Die Androidin - Zwischen allen Fronten - Joel Shepherd - E-Book

Die Androidin - Zwischen allen Fronten E-Book

Joel Shepherd

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Beschreibung

Das zweite Abenteuer von Cassandra Kresnov, der Androidin, die aus der kriegerischen »Liga« geflohen ist, um in der poltitisch stabileren Föderation ein neues Zuhause zu finden. Nachdem sie der Präsidentin das Leben gerettet hat, steht Cassandra plötzlich mitten im Rampenlicht: Ganz Callay weiß, dass sich eine gefährliche Androidin auf dem Föderationsplaneten aufhält – ein künstlicher Mensch, wie er hier eigentlich nicht geduldet wird. Droht Cassandra die Ausweisung oder gar das Todesurteil? Ein Lichtblick ist da Vanessa Rice, die ebenso kluge wie taffe Leiterin der Leibwache von Präsidentin Neiland. Sie hilft Cassandra, sich in den privaten und politischen Wirren zurechtzufinden; und steht ihr bei, als eine Delegation der feindlichen Liga auf Callay landet – und Cassandra einem Freund begegnet, den sie für tot gehalten hat ... »Voller politischer Intrigen, überraschender Enthüllungen und rasanter Action. Besser wird Science Fiction nicht mehr!« MonstersandCritics.com

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Seitenzahl: 768

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Joel Shepherd

Die Androidin - Zwischen allen Fronten

Roman

Aus dem Englischen von Maike Hallmann

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Leseprobe aus Band 3Joel Shepherd DIE ANDROIDIN [...]Kapitel 1

Für Nathan, der in vielerlei Hinsicht noch immer größer ist als ich.

Kapitel 1

»Schau nur, wie viele das sind«, staunte Ayako und starrte auf die wogende Menschenmenge im Zentrum von Patterson hinunter. »Das sind doch mindestens achtzigtausend oder mehr.«

»Halb so wild«, sagte Ari mit routiniertem Desinteresse, ohne den Blick vom Navi-Display im Armaturenbrett zu lösen. »In diesem Distrikt leben eine halbe Million Menschen. Von denen sind vierhunderttausend zu Hause geblieben. Tanusha ist eine völlig unpolitische Stadt, heißt es doch immer. Sieh zu, dass wir direkt landen können, diese Herumkreiserei ist Zeitverschwendung.«

Ayako drückte einige Knöpfe und verband sich über die CSD-Zentrale direkt mit dem Verkehrsleitsystem. Ari blickte noch einmal zurück. Die Demonstranten verschwanden hinter den hohen Türmen, eine Flut aus Menschenleibern im grellen weißen Scheinwerferlicht. Selbst der Luftverkehr nahebei war zum Stillstand gekommen, Polizeifahrzeuge blockierten einen Großteil der Straßen. Alle hofften, dass sich der Mob diesmal ruhig verhalten würde – niemand wollte eine Neuauflage der Velan-Proteste. Noch immer lagen zweihundertfünfzig Randalierer bewusstlos im Krankenhaus. Doch welche Wahl hatten die Polizisten, denen zur Eindämmung nur Neuralisierer zur Verfügung standen, schon gehabt? Tanusha, die unpolitische Stadt, war beklagenswert schlecht auf solche Anlässe vorbereitet.

»… nein«, unterbrach Ayako irgendeine unhörbare Übertragung, »hier spricht Googly, wir gehören zu CSD Eins, wir genießen bevorzugten …« Sie verstummte, als ihr jemand ins Wort fiel, und warf Ari einen verärgerten Blick zu.

»Ich übernehm das.« Ari schaltete die Lautsprecher ein.

»… unsere Grenze«, sagte gerade eine Stimme, »und uns liegen keine Informationen über Ihre Befugnisse vor. Ihr außerplanmäßiges Ersuchen um Landeerlaubnis …«

»Fick dich, du kleines Arschgesicht«, sagte Ari gelassen. »Weißt du, was CSD Eins bedeutet? Schau her.« Über mentalen Zugriff startete er sein bestes Angriffsprogramm. Vom anderen Ende der Leitung drang, als es die Komm-Frequenzen übernahm und dem wenig kooperativen Wachhabenden die CSD-Prioritäts-ID auf den Monitor rüberschaufelte, statisches Rauschen herüber.

»Ganz schöner Verkehr«, bemerkte Ayako im darauffolgenden Schweigen wie beiläufig und betrachtete die blinkenden Punkte auf dem Display – Luftfahrzeuge, die sich im Landeflug befanden. »Da werde ich wohl den einen oder anderen ein bisschen ausbremsen müssen.«

»Mach das, die verdammten Schlipse können ruhig auch mal warten …« Die Anzeige für die Landeerlaubnis auf dem Navi-Display sprang auf Grün, und die schwer gepanzerten Heavys winkten sie durch. »Herzlichen Dank«, sagte Ari, wobei seine Stimme nur so vor Sarkasmus troff. Und zu Ayako: »Himmel nochmal, wenn in den nächsten dreißig Minuten noch jemand einen Revierkampf mit mir anfängt, dann greif ich zur Waffe.«

»Ändere den albernen Codenamen«, riet ihm Ayako freundlich. »Niemand glaubt, dass jemand von CSD Eins so eine Kennung verwenden würde.«

»Kommt nicht in Frage.« Ari scannte die Umgebung mit höchstmöglicher Auflösung, und über die Zentrale bekamen sie weitere Daten über den Luftraum rings um ihr Ziel, das Hotel Kanchipuram. Über seinen inneren Monitor sah und spürte er das gesamte dreidimensionale Abbild klar und deutlich, und das, obwohl er gleichzeitig durch die Frontscheibe spähte.

»Googly. Was um alles in der Welt soll ein Googly überhaupt sein?« In einer sanft geneigten Kurve steuerte Ayako den Luftschlitten zwischen den Türmen des westlichen Patterson-Distrikts hindurch und setzte zur Landung an. Zu ihrer Linken ragte die nächtliche Stadt empor. Gleißende Lichter, Hochhaustürme, dazwischen dichter Verkehr, aber glücklicherweise weit und breit keine Demonstranten.

»Das ist ein Begriff aus dem Kricket, du armselige asiatische Banausin – ein angetäuschter Pass mit schräg angeschlagenem, rotierendem Ball.« Laut Aris Scans war alles ruhig. Er traute der Sache nicht. »Einer der Meilensteine echter menschlicher Zivilisation – zuerst kam der aufrechte Gang, dann die Sprache und dann Kricket.«

»Oh«, hauchte Ayako.

Vor ihnen lag das Hotel, ein ausgedehntes Gebäude im neokolonialen Stil; die von Flutlicht angestrahlten Säulen und Rundbögen waren retrogriechisch, das ganze Etablissement ausgesprochen luxuriös. Es erhob sich am Rande eines weitläufigen baumbestandenen Parks voll tiefer Schatten und war laut Infonetzwerk vollgepackt mit Sicherheitsvorkehrungen.

»Scharfschützen«, bemerkte Ayako, während sie dem Kurs auf dem Display folgte und sie weiter an Höhe verloren.

»Na, die machen keine halben Sachen.« Ayakos Sichtmodifikationen taugten mehr als seine eigenen. Ari setzte ganz auf Netzwerkkapazitäten, Ayako hingegen auf die Vorteile einer verbesserten Physis. Kurz darauf sah er es mit eigenen Augen: Gepanzerte Gestalten kauerten geduckt auf dem langgestreckten Dach über der Zufahrt, die zwischen den Säulen am Eingang hindurchführte. Überall parkten Limousinen und andere Fahrzeuge. Auch der nahe gelegene Luftlandeplatz war voll belegt – überwiegend Luftschlitten der Behörden, dazu viele viermotorige Gleiter, gepanzert und teuer. An den geöffneten Türen warteten die Fahrer.

»Verdammt, das sind zu viele«, brummte Ari. Sein Blick folgte seiner Software, die sich durch die Sicherheitsmaßnahmen arbeitete, Daten sortierte und nach Informationen über Veranstaltungsteilnehmer suchte. Es war das übliche Durcheinander örtlicher, privater und behördlicher Maßnahmen – in manchen Bereichen gab es unnötige Überlappungen, in anderen klafften Sicherheitslücken. »Wir müssen wohl eine Weile warten, ehe man uns reinlässt.«

Ayako schaltete den Schlitten auf automatische Landung, und auf der Frontscheibe wurde ihre Flugroute eingeblendet. Sie nahm die Hände vom Lenker, um Waffen und Gürtel-Interface zu überprüfen. Geistesabwesend folgte Ari ihrem Beispiel, blickte dabei gespannt aus dem rechten Fenster auf die vorbeiziehenden Eingangssäulen. Im Gepäckbereich neben dem Haupteingang drängten sich Hotelpersonal und Wachen – einige gutgekleidete, wichtige Leute waren eingetroffen, ein regelrechter Pulk überlanger Fahrzeuge mit dunkel getönten Scheiben, dazu breitschultriger Geleitschutz in dunklen Anzügen.

