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Als in dem beschaulichen Küstenort Friedrichskoog ein Einbrecher tödlich verunglückt, ruft das die ehemalige Kommissarin Liane Maschmann auf den Plan. Sie hat zwar vor Jahren ihren Dienst quittiert, doch in dem mysteriösen Fall werden ausgerechnet ihr wichtige Informationen zugespielt. Als dann auch noch der neue attraktive Dorfsheriff um ihre Mitarbeit buhlt, ändert Liane ihre Meinung und beginnt zu ermitteln. Auch wenn das bedeutet, den mächtigsten Mann im Ort zu provozieren . . .
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Seitenzahl: 347
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Hauke Lindemann, geboren 1971 im schleswig-holsteinischen Rendsburg, arbeitet als Berufsoffizier bei der Bundeswehr. Er lebt mit Frau und zwei Töchtern in Elmshorn, wo er sich von der weiblichen Dominanz in seinem Haus überhaupt nicht unterdrückt fühlt. Im Emons Verlag erschienen bereits die Fantasy-Romane »Bote ins Jenseits« und »Wenn Engel morden«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Der Autor entschuldigt sich ausdrücklich bei allen Friedrichskoogern, die für die Ansiedlung der Figuren dieses Romans aus ihren Häusern vertrieben wurden. Des Weiteren wird für kleinere Veränderungen im Erscheinungsbild des Ortes ebenfalls um Entschuldigung gebeten. Es geschah immer im Sinne der Geschichte. Dieser Roman wurde vermittelt durch die EDITIO DIALOG
© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/suze Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Jutta Schneider eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-790-1 Küsten Krimi Originalausgabe
Für all diejenigen unter euch, die nicht müde wurden zu fragen, wann es endlich wieder etwas Neues von mir gibt. Ohne euch hätte ich den Weg, der aus dem Tal führte, vielleicht nicht mal gesucht.
Nächtliche Ruhestörung – Der Neue – Es liegt was in der Luft – Klatschweib – Polizistenverstand
Die Schlaggeräusche waren scheppernd und durchdringend. Wahrscheinlich Metall auf Metall. Es war bereits mitten in der Nacht, kurz vor eins, doch Kommissarin Liane Maschmann hatte sich wieder einmal in der Aufarbeitung von Papierkram verloren und war deswegen gerade erst heimgekehrt. Als sie vor wenigen Minuten die Polizeistation verlassen hatte, war die Streife gerade in Friedrichskoog-Spitze unterwegs gewesen. So entschied Liane kurzerhand, der Ursache des Geräusches selbst auf den Grund zu gehen, auch wenn sie längst Dienstschluss hatte. Sie nahm ihre Dienstjacke aus dem Auto, zog sie über und ging los.
Trotz des andauernden Lärms rührte sich nichts in der Nachbarschaft. Fenster und Türen der umliegenden Häuser blieben dunkel. Liane konnte nicht abschätzen, wie weit die Quelle des enervierenden Lärms entfernt war, aber sie lag ganz eindeutig in nordwestlicher Richtung. Liane knipste ihre Stablampe an, die zur Not auch eine brauchbare Schlagwaffe abgeben würde, und ging in Richtung des Geräusches. Ihre Dienstwaffe ließ sie im Holster. Schließlich war sie hier im kleinen, beschaulichen Friedrichskoog.
Kurz bevor sie vom Altfelder Weg rechts in den Friesenring abbiegen wollte, verstummte der Lärm. Liane blieb stehen und horchte in die plötzliche Stille hinein.
»Mach schon«, erklang eine männliche Stimme. Sie schien aus derselben Richtung zu kommen wie vorher die Schlaggeräusche.
Liane ging weiter in den Friesenring, dessen Häuser ebenfalls nicht erleuchtet waren. Im spärlichen Licht des fast vollen Mondes erkannte sie zwei Gestalten in hektischer Betriebsamkeit, knapp fünfzig Meter von ihr entfernt. Sie knipste die Lampe aus und blieb stehen. Die eine Gestalt stieg gerade in einen Wagen, einen weißen 3er Golf, soweit Liane das erkennen konnte, und ließ den Motor an. Nur die Rückfahrlichter des Wagens leuchteten auf, kein Abblend- oder Standlicht. Der Fahrer rangierte rückwärts in die nächste Auffahrt, während die andere Gestalt ihm dabei mit Sichtzeichen half und schließlich das Erreichen der perfekten Position signalisierte.
Als der Fahrer wieder ausstieg, hielt er etwas in der Hand, das Liane nicht erkennen konnte. Sie ging weiter, etwas schneller als vorher. Direkt neben den beiden stand ein Zigarettenautomat, an dem sie sich jetzt, ohne ein Wort auszutauschen, zu schaffen machten. Die Geräusche von vorhin mussten die beiden bei dem Versuch, den Automaten aufzubrechen, verursacht haben. Wahrscheinlich hatten sie dabei einen Hammer verwendet. Offensichtlich nur ein paar dumme Jungs, die Liane möglicherweise auch noch kannte.
Als sie sich bis auf zwanzig Meter genähert hatte, konnte Liane zwei Dinge erkennen: zum einen das Pinneberger Kennzeichen am Auto, was ihre Vermutung widerlegte, die beiden zu kennen, zum anderen das Seil, das die zwei gerade um den Automaten gebunden hatten. Anscheinend war Plan B der beiden Asse, das Ding einfach mit Hilfe des Autos aus der Verankerung zu reißen.
Liane richtete ihre ein Meter fünfundachtzig voll auf, knipste die Lampe wieder an und lenkte den Lichtkegel auf die beiden Automatendiebe. »Polizei! Verratet mir doch mal, was das hier werden soll.«
Die Typen drehten sich langsam in ihre Richtung um. Während Liane behutsam weiter auf die beiden zuging, konnte sie erkennen, dass es sich wie erwartet um junge Männer handelte, höchstens zwanzig Jahre alt, wenn überhaupt.
Zu ihrer Überraschung kamen die Kerle ihr nun entgegen.
»Halt! Stehen bleiben!«, rief sie und griff an ihr Holster.
Die jungen Männer waren jedoch schneller. Unbeeindruckt von der Aufforderung überbrückten sie die verbliebene Distanz mit einem kurzen Sprint.
Bevor Liane ihre Waffe ziehen konnte, war sie mit dem größeren der beiden in einen Ringkampf verwickelt. Er versuchte, sie in den Schwitzkasten zu nehmen. Sie wusste das zwar zu verhindern, musste jedoch ihre ganze Konzentration aufbringen, da er schnell, kräftig und geschickt kämpfte. Dadurch gelang es dem anderen Mann, während des Kampfes ihrer Waffe habhaft zu werden.
»Hände hoch, Bullentusse«, zischte dieser, zielte auf sie und entsicherte.
Sein Kumpan ließ von Liane ab und trat neben ihn. Beide Männer grinsten überheblich.
Entwaffnet wie eine blutige Anfängerin sah Liane mit erhobenen Händen in die Mündung ihrer eigenen Pistole. An der Art, wie der Mann die Waffe hielt, konnte sie erkennen, dass er dies nicht zum ersten Mal tat – und wurde nervös.
»Seid nicht dumm, Jungs. Ich weiß, wie ihr ausseht, ich kenne euer Autokennzeichen, und ich habe euch gerade bei einer versuchten Straftat beobachtet. Das ist schon übel genug. Macht es nicht noch schlimmer, indem ihr eine Polizeibeamtin mit einer Waffe bedroht.«
»Wer hier wohl dumm ist? Meiner kleinen Schwester die Barbie wegnehmen ist schwieriger.«
Liane verfluchte sich für ihre Fahrlässigkeit. Da sie allein war, hätte sie die Waffe rechtzeitig ziehen müssen. Der kleine Mistkerl hatte es treffend auf den Punkt gebracht.
»Die Alte hat recht. Die hat uns gesehen, Mann. Die muss weg«, sagte der, mit dem sie eben gekämpft hatte. Ein gut aussehender, geradezu schöner junger Mann, wahrscheinlich mit mediterranen Wurzeln.
Der Waffenträger schien kurz in sich zu gehen, wobei er die Pistole ein wenig sinken ließ, sie dann aber wieder hochriss und den Abzug durchzog.
Statt eines Knalls ertönte ein Klingeln.
Liane schlug mit rasendem Herzen die Augen auf. Die Bettdecke umhüllte nur noch ihre Unterschenkel. Sie hatte sich im Schlaf frei gestrampelt und schwitzte am ganzen Körper.
Nur eine Erinnerung, wiedererweckt in einem Traum. Schon wieder.
Das Telefon auf ihrem Nachttisch klingelte unaufhörlich weiter. Liane stöhnte und wusste genau, was ihr blühte, wenn sie abnehmen würde. Sie richtete sich auf und tat es trotzdem. »Was?«, rief sie genervt.
Nach kurzem Zögern hörte sie eine verunsichert klingende Frauenstimme. »Frau Kommissarin Maschmann?«
»Nein. Die Bodyworkerin Liane Maschmann. Wollen Sie einen Termin?«
»Einen Termin? Nein, ich will doch nur was melden. Ist da denn nicht die Polizei?«
»Nein, eigentlich nicht. Haben Sie die 110 gewählt?«
Die Frau am anderen Ende blieb stumm.
Liane seufzte. »Mit wem spreche ich denn?«
»Bin ich denn nicht bei der Polizei gelandet? Sind das nicht Sie, Frau Maschmann?«
»Nein! Und doch. Ist jetzt auch erst mal egal. Sagen Sie mir doch bitte Ihren Namen.«
»Angelika Meister. Ich wollte was melden. Das sind doch Sie, Frau Maschmann?«
Liane dachte nach. Als ehemalige Leiterin der örtlichen Polizeistation kannte sie jeden einzelnen Friedrichskooger und wusste immer noch sofort zu sagen, wo die entsprechende Person wohnte. Auch Frau Meister konnte sie sofort zuordnen. Sie war eine Frau in den späten Fünfzigern, deren Kinder inzwischen aus dem Haus waren. Sie lebte mit ihrem schwerbehinderten Mann zusammen in der Straße Am Sportplatz.
»Ja, ich bin’s, Frau Meister. Liane Maschmann. Ich arbeite aber –«
»Na, Gott sei Dank, ich dachte schon. Ich muss was melden, Frau Kommissarin! Ich bin eben von einem lauten Geräusch aus dem Schlaf geschreckt worden. Ich weiß nicht genau, was es war, ich habe ja geschlafen. Immerhin ist es mitten in der Nacht, nicht wahr? Jedenfalls bin ich gleich auf und ans Fenster. Da sehe ich, wie jemand um das Haus der Familie Willers schleicht. Licht war auch an, im Obergeschoss.«
»Frau Meister, vielleicht waren die Willers einfach länger draußen, um den lauen Sommerabend zu genießen.«
»Nein, die Willers sind doch auf Mallorca. Schon seit einer Woche.«
»Wer hat denn noch Zugang zum Haus?«
»Na ich. Ich habe den Schlüssel fürs Blumengießen und die Post und die Wellensittiche.«
Liane verlor langsam die Geduld, versuchte aber, sich das nicht anmerken zu lassen. »Verstehe. Frau Meister, hören Sie mir jetzt bitte ganz genau zu, ja?«
»Ja, ich höre zu. Muss ich mir was notieren?«
»Nein, nicht nötig. Alles, was Sie mir gerade erzählt haben, müssen Sie unbedingt der Polizei erzählen. Sie wählen gleich einfach die 110. Da wird sich sofort ein Bediensteter melden, und dem erzählen Sie das alles noch mal. Haben Sie verstanden?«
»Ja. Nein. Ich habe es doch gerade Ihnen erzählt. Warum denn noch mal?«
»Herrgott, Frau Meister! Ich bin doch nicht mehr bei der Polizei. Bitte glauben Sie mir, ich kann Ihnen wirklich überhaupt nicht helfen. Auch wenn ich es wollte. Bitte rufen Sie jetzt die Polizei an.«
»Ja, gut. Dann – schönen Abend noch. Ich leg dann jetzt auf, ja?«
»Richtig. Gute Nacht, Frau Meister.«
Liane beendete das Gespräch, ließ sich entnervt auf ihr Bett fallen und fragte sich zum x-ten Mal, wie lange es noch dauern mochte, bis ihre Mitbürger endlich begreifen würden, dass sie den Polizeidienst vor über zwei Jahren quittiert hatte.
* * *
In der Marner Zeitung war ein halbseitiges Interview mit dem neuen Leiter der Polizeidienststelle Friedrichskoog abgedruckt. Während Liane ihr Müsli löffelte und ihren Kaffee trank, las sie es durch, diesmal in Ruhe. Bei der ersten Sichtung am frühen Morgen, gleich nach dem Reinholen der Zeitung, hatte sie es nur grob überflogen und entschieden, es sich als Lektüre-Highlight fürs Frühstück aufzusparen.
Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der Bursche sah gut aus, wie er da so selbstgefällig in die Kamera lächelte.
Liane selbst hatte schon des Öfteren zu hören bekommen, große Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Scarlett Johansson zu haben. Natürlich eine reifere Version, größer und mit einer schmaleren Nase. Ein Kompliment, mit dem sie in jeder Hinsicht leben konnte. Wenn sie also als Double für Scarlett Johansson durchging, dann konnte der neue oberste Polizist im Ort einem Vergleich mit dem Schauspieler Timothy Olyphant standhalten.
Polizeikommissar Jan Saalfeld, sechsunddreißig Jahre alt, war zuletzt als Stellvertreter des Stationsleiters bei der Polizei in Salzbergen tätig gewesen. Keine Beziehung, keine Kinder, dafür eine Vielzahl von Hobbys, von Fußballspielen über Mountainbiking bis hin zum Motorradfahren. Als Polizist dürfte er wohl kaum ausreichend Zeit zur Verfügung haben, um all diesen Beschäftigungen gerecht zu werden. Die Versetzung nach Friedrichskoog, wo er sich als neuer Stationsleiter beweisen durfte, kam ihm angeblich in erster Linie deswegen entgegen, weil er sich dem äußersten Norden der Republik schon immer verbunden gefühlt hatte. Liane fragte sich, nicht ohne einen heimlichen Vorschuss an Schadenfreude, wie lange die Friedrichskooger brauchen würden, um ihm diese Verbundenheit madig zu machen.
Kommissar Gräfe, Lianes Nachfolger und somit Saalfelds Vorgänger, hatte sich zwei lange Jahre tapfer im Sattel gehalten, ehe er sich abwerfen ließ. Liane fand, dass er für dieses lange Durchhalten eine Belobigung verdient hätte. Der Menschenschlag im Kreis Dithmarschen war von ganz spezieller Natur. Die herzliche Kauzigkeit erschloss sich Nicht-Dithmarschern manchmal nur mit viel Geduld und eisernem Willen. Zusätzlich erschwerte das ständig präsente Phantom der Vorgängerin, die noch dazu ein Kind des Ortes war, den Kampf um die Wertschätzung der Bevölkerung. Kommissar Gräfe, eigentlich ein hartgesottener Polizeibeamter, hatte dieser vergeblich geführte Kampf an seine Grenze gebracht.
Liane war es lange Zeit ausgesprochen unangenehm gewesen, dass ausgerechnet sie dieses Phantom verkörperte. Sie war hier geboren, hier aufgewachsen – und hier geblieben. Ihre mehr als deutlichen Hinweise und Belehrungen, mit dem Polizeidienst nichts mehr zu tun zu haben, waren ihrem Nachfolger aber zum Glück nicht entgangen.
Nun war der Neue da, seit ziemlich genau zwei Wochen. Abgesehen von einer noch ungebrochenen Zuversicht und einem ansehnlicheren Äußeren unterschied er sich in einem ganz wesentlichen Punkt von seinem Vorgänger: Er suchte Kontakt zu Liane. Gleich mehrfach war er in den vergangenen vierzehn Tagen aus den unterschiedlichsten Gründen bei ihr vorstellig geworden. Und fast jedes Mal hatte er versucht, Informationen von ihr zu bekommen – über den Ort, die Bürger, die Zusammenarbeit mit der Zentralstation in Marne, mit der Direktion in Itzehoe und mit den umliegenden Gemeinden. Und so weiter und so fort. Eigentlich hielt sie es für kontraproduktiv, dass er so unverhohlen ihren Rat suchte, aber da seinem Vorgänger damals der entgegengesetzte Weg keinen Vorteil verschafft hatte, wollte sie nicht vorschnell urteilen und hielt mit ihrer Meinung zu seinem Vorgehen hinterm Berg.
Bevor sie die Spuren des Frühstücks beseitigte, checkte Liane in ihrem iPad die Termine für den Tag. Es waren drei, immerhin. Um die Mittagszeit eine Reiki-Sitzung mit einer Frau aus Marne, einer Erstkundin, die über Lianes Website auf sie aufmerksam geworden war. Am frühen Nachmittag dann eine Tiefengewebsmassage für ihre Freundin Beate und zum Abschluss, am späten Nachmittag, einmal Massage einfach für eine treue Kundin aus dem Ort. Diese war ebenfalls eine Freundin, nicht so eine enge wie Beate, dafür aber schon deutlich länger mit Liane bekannt.
Lukrativ war ihre neue Profession noch nicht. Da gab es noch eine Menge Luft nach oben, weshalb das Einkommen ihres Mannes, eines Stabsfeldwebels der Bundeswehr, seit zwei Jahren im Wesentlichen das Auskommen sicherte. Finanziell hatte es sicherlich schon besser ausgesehen, doch ihr Schritt weg vom Polizeidienst war unumgänglich gewesen.
Als sie endlich ihr schmutziges Geschirr zur Spüle trug, klingelte es an der Tür. Liane blickte zur Küchenuhr. Schnell ließ sie noch einen Schwall Wasser durch die Müslischüssel laufen und ging dann in den Flur. Durch das Bullauge der Tür sah sie eine neu aussehende Schirmmütze und musste lächeln.
»Das ist ja mal eine Überraschung«, behauptete sie gedehnt, als sie die Tür öffnete.
Saalfeld zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich? Dabei war ich in letzter Zeit doch ziemlich oft hier.«
»Tja, jetzt, wo Sie es sagen. Möchten Sie reinkommen?«
Saalfeld nahm die Mütze ab, nickte lächelnd und folgte Liane in die Küche. Ihr Angebot auf einen Kaffee und einen Muffin vom Vortag nahm er dankend an.
»Wenn das so weitergeht, muss ich wohl über eine Erweiterung meines Leistungsangebotes nachdenken«, stichelte Liane, während sie ihm beim Verzehr des Gebäckstücks zusah.
Saalfeld verschluckte sich beinahe. »Sie fühlen sich von mir doch nicht belästigt? Oder ausgenutzt? Das liegt wirklich nicht in meiner Absicht.«
»Nein, schon gut. Ich habe nur versucht, das Gespräch ein wenig in Gang zu bringen.«
Saalfeld starrte auf seinen Kaffee und den Rest des Muffins. »Oh, das war jetzt ein wenig unhöflich, oder? Ich bitte um Entschuldigung. Platze hier so einfach rein, noch dazu früh am Morgen, lasse mich bewirten und sage –«
Sie unterbrach ihn mit einem lauten Seufzer und fragte sich, ob sie bei seinem Vorgänger auch so viel Geduld aufgebracht hätte. »Sie haben noch Welpenschutz, Herr Saalfeld. Weil Sie der Neue sind. In ein paar Wochen wird sich das sicherlich ändern.«
Der neue Stationsleiter sah sie ehrlich überrascht an.
»Was haben Sie auf dem Herzen?«, fragte sie schnell, um von ihrer indirekten Kritik abzulenken.
»Ja, richtig. Es geht um die Meldung von Frau – Moment bitte.« Er klopfte Hemd- und Hosentaschen seiner Uniform ab und fand den gesuchten Notizblock schließlich in der Gesäßtasche. »Genau, die Meldung von Frau Meister. Die Dame hat gestern Abend telefonisch einen Einbruch im Hause der Willers angezeigt. Jutta Willers, Steuerfachgehilfin, und Heiko Willers, zurzeit arbeitslos.« Saalfeld schnaubte belustigt. »Ich wusste gar nicht, dass man als Steuerfachgehilfin so gut verdient.«
»Wie meinen Sie das?«, wollte Liane wissen.
Saalfeld warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Na ja, eigenes Haus mit allem Zipp und Zapp, direkt an der Küste, da, wo andere Urlaub machen. Und dann mal eben eine Urlaubsreise nach Mallorca, mitten in der Hauptsaison. Das muss man sich erst mal leisten können.«
Liane verkniff sich ein Lächeln, hielt ihm seine Bemerkung jedoch zugute. Genau die Gedanken, die man sich als guter Polizist machen sollte. »Heiko Willers verdient trotz Arbeitslosigkeit sein eigenes Geld. Er nimmt schon seit ein paar Jahren an Pokerturnieren teil. Angeblich recht erfolgreich.«
»Schau an«, murmelte Saalfeld und ergänzte diese Information umgehend in seinem Notizbuch. »Gut zu wissen. Nun aber zurück zur Meldung von Frau Meister. Die wollte wie gesagt den Einbruch anzeigen und hat dabei mehrfach ausdrücklich angemerkt, dass der ganze Sachverhalt schon der Kommissarin Maschmann gemeldet worden war. Dass sie überhaupt noch mal die 110 wählte, geschah aus reiner Gutherzigkeit – vor allem aber wohl, weil Frau Kommissarin Maschmann das so von ihr verlangt hatte.«
Liane schloss die Augen und atmete tief durch. »Herr Saalfeld, das tut mir wirklich leid. Bitte glauben Sie mir, ich habe mich seit meiner Kündigung nicht mehr als Kommissarin ausgegeben. Ich mache sogar bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf aufmerksam, dass ich beruflich etwas völlig anderes mache, aber diese Botschaft ins Ziel zu bringen gestaltet sich, nun ja, schwierig.«
Saalfeld wirkte nachdenklich, erwiderte aber nichts.
»Die Friedrichskooger sind liebe und nette Menschen, ganz im Ernst. Aber was ihre Gewohnheiten angeht, sind sie leider auch ein wenig schrullig. Vor allem die etwas älteren unter ihnen. Sie haben Schwierigkeiten damit, sich an neue Amtspersonen zu gewöhnen, und lassen mich deshalb aus der Nummer mit der Kommissarin nicht raus. Es wäre wohl besser gewesen, wenn ich Ihnen das längst mal gesagt hätte.«
»Ich weiß darüber Bescheid«, gab Saalfeld zurück. »Ehrlich, ich weiß es schon länger. Das war so ziemlich das Erste, was mein Vorgänger mir mit auf den Weg gegeben hat. Es stört mich aber nicht.«
»Nicht?«
»Ach was. Salzbergen ist im Prinzip auch nur ein Dorf, wenn auch etwas größer als Friedrichskoog. Aber mir ist bewusst, wie das in solchen Orten läuft.«
Liane war beeindruckt. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. »Demnach sind Sie nicht hier, um mich zu fragen, warum ich bei einigen immer noch die ›Kommissarin Maschmann‹ bin?«
»Gott, nein. Wie gesagt, ich kenne mich mit Dorfmarotten ganz gut aus. Nein, der Grund, warum ich hier bin, ist die Aussage von Frau Meister. Es sind natürlich sofort ein paar Kollegen zum Haus der Willers gefahren. Die mussten dann feststellen, dass der gemeldete Einbruch tatsächlich stattgefunden hatte. Die Scheibe des Gästezimmers ist eingeschlagen worden, was wohl das Geräusch verursacht hat, von dem Frau Meister aufwachte. Die Kollegen fanden den mutmaßlichen Einbrecher dann tot im Haus auf.«
»Ach herrje«, entfuhr es Liane.
Saalfeld nahm ihren Kommentar mit einem wissenden Nicken zur Kenntnis und schien auf etwas zu warten.
Natürlich gab es eine Frage, die Liane sofort in den Sinn kam und die sie nur allzu gern gestellt hätte. Der Prozess, sich von den Fesseln ihrer Polizeivergangenheit zu lösen, war anscheinend noch immer nicht abgeschlossen. Dass der neue oberste Polizist von Friedrichskoog nun zum wiederholten Male in ihrer Küche saß und sie noch dazu mit Informationen versorgte, die eigentlich gar nicht für sie bestimmt waren, war dabei keine Hilfe. Trotzdem hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen, als ihr Interesse an Dingen zu bekunden, die sie nichts mehr angingen.
»Wollen Sie denn nicht wissen, woran der Mann gestorben ist?«, fragte Saalfeld schließlich.
»Herr Saalfeld. Bitte, ich –«
»Schon gut. Ich sag’s Ihnen. Gebrochenes Genick. Er lag tot am Fuße der Treppe. Wie es scheint, ist er beim Auf- oder Abstieg gestolpert und hinuntergestürzt. Wir vermuten, dass ihm die Dunkelheit und ein kleiner Teppich, der etwas unordentlich auf der obersten Stufe lag, zum Verhängnis wurden.«
»Frau Meister hat aber Licht gesehen«, platzte es aus Liane heraus, ehe sie sich selbst bremsen konnte.
Saalfeld sah kurz in sein Notizbuch. »Stimmt, hat sie. Aber als die Kollegen das Haus betraten, war wieder alles dunkel.«
»Verstehe. Tja. Das ist für unseren Herrn Einbrecher dann wohl so richtig schiefgegangen.«
»Dem gibt es nichts hinzuzufügen«, bestätigte Saalfeld. »Um nun aber zu Frau Meister zurückzukommen: Ich habe ihre Zeugenaussage persönlich aufgenommen und … na ja, ich habe ja schon angedeutet, mich mit den Besonderheiten des Dorflebens auszukennen.«
Saalfeld wirkte verlegen und nahm einen Schluck Kaffee. »Wie drücke ich es am besten aus? Ich hatte den Eindruck, dass mir die gute Frau nur sehr widerwillig Rede und Antwort gestanden hat. Wissen Sie, worauf ich hinauswill? Weil ich doch der Neue bin, den sie praktisch noch gar nicht kennt. Da war so eine Art gesundes Misstrauen. Und wenn ich es gewagt habe, an dem einen oder anderen Punkt nachzuhaken, zum Beispiel wie sie die Person beschreiben würde, die sie ums Haus hat schleichen sehen, hat sie mir sehr eindrucksvoll das Gefühl vermittelt, ihr persönlich zu nahe getreten zu sein. Als ob es mich nichts anginge. Dorfmarotte eben.«
Liane verwendete ihre ganze Konzentration darauf, bei der Vorstellung dieses Verhörs und einer empörten Frau Meister nicht zu lachen, während sie auf die eigentliche Aussage wartete.
»Ich bin eigentlich nur hier, um mich zu vergewissern, Frau Kollegin, dass mir Frau Meister nicht versehentlich eine möglicherweise wichtige Information vorenthalten hat.«
Liane schluckte den Anflug von Albernheit herunter und wurde schlagartig ernst. Sie sollte hier einen Schlussstrich ziehen und dieser Einmischung in die Polizeiarbeit endgültig ein Ende setzen. »Nein, Herr Saalfeld, so geht das nicht«, protestierte sie beinahe leidenschaftlich. »Ich weiß, dass Sie mich nur ein wenig aufziehen wollen, wenn Sie mich Frau Kollegin nennen, aber ich finde das überhaupt nicht amüsant. Nicht mehr. Ich gebe mir wirklich die allergrößte Mühe, mit dem Thema endlich abzuschließen, was mir jedoch leider nicht zu gelingen scheint. Wenn sich nun auch noch die Polizei daran beteiligt, dann wird es mir langsam zu viel.«
Sie konnte sehen, dass sie Saalfeld vor den Kopf gestoßen hatte, trotzdem musste sie das jetzt durchziehen. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ehrlich gesagt wäre es mir eigentlich am liebsten, wenn Sie mich, wie soll ich sagen, nicht so einbinden würden. Verstehen Sie? Ich fühle mich durch Ihr Vertrauen zwar geschmeichelt, aber unser Kontakt sollte sich darauf beschränken, dass Sie anlassbezogen eine Zeugenaussage von mir einfordern oder mich wegsperren, wenn ich jemandem, der mich mal wieder Frau Kommissarin genannt hat, aus Wut eins übergebraten habe.«
Sie hatte sich aufgerichtet und straffte die Schultern. »Das hier muss aufhören. Wirklich. Ich werde Ihnen jetzt noch helfen, was Frau Meisters Aussage angeht, aber diese Vertraulichkeit ist nicht gut.«
Einen Moment sah Saalfeld Liane betreten an, um kurz darauf wieder sein ehrliches Lächeln strahlen zu lassen. »Ist schon in Ordnung. Ich verstehe das sehr gut und weiß Ihre Hilfe trotzdem wirklich zu schätzen.«
Während Liane das Telefongespräch mit Frau Meister rekapitulierte, machte Saalfeld sich Notizen und steckte schließlich zufrieden sein Notizbuch wieder weg. »Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe. Und den Kaffee. Und den Muffin, beides übrigens sehr lecker«, sagte er aufgeräumt.
Liane lächelte verlegen und wollte ihn zur Tür begleiten, aber er machte eine abwehrende Geste.
»Nein, schon gut. Ich habe Sie lange genug aufgehalten und finde allein raus. Tschüss, Frau Maschmann.«
* * *
»Und? Hat unser neuer Kommissar dich inzwischen mal wieder beehrt?«
»Ja, war heute hier«, bestätigte Liane beiläufig, während sie ihre kräftigen Hände unter Zuhilfenahme ihres ganzen Gewichts tief in den Rücken ihrer Freundin Beate grub. »Ab jetzt tief und langsam ein- und ausatmen.«
»Uuuh … Herzchen! Hast du einen Griff.«
Beate Klein war Krankenschwester in Frührente. Unter dem Pseudonym Ludmilla Achmatova besserte sie sich ihre Haushaltskasse mit Kartenlegen und der Durchführung von Séancen auf. Das russische Pseudonym verwendete sie, weil sie sich davon Vorteile bei der Kundengewinnung versprach.
Liane massierte schweigend weiter und wartete auf Kommentare oder Fragen zum Thema neuer Kommissar.
Beate stöhnte jedoch lediglich unter Lianes kundigen Händen und gab sich vorerst ganz dem Genuss hin. Zumindest kurzzeitig. »Er ist niedlich, oder?«
»Hast du letztens schon gefragt. Nicht quatschen, konzentrier dich auf die Atmung.«
»Ich atme ja. Du hast aber nicht geantwortet.«
»Weil ich auf so etwas nicht achte.«
»Nein, natürlich nicht. Du bist ja verheiratet und hast deine Libido noch am Traualtar mit der Bibel erschlagen.«
Der nächste Griff war Absicht.
»Au! Zu fest.«
»Entschuldige, Schatz«, flötete Liane unschuldig. »Und schön weiteratmen.«
»Wie kann man nur so empfindlich sein?«, murmelte Beate beleidigt. »Und ob der Kerl niedlich ist. Ich hatte schon drei Kundinnen, die von mir wissen wollten, ob sie bei ihm landen werden. Ich konnte übrigens keiner das sagen, was sie hören wollte, nur der Vollständigkeit halber. Wenn ich nicht viel zu alt für ihn wäre, hätte ich die Karten schon selbst befragt.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich bin doch zu alt für ihn, oder?«
Nachdem Liane gerade so fest zugepackt hatte, hielt sie es für angebracht, nun etwas Nettes zu sagen. »Er ist nicht reif genug für dich.« Dann nahm sie den Faden wieder auf. »Diesmal hatte der Gute sogar einen richtigen Anlass. Nicht so wie sonst, wenn er mich nur mit Fragen gelöchert hat, die er auch den Kollegen hätte stellen können.«
Sie erzählte Beate von Frau Meisters Anruf und deren Argwohn Saalfeld gegenüber, als er bei ihr die Zeugenaussage aufnehmen wollte.
»Bei Willers ist eingebrochen worden?«
»Sieht so aus«, bestätigte sie, sparte aber den Tod des Einbrechers aus.
»Wissen die das denn schon? Die sind doch verreist, oder?«
»Angeblich ja. Maria Hinrichsen kommt heute auch noch zum Kneten. Die werde ich mal fragen, weil sie ja ziemlich dicke mit denen ist. Das kann jetzt gleich ein wenig ziehen.«
Beate lachte auf. »Die geile Maria. Ich … aua … ich behaupte mal, dass die auch nicht lange fackeln wird, wenn sie mitbekommt, dass unser neuer Dorfschönling noch Single ist.«
»Was hast du nur für eine Meinung von deinen Mitmenschen? Maria und Gerold machen doch einen ganz glücklichen Eindruck.«
»Die lassen beide nichts anbrennen, wenn du mich fragst. Speziell für sie würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen.«
Es widerstrebte Liane, so über ihre Mitmenschen zu lästern. Sie mochte Maria Hinrichsen, nicht nur als Kundin, sondern als Freundin aus Kindheitstagen. Also ging sie über Beates letzte Bemerkung hinweg, in der Hoffnung, dass das Gespräch eine andere Wendung nehmen würde.
»Was wohl dein Gemahl sagen würde, wenn er wüsste, dass du fast jeden Tag Besuch von deinem gut aussehenden zweiten Nachfolger bekommst?«
Liane verdrehte die Augen und widerstand der Versuchung, einen weiteren Schmerzreiz zu setzen. »Erstens weiß er das, und es juckt ihn nicht«, log sie. »Zweitens wird das nicht mehr passieren, weil ich Herrn Saalfeld vorhin aufgefordert habe, das zukünftig zu unterlassen.«
»Na, du bist ja vielleicht fies«, empörte sich Beate und hob den Kopf von der Massagebank.
»Liegen bleiben. Was ist denn daran so schlimm? Du weißt doch um meine Situation hier. Es ist eindeutig keine Hilfe, wenn der neue Stationsleiter ständig bei mir auf der Matte steht. Wie soll ich beruflich richtig auf die Beine kommen, wenn mich alle immer noch für die Polizistin halten?«
»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass er vielleicht einfach nur in dich verknallt ist, du Eisklotz? Und du verjagst ihn. Der arme Mann. Jetzt wird er bestimmt Trost brauchen.«
Für gewöhnlich genoss Liane Beates Gegenwart. Deren ausgeprägtes Interesse für den neuen Leiter der Polizeidienststelle ging ihr jedoch gehörig gegen den Strich, sodass sie sich heute ausnahmsweise das Ende der Sitzung herbeisehnte.
Nachdem es endlich so weit war und Beate sie ohne weitere Anspielungen verlassen hatte, blieben Liane noch gute zwei Stunden Zeit, bis Maria Hinrichsen zur Behandlung kommen würde. Da ihr die Decke auf den Kopf fiel und sie ohnehin noch ein paar Besorgungen machen musste, nutzte sie die Zeit, um zum Supermarkt zu gehen.
Anstatt die direkte Route über den Schleusenweg und die L177 zu nehmen, entschied sie sich, zumindest beim Hinweg eine Schleife über den Seedeich, den Seeweg und den Süderdeich zu gehen. Ein Umweg von immerhin vier Kilometern, bevor sie wieder auf die L177 treffen würde. Da Liane aber seit der Kündigung bei der Polizei einigen Aufwand betrieb, um ihre körperliche Fitness aufrechtzuerhalten, würde die Strecke sie nur wenig mehr als eine halbe Stunde Zeit kosten.
Es war beeindruckend, wie schnell sie von der Zivilisation in die freie Natur gelangen konnte. Praktisch direkt vor ihrer Haustür befand sich eine karge und fast unbebaute Landschaft, die beweideten Salzwiesen. Auch wenn die Spuren menschlichen Wirkens, nämlich die Beetstrukturen und die Entwässerungsgräben, nicht zu leugnen waren, konnte man sich hier der Vorstellung hingeben, dass es weit und breit keine anderen Menschen gab. Vorausgesetzt, man blickte in die richtige Richtung. Sie mochte die Ruhe, die sie dort in der Regel umgab. Das machte den Kopf frei und half im Idealfall dabei, den Unmut über allzu vorlaute Freundinnen zu vergessen.
Speziell in den Ferienmonaten des Sommers kam es immer wieder vor, dass sie auf dieser Route auch anderen Menschen begegnete, vorwiegend Urlaubern, vereinzelt auch Einheimischen. So auch an diesem Tag. Die Urlauber, einige davon auf Segways unterwegs, ließen Liane naturgemäß in Ruhe. Ein Mann, den sie auf Anfang fünfzig schätzte, groß und gut aussehend, gekleidet in eine hellbraune Cordhose und ein weißes kurzärmeliges Hemd, warf ihr einen verstohlenen und irgendwie befremdeten Blick zu. Liane bemerkte ihn bei aller Heimlichkeit trotzdem. Sie war sich ziemlich sicher, dass dieser Blick der Diskrepanz zwischen ihrem attraktiven Antlitz und ihrer derzeitigen Aufmachung gegolten hatte. Auch wenn sie bislang nur wenige Kunden hatte, kleidete sie sich doch für jeden Termin in Weiß. Eine dünne weiße Stoffhose, ein weißes Oberteil, entweder Pullover oder T-Shirt, je nach Wetterlage, und weiße Sandalen oder Turnschuhe, ebenfalls witterungsabhängig. Da die Sonne, wie schon während der letzten zwei Wochen, unbeirrt vom Himmel strahlte, lief es an diesem Tag auf ein zu groß geratenes T-Shirt und ein Paar ausgelatschte Sandalen hinaus. Nur um ein paar Meter zu gehen und einige Besorgungen zu machen, hatte Liane sich nicht extra umziehen wollen. Das mochte nicht übermäßig ansehnlich sein, aber Liane war vor allem pragmatisch veranlagt und nur selten eitel. Friedrichskoog war eben nicht Blankenese.
Die Friedrichskooger, die ihren Weg kreuzten, grüßten alle herzlich und respektvoll. Und wie nicht anders zu erwarten, ließ manch einer seine Grußformel mit »Frau Kommissarin Maschmann« enden. Liane war jedoch immer noch über Beates Bemerkungen verärgert und somit nicht in der Stimmung, um Gegenwehr zu leisten. Sie entschied daher, es ausnahmsweise dabei zu belassen.
Wieder im Ortskern angekommen, kam sie am Grundstück der alten Frau Borchardt vorbei, von der alle immer nur als Witwe Borchardt sprachen, schon damals, als Liane noch ein Kind gewesen war. Die Witwe schien sie heute ausnahmsweise nicht zu bemerken. Regungslos stand sie in ihrem Vorgarten und betrachtete ihre Hortensien und Clematis mit einem Blick, in dem tiefste Trauer lag. Jedermann wusste, dass ihr Garten und speziell ihre Blumen ihr Ein und Alles waren, da sie weder Enkel noch Kinder hatte und somit all ihre Energie in die Gartenarbeit stecken konnte. Deshalb überraschte es niemanden mehr, wenn unbefriedigende Farbintensität oder gar Schädlingsbefall die alte Frau in eine Krise zu stürzen vermochten. Liane, die selbst keinen grünen Daumen und auch grundsätzlich kein Interesse an Gartenarbeit und Blumenzucht hatte, maß der offensichtlichen Niedergeschlagenheit Frau Borchardts daher keine große Bedeutung bei. Noch dazu gehörte sie zu jenen, für die Liane wohl bis zum bitteren Ende die Frau Kommissarin bleiben würde. So schlenderte sie möglichst unauffällig weiter und bemerkte darüber kaum den in der Luft hängenden penetranten Benzingeruch.
Als sie eine knappe Stunde später wieder heimkehrte, hatte sich an Lianes schlechter Stimmung nichts geändert.
Drei Mal war sie im Supermarkt gefragt worden, ob sie einen neuen Kollegen habe. Die Dame an der Kasse hatte sogar betont, was für ein ausnehmend schneidiger und gut aussehender Mann er doch sei.
Pflichtschuldig belehrte Liane jeden Einzelnen, dass es sich bei Kommissar Saalfeld nicht um einen neuen Kollegen handelte, da er ja Polizist und nicht Bodyworker sei, so wie sie. Da sie von der Kassiererin daraufhin ein zwar freundliches, aber verständnisloses Lächeln erntete, ergänzte sie noch, dass sie sich schon seit Langem nicht mehr im Polizeidienst befinde. Ihre Hoffnung, dass sich diese Neuigkeiten verbreiten würden, war eher schwach.
Auf dem Rückweg hätte sie sich fast dazu hinreißen lassen, der Witwe Borchardt Gesellschaft zu leisten, die immer noch das namenlose Unglück in ihrem Garten betrauerte. Sie hatte sich kaum bewegt, stand jetzt nur wenig näher am Zaun, auf Höhe ihrer Stockrosen, und befand sich offensichtlich wohl immer noch in einer ähnlichen Gemütslage wie Liane selbst. Schließlich hatte sie sich aus reinem Selbstschutz dann doch dazu entschlossen, Frau Borchardt mit ihrem Schicksal allein zu lassen. Liane tat, als würde sie die unzähligen Möwen beobachten, die auf der Suche nach einem Snack den Himmel bevölkerten, und schlich, genau wie auf dem Hinweg, an dem Garten der alten Dame vorbei.
* * *
Nach zwanzig Minuten Sitzung mit Maria wurde Liane klar, dass sie Beate unrecht getan hatte. Irgendwie. Ihre heimliche Empörung und das Eintreten für Maria Hinrichsens Ruf kamen ihr im Nachhinein scheinheilig und unangebracht vor.
Sie mochte Maria, keine Frage. Aber aus irgendeinem Grund vergaß sie immer wieder, was für ein ungleich schlimmeres Plappermaul diese Frau selbst war, die jedes Gerücht, dessen sie habhaft werden konnte, mit großem Eifer verbreitete. Zudem schreckte sie nicht davor zurück, über ihre Mitbürger zu lästern und wilde Spekulationen zu verbreiten. Was Liane jedoch am meisten aufregte, war die traurige Tatsache, dass sie sich davon anstecken ließ. Und während sie so darüber nachdachte, in einem kurzen und seltenen Moment des Schweigens, erkannte sie, dass dies so ziemlich jedes Mal der Fall war, wenn sie Maria traf. Tatsächlich schien es ihr dann sogar Spaß zu machen. Anscheinend brachte die Gegenwart dieser Frau den Pharisäer in ihr zum Vorschein.
»Weißt du eigentlich etwas über das Polizeiaufgebot am Sportplatz heute Morgen? Gerold ist da zufällig vorbeigefahren und hat es mir getextet. Natürlich hat er nicht so genau hingesehen, mal wieder typisch für ihn. Als hätte er kein Interesse daran, was um ihn herum passiert. Ist das zu fassen? Sieht, dass da was los ist, aber unternimmt nichts, um mehr herauszufinden. Manchmal wirkt er regelrecht gleichgültig auf mich. Zumindest in letzter Zeit.«
Liane war noch mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und hatte nur halb zugehört. Deshalb antwortete sie nicht sofort.
»Du weißt also auch nichts darüber?«, hakte Maria nach.
»Wie? Oh, entschuldige bitte, ich war gerade woanders. Was war deine Frage?«
»Das Polizeiaufgebot am Sportplatz. Heute Morgen. Ob du was darüber weißt.«
»Na ja, ehrlich gesagt, ja. Du etwa nicht?«
Maria hob den Kopf. »Sollte ich denn?«
Liane wog kurz ab, wie sie reagieren sollte. »Nein, eigentlich nicht, du hast recht. Bei Heiko und Jutta ist eingebrochen worden. Ich hatte wohl automatisch angenommen, dass du es wissen müsstest, weil ihr euch so nahesteht. Dabei bin ich mir nicht mal sicher, ob sie es überhaupt schon selbst wissen, weil sie ja gerade auf Mallorca sind.«
Liane spürte, wie Maria sich bei der Erwähnung des Einbruchs anspannte, bevor sie den Kopf wieder sinken ließ und ein paar Sekunden lang nichts mehr sagte. »Du meine Güte! Ein Einbruch also?«, brach es dann aus ihr hervor. »Nein, das wusste ich nicht. Was ist denn weggekommen?«
»Keine Ahnung. Ich weiß es auch nur durch Zufall. Frau Meister hat den Einbruch bemerkt und mich angerufen, anstatt die Polizei zu kontaktieren.«
»Ach Gott, die alte Meister. Ist sie also auch eine von denen, die es noch nicht begriffen haben?«
»So sieht’s aus.«
»Dieses neugierige Klatschweib! Hat bestimmt die ganze Nacht am Fenster verbracht und drauf gewartet, dass etwas passiert. Konnte sie denn was erkennen?«
»Licht im Dachgeschoss. Und jemanden, der ums Haus lief. Sie hat aber behauptet, von einem lauten Geräusch geweckt worden zu sein, du tust ihr also unrecht«, antwortete Liane und dachte sich ihren Teil zum Thema neugierige Klatschweiber.
Maria hob erneut den Kopf an. »Echt, die hat den Einbrecher gesehen? Konnte sie ihn beschreiben?«
»Weiß ich nicht. Bevor sie mit der Personenbeschreibung anfangen konnte, gelang es mir, sie zu einem Anruf bei der Polizei zu überreden.«
Maria ließ den Kopf wieder auf die Massagebank sinken und schwieg.
Sie war so lange still, dass es Liane fast unheimlich wurde. Eine minutenlang schweigende Maria Hinrichsen war eine völlig neue Erfahrung für sie. Der Einbruch bei ihren Freunden schien sie wirklich erschreckt zu haben.
»Hast du eigentlich schon mal mit dem neuen Sheriff gesprochen?«
Liane spürte Marias Betroffenheit und hatte daher grundsätzlich nichts gegen einen gezielten Themenwechsel einzuwenden. Dass es jedoch ausgerechnet dieses Thema sein musste, behagte ihr gar nicht, nachdem Beate sich zuvor schon darüber ausgelassen hatte.
»Ein paarmal. Immer nur kurz«, gab sie als knappe Antwort zurück und hoffte, Marias Neugierde damit gestillt zu haben.
»Knackig«, warf die jetzt in den Raum.
»Zumindest hübscher als sein Vorgänger. Was ja nicht schwer ist.«
Maria hüllte sich erneut in genussvolles Schweigen.
Offensichtlich hatte Liane das Gesprächsthema ihrer Kundin erfolgreich sabotiert. Während sie noch über ein geeignetes Thema zur Kompensation nachdachte, meldete Maria sich wieder zu Wort.
»Weißt du, was verrückt ist? Vorgestern habe ich Heiko in Marne gesehen.«
Liane brauchte einen Moment, um die Bedeutung dieser Behauptung vollständig zu erfassen. »Das kann nicht sein.«
»Doch, ganz bestimmt. Er lief im Ausstellungsraum des Mercedes-Händlers zwischen den Autos herum.«
»Du musst dich irren. Er ist doch auf Mallorca. Die haben ihren Schlüssel doch extra Frau Meister in die Hand gedrückt, damit sie Blumen gießen und die Vögel füttern kann.«
»Die haben Frau Meister den Schlüssel gegeben?«, platzte es aus Maria heraus.
»Das hat sie mir zumindest gesagt. Und warum auch nicht? Sie ist eine direkte Nachbarin.«
»Ach, weil die Alte ständig am Fenster klebt und alles beobachtet? Würdest du jemandem dein Haus anvertrauen, der so neugierig ist?«
Liane wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
»Egal. Ihre Entscheidung, ihr Problem. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass es Heiko war, den ich gesehen habe. Ich bin extra stehen geblieben und habe genau hingeschaut, weil ich mich gewundert habe. Es war Heiko. Hat so ein richtig dickes Schlachtschiff unter die Lupe genommen und mich darüber wohl nicht bemerkt. Ich war drauf und dran, reinzugehen und ihn anzusprechen, aber ich kam schon mit Verspätung aus Itzehoe zurück und hatte in Marne noch einen Arzttermin.«
Liane spürte, wie etwas in ihr wach wurde. Ein Mechanismus, entwickelt, um Sachverhalte miteinander zu verknüpfen, um Situationen einzuschätzen, um Fragen zu generieren, die es wert waren, gestellt zu werden. Um einfach alles, selbst vermeintlich belanglose Erzählungen und Berichte, auf Informationen von Relevanz zu scannen und um all diese Dinge zu archivieren und abrufbar zu machen. Diese Maschine hatte sie vor zwei Jahren deaktiviert, weil sie glaubte, es sei notwendig. Doch sie funktionierte noch, wie Liane nur zu gut wusste. Sie hatte das Knirschen der Zahnräder immer wieder gehört – jedoch noch nie so laut wie in diesem Moment. »Hast du denn hinterher versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen? Um ihn zu fragen? Per SMS oder so?«
Maria zögerte, bevor sie antwortete. »Ich habe schon darüber nachgedacht. Aber dann wollte ich ihn lieber nicht in Verlegenheit bringen. Wenn er das so vorbereitet, seine Urlaubsreise ankündigt und sein Haus verlässt, dann muss es dafür ja einen Grund geben. Ich wollte ihn einfach nicht zwingen, mich anlügen zu müssen. Weißt du, was ich meine?«
»Wenn es tatsächlich Heiko war, den du da gesehen hast, hat er das bereits getan, als er dir von der Reise nach Mallorca erzählte.«
Maria verkrampfte sich erneut. Nur kurz, aber von Liane sofort registriert. »So habe ich das noch gar nicht gesehen.«
Die Maschine lief. Noch auf kleinster Stufe und auch noch etwas unkoordiniert, aber sie lief. Erinnerungen und Bilder kamen hoch. Gespräche, in denen es um Heiko Willers ging. Der Einbruch von letzter Nacht. Der Tod des Einbrechers, von dem sie noch niemandem etwas erzählt hatte. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf, und Liane musste kurz innehalten, um sich zu sammeln. Vor allem musste sie sich bremsen, um Maria jetzt nicht ganz gezielt Fragen zu stellen.
»Was ist? Sind wir schon fertig?«.
»Nein, geht gleich weiter. Mein Kreislauf ist gerade kurz in den Keller gegangen. Ich habe meinen Flüssigkeitshaushalt heute etwas vernachlässigt«, log Liane und begann wieder zu kneten.
Es wurde wieder ruhiger in ihrem Kopf, aber die Gedanken ließen sich nicht völlig ausblenden. Wenn es still war, so wie im Moment, war es schwierig, sich davon zu lösen.
»So, unser neuer Herr Kommissar. Der ist tatsächlich einen zweiten Blick wert, oder? Hättest du gedacht, dass er noch Single ist?«
* * *
Liane fragte sich, ob es zurzeit wohl irgendwo im Landkreis Dithmarschen ein Haus geben mochte, in dem Küche und Bad so sauber waren wie in ihrem. Ihr Ehemann Timo, von Montag bis Freitag Kasernenschläfer, würde sich wohl erst vergewissern müssen, ob er wirklich im richtigen Haus gelandet war, falls er sich ausgerechnet an diesem Tag zu einer Überraschungsheimfahrt mitten in der Woche entschlossen hätte. Die Wahrscheinlichkeit dafür war allerdings eher gering, irgendwo im einstelligen Prozentbereich. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser Zustand nahezu perfekter Sauberkeit bis zu seiner Heimkehr am Freitag halten würde, lag noch darunter. Liane mochte es sauber, hasste es aber, sich selbst darum zu kümmern. Was häusliche Pflichten anging, war sie oft nachlässig, wie sie sich selbstkritisch eingestehen musste.
An diesem Abend hatte sie sich aus purer Verzweiflung trotzdem in die so verhasste Arbeit gestürzt, weil die Maschine in ihrem Kopf einfach keine Ruhe geben wollte. Es war zum Verrücktwerden. Hausputz schien eine geeignete Methode zu sein, um sich von den ständig kreisenden Gedanken abzulenken. Das hatte im Grunde auch eine Zeit lang ganz gut funktioniert. Dauerhaft verhindern ließ es sich allerdings nicht.
Liane saß auf der zugeklappten Toilette, die selbst beim Einbau nicht so keimfrei gewesen sein konnte wie jetzt, und kämpfte frustriert gegen die innere Unruhe an.
Sie stand auf und ging zum Telefon. Der einzige Mensch, dem sie sich in diesem Zustand anvertrauen mochte und von dem sie sich einen brauchbaren Rat versprach, war Beate. Sie ließ es lange klingeln, doch ihre Freundin schien nicht zu Hause zu sein. Leise fluchend legte Liane auf, verschränkte die Arme und sah sich in ihrem Wohnzimmer um.
Zehn Minuten später befand sie sich schon wieder in der Schleife, die sie schon am Vormittag gegangen war, genauer auf dem Seedeich. Wenn sie schon niemanden hatte, bei dem sie Dampf ablassen konnte, brauchte sie wenigstens frische Luft und etwas Bewegung, um nicht durchzudrehen.