachmännisch angelegt hatte, dass er für jedes Stück beinahe eine halbe Stunde brauchte. Des Öfteren blätterte er in den Fällen und versuchte, sich nebenbei ein Bild über die Menschen dieser Stadt zu machen. Diebstahl, Kneipenschlägereien, Rauschgiftdelikte, Autoknacker, Sexualstraftaten, Neonazis, Brandstiftung, zwei Banküberfälle, schwere Körperverletzung. Eine Stadt wie viele andere. Eigentlich nichts Außergewöhnliches.

Immer wieder fiel sein Blick auf diesen Metallschrank am Ende des Raums. In dem Schrank gab es für ihn eigentlich nichts zu tun, Altfälle, bei denen davon auszugehen war, das sie sauber geordnet und abgelegt waren. Doch allein die Tatsache, dass der Schrank dort hinten stand, abgesperrt und lange unberührt, reizte ihn so, dass er sich irgendwann erhob und im Gehen an dem Schlüsselbund, den die Kollegin ihm übergeben hatte, nach dem passenden Schlüssel suchte. Er fand ihn, testete ihn vorsichtig und öffnete den Schrank. Staub wirbelte auf, den er zur Seite wedelte. Im Innern roch es muffig. Stehordner, Hängeordner und stapelweise verschnürte Aktendeckel. Alle zugebunden, mit einer Archivnummer versehen und anscheinend in der richtigen Reihenfolge abgelegt. Die älteste Akte, die er fand, war aus dem Jahr 1968. Schlägerei in einer Gastwirtshaft in Mausbach, Gemeinde Gressenich.

Hier schien nichts in Unordnung zu sein. Alles war sauber gekennzeichnet und sortiert. Als er gerade den Schrank schließen wollte, fiel ihm ganz unten am Boden, eingeklemmt zwischen Hängeordnern und Rückwand, etwas auf, was das ordentliche Gefüge zu stören schien. Ein verloren wirkender Aktendeckel, auf der Spitze stehend, irgendwie aus der Ordnung gefallen. Straubinger bückte sich, griff nach der ausgeblichenen grauen Pappe und zog sie vorsichtig heraus. Die Akte war sehr dünn. Merkwürdig, dachte Straubinger. Ein Aktenzeichen aus dem Jahr 1956. Ein Todesfall! Vorn auf dem Deckel stand mit Bleistift geschrieben: »Akte Hürtgenwald«.

Seine Neugier war geweckt. Ohne den Schrank zu schließen, begab er sich zurück zu seinem Tisch. Er zog an dem Knoten des Stoffbands und öffnete den Aktendeckel. Die Akte enthielt wenige Schriftstücke und zwei Fotos. An einem am Rand des vergilbten Papiers war das Porträt eines Mannes festgesteckt, helles Haar, bereits deutlich ausgedünnt, Seitenscheitel. Straubinger erschrak. Dieses Gesicht, es erinnerte ihn an jemanden. Aber an wen?

Auf der ersten Seite ein Name: »Heinrich III. Vandenberg, geboren am 13. Januar 1919 in Stolberg, gestorben am 21. Mai 1956, Gressenicher Wald, südlich ›Buche 19‹, Gemeinde Gressenich.«

Gemeinde Gressenich. Schon wieder dieser Name. Straubinger gab das Aktenzeichen in den Computer ein. Nichts. Dann »Akte Hürtgenwald«, wieder nichts, anschließend suchte er nach Vandenberg. Auch nichts. Entweder war die Mappe nach einer amtlichen Aktenvernichtungsaktion im Schrank vergessen worden oder jemand hatte sie versteckt, um sie vor der Vernichtung zu bewahren.

Er blätterte weiter. Die Buchstaben auf den dünnen Durchschlagpapieren waren kaum lesbar, die Typendurchschläge des Kohlepapiers hatten sich in dem Trägerpapier mit den Jahren ausgebreitet und waren verschwommen.

Auf der zweiten Seite stand noch einmal der Name Heinrich Vandenberg, wohnhaft im Kupferhof Blumenthal in Stolberg. Tod bei Waldarbeiten zwischen »Buche 19« und »Pflanzgarten«, durch eine Landmine. Wurde 37 Jahre alt. Dann standen dort der Name des Försters und der Name des Polizisten, die den Toten im Wald gefunden hatten, und der Name eines Mannes, der den beiden den Fund am 22. Mai gemeldet hatte.

Straubinger sah sich das Schwarz-Weiß-Foto des Mannes noch mal an. Ein gut geschnittenes Gesicht, dunkle Augen. Ein anmutiges, fast verstecktes Lächeln umspielte seine vollen Lippen, Falten entlang der Wangen, zweifellos ein Frauenschwarm seiner Zeit. Diese funkelnden, warmen Augen. Das Gesicht des Mannes strahlte neben der herben Männlichkeit auch etwas Gütiges aus. Vor mehr als 50 Jahren von einer Mine getötet. Ein weiteres Foto, das in einer flachen angeleimten Leinentasche am hinteren Deckel steckte, zeigte die Leiche, wie sie mit verdrehten Armen auf dem Waldboden lag, ein Bein komplett abgerissen, das andere Bein zerfetzt. Das abgerissene Bein hing hinter ihm in einem Baum. Sein Gesicht war deutlich zu erkennen. Er wollte das Foto gerade wieder zurückstecken, als ihm etwas auffiel. Im Vordergrund am unteren Bildrand erschien der Waldboden ungewöhnlich ebenmäßig. Straubinger öffnete mehrere Schubladen des Schreibtischcontainers und fand schließlich, wonach er suchte, eine große Lupe. Ein sehr schmaler Zipfel im Bildvordergrund hob sich ab vom umgebenden Waldboden. Allerdings war der Bildbereich äußerst unscharf, sodass man nicht erkennen konnte, was es war. Ein Stück Stoff vielleicht?

Straubinger war wie elektrisiert. Dieser Mann, einerseits hart und andererseits sensibel, wie er auf dem Foto wirkte, hatte Holzarbeiten im Wald gemacht? Irgendwas sagte ihm, dass das nicht alles war.

Er drehte das Foto um. Auf der Rückseite waren ein blauer Stempel, ein handgeschriebenes Datum und eine Unterschrift zu sehen. Der Stempel des Fotografen, die Stempeltusche mit den Jahren verlaufen. Karl Königforst, Mausbach, 22. Mai 1956. Das Foto war also einen Tag nach dem angegebenen Todesdatum des Heinrich Vandenberg entwickelt worden.

Ein letztes Mal betrachtete Straubinger das Foto der Leiche des Mannes. Es blieb die Frage: Was war das dort im Vordergrund? Er bewegte den Kopf langsam vor, blinzelte und schien nochmals in das Foto einzudringen. Als er es in die Leinentasche zurückstecken wollte, fand er darin einen kleinen Zettel und las.

»Na, HK Straubinger«, Straubinger erschrak, »haben Sie sich gut eingearbeitet?«

»Danke, ja, danke.« Straubinger steckte den Zettel zurück und legte Akte und Lupe beiläufig zur Seite. »Ganz schöner Wust hier.«

»Sie machen das schon.« Der EPHK Müller klang jovial wie ein liebevoller Patriarch. »Ab morgen bekommen Sie dann eine Assistenz.«

»Oh, die kann ich brauchen.«

»Warum steht die Tür offen?« Müllers Blick fiel auf den Stahlschrank am Ende des Raums.

»Hab mal reingesehen. Ich muss ja wissen, was überall herumliegt.«

»Da brauchen Sie nix zu machen. Altes Zeug aus den alten Gemeinden, braucht keiner mehr. Manche Akten aus den ehemaligen Polizeiwachen sind irgendwann bei uns gelandet, manche in der einzigen Wache, die heute noch existiert, in Vicht.«

Straubinger sah ihn fragend an. »Vicht? Heißt so nicht der Fluss, der durch Stolberg fließt? Der mit den alten Hammerwerken? Hab da was gelesen.«

»Ja, die Vicht ist ein Bach«, erklärte Müller. »Aber so heißt eben auch ’n Dorf.«

»Und da ist die letzte verbliebene Land-Polizeiwache?«

Müller nickte. »Nur eine einzige Wache mit zwei Kollegen für 17.000 Leute, die neun eingemeindeten Dörfer von Stolberg. Und den Schrank da, den können Sie wieder zumachen. Lassen Sie das Zeug außen vor.«

»Und wenn ein ungeklärter Fall wieder aufgerollt werden soll?«, fragte Straubinger. »Dann sollte man doch wissen, wo was zu finden ist.«

»Ungeklärter Fall? Fällt mir nichts ein.« Müllers Züge wurden nachdenklich, bevor er sich zum Gehen wandte.

»EPHK Müller?«

»Was denn, Kollege?«

»Ich hab eine Akte gefunden, ganz hinten, versteckt hinter den anderen Akten.« Er nahm das Schriftstück in die Hand und wedelte damit. »Ein Todesfall von 1956. Den würde ich mir gern mal näher ansehen. Die ›Akte Hürtgenwald‹.«

»1956?« Müller verzog das Gesicht und kratzte sein Kinn. »Ach das, ja. Der Fall Vandenberg, oder?«, fragte er und zeigte auf den Aktendeckel.

Straubinger nickte. »Ja, das ist der Fall.«

»Das war ich. Die hab ich dahinten hingesteckt. Die Akte hab ich vom ehemaligen Dorfpolizisten von Schevenhütte, Polizeiobermeister Matthes Wolfberg, ein guter Mann. Er hat den Fall damals intern ›Akte Hürtgenwald‹ genannt.« Müller deutete auf die Bleistiftschrift. »Er hat mich zur Polizei gebracht, alter Freund meines Vaters. Als er starb, ein paar Jahre nach seiner Pensionierung, hat seine Frau mir die Akte vertraulich übergeben. Sie erzählte mir, dass er sie stets gehütet hatte und davor bewahren wollte, vernichtet zu werden.«

»Und das hatte sicher einen Grund, nehme ich an.«

»Sie wissen ja, jeder Fall, der älter als die 70er-Jahre ist, ist eigentlich längst wegen der verstrichenen Aufbewahrungsfrist entsorgt worden.« Müller setzte sich auf die Kante von Straubingers Schreibtisch und nahm ihm die Akte kurz aus der Hand, schlug sie auf und betrachtete das Foto von Heinrich Vandenberg. »Wolfberg ist dieser Fall sehr nahegegangen, ich hab damals als Junge zugehört, als er das meinem Vater mal erzählt hat. Und mir ist seine Beschreibung nicht aus dem Kopf gegangen, wie er und der damalige Förster, der alte Enno ter Wey, den Toten gefunden haben.«

»Und ein Hepp Dorenbusch, der hat das ja gemeldet, steht hier drin.«

»Ja, genau«, bestätigte Müller. »Da war noch jemand dabei.«

»Hepp Dorenbusch, Besenbinder, Gressenich, wohnhaft Dorado.« Straubinger stutzte. »Was bedeutet Dorado?«

Müller zuckte die Achseln. »Nie gehört.«

»Aber warum hat er gerade diese Akte gehütet?«

»Wolfberg hat wohl irgendwie Zweifel an irgendwas gehabt.«

»Und, haben Sie dann weiter nachgeforscht?«

Offensichtlich war Müller Straubingers Frage unangenehm. »Na ja, Sie wissen, wie das ist. Das war unendlich lange her und ich hatte anderes zu tun, als ich den Laden hier übernommen habe. Aber die Akte hab ich ja wenigstens verwahrt.«

»Mir erscheint da Einiges merkwürdig. Nur zwei beschriebene Seiten. Keine weiteren Nachforschungen.«

»Es gab damals viele Minentote, bis lange Zeit nach dem Krieg. Das war also nichts Außergewöhnliches. Man hat das seinerzeit als ein naturgegebenes Schicksal betrachtet.«

»Trotzdem, irgendwas scheint mir nicht klar.«

»Und wenn schon«, sagte Müller abweisend. »Es ist nicht Ihre Aufgabe, HK Straubinger.«

»Ich würde mich gern drum kümmern. Mord verjährt nun mal nicht.«

»Es war kein Mord! Vandenberg ist auf eine Mine getreten, es war also kein Mord.«

»Vielleicht, vielleicht nicht. Kollege Wolfberg hatte daran anscheinend Zweifel.«

Müller wurde unruhig. »Wie kommen Sie drauf?«

»Darf ich?« Straubinger nahm die Akte wieder an sich, zog den Zettel heraus.

Müller beugte sich über und Straubinger las vor: »›Akte Hürtgenwald‹, darunter ein großes Fragezeichen, mit Bleistift geschrieben. Darunter die Frage: ›Wonach hat Vandenberg gesucht?‹ Und zum Abschluss die Initialen ›M.W.‹«

Müller richtete sich wieder auf. »Wo hat der Zettel gesteckt?«

»Hinten bei dem Foto, ein bisschen versteckt in der kleinen Leinentasche.«

Straubinger beobachtete, wie es in Müller arbeitete.

»Gut, HK Straubinger. Nehmen Sie sich der Sache an. Vielleicht bin ich das dem alten Wolfberg schuldig.« Müller schüttelte den Kopf und stöhnte. »Hab ich es doch gewusst! Warum musste der Herrgott mir einen Mordermittler schicken?« Flehend blickte Müller an die Decke und reckte die Hände in Verzweiflung wie einst Desdemona im Angesicht Othellos. Dann wurde sein Blick streng. »Aber bitte vergessen Sie nicht, wozu Sie eigentlich hier sind. Machen Sie das im Stillen und außerhalb der Dienstzeit. Wir werden sehen, was sich draus entwickelt. Einverstanden?«

»Akzeptiert, Sie sind der Chef.«

»Und übrigens: Sie sollten eine Kaffeemaschine hier unten haben. Da in dem Schrank, unten links, da müsste sie stehen. Die können Sie nehmen.« Müller stützte die Hände in die Hüften, nickte und verließ den Raum.

Straubinger ging zu dem offenen Aktenschrank und räumte unten links einen Karton zur Seite. Und da stand sie, eine »Wigomat 100«, völlig verstaubt. Straubinger lachte. So was gab es eigentlich nur noch im Design-Museum, Abteilung 50er-Jahre. Diese Kaffeemaschine war tatsächlich älter als er. Grinsend schüttelte er den Kopf und schloss die Schranktür.

Nach diesem denkwürdigen Tag in Stolberg fuhr Straubinger durch einen heftigen Regensturm auf die Autobahn und zurück nach Köln. Nach eineinhalb Stunden war er in seiner Wohnung.

Freitag, 12. Juni

Der Hürtgenwald

Das Gesicht des Mannes und das Foto seiner Leiche hatten ihn nicht losgelassen, er hatte schlecht geschlafen. Jetzt saß er frisch geduscht am Frühstückstisch und strich sich durch die Haare. Der Duft von frischem Kaffee half ihm, munter zu werden. Und schnell waren die Bilder von gestern wieder da. Von dem Mann, dem Toten im Gressenicher Wald.

Ein diffuses Gefühl der Unruhe kam in ihm auf. Der Mann und der Fall erinnerten ihn an ein Ereignis, das lange zurücklag. War es das Porträt? Oder war es das Foto im Wald, der Tote, wie er dort inmitten dieser einsamen Waldlichtung lag, kaputte Bäume ringsumher, sein Bein in einem der Äste hängend. Grausam.

Josef Straubinger war in den Wäldern des Chiemgaus aufgewachsen, sein Vater war Bauer gewesen und hatte zwei Hektar besessen. Jeden Sommer hatte es ihn mit den Nachbarn in die Forste gezogen, um für den Winter vorzusorgen, denn die Höfe der Region wurden allesamt mit Scheiten beheizt. In der Nachbarschaft hatten sie zusammengehalten, man hatte sich gegenseitig geholfen. An einem warmen Sommertag im Juli, bei Neumond, zogen sie aus. Dem Korbi Mühlburger, dem stets gut gelaunten Nachbarn, war es nicht wohl an diesem Morgen. Er klagte über Magenprobleme. Selbst der Kräuterschnaps hatte keine Besserung gebracht. Doch er wollte nicht zurückstehen und begleitete Straubingers Vater und die anderen. Und er, der zwölfjährige Josef, durfte auch mit. Mit festem Bergschuhwerk, einer groben Leinenhose und einer dicken Cordjacke bekleidet, war er bestens gerüstet für die schwere Arbeit. Als sie gerade dabei waren, eine riesige Fichte, die der Vater und der Bruno geschlägert hatten, mit dem Flaschenzug den Hang hinaufzuziehen, da passierte es. Straubinger erinnerte sich, wie er die Riesenratsche bediente, die der Korbi ihm eingerichtet hatte. Zug um Zug ächzte der Baum den Hang hinauf. Dem Korbi wurde unvermittelt schlecht. Er ging ein paar Schritte den Hang hinab und übergab sich. Dann, plötzlich, rutschte er aus, glitt auf dem Hosenboden auf den Baum zu und verhakte sich im Schritt mit beiden Beinen zwischen Stamm und Boden. Er fluchte. Straubingers Vater und der Bruno hechelten den Hang hinauf. Riefen ihm etwas zu. »Auslassen, Josef, auslassen!« Doch er hatte nicht gewusst, was sie meinten. Panisch hatte er den winzigen Hebel betätigt, der die Bremsnase aus dem Zahnrad der Ratsche löste, und der Baum war den Hang hinabgerast. Der Korbinian hatte geschrien wie am Spieß, denn der Baum und das Stahlseil hatten ihm den Unterschenkel abgerissen.

Straubinger saß am Küchentisch und schüttelte sich. Die Erinnerung daran war jedes Mal fürchterlich. Der Korbinian hatte ihm niemals die Schuld gegeben. Mit einem trefflichen Holzbein ausgestattet, hatte er ihm immer wieder gesagt: »Mein Junge«, währenddessen hatte er auf das Holz geklopft, »hätt der Herrgott gewollt, dass ich mein Bein behalt, hätt er mir morgens keinen üblen Magen beschert.« Da wurde ihm klar, an wen ihn das Porträt des Mannes aus dem Wald erinnerte. Der Korbinian hatte ähnlich ausgesehen. Hellblaue Augen, schütteres blondes Haar, Seitenscheitel. Straubinger starrte ausdruckslos an die Wand und trank langsam den Kaffee aus. Dieses Gesicht!

Als er seine Wohnung im Kölner Süden verließ, regnete es in Strömen. Auf der A 4 Richtung Aachen war die Hölle los. Er kam eine halbe Stunde zu spät in Stolberg an und begab sich gleich ins Archiv.

»Guten Morgen!« Eine junge Frau, Ende 20, kam auf ihn zugeschossen und streckte ihm die Rechte hin. »Anja Schepp, ich soll Ihnen helfen, hier Ordnung reinzubringen.« Sie grinste verlegen.

»Das ist schön, Anja Schepp. Darf ich Anja sagen?«, fragte Straubinger, wobei sein brummiger Bariton fast warm klang.

»Ja, klar«, antwortete Anja fröhlich.

»Haben Sie schon mal so was gemacht?«

Sie zögerte. »Na ja, zum Schluss. Bei Ihrer Vorgängerin.«

»Nanu, und Sie haben das nicht bemerkt? Ich meine dieses Chaos?«

Anja sah zu Boden. »Doch«, sagte sie leise. »Ich hab es ja … aufgedeckt … also sozusagen. Ich hab ja bemerkt, dass …«

»Dafür müssen Sie sich nicht verteidigen. Das ist doch gut, dass Sie das bemerkt haben.«

Sie lächelte verschämt. »Finden Sie? Hm … Ihre Vorgängerin fand das nicht. Die hat mich ganz schön beschimpft.«

»Ich beschimpfe Sie nicht.« Straubinger ging zu seinem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, hier, gegenüber.« Straubinger klatschte kurz in die Hände. »Also, dann fangen wir mal an.«

Anja Schepp erklärte ihm, wie alles zusammenhing, wo er was finden konnte und ein paar Worte zum Chef. »Ein wirklich netter Mensch, aber reizen Sie ihn nicht, er kann ganz schön ungemütlich werden.«

»Er ist Polizist. Warum sollten Polizisten immer nur lieb sein?«, fragte er sie.

»Auch wieder wahr.« Anja Schepp nahm eine Flasche Wasser aus ihrer Tasche und trank sie zum Drittel aus. »Ah«, stieß sie genussvoll hervor. »Aachener Heilwasser. Wollen Sie einen Schluck?«

»Macht das was mit mir?«, fragte Straubinger scherzhaft.

»Einen klaren Kopf. Köln hat sein Kölsch zur Verwirrung, Aachen seine Heilquellen zur Wiederbelebung.« Sie goss ihm ein Glas ein und stellte es ihm hin. »Die Produktion wird Ende des Jahres eingestellt. Noch haben Sie also die Chance, Körper und Geist zu reinigen.«

»Danke!« Straubinger probierte und verzog das Gesicht. »Uiui, ist Ihnen da der Salzstreuer reingefallen?«

Anja lachte. »Ha, Sie sind nicht der Erste, der so reagiert. Aber Sie werden sehen, es wird Ihnen guttun.«

Straubinger nickte. »Nun gut«, sagte er und trank den Rest des Glases aus. »Anja, was ganz anderes. Kennen Sie Gressenich?«

»Klar, so ein Dorf, gehört zur Stadt Stolberg.«

»Und wo liegt das? Gibt es so was wie eine Umgebungskarte?«

»Ja, kommen Sie, hinten an der Wand steht eine, die können wir aufhängen.«

Anja Schepp ging voran und drei Regalgassen weiter stand tatsächlich eine große aufgezogene Wandkarte mit dem Stadtgebiet von Stolberg.

Straubinger hob die Karte hoch, schleppte sie zurück und stellte sie auf den Tisch, sodass sie gegen die Wand lehnte. »Ein bisschen muffig«, sagte er und rümpfte die Nase.

»Also, Gressenich, das ist nicht weit«, erklärte Anja Schepp. »Sehen Sie, hier sind wir, Stadtteil Münsterbusch. Dort ist die Stolberger Burg, und noch weiter, immer nach Osten, da ist Gressenich. Ungefähr … vielleicht zehn Kilometer von hier weg.«

»Also eine Viertelstunde mit dem Auto?«

»Ja, ungefähr. Ist ganz schön da. Aber auch wirklich eigenwillige Leute.« Sie zog einen Flunsch.

Straubinger nickte. »Wo nicht?«

»Ja, wo nicht. Aber dort besonders. Sie haben keinen Karnevalsprinzen, Karneval feiern sie an anderen Tagen und sie hätten immer noch gern einen eigenen Bürgermeister.«

Straubinger lachte. »Von diesem Karnevalszeug verstehe ich zwar nichts, aber hört sich in der Tat sehr eigenwillig an. Wo auf der Karte ist der Gressenicher Wald?«

Anja sah ihn mit großen Augen an. »Da fragen Sie mich was!« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Irgendwo bei Gressenich, nehme ich an.«

»Genau so ist es, südlich von Gressenich«, sagte eine Stimme von der Tür her. EPHK Müller betrat den Raum. »Ich bringe Ihnen was. Frischer Kaffee aus Aachens bester Rösterei. Und Filtertüten. Milch und Zucker.« Er stellte eine Dose und eine Tüte auf den kleinen Tisch.

»Vielen Dank, Sie sind ja ein großartiger Chef!«, sagte Straubinger sichtlich erfreut.

»Haben Sie die Maschine getestet?«

»Äh, nein, keine Zeit gehabt.«

»Aha! Dann mal los.« Müller ging zum Schrank und holte die Maschine raus. »Oh je, die muss mal geputzt werden. Dahinten ist ein Waschbecken, Straubinger, schon gesehen?« Müller ging hin und begann, die Maschine vom Staub zu befreien.

»Frau Schepp, besorgen Sie doch mal ein paar Tassen, bitte«, rief Müller, füllte Wasser in den Glasbehälter und ging hinüber zu Straubingers Tisch. Er gab Straubinger das Kabel mit dem Stecker in die Hand, legte einen Filter in den Trichter und füllte ihn mit Kaffeepulver aus der Blechdose, die ein Relief des Aachener Doms zierte. Ein paar Sekunden später röchelte die Maschine kaum hörbar los. Kaffeeduft erfüllte augenblicklich den Raum.

»Wusste ich es doch, sie funktioniert. Das war noch Qualität! Und fast geräuschlos. Das Wasser läuft nur durch Metallbauteile. Im Gegensatz zu den heutigen Maschinen aus Plastik. Die hier kann noch richtig guten Filterkaffee machen.«

Anja kam zurück und brachte drei Steinguttassen.

Müller schenkte jedem Kaffee ein. Dann stellte er sich vor die Karte. »Sehen Sie sich unsere Heimat gut an, HK Straubinger. Studieren Sie die Karte. Jeder Fall, den Sie hier in dem Chaos finden, hat irgendwo dadrauf seinen Punkt.« Müller trank einen Schluck. »Ahh, ist der gut!«

Straubinger trat ein Stück näher und trank ebenfalls. »Tatsächlich, nur ein bisschen Staubgeschmack«, sagte er und verzog kurz das Gesicht, »aber nach dem dritten Durchlauf ist der auch weg.«

»Sehen Sie hier«, erläuterte Müller, »alles, was im Süden von Gressenich liegt, das ist der Gressenicher Wald. Das ist der nördlichste Teil des Forstgebietes, das man Hürtgenwald nennt.«

»Ich hab mal ein Buch von Ernest Hemingway gelesen, ist das dieser Hürtgenwald, den er in dem Buch beschreibt? Wo diese Riesenschlacht war? Das größte Desaster für die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg?«

»Ja genau, das ist der Hürtgenwald. Dieser dicht bewaldete Höhenrücken hier«, sagte Müller und zeigte auf die Karte, »zwischen Roetgen, unten im Süden an der belgischen Grenze, Stolberg im Westen, Langerwehe und Düren im Norden. Und dieser obere Teil des Hürtgenwalds, also der Gressenicher Wald, gehört zum Stadtgebiet von Stolberg«, schloss er und fächerte mit der Handfläche über die Karte. »In diesem verfluchten Hürtgenwald, da haben die Amerikaner so viele Soldaten verloren wie sonst nirgendwo. Zehntausende Männer, die genaue Zahl kennt man nicht. Die Deutschen nicht ganz so viele. Und vor Gressenich, da sind die Amis damals hängen geblieben. Aber«, sagte er leise, »das erzähl ich Ihnen ein andermal. Ich muss jetzt weiter.«

»Und Vandenberg?«, fragte Straubinger.

Müller sah ihn verdutzt an.

»Die ›Akte Hürtgenwald‹, Heinrich Vandenberg. Wo ist er gestorben?«

Müller runzelte die Stirn. »Tja, genau kann ich Ihnen das auch nicht …« Er fixierte noch einmal die Wandkarte und zeigte schließlich auf einen Punkt. »Also das hier ist der Parkplatz ›Buche 19‹«, murmelte er und fuhr mit dem Finger den Bachlauf nach Süden entlang, »hier unten, da etwa. Da muss das gewesen sein. Mitten im Gressenicher Wald.«

Straubinger nickte und nahm noch einen Schluck.

»Tun Sie mir einen Gefallen, HK Straubinger. Beißen Sie sich nicht zu sehr fest in die Sache», sagte Müller und schlenderte zur Tür.

»Danke für den Kaffee!«, rief Straubinger ihm hinterher.

Anja Schepp setzte sich an ihren Tisch und betrachtete die Karte. »Da lernt man in einer Minute mehr über seine Heimat als in drei Schuljahren Heimatkunde.«

Straubinger sah sie ein paar Sekunden lang an. »Sagt Ihnen der Kupferhof Blumenthal etwas?«, fragte er schließlich.

»Blumenthal? Ja sicher. Das ist das Stammhaus der Vandenbergs. Eine alte Villa. Mitten in Stolberg. Schönes Anwesen.«

»Kupferhof? Was bedeutet das?«

»Stolberg ist eine alte Kupferstadt. Steht ja auch auf allen Ortsschildern, Kupferstadt Stolberg.«

»Und die Vandenbergs? Was sind das für Leute?«

»Kupfermeister, reiche Industrielle.« Anja hob die Schultern. »Ich kenne sie nicht, nie gesehen. Irgendwie abgehoben, glaub ich. Was weiß ich? Hab in Heimatkunde nie so richtig aufgepasst.«

Straubinger stutzte. Heinrich Vandenberg entstammte also einer reichen Industriellenfamilie. Und so jemand machte Holzarbeiten im Wald? Zu jener Zeit wurden die Klassenunterschiede noch viel deutlicher gelebt als heutzutage. Sehr geheimnisvoll, dachte Straubinger. Er nahm sich die Akte noch einmal vor und las. Dann stutzte er. »Anja, können Sie mal rausfinden, was eine ›Dolmar CP‹ ist?«

»Wie?«

»Dolmar CP«, wiederholte Straubinger.

»Klar«, sagte sie, verdrehte die Augen, tippte etwas auf der Tastatur und starrte angestrengt auf den Bildschirm.

»Ich hab’s! Die erste Einmann-Benzinmotorsäge weltweit trug den Namen Dolmar CP. Wurde 1952 in Deutschland erfunden.«

»Hier im Polizeibericht steht, dass sich unmittelbar neben Heinrich Vandenbergs Leiche so eine befand.«

»Ja, und?«, fragte Anja.

Straubinger kramte das Bild hervor, auf dem die Leiche zu sehen war, und legte es Anja hin. »Sehen Sie irgendwo eine Kettensäge?«

Anja sah sich das Bild an, verzog das Gesicht. »Nein, keine Kettensäge. Aber ganz schön heftig«, sagte sie leise und reichte Straubinger das Bild zurück über den Tisch.

»So was machen Minen mit einem.«

Heute war Freitag. Am Nachmittag, nach Dienstschluss, würde er diesen Kupferhof Blumenthal besuchen. Und anschließend, wenn noch Zeit blieb, würde er sich dieses Dorf einmal ansehen. Das befahl ihm einfach seine Neugier.

*

Kupferhof Blumenthal

Gesäumt von kniehohen Mauern, endete die gepflasterte Einfahrt an einem prunkvollen Torbogen aus Blaustein. Zwischen den vorgelagerten Betriebsgebäuden und dem Torbogen spannten sich hohe Brüstungsgatter, die oben in Lilienspitzen endeten und das Überklettern unmöglich machten. Dahinter thronte ein mächtiger dreistöckiger Bau mit einer Fassade aus gelbrotem Sandstein, die von Simsen und Faschen aus demselben Blaustein gegliedert wurde, aus dem auch der Torbogen war. Eine Freitreppe mit kunstvoll gestaltetem Schmiedewerk und Zustiegen von rechts und links führte zu dem mächtigen Eingangsrisalit, der oben in einem klassisch dreieckigen Giebel abschloss. Das graue Blechdach und die beiden Schornsteinbauten aus rotem Ziegelmauerwerk verliehen dem Gebäude trotz seiner Pracht den Eindruck unprätentiöser Behaglichkeit.

Straubinger war beeindruckt. Er sah auf die Uhr. 15.10 Uhr. Auf Viertel nach drei hatte er sich angemeldet. Nun stand er vor dem runden Blumenbeet aus Buchsbäumen und Rosensträuchern, das die Hofeinfahrt wie eine Verkehrsinsel teilte. Dahinter, am Fuß der Freitreppe, befand sich ebenfalls ein Beet mit unterschiedlichen Sträuchern und Pflanzen, flankiert von zwei weißen Puttenstatuen, die die beiden Treppenaufgänge bewachten. Hier schien alles seine klare Ordnung zu haben.

»Wow, so möchte ich auch mal wohnen«, murmelte Straubinger und blickte an der Fassade empor zu der prachtvoll ornamentierten Schmuckfläche des Giebeldreiecks. Er bemerkte, dass er beobachtet wurde. Im zweiten Stock lugte eine Frau aus einem der weißen Sprossenfenster. Sie zog sofort ihren Kopf zurück und knallte das Fenster zu.