Sie nahmen Kurs auf einen Kurzzeitparkplatz – im gleißenden Lichtkegel ihrer Scheinwerfer tauchte ein Hotelangestellter auf und winkte sie herunter. Ayako schaltete die Scheinwerfer aus, und Ari steckte seine Pistole ins Schulterhalfter. Mit gerunzelter Stirn sah er, wie zwei Wachen vom Haupteingang auf sie zujoggten. Der Schlitten setzte auf, Ayako leitete die Standby-Sequenz ein, und die Türen schwangen nach oben. Sie stiegen aus und überließen es dem Schlitten, sich eigenständig herunterzufahren. Der Hotelangestellte protestierte lautstark, der Platz sei kurzen Stopps vorbehalten, und wenn sie länger parken wollten, müssten sie zum Besucherparkplatz hinüber …

Ari beachtete ihn nicht weiter, stiefelte einfach an ihm vorbei, und Ayako schloss rasch auf. Die zwei Sicherheitsmänner, die eilig auf sie zugeschossen waren, mussten unvermittelt die Richtung wechseln.

»Dürfte ich bitte Ihre IDs sehen?«

Ari, der mit Ayako im Schlepptau direkt auf das Gedränge am Haupteingang zuhielt, zückte im Laufen seine Marke. Einer der Wachmänner scannte sie rasch ein und blieb stehen, um die IDs zu überprüfen und bestimmt auch per Uplink zu speichern, um sich abzusichern. Im Vorbeigehen musterte Ari kurz die weitläufig angelegte und lichtdurchflutete Grünanlage vor dem Hotel – sicher war jeder Quadratzentimeter gründlich mit Sensoren bestückt. Jenseits der Umzäunung zischte der Verkehr vorbei, und dahinter drängten sich die Hochhäuser des Zentrums von Patterson – zwei himmelwärts aufragende, gleißend hell beleuchtete Megatürme, von kleineren Exemplaren umringt. Abseits der regulären Luftstraßen kreisten langsam einige Gleiter – Regierung oder Presse – und behielten zweifellos die Demonstranten im Auge.

Neben dem vertrauten, unaufdringlichen Rauschen des Verkehrs lag, wie Ari feststellte, noch etwas anderes in der Luft. Nicht hörbar, nicht sichtbar, geruchlos. Aber spürbar. Ein drängendes, kribbelndes Summen, wie Elektrostatik. Anspannung überall. Die Stadt glühte förmlich vor Erregung, nervöser Energie und sogar Angst. Ari, der die gesamten achtundzwanzig Jahre seines bisherigen Lebens hier in Tanusha verbracht hatte, konnte sich nicht entsinnen, jemals etwas Vergleichbares wahrgenommen zu haben. Selbst die berüchtigten Neujahrsfeierlichkeiten Tanushas nahmen sich dagegen fast harmlos aus. Die frühere behagliche Selbstgefälligkeit war verschwunden. Das Universum war auf die Stadt herabgestürzt. Buchstäblich, in gewisser Hinsicht.

»Was können wir für Sie tun?«, erkundigte sich der Wachmann, der mit ihnen Schritt hielt. Verärgert drängte sich Ayako an ihm vorbei an Aris Seite.

»Ihr System ist gehackt worden«, teilte ihm Ari mit. »Wir haben für das Hotel eine Sicherheitswarnung von höchster Dringlichkeit. Die Quelle ist sehr verlässlich, die Bedrohung geht möglicherweise von einem der Gäste aus. Holen Sie mir her, wer auch immer hier das Sagen hat, und verschaffen Sie mir Zugang zu sämtlichen Personal- und Gästelisten, unter Berücksichtigung üblicher Diskretionsklauseln.«

»Sie hätten uns einfach informieren können, wir kriegen das in den Griff.«

»Gehackt ist gehackt, Kumpel, Ihre Netzwerkverbindungen sind nicht mehr sicher. Und ich weiß, nach wem ich suchen muss, Sie nicht.«

Inzwischen waren weitere Wachleute auf sie aufmerksam geworden und beobachteten, wie sie sich durch die frisch eingetroffenen Gäste und Fahrzeuge Richtung Haupteingang drängten. Auf eine lautlose Komm-Link-Anweisung des ersten Wachmanns hin eilte einer von ihnen ins Gebäude. Mit einem schnellen Sprung auf den Gehsteig rettete sich Ayako vor einer zehn Meter langen Limousine, die an ihnen vorbeisauste. Für jeden Schritt, den Ari tat, machte sie, um nicht zurückzubleiben, zwei.

Unbeachtet traten sie in das riesige, hell erleuchtete Foyer – Tanushas High Society hatte sich in den letzten Tagen an die Allgegenwart von Sicherheitspersonal gewöhnt. Über die imposante, zum Ballsaal führende Treppe hinter der Rezeption schritten einige Nachzügler, gekleidet in Smokings und schillernde Abendkleider, die das Licht und die Pastelltöne der Wände und der gewölbten Decke einfingen.

Auf halbem Wege durch das Gedränge kam ihnen ein massiger Afrikaner im Anzug entgegen. »Takane«, stellte er sich knapp und geschäftsmäßig vor. »S-3. Wo liegt das Problem?«

S-3 war Parlamentssicherheit. Ari wusste, dass sich derzeit drei Senatoren im Hotel aufhielten, außerdem ein Hinterbänkler der Fortschrittspartei … keinesfalls würde das S-3 deshalb derartige Massen an Sicherheitspersonal abstellen, wie es sich hier herumtrieb, und das galt erst recht für die Scharfschützen draußen auf dem Dach.

»Ihr seid infiltriert worden«, wiederholte Ari und zückte noch einmal seine Marke. »Wer koordiniert die Sicherheitsmaßnahmen vor Ort?«

»Infiltriert von wem?«

»Gefährliche Leute.«

Takane kniff die Augen zusammen und musterte ihn finster. »Und Ihre Quelle?«

»Kann ich nicht sagen.«

Takanes Augen wurden noch schmaler. »Das ist Angelegenheit des S-3, Agent, und ich lasse bestimmt nicht zu, dass irgendein selbstgefälliger Vollidiot einfach hier reinmarschiert und sein ganz persönliches Ding durchzieht. Wenn Sie eine Spur haben, dann teilen Sie uns mit, wo das Problem liegt, und wir kümmern uns darum.«

Von dem Gewicht, das unter der Jacke an Aris Schulterhalfter zog, ging ganz plötzlich eine große Verlockung aus. »Rufzeichen Googly«, sagte er jedoch nur.

Takane blinzelte. Offenbar war sein Sicherheitsrang hoch genug, dass er wusste, was das zu bedeuten hatte.

»Verschaffen Sie mir volle Zugriffsrechte, oder es wird ungemütlich.« Ari spürte einen Druck im Innenohr, als die Rezeptorsoftware hochfuhr, auf seinem inneren Monitor wurden Graphiken eingeblendet und legten sich über die Informationen, die ihm seine Augen lieferten. Die Software registrierte Takanes hastige Datenübermittlung und die Antwort des Empfängers, der seine Codes bestätigte. Auch ohne seine Modifikationen hätte er allerdings bemerkt, dass Takane die eigenen Quelldaten noch einmal durchcheckte und nach einem visuellen Nachweis suchte. Drei Sekunden später …

»Gebt ihnen vollen Zugriff«, wies Takane einen in der Nähe wartenden schwer gepanzerten Sicherheitsmann an. »Tun Sie, was sie sagen, aber hängen Sie es nicht an die große Glocke.« Und damit stolzierte er davon. Ari und Ayako folgten dem Heavy zu der breiten Treppe.

»Noch irgendwelche Beschwerden wegen meinem Rufzeichen?«, fragte er Ayako über ihre private, verschlüsselte Frequenz.

»Fürs Erste nicht.« Ayako neigte nicht dazu, schnell einzulenken. »Es gibt hier niemanden, bei dem die Koordination sämtlicher Sicherheitsmaßnahmen zusammenläuft. Ich habe ihre Systeme überprüft, sie nutzen ein Taktisches Netz vom Typ MP5, lokal und mit Standardverschlüsselung.«

»Das ist ungefähr so widerstandsfähig wie Plastikspritzguss.«

»Ohne Scheiß.«

Der Ballsaal war riesig und extravagant, zum Bersten voll mit vornehm gekleideten Gästen, die unter schimmernden Kronleuchtern Champagner schlürften und sich am Büfett bedienten. Blätter aus Rotgold schmückten die Decke. Die Band spielte afrikanische Rhythmen – Gitarren und Trommeln, reine Hintergrundmusik. Nicht gerade eine wilde Techno-Party, dachte Ari und schaute sich um, während sie dem Wachmann durch das Gedränge und die wabernden Parfümwolken folgten. Sie erreichten eine Seitentreppe, die zu einer Galerie hinaufführte; diese erstreckte sich U-förmig entlang der Längsseiten und der Stirnseite des Saals, links und rechts zog sich eine Treppe nach unten. Auf Aris innerem Monitor erschienen Uplink-Graphiken und zeigten ihm die Konferenzräume und Vortragssäle entlang der Korridore in den unteren Stockwerken des Hotels. Auf der Galerie standen in regelmäßigen Abständen Wachen in dunklen Anzügen und sicherten die Türen zu diesen Korridoren. Mit durchdringendem Blick behielten sie die Gäste im Auge.

»Warte hier«, wies Ari Ayako an und folgte dem Heavy durch eine Seitentür in den dahinterliegenden Gang. Sie eilten an geschäftigen Hotelangestellten und Cateringpersonal vorbei, und er erhaschte einen Blick in einen Raum, bevor sich dessen Tür schloss: Gutgekleidete Leute saßen, in eine lebhafte Debatte vertieft, um Tische mit großen Bildschirmen. Fernab der schnatternden Menschenmenge im Ballsaal wurden hier die eigentlichen Geschäfte verhandelt – umsorgt vom Fünf-Sterne-Service traf sich Tanushas Elite mit den Abgesandten anderer Welten.

Sie bogen um eine weitere Ecke. Noch mehr Sicherheitspersonal in dunklen Anzügen und eine unscheinbare Seitentür. Dahinter reihenweise Bildschirme, dazu drei mit dem lokalen Netz verbundene Überwachungsmonitore, vor denen Sicherheitsleute saßen, eingeklinkt und mit Helmvisieren. Unablässig scannten sie sämtliche Räume, Gänge und Netzwerkmonitore; ein unüberschaubarer, vielschichtiger Datenstrom.

Zusätzlich gab es ein mobiles Gerät für den Netzzugang. Ari setzte sich, stülpte das dazugehörige Helmvisier über und stöpselte den Stecker hinter dem rechten Ohr in seinen Hinterkopf ein – bämm, die Verbindung traf ihn wie ein Schlag, das Visierdisplay gleißte auf: Datenlinks und Module, alles vielfarbig und dreidimensional. Routiniert navigierte er durch den Datenstrom und fand rasch den richtigen Link.

»Ayako, kann losgehen.« Ein kurzes Flackern, dann erblühte ein zweites, lebensechtes Bild vor ihm. Statt der eingeblendeten Diagramme und Schemata sah er jetzt aus Ayakos Perspektive auf das dichte Gedränge im Ballsaal hinunter, als stünde er selbst auf der Galerie. »Gut … ich starte eine Suchroutine. Bitte die höchstmögliche Auflösung. Zeig mir, dass diese Upgrades das Geld wert sind, das du dafür hingeblättert hast.«

»Ich stehe jetzt im Dienst der Regierung«, erwiderte Ayako selbstgefällig, »der CSD zahlt meine Rechnungen.«

»Yeah, wenn das nicht ein verdammt guter Witz ist.« Er leitete ihre übermittelten Daten an ein Suchprogramm weiter und ließ sie abgleichen. Es sandte ihm lange Kolonnen von Gästenamen samt Dossiers, weiterführende Links, persönliche Verbindungen. Der Scan raste durchs hoteleigene Netz und weit darüber hinaus, griff auf Netzwerke innerhalb Tanushas und auf ganz Callay zurück, suchte nach belastenden Informationen und verglich Bilder mit den Gesichtern unten im Ballsaal. Langsam, Name für Name, bildete sich eine Liste von Verdächtigen.

»Weshalb nutzen Sie denn nicht einfach die Scanner im Ballsaal?«, fragte einer der Techniker, der ihn neugierig beobachtete.

»Nicht sicher genug, wenn jemand das System gehackt hat«, erwiderte er geistesabwesend. »Derzeit können Sie nicht mal darauf vertrauen, dass das Gesicht, auf das es ankommt, überhaupt auf den Monitoren angezeigt wird, selbst wenn die Kameras es erfassen.«

»Manipulation von Liveaufnahmen? Ist das echt möglich? Hätte ich noch nicht mal dem CSD zugetraut.«

»Hey, wir sind hier in Tanusha. Und die genialsten Netzwerkexperten arbeiten nicht für die Regierung.« Jedenfalls hatten sie das nicht getan, ehe er dem CSD beigetreten war.

Während die Suche lief, wandte Ari seine Aufmerksamkeit den Hinterzimmern zu. Insgesamt zählte er sieben Konferenzen in unterschiedlichen Räumlichkeiten des Hotels, dazu kamen ein paar weniger formelle Zusammenkünfte. Zwei der Senatoren und der Abgeordnete der Fortschrittspartei hielten sich in einer VIP-Suite mit besonders strengen Sicherheitsvorkehrungen auf, im zweiten Stock direkt über der Hotelküche. Der dritte Senator war eine Senatorin und befand sich nur zwei Räume von Ari entfernt. Er schaltete auf die Kamera um und bekam eine Innenansicht – fünf Leute saßen oder standen herum, Getränke in der Hand und ins Gespräch vertieft. Über einen Bildschirm flimmerten Graphiken – jemand referierte über Statistiken irgendeines Geschäftsmodells oder dergleichen.

Ari überprüfte die Gesichter und zoomte nah heran. Die Senatorin war Allesandra Parker, auch von der Fortschrittspartei. Alle drei Senatoren gehörten der Fortschrittspartei an, ebenso wie der Abgeordnete. Bemerkenswert. Parker war, wie Ari nur zu gut wusste, eng mit der Hightech-Industrie verbandelt, scherte sich nicht groß um Sozialpolitik und war mit vielen der wichtigen Typen aus der Geschäftswelt vertraut. Zoom auf den Mann, mit dem sie sich gerade unterhielt, auch ihn erkannte Ari sofort: Arjun Mukherjee, CEO bei Bantam Technologies. Große InfoNet-Firma, die gerade in letzter Zeit in Sachen Implantat-Interface-Software von sich reden gemacht hatte. Die Sache schlug Wellen, weil die von ihnen entwickelten Interface-Module empfindlich an der Grenze dessen kratzten, was Neurowissenschaftler die »naturgegebene Aufnahmekapazität« des menschlichen Gehirns nannten – also das, was es auch ohne Modifikationen an Datenmengen verarbeiten konnte. Und neuronale Modifikationen waren in Tanusha natürlich ein heikles Thema, das unter Politikern und Wählern für jede Menge Diskussionsstoff sorgte. Allesandra Parkers Position dazu war wohlbekannt, die von Mukherjee lag auf der Hand – und wie immer ging es um gewaltigen Profit.

Der Autoscan meldete einen möglichen Treffer, und Ari wechselte wieder zum Ballsaal. Das Programm hatte eine Asiatin in schimmernd rotem Kleid markiert. Zu alt, falscher Hintergrund, stellte er nach kurzer Überprüfung fest, ihr Profil passte nicht zu dem Verdacht, dem er hier nachging. Und trotzdem war hier etwas nicht in Ordnung …

»Wer ist das?«, fragte er, an niemanden im Besonderen gerichtet, und schickte den drei Technikern das Bild der Asiatin auf den Schirm.

»Öh …« Die Frau hinter ihm führte einen raschen Scan durch. »… nicht auf der eigentlichen Gästeliste, muss wohl jemand von der Zweitliste sein … warten Sie kurz, ich überprüfe das.«

»Zweitliste?« Ari runzelte die Stirn. Wirbelte auf seinem Stuhl herum und musterte die junge Frau. Sie war höchstens zweiundzwanzig – S-3 rekrutierte ganz schönes Junggemüse heutzutage. »Was für eine Zweitliste?«

»Oh … die Gäste von der A-Liste hatten die Möglichkeit, ihrerseits Einladungen auszusprechen. Natürlich wurden sie alle überprüft, kompletter Hintergrundcheck …«

»Wer hat sie überprüft?« Ihm wurde mulmig in der Magengegend. Was böse Ahnungen betraf, rangierte diese hier unter den allerschlimmsten. »S-3?«

»Natürlich.«

»Wurden die IDs gegengeprüft? Um Fälschungen auszuschließen?«

Verwirrt runzelte die junge Frau die Stirn. »Nein … hätten wir das tun sollen? Sie alle wurden von Gästen der A-Liste ausgewählt, die ihrerseits einem umfassenden Sicherheitscheck unterzogen wurden.«

»Wer hat die Liste eingereicht?«

»Frau Tatiana Chernomirsky, sie ist für die Öffentlichkeitsarbeit im Bereich Industrie und Handel zuständ…«

»Schaffen Sie sie her. Sofort.«

Die junge Sicherheitsangestellte wurde blass und hechtete mit weit aufgerissenen Augen los. Ari wechselte auf eine andere Frequenz, sein Herz hämmerte dumpf, sein Mund war auf einmal völlig trocken – die bisherige Theorie, womit sie es hier zu tun hatten, löste sich gerade in Rauch auf. »Ayako, es gibt eine zweite Gästeliste, die von irgendeiner verdammten Ministeriumsfrau eingereicht wurde, und sie haben die IDs nicht gegengeprüft …«

»O scheiße«, fasste es Ayako kurz und treffend zusammen, »man vertraut in Sicherheitsfragen doch nicht irgendwelchen Sesselpupsern aus dem öffentlichen Dienst, ich dachte, das wüsste jedes Kind!«

»Okay, das heißt, es gibt nach oben kaum eine Grenze, was die Zahl möglicher Eindringlinge betrifft … gut möglich, dass wir Verstärkung brauchen. Halt dich bereit. Wir haben hier mehrere schlecht miteinander vernetzte Sicherheitsdienste, auf keinen Fall dürfen wir eine Panik auslösen, sonst ballern die sich am Ende noch gegenseitig über den Haufen …«

»Falls wir versuchen zu evakuieren, bleibt das nicht unbemerkt, und das könnte die Angreifer zum Handeln veranlassen. Ich habe von hier aus den Ballsaal gut im Blick. Lass uns einfach die Ruhe bewahren und sie erst mal finden.«

Ayako behielt einen kühlen Kopf, stellte Ari erleichtert fest. Vielleicht sogar mehr als er selbst. Verdammt. Er wischte sich die schweißnassen Hände an den Oberschenkeln ab.

»Sir«, sagte die junge Sicherheitstechnikerin, »Frau Chernomirsky ist unterwegs, sie war fast nebenan.« Auf einem der Bildschirme sah er eine gutgekleidete Frau den Gang entlangkommen. Ari stöpselte sich aus und ging ihr entgegen.

»Oh, hallo«, sagte die nicht unattraktive Staatsdienerin und zwinkerte ihm liebenswürdig zu. »Sie müssen Herr …«

»Ich brauche Ihre Zweitliste geladener Gäste. Sie ist nicht in der Datenbank. Ich will vollen Zugriff, und ich will ihn sofort.«

Verwirrtes Blinzeln. »Natürlich. Sie befindet sich auf meinem persönlichen Computer …« Sie machte kehrt und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. »Wenn Sie mir bitte folgen würden …«

Ari lief ihr mit heftig klopfendem Herzen hinterher, schaltete seine modifizierten Augen auf Multilicht, und der Gang vor ihm erschien plötzlich in roten und goldenen Schattierungen.

»… gibt es denn irgendein Problem? Ich war wirklich ganz sicher, dass ich sämtliche Vorschriften beachtet habe, es gibt ja ein Formblatt. Soweit ich mich entsinne, hat der CSD es erst letzte Woche an alle Ministerien rausgegeben, und wir alle versuchen, so korrekt wie nur möglich vorzugehen …«

Im Gang kamen sie an etlichen Leuten vorbei, überwiegend Hotelangestellte, außerdem ein Gast, der gerade aus der Herrentoilette trat und sich die frisch trockengepusteten Hände mit einem Taschentuch nachwischte. Es juckte Ari in den Fingern, unter der Jacke nach seiner Waffe zu greifen, aber er wollte noch keinen Alarm auslösen. Er sah kurz nach, wo genau im Gewirr der rückwärtigen Korridore sie sich befanden – sie liefen gerade an einem kleinen Veranstaltungsraum vorbei. Dann betraten sie einen Saal: breite Doppeltüren, auf einem großen Display war noch ein Gastredner angekündigt, der seinen Vortrag bereits beendet hatte, aber ums Podium drängten sich noch immer, in Diskussionen vertieft, etliche Teilnehmer. Eine weitere Doppeltür führte zum benachbarten Saal, daneben stand ein Wachmann, gerade öffneten sich die Türen, um jemanden einzulassen …

»Oh«, sagte Tatiana Chernomirsky, »da ist ja Herr Carvuto. Er ist einer der geladenen Gäste von der Zweitliste, vielleicht kann er uns weiterhelfen … Herr Carvuto!« Rasch marschierte sie auf ihn zu, und der dunkelhäutige, adrette junge Mann drehte sich um … und starrte, ohne weiter auf sie zu achten, Ari an, der ihr gefolgt war. Der Mann riss die Augen auf. Ari tat es ihm gleich.

Carvuto gab Fersengeld, und Ari raste an der erschrockenen Chernomirsky vorbei hinter ihm her, riss die Pistole aus dem Schulterhalfter, keine Zeit für Subtilität … »Ayako, ich habe einen. Häng dich ran und schau, ob er mit irgendwem kommuniziert.«

Carvuto rammte zwei Leute aus dem Weg, die schreiend zu Boden gingen, schmetterte einem verdatterten Sicherheitsmann einen wohlplatzierten Ellbogen ins Gesicht und verschwand um die Ecke. Ari setzte über gestürzte Leiber hinweg und folgte ihm mit einer Hechtrolle um die Kurve … Kugeln pfiffen über ihn hinweg, explodierten beim Einschlag und rissen ganze Brocken aus der Wand. Er kam auf die Füße und hob die Waffe, während Carvuto im Laufen noch immer in seine Richtung feuerte. Als jemand vom Sicherheitsdienst vor ihm auftauchte, wechselte Carvuto blitzschnell das Ziel und schoss ihn förmlich in zwei Hälften. Dicht an die Wand gedrückt, erwiderte Ari das Feuer, drei präzise Treffer direkt zwischen Carvutos Schulterblätter …

Eine Explosion schleuderte ihn zurück, und brennende Trümmer und Granatsplitter durchschlugen die Wände, als bestünden sie aus Papier. Die Arme schützend vors Gesicht gehoben, rollte sich Ari ab, während weitere Explosionen den Wänden den Rest gaben. »Ayako!«, brüllte er, inmitten knisternder Flammen, zischender Löschmittel und kreischender Alarmsirenen, über eine offene Frequenz, »sie haben sich mit Sprengstoff bepackt, der gezündet wird, wenn sie draufgehen! Erschieß sie nicht, wenn irgendwer in ihrer Nähe ist, die Explosion würde alle ringsum töten!«

»Ari!« Sie klang fassungslos und verängstigt. Im Hintergrund Geräusche, die auf eine beginnende Massenpanik im Ballsaal hindeuteten. »Alles in Ordnung?«

»Besorg die Zweitliste aus Chernomirskys Datenbank«, schrie er und stemmte sich auf ein Knie hoch, inzwischen komplett durchnässt vom herabregnenden Löschmittel – er war sich der gefährlich nahen Flammen und des giftigen Rauchs in der Luft nur allzu bewusst. »Sie ist auf ihrem persönlichen Computer gespeichert, zerleg die Codes in ihre Einzelteile, wenn es sein muss, nur besorg diese Liste. Ich habe keine Zeit dafür! Such alle raus, die zusammen mit einem Typen namens Carvuto gekommen sind … es war Hector Iglasio, der Wichser hat mich erkannt …«

»Iglasio! Scheiße, die Avantgarde. Ich wette, Yueman und Christophson sind auch hier … Warte, ich brauche diese Liste ja gar nicht, ich weiß doch, wie die Wichser aussehen …«

»Großartig, prima, dann los!« Taumelnd erhob er sich und verfluchte sich selbst dafür, unter Druck nicht einen ebenso klaren Kopf zu behalten wie Ayako. Er kannte die Köpfe der »Christlichen Avantgarde« ebenso gut wie irgendwelche anderen Scheißtypen aus der kriminellen Unterwelt …

Plötzlich packte ihn jemand grob bei den Armen und zerrte ihn um die nächste Ecke. »Alles in Ordnung?«, schrie ein Mann über den schrillenden Alarm und das Prasseln der Flammen hinweg. Niemand vom Sicherheitsdienst, bemerkte Ari – der Mann, der ihn am Arm gepackt hielt, war ein Gast. Wo zum Geier steckte der Sicherheitsdienst? Als er sich ins Netz einklinkte, brandeten, während er hastig Daten überprüfte, Uplinks über ihn hinweg … ach, na klar, da waren sie alle …

»Junge, hörst du mich? Oh, verdammt, dein Arm, du bist verletzt …«

Er sah an sich herab und stellte fest, dass der linke Ärmel seiner Jacke an mehreren Stellen zerrissen war. Es blutete ganz ordentlich. Menschliche Bomben. Granatsplitter, Kugellager. Er erinnerte sich an die Wand, die bei der Explosion von einem Hagel aus Metallteilen förmlich zerfetzt worden war … nur der Himmel wusste, weshalb es ihn nicht erwischt hatte, vielleicht war die spontan ausgelöste Explosion nicht ganz so gelaufen wie geplant … Eigentlich hätte sein Arm wehtun müssen, aber natürlich kümmerten sich auch darum seine Modifikationen.

»Alles okay«, keuchte er, überrascht, wie schlecht er Luft bekam, und stützte sich an der Wand ab. »Ich bin vom CSD. Sehen Sie besser zu, dass Sie hier wegkommen.« Mit dem gefühllosen verletzten Arm deutete er die Richtung. »Am anderen Ende dieser Säle befinden sich Notausgänge …« Laut der Karte, auf die er übers Netz zugriff. »… versuchen Sie es nicht über die Hauptausgänge. Dort sind die Senatoren und anderen hohen Tiere, Sicherheitsdienst ohne Ende … die sind das Ziel, haben Sie mich verstanden? Halten Sie sich von denen fern, an Ihnen ist niemand interessiert. Nur an den Senatoren.«

Dann bahnte er sich einen Weg zu den Saaltüren hinaus und den Gang entlang, kämpfte sich an schreienden, verängstigten Gästen vorbei, die überall aus Nebenräumen stürzten oder panisch nach verlorenen Freunden suchten … Orientierte sich über Uplink und fand eine Treppe, über die man zum Hauptkorridor im Erdgeschoss und in den Ballsaal gelangte. Sämtliche Sicherheitskräfte hatten sich hier oben versammelt, in der Nähe der Senatoren, aber das Stockwerk unter ihnen war nicht gesichert …

»Ayako, irgendwas zu sehen?«

»Nichts, alle sind in heller Panik, blinder Ansturm auf die Ausgänge …«

Kurz schaltete er auf visuellen Kanal und sah, was Ayako sah: den Ballsaal, von der Galerie im zweiten Stock aus betrachtet. Menschen rannten in Richtung Haupttreppe und Eingangshalle, drängten sich am Ausgang.

»Ich habe keinen Einblick unter die Galerie, da könnte sonst wer sein. Ich gehe runter.«

Ari raste in einer scharfen Linkskurve die Treppe hinab, übersprang die letzten sieben Stufen und rannte weiter, wobei er nur durch schieres Glück und Wendigkeit größere Zusammenstöße vermied. Die Türen des Ballsaals waren geöffnet, dank Sicherheitsautomatik für den Fall einer Evakuierung. Die meisten Leute rannten in dieselbe Richtung wie er. Als er durch die Tür hastete, stieß er heftig mit jemand anderem zusammen, prallte nach Atem ringend ab und ließ den Blick durch den gewaltigen, sich zusehends leerenden Ballsaal schweifen. Umgestürzte Tische, der Boden mit zerbrochenen Gläsern und Büfettplatten übersät, zurückgelassene Musikinstrumente …

Irgendwo jenseits der großen Eingangstreppe krachten Schüsse, und über die allgemeine Frequenz brandeten gebrüllte Warnungen auf. Mehrere Leute vom Sicherheitsdienst rannten los, quer durch den Ballsaal, setzten über das Durcheinander am Boden hinweg. Von draußen wurde nach Hilfe und Verstärkung geschrien.

»Komm schon«, rief Ayako und stürmte die Treppe zu seiner Rechten hinunter, eine schmale Gestalt in langer Lederjacke. Übers Netz bekam er Informationen über die Schießerei draußen; in den Gärten längs der Nebenausfahrt hatten sie jemanden festgenagelt, der wild um sich schoss. Ein zweiter Angreifer war vermutlich ins Haus eingedrungen, aber inzwischen war Verstärkung unterwegs …

»Warte!«, rief er Ayako zu, als sie gerade das Ende der Treppe erreichte. Wütend wirbelte sie herum, während die ganzen Sicherheitsleute bereits die Haupttreppe hinunterrannten. Ari starrte blicklos vor sich hin und nahm sie und den Ballsaal kaum wahr.

Ayako riss die Augen auf. Sie kannte diesen Blick. »Was? Glaubst du etwa …«

»Die Senatoren sind dort.« Er deutete hinter sich und nach oben in Richtung der Räumlichkeiten jenseits der Galerie. »Der gesamte Sicherheitsdienst ist da raus.« Er deutete auf den Haupteingang. »Das ist nicht gut.«

»Scheiße. Wie viel Wumms haben diese Bomben?« Rasch kam sie auf ihn zu, die kantige Nachrichtendienstpistole locker in der kleinen Hand. Ari schüttelte den Kopf, während er im Höchsttempo durch die Uplinks raste und die verfügbaren Schemabilder sichtete … er stieß auf viel zu viele blinde Flecken, die Explosion hatte das halbe Netzwerk lahmgelegt. Weiter innen war das Kongresszentrum komplett vom Netz, dort sah er genau genommen gar nichts.

»Ausreichend Wumms. Ich tippe auf selbstgebauten Plastiksprengstoff, mit Granatsplittern durchsetzt, die vor allem nach vorn und hinten fliegen. Oben haben sie glatt die Wände durchschlagen …«

»Wie sieht es mit Böden und Decken aus?« Dann war sie neben ihm und betrachtete ihn aus der Nähe. »O scheiße, dein Arm …«

»Wird in den nächsten zehn Minuten schon nicht abfallen.« Geistesabwesend. »Die Schusswaffen machen mir genauso große Sorgen. Er hat mit einer Ubek-5 richtige Krater in die Wand geballert. Und das waren nur Explosivgeschosse – mit panzerbrechender Munition müsste man sich nicht mal selbst in die Luft jagen, man könnte einfach durch den Boden feuern.«

Inzwischen war von draußen ein Gewitter unregelmäßiger Salven zu hören – Feuerschutz, schloss Ari aus den schematischen Bildern, die vor seinen Augen eingeblendet wurden; sie nagelten den Eindringling dort fest, während jemand sich für den Todesschuss an ihn heranpirschte.

Ein weiterer rascher Scan der benachbarten Räumlichkeiten … S-3 hatte gerade mal genug Personal, um die zweite Etage abzudecken, für darüber und darunter reichte es nicht. Auf der S-3-Frequenz entdeckte er mehrere Positionssignale von Agenten, die dafür sorgen sollten, dass niemand durchkam, aber es gab zahlreiche Lücken, vor allem angesichts der nur noch unvollständigen Netzunterstützung …

»Kümmer dich um diese Seite«, sagte er zu Ayako und deutete hinüber zu den rückwärtigen Türen des Ballsaals unter der Galerie. »Ich nehme die hier. Denk dran: Wenn du gezwungen bist zu schießen, dann ziel auf den Kopf. Könnte sein, dass die Bomben per Uplink gezündet werden.«

Doch den Typen den Kopf wegzupusten, dachte er, während er durch den Gang zurückhastete, war auch keine Garantie, dass die Explosion ausblieb – vielleicht diente auch das als Auslöser. Er trat durch die erste Tür auf der rechten Flurseite. Ein kleiner Konferenzraum, bequeme Stühle rings um einen großen Tisch in der Mitte, ohne Zweifel für komfortable Geheimtreffen wichtiger Leute. Seine Uplinks lieferten ihm keinerlei Informationen darüber, was jenseits des offenen Durchgangs am anderen Ende des Konferenzraums lag. Kurz drückte er sich gegen die Wand und sah sich um, dann lief er durch den Raum, die schussbereite Waffe in der erhobenen Hand. Ein schmalerer Seitengang, nicht annähernd so breit wie die Hauptkorridore. Auf einer Seite ein Belegschaftsraum, eine Tür am Ende einer Sackgasse, die als Privat gekennzeichnet war. Verschlossen. Während des Notfalls hätte es dank der automatischen Sicherheitsmaßnahmen eigentlich keine geschlossenen Türen geben dürfen, nicht, wenn evakuiert wurde. Langsam näherte er sich, seitlich zur Tür, die Pistole mustergültig nach hinten, auf seine momentane Schwachstelle ausgerichtet. Auch das Netz verriet ihm nicht mehr als die geschlossene Tür.

In einer fließenden Bewegung wirbelte er herum und trat kraftvoll die Tür auf, richtete die Waffe in den Raum … Spinde, nichts als Spinde und Schränke, dazwischen schmale Gänge. Und kein Geräusch bis auf das klagende Jaulen der Sirenen und Statusmeldungen, Schüsse und die Audiosignale der Gebäudepläne in seinem Innenohr. Die abgestandene Luft zeugte von schlechter Belüftung in Kombination mit zu viel Schuhcreme und Körperspray … und noch irgendetwas anderem.

Er setzte sich wieder in Bewegung, warf im Vorbeischleichen rasche Blicke in die Gänge zwischen den Spinden und großen Schränken … und fand zu seiner nicht allzu großen Überraschung im dritten Gang eine dunkel gekleidete Leiche, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Der Kopf war in einem unnatürlichen Winkel verdreht. Überwachte S-3 nicht die Vitalzeichen seiner Leute? Allerdings war das Netzwerk ein einziges Durcheinander, halb zerstört, und diverse verschlüsselte Frequenzen funktionierten überhaupt nicht mehr.

Ein kurzer Blick auf die Schemata verriet ihm, wo die nächste Lücke in der Abriegelung klaffte. Er drehte sich um und ging mit erhobener Waffe zügig weiter. Zu rennen wäre jetzt zu riskant gewesen, hätte ihn womöglich dringend benötigte Reaktionszeit gekostet. Den engen Gang hinunter zum breiteren Korridor am Ende, der normalerweise von einem steten Menschenstrom erfüllt gewesen wäre. Teppichboden, Schilder an den Wänden, die den Weg zu den Veranstaltungsräumen wiesen. Ein abzweigender Korridor war nicht mit Teppich ausgelegt, er endete an einer offen stehenden Tür, durch die Ari lange, chromglänzende Tresen schimmern sah.

Mit gezückter Waffe schob er sich seitlich in die Küche. Wechselte rasch auf die andere Seite hinüber. Mehrere Gänge durchzogen den riesigen Raum, dazwischen Arbeitsflächen, Mikrowellenöfen und andere Küchengeräte. Genau konnte Ari all das Zeug nicht benennen, er nahm sich abends meist irgendwo etwas zu essen mit. Rasch duckte er sich hinter den nächsten Tresen und schlich weiter. Hörte ganz in der Nähe gedämpfte Geräusche, als würde jemand mit seiner Ausrüstung hantieren. Ein Klappern – womöglich eine Waffe, die auf einer stählernen Oberfläche abgelegt wurde. Wer immer es war, er hatte es eilig. Ari erreichte das Ende des Tresens und richtete sich mit erhobener Pistole geschmeidig zu voller Größe auf. »Keine Bewegung.«

Der Mann erstarrte. Er stand seitlich zu Ari auf einem der Tresen, vom Eingang aus unsichtbar, weil hinter einem großen Küchenschrank verborgen. Es sah aus, als würde er irgendetwas in den Spalt zwischen Schrank und Decke stopfen. Wie die meisten Gäste trug auch er eine Anzughose und dazu passende Schuhe, aber das Jackett lag zu seinen Füßen auf dem Tresen, und das Hemd war an einigen eher ungewöhnlichen Stellen zerknittert. Von dem Bündel, das er gerade in den Spalt stopfen wollte, baumelten Gurte herab, es war so geformt, dass man es nahezu unsichtbar unter der Kleidung tragen konnte. Offenbar schlichte Magnetzünder, die bei einer normalen Sicherheitsüberprüfung nicht auffielen. Wie sie das Zeug an den Detektoren vorbeigeschmuggelt hatten, war Ari allerdings schleierhaft.

»Hallo, Claude«, sagte er, den Lauf der Pistole unverwandt auf das Trommelfell des jungen blonden Mannes gerichtet. Von dort würde das Uplink-Signal ausgehen. Die eigenen Systeme allesamt auf maximaler Leistung, wurde sich Ari gerade noch rechtzeitig eines wichtigen Details bewusst: Von einem Menschen statt einer Maschine ausgesandte verschlüsselte Signale zeichneten sich nicht gerade durch Lichtgeschwindigkeit aus, und am Körper getragene Bomben erforderten gründliche Verschlüsselungen, damit sie nicht durch irgendein zufälliges Signal im Datenstrom ausgelöst wurden. »Hast es dir wohl anders überlegt, was die Sache mit dem Suizid betrifft, hm?«

»Ariel.« Mit fest zusammengebissenen Zähnen. »Ich hätte es wissen müssen. Hast du Hector umgelegt?«

»Hector hat sich selbst umgelegt. Völlig sinnloser Tod, mit dem er rein gar nichts erreicht hat. Und genau so sinnlos wirst auch du sterben, wenn du nicht diese alberne Bombe deaktivierst und deinen Hintern hier runterbewegst. Die Sprengkraft reicht ohnehin nicht aus, um die Decke zu durchdringen, sie ist zu dick.«

Das war rundheraus gelogen … zumindest hatte er keinen blassen Schimmer, ob es stimmte. Aber Claude hatte die Position sehr präzise gewählt – in dem Raum direkt über ihnen hielten sich just in diesem Moment alle drei Senatoren auf. Seine Hausaufgaben hatte er gemacht. Und auf diese Entfernung würde es Claude nicht entgehen, wenn Ari versuchte, sie über Funk zu warnen. Ari kannte Claudes beeindruckende Modifikationen, das stand alles in einer Akte, die er selbst geschrieben hatte. Wenn Claude versuchte, die Bombe zu zünden, musste Ari ihn erschießen. Aber er wollte ihn lebend, um ihn zu verhören. Hier war etwas Großes am Laufen, und sie mussten dringend herausfinden, wie es so weit hatte kommen können.

»Hectors Tod war nicht sinnlos«, erwiderte Claude und presste die Kiefer so fest aufeinander, dass sein Kinn zitterte. Er sah Ari nicht an. »Er ist jetzt an einem sehr viel besseren Ort. Und dort werde ich auch hinkommen. Bei dir hingegen, Ariel, bezweifle ich das.«

»Du rennst durch die Stadt und jagst Leute in die Luft, und dann zweifelst ausgerechnet du daran, dass ich ein gottgefälliges Leben führe?« Himmel, was waren diese Typen schräg drauf. Plötzlich pochte es in seinem Arm. »Das ist … das ist kreativ, Claude, wirklich.«

»Ariel … Ariel, im Namen des Herrn«, stieß Claude hervor und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, »du bist ein kluger Mann, siehst du es denn wirklich nicht? Siehst du nicht, was hier los ist? Das hier … es ist der reinste Irrsinn!« Mit einer Geste umfasste er die Küche, das Hotel, die ganze wimmelnde Stadt mit ihren siebenundfünfzig Millionen Einwohnern.

»Du hast verdammt recht, genau das ist es.« Fieberhaft dachte Ari nach. Er konnte nicht einfach auf Claudes Zünder zugreifen und ihn deaktivieren – Claude würde es bemerken und sie beide in die Luft jagen. Nein, er musste ihn blitzschnell ausschalten, ehe er etwas merkte, aber er hatte keine Schockwaffe dabei. Verdammt. Ein Fehler, der ihm sicher nie wieder passieren würde.

»Ariel, ich kenne dich … die meisten meiner Freunde kennen dich. Die anderen verstehen das nicht, aber ich, ich, Ariel, ich glaube als Einziger daran, dass du ein anständiger Mensch bist. Aber du stehst auf der falschen Seite, warum begreifst du das nicht? Diese … diese Leute, Ariel, sie glauben an gottlose Dinge, sie unterstützen Vorhaben, die die gesamte Menschheit unwiderruflich verfälschen und sie … und sie deformieren werden, auf schreckliche Weise, und sie haben machtvolle Positionen, ihre Stimme wird gehört, Ariel, und das Leben all der Kinder Gottes wird nie wieder so sein, wie es einst war.«

»Claude«, sagte Ariel mit einer Ruhe, die er selbst äußerst bemerkenswert fand, »ich respektiere deinen Glauben.« Beschwichtigend hob er eine Hand. Sein Arm pochte inzwischen heftig, es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Und auch, sich zusammenzureißen. »Ich respektiere deinen Glauben, und ich respektiere dein Recht auf diesen Glauben – und daran, ihn jedem zu offenbaren, der zuhören möchte. Aber es gibt andere Möglichkeiten, um gehört zu werden, als herumzurennen und Leute umzubringen … Du sollst nicht töten, Claude, klingelt da was?«

»So, wie sie uns töten?« Mit loderndem Blick. »Sie wollen uns alle in … in verdammte synthetische Maschinenwesen verwandeln, um des Profits willen und ihrer Portfolios und ihrer Firmenimperien! Sie wollen unsere Seelen töten, Ariel, verdammt nochmal, wie kannst du so naiv sein und das nicht sehen? Du weißt doch besser als jeder andere, wie das System funktioniert, du bist Teil davon! Und du beschützt sie, du beschützt dieses ganze verdrehte, kranke System!«

Als wäre das etwas undenkbar Schlimmes, eine regelrechte Sünde. Na ja – tatsächlich bekam Ari das nicht zum ersten Mal zu hören, das hatten schon Leute zu ihm gesagt, die weit klarer bei Verstand waren als Claude Christophson.

»Weißt du, Claude … du hast mich fast überzeugt. Wirklich. Warum legst du nicht diese Sprengstoffweste weg? Statt dass du dich und damit auch deine wirklich bemerkenswerten rhetorischen Fähigkeiten in lauter ganz kleine Stückchen sprengst, könntest du weiterleben und hier in Tanusha bleiben … Du bekommst ein ordentliches Verfahren, vielleicht sogar öffentlich, und die Anwälte werden sich darum reißen, dich kostenlos zu verteidigen, um der Publicity willen … Der gesamte Planet wird hören, was du ihnen mitzuteilen hast, und dann kannst du ihnen allen genau das sagen, was du mir gerade gesagt hast, alle werden dir glauben, und dann kommt alles wieder in Ordnung. Na, was meinst du?«

Zu sarkastisch, dachte er. Seine Schwachstelle. Aber Claude zögerte. Ari sah die kaum merkliche Unsicherheit in seinen Augen, als er darüber nachdachte. Und vielleicht, nur ganz vielleicht, meldete sich ja auch gerade sein Selbsterhaltungstrieb zu Wort, nur eine flüsternde Stimme im Hintergrund, die nach einem Ausweg suchte, nach Argumenten. Religiöse Spinner glaubten immer, ihre Ansichten wären universell gültig. Dass es die eine, einzige Wahrheit gab. Das war ihre Schwäche.

Ein blauer Blitz zuckte durch die Luft. Claude taumelte herum und fiel vom Tresen.

Aris Reflexe waren stärker als die Überraschung, er hechtete los und fing den fallenden Körper unbeholfen mit einem Arm auf, damit der andere frei war, falls die Weste ebenfalls aus ihrem Versteck herunterplumpste … aber das tat sie nicht. Er legte den schlaffen Körper des jungen Mannes zwischen den Tresen aus rostfreiem Edelstahl auf den Boden und überprüfte seine Vitalzeichen. Das Herz raste, und er atmete noch.

»Hast du das Ding etwa auch vom CSD?«, fragte er, während er Claudes Taschen durchsuchte.

»Na klar«, sagte Ayako, schlenderte den Gang entlang und schob die Schockwaffe wieder ins Schulterhalfter. »Natürlich bekommt man so was notfalls auch auf dem Schwarzmarkt, aber da ist es mir viel zu teuer.«

Ari fand Claudes Waffe, wieder eine Ubek-5 – ganz schön viel Durchschlagskraft für eine Handfeuerwaffe.

»Das ist Claude, oder?«

»Japp … schätze mal, er ist der Letzte. Mindestens zwei sind noch draußen. Ich glaube wirklich nicht, dass sie mehr als vier ihrer Leute einschmuggeln konnten, und um die anderen kümmert man sich gerade.«

»Und diesmal hast du sogar jemanden am Leben gelassen, den wir befragen können.« Ayako klang beeindruckt. »Du wirst noch ein richtig brauchbarer CSD-Agent, Ari.«

»War der Erste, der mir überhaupt die Wahl gelassen hat«, antwortete Ari, der das eine Bein von Claude abgetastet hatte und sich jetzt das andere vornahm. Er hörte einen leisen Aufprall, als Ayako auf den Tresen hinter ihm sprang und ganz behutsam die Sprengstoffweste aus ihrem Versteck zog. »Weißt du«, fügte er hinzu, »ich habe Claude ja schon immer für reichlich bescheuert gehalten, aber … Sprengstoffwesten? Das ist schon eine echt harte Nummer.«

»Wenn es um die Zukunft der Menschheit und dergleichen geht, dann regen die sich halt ein bisschen auf.« Ayako entschärfte die Weste und holte sie herunter. Eine sehr schlichte Konstruktion, einfach nur eine gewöhnliche enge Weste mit flachen, großen sprengstoffgefüllten Taschen, dazu ein paar Drähte und der Zünder. Zu dünn, um sich unter einem Jackett abzuzeichnen. »Aber sag mal … wenn das so weitergeht, dann wirst du binnen kürzester Zeit all deine irren Freunde verlieren.«

»Ach was.« Ari schaute nach unten in das Gesicht des jungen Terroristen, der im Schlaf so friedlich aussah. »Ich finde jederzeit neue. Da, wo der herkommt, gibt es noch reichlich von seiner Sorte.«

Kapitel 2

Ordentlicher Wellengang heute.

Sandy saß auf ihrem Surfbrett, halb überspült von der wogenden See, und schaute der letzten Welle hinterher, die schäumend auf den fernen Strand zudonnerte. Ein Surfer tauchte mit der Nase voran aus der Brandung auf und paddelte weiter. Sie verlor ihn aus den Augen, als sie wieder in einem Wellental verschwand und sich zwischen ihm und ihr Wanderdünen aus Wasser auftürmten, schimmernd im fahlen Licht des bewölkten Himmels.

Der Wind drehte sich. Sandy wandte sich um und hielt ihm das Gesicht entgegen. Er wehte, frisch und salzig, aus Südost und fegte von Nord nach Süd die Küstenlinie entlang. Zusehends drehte er sich Richtung Ufer, zerrte ihr wild am wirren, salzwassergetränkten Haar, und sie kniff die Augen zusammen. Der Wind peitschte übers Wasser und zerriss das Muster der Wellen. Schon bald würde er direkt auf die Küste zuwehen, und die hastig dahinjagenden, tiefhängenden Wolkenfetzen würden sich am herbstlichen Himmel zu dicken, dunklen Gewitterwolken zusammenballen.

Die nächste Welle hob sie wieder empor, und plötzlich konnte sie sehr weit sehen. Vor ihr erstreckte sich lang und schmal die südwärts führende Küstenlinie. Zu ihrer Rechten ragten die Lindolinklippen auf – zerklüfteter schwarzer Fels, umgeben von einem ausgedehnten Riff, das von der weiß schäumenden See überspült wurde. Ein Stück weiter brachen sich die stampfenden Wellen mit weithin explodierender Gischt an den äußeren Riffausläufern, und noch weiter entfernt schlingerte ein Partyschiff durch die zusehends rauere See.

Der andere Surfer paddelte immer noch weiter hinaus – jetzt gerade verdeckte ihn eine weitere Welle. Sie kannte ihn nicht.

Wetter für echte Surfer, dachte sie versonnen und sah sich auf dem aufgewühlten Meer nach weiteren dunklen Gestalten in Neoprenanzügen um. Sie entdeckte mehrere, weit verteilt am ausgedehnten Küstenabschnitt.

Ein kaum merkliches Lächeln spielte um ihre Lippen. Jetzt war sie also eine echte Surferin. Vanessa jedenfalls fand das. Sie hatte Sandy zum Mittagessen mit Freunden und Familie eingeladen und konnte nicht verstehen, wieso der Wetterbericht das unmöglich machte. Aber ein echter Surfer war eben jemand, der sich, wenn ihm mitten in der größten Sicherheitskrise in der Geschichte des Planeten ein paar Stunden zur Erholung zugestanden wurden, sofort Brett und Neoprenanzug aus seinem CSD-Spind schnappte, den nächstbesten Gleiter mietete und Kurs auf die Küste nahm. Die meisten Agenten verbrachten eine solche kostbare Auszeit im Bett oder, so wie Vanessa, mit Freunden und Familie, die sie seit Wochen kaum gesehen hatten. Aber Sandys Prioritäten lagen anders – sie hatte keine Familie, brauchte nur wenig Schlaf, und so galt ihr Interesse vor allem den Wetterbedingungen an der Küste.

Vor ihr türmte sich die nächste Welle auf. Kein guter Winkel. Sie ließ sie unter sich hinwegrollen, ein gewaltiger Aufstieg in die Höhe, dann ein sanftes Hinabgleiten auf der Rückseite. Hinter ihr das reinste Brüllen und Donnern, als die Welle brach und schäumend auf den Strand zuraste. Ein herrliches Geräusch.

Bei ihrem letzten Surfausflug, an einem kostbaren freien Wochenende, hatte sie ganz in der Nähe am Strand gezeltet. Damals war Vanessa mitgekommen. Sie hatten im Dunkeln gelegen, während der Wind die Zeltwände flattern ließ, hatten sich über alles Mögliche unterhalten und durchs Geflecht des Fensters zu den Sternen emporgeschaut, derweil draußen im Dunkeln die Wellen stampften und brüllten.

In jener Nacht hatte es Meteore gegeben, erinnerte sie sich und setzte sich auf dem Brett auf, das Gesicht zum Wind gedreht. Sternschnuppen hatte Vanessa sie genannt, wieder einer dieser seltsamen Zivilistenausdrücke, der nichts mit den Tatsachen zu tun hatte. Umso liebenswerter fand sie es. Im auffrischenden Wind schaute Sandy über das tobende Meer hinweg Richtung Horizont und dachte an den überwältigendsten Meteoritensturm, den sie je miterlebt hatte. Nichts, was natürlichen Ursprungs war, konnte mit dem spektakulären Anblick nach einer transorbitalen Schlacht konkurrieren: hell gleißende brennende Trümmer, lodernde Bruchstücke in solcher Zahl, dass sie den ganzen Himmel aufleuchten ließen und eine mondlose Nacht in hellen Tag verwandelten. Noch eine dieser Empfindungen, die sie von den Menschen in ihrer Umgebung unterschied. Sie hatte längst aufgehört zu zählen.

In einiger Entfernung erhob sich eine mächtige dunkle Welle … und dahinter noch eine, sah sie, als eine kleinere Welle sie emportrug. Die hintere Welle war sogar noch größer. Sah ausgesprochen nett aus, sehr vielversprechend. Beim Anblick der aufragenden Wasserwand wurde sie von Erregung gepackt. Sie ritt auf der ersten großen Welle empor, ganz bis nach oben, dann stürzte sie auf der anderen Seite wieder hinunter und sah zu ihrem Entzücken, dass die zweite Welle tatsächlich das Warten wert gewesen war. Hinter ihr brach brüllend die erste und rauschte davon. Sie legte sich flach aufs Brett und richtete es Nase voran auf die Küste aus. Hinter ihr wuchs dunkel und schimmernd ein Berg aus Wasser in die Höhe.

Und dann war er da. Mit einigen raschen Schwimmzügen beschleunigte sie, das Brett schoss vorwärts, die Riesenwelle hob sie weit über den Meeresspiegel hinaus … und dann raste sie auf der Wasseroberfläche dahin, die Hände ans Brett geklammert, zog geschmeidig die Beine an und richtete sich auf. Ihre nackten Fußsohlen fanden auf dem angerauten Brett sicheren Halt, und sie raste auf der Vorderseite der Welle in die Tiefe. Wurde unten langsamer, wendete scharf links und jagte wieder hinauf …

… und für einen atemlosen Augenblick schwebte sie auf der Stelle, mitten in einer senkrecht aufragenden Wasserwand, hoch über dem glatten Meer unter ihr …

… und es ging wieder abwärts, Wind und dahinrasendes Wasser, das Brett vibrierte wie verrückt unter ihren Füßen. Plötzlich schäumende Explosion, die Welle brach hinter ihr auf halber Länge und stürzte tosend in sich zusammen, sie vollführte die nächste scharfe Wendung, damit das brodelnde Chaos sie nicht einholte. Wieder hinauf, doppelt so schnell wie zuvor. Unter ihr glattes Wasser, sie auf halber Höhe auf einer senkrechten Wasserwand mitten im heulenden, salzigen Wind und der weißen Gischt.

Ihr lautes Auflachen wurde vom Brüllen der Welle verschluckt. Mit den Fingerspitzen berührte sie die Wasserwand, die sich bei diesem ehrfurchtgebietenden Tempo hart wie Beton anfühlte. In irrwitzigem Zickzackkurs schoss sie auf und ab, zog eine Bahn aus sprühender Gischt. Und dann, mit fast unwirklicher Anmut, rollte sich die Welle über ihr zusammen, als fiele neben ihr ein gewaltiger Vorhang, und sie befand sich in einem Wellentunnel.

Die Zeit verlangsamte sich. Inmitten der dahinjagenden, schimmernden Wassermassen schien das ganze Universum um sie herum zu dröhnen. Der gewölbte Wasserbogen über ihrem Kopf war womöglich das Schönste, was sie je gesehen hatte. Die ganze Welt bestand ganz aus Grün und schimmerndem Blau. Es war gespenstisch und herrlich und absolut atemberaubend.

Und urplötzlich vorbei. Durch sprühende Gischt schoss sie aus dem Wellentunnel heraus; über ihr freier Himmel, und vor ihr stürzte die Welle in sich zusammen. Sie wendete scharf nach rechts, raste abwärts und spürte, wie hinter ihr die gesamte Welle brach, als würde eine Felswand sich in eine Lawine auflösen. Es war wie eine gewaltige Explosion, und doch hielt sie, über das Menschenmögliche hinaus, die Balance, landete auf den Füßen … nur befand sich dort kein Brett mehr.

Bämm. Brüllende Stille, der reinste Hexenkessel. Gedämpftes Donnern. Versuchsweise ein paar Schwimmzüge, um den Wasserwiderstand zu erproben. Die Richtungen zu sortieren. Oben und unten. Es schäumte nicht mehr ganz so wild, sie spürte Auftrieb und schwamm in diese Richtung.

Durchbrach die Wasseroberfläche. Licht und Geräusche stürzten auf sie ein. Übers ganze Gesicht strahlend, holte sie ihr Surfbrett ein, das mit einem Band an ihrem Fußgelenk befestigt war, und sah sich nach der nächsten geeigneten Welle um. Dort draußen war eine, vielversprechend hoch und direkt zu ihr unterwegs. Was für ein Tag. Frohlockend warf sie sich quer über ihr Brett und paddelte wieder aufs Meer hinaus.

Notruf über Funk: ein deutliches Signal in ihrem Innenohr. Immer noch paddelnd, runzelte sie die Stirn und stellte die Verbindung her. Ein Klicken, dann eine kurze Klangfolge, fast eine Melodie … eine abgeschirmte Leitung und ein Code, aber keine Nachricht. Ein spezielles Signal, das nur ihr galt. Die Arbeit rief. Sie stieß einen Fluch aus. Noch ein paar Schwimmzüge, dann machte sie sich widerwillig klar, dass Schluss war mit Paddeln. Verdammt nochmal. Vor ihr explodierte die nächste Welle zu schäumendem Weißwasser, und vor lauter Verärgerung hätte sie fast versäumt, darunter durchzutauchen.

Ein paar Minuten später kam sie aus dem Wasser, das Brett unterm Arm, und schleppte sich barfuß über den felsigen, muschelübersäten Strand. Strich sich das tropfnasse Haar aus dem Gesicht. Beeilte sich nicht sonderlich – wäre es eilig gewesen, hätte ihr der Code das verraten. Schon wieder eine plötzliche Dienstplanänderung. Wahrscheinlich war irgendein dämlicher Politiker in der Dusche ausgerutscht und hatte sich den kleinen Finger verstaucht. Zum Teufel mit der ganzen Politik – wussten diese Leute denn nicht, dass sie gerade surfte?

Sand klebte an ihren nassen Füßen. Sie lief die Küste entlang zu dem kleinen Bungalow der Strandwache, der auf Stelzen auf einer benachbarten Düne mit gutem Ausblick stand. Ringsum hatten sich Surfer versammelt, überall Bretter, Klamotten und Handtücher, außerdem die eine oder andere Tasche von jemandem, der länger als einen Tag am Strand blieb. Tropfend lief sie zwischen ihnen durch, viele der Männer sahen ihr nach. Breitschultrig und nicht besonders groß, entsprach sie wohl kaum dem Ideal des hoch aufgeschossenen, langbeinigen Surfermädchens. Aber zu ihren breiten Schultern gesellten sich kurvige Hüften und kräftige, geschmeidige Muskeln, laut Vanessa so gut definiert, dass einem bei dem Anblick die Augen aus dem Kopf zu fallen drohten.

Sandy wusste sehr genau, wie sie im Neoprenanzug aussah – man hatte es ihr in letzter Zeit oft genug gesagt. Und in einer Stadt, wo die meisten Leute von Natur aus braune Haut und schwarzes Haar hatten, zog eine attraktive blonde Europäerin überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit auf sich.

Ihre Tasche lag immer noch dort im Sand, wo sie sie zurückgelassen hatte, und sie warf sie über die Schulter. Sie machte sich nicht die Mühe nachzusehen, ob noch alles da war – unter Surfern machte man sich keine Gedanken um so urbane Dinge wie Diebstahl, es kam praktisch niemals etwas weg. Selbst mitten in Tanusha nicht. Das lag weniger am mangelnden kriminellen Potenzial der Bevölkerung als daran, dass es in Tanusha erheblich Wertvolleres zu stehlen gab als das, was der typische Surfer so mit sich herumschleppte.

Vom Strand aus lief man etwa fünfzehn Minuten eine unbefestigte Straße über gestrüppbewachsene Dünen entlang, bis man den kleinen Gleiterlandeplatz erreichte. Der Straßenrand war mit Bodenfahrzeugen halb zugeparkt – die Straße taugte eindeutig nicht für ein automatisches Verkehrsleitsystem, der Randstreifen war übersät mit abgehenden Fahrspuren. Kürzlich hatte einer der Einheimischen erzählt, die Gemeinde hätte den Bau von Parkplätzen geplant, um dem Verkehrsaufkommen Herr zu werden, aber die Anwohner seien dagegen.

Die niedrigen Büsche wichen Bäumen, während sie mit dem Brett unter dem Arm am Straßenrand entlanglief, und sie sah kein ausgefeilteres Stück Hightech weit und breit als das Solarpanel auf einer öffentlichen Toilette drüben neben dem Pfad, der zum Campingplatz führte. So gefiel es ihr am besten, nichts als Büsche und Sand, ein frischer Wind und das ferne Rauschen der Brandung. Aber sie behielt die gelegentlich vorbeirollenden Fahrzeuge sorgsam im Auge, die entweder zur zehn Kilometer entfernten Autobahn unterwegs waren oder von dorther kamen – die meisten Fahrer hatten nicht viel Übung mit manueller Steuerung. Trotz der Unterstützung des Bordcomputers endete ohne städtisches Verkehrsleitsystem so manche Fahrt an einem Baum.

Ihr Gleiter stand mit vielen anderen auf einem rechteckigen, grasbewachsenen, durch eine Reihe hoher Bäume von der Straße abgegrenzten Parkplatz. Die per Uplink aktivierte Maschine lief bereits summend warm. Sie verstaute ihr Brett und kletterte kurzerhand im Neoprenanzug auf den Fahrersitz. Die Triebwerke dröhnten auf, und der Landeplatz blieb unter ihr zurück … die rechtwinklige Reihe geparkter Gleiter, die Straße zum Strand, die weißen, gekräuselten Dünen eine blasse Linie vor dem Ozean, dessen Türkisblau von den weißen Schaumkronen der Wellen durchbrochen wurde … alles blieb unter ihr zurück, und mit einem Mal wirkte dieser kleine Teil der Welt, durch den sie eben noch gelaufen war, wie eine Landkarte.

Voller Bedauern betrachtete sie noch einen Augenblick lang das Meer, das schäumende Wirbeln einer brechenden Welle, die hohe Dünung weiter draußen, erhaschte einen kurzen Blick auf einen Surfer, der glückselig eine gerade anbrandende hohe Welle hinunterraste … dann regulierte sie den Schub der Triebwerke, beschleunigte und nahm Kurs aufs Inland, fort vom Meer.

Rajadesh glitt unter ihr hinweg. Eine Hauptstraße, eine Handvoll Gebäude und Nebenstraßen – fast ein reiner Ferienort. Dahinter weithin Bäume, ein üppiger grüner Wald. Zu ihrer Linken ein glitzerndes Geflecht aus Wasserläufen: das Shoban-Flussdelta. Und zu ihrer Rechten ragten in weiter Ferne die Gipfel des Tuez-Gebirges auf, eine karge, zerklüftete Felslandschaft.

Sie ging auf Reisegeschwindigkeit. Die grauen Wolkenfetzen, die mit merklicher Geschwindigkeit über sie hinwegtrieben, schienen fast nah genug, um sie zu berühren. Vor ihr erstreckte sich ein Wald aus gewaltigen, hoch aufragenden Hochhäusern: Tanusha. Selbst angesichts ihrer niedrigen Flughöhe wirkte die Stadt zum Greifen nah. Sie sah aus wie ein Wald aus leuchtenden Stämmen, die sich dem trüben, wolkenverhangenen Himmel entgegenreckten. Zu beiden Seiten zogen sie sich endlos weit hin, Kilometer um Kilometer, mehr Wohn- und Bürotürme, als man zählen konnte. Eine der größten monolithischen Zivilisationen der gesamten Menschheitsgeschichte. Und ihr Zuhause.

 

Die Luftstraße führte in einer Höhe von achthundertsechzig Metern in den Luftraum über Tanusha, gut vierhundert Meter über der genormten Höhe der Megatürme. Wohin das Auge reichte, standen Türme in dicht zusammengescharten Gruppen: immer neue Zentren, die von Wohnvierteln abgelöst wurden, die wiederum Zentren wichen. Sandy holte ihren Makanisaft aus dem kleinen gekühlten Handschuhfach und nahm einen tiefen Schluck. Beschloss spontan, sich über eine gerade verfügbare Verbindung mit hoher Bandbreite ins Netz einzuklinken. Gleich darauf war sie drin und sah sich im örtlichen Infrastrukturnetzwerk um, während Augen und Hände weiterhin mühelos der Luftstraße folgten und sie auf Kurs hielten. Sie sah sich ein paar gesicherte Daten näher an, auf der Suche nach kleinen, verdächtigen Hinweisen, nach jenem spezifischen Beigeschmack bestimmter Codes … nippte noch einmal am Makanisaft und steuerte solange mit nur einer Hand. Ein gewaltiger Datenstrom, sie spürte ihn fast körperlich, ein geordnetes Gewirr aus Datenpfaden … Klick, genau da. Sie zoomte näher heran und scannte aufmerksam. Ein Überwachungsprogramm, das auf bestimmte festgelegte Parameter reagierte, angeschlossen ans Luftverkehrssystem. Sollte naheliegenderweise irgendetwas überwachen. Ein kleines, unauffälliges System, das normalerweise keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine kurze Sondierung verriet ihr, dass es etwas Offizielles war. Es hätte gegen das Gesetz verstoßen, es zu hacken, außerdem war das Fummelarbeit. Ein rascher Vorstoß durch Verbindungen, über die hier niemand außer ihr verfügte … da, eine aktive Spur … eine Umleitung, eine Manipulation mit Hilfe ausgesprochen raffinierter Codes.

Was im Klartext hieß … rasch umging sie die Sicherheitsbarrieren des Programms und verschaffte sich Zugang. Die Codekombinationen, die sie dafür benutzte, hätten gewissen Sicherheitsdiensten einen heillosen Schrecken eingejagt. Und da war sie, die Verbindung, samt Datenspur, die sich einwandfrei zu ihrem Ursprung zurückverfolgen ließ.

Sie wandte sich um und erhaschte durchs Heckfenster und am Triebwerk vorbei einen kurzen Blick auf einen kleinen Punkt, der ganz unschuldig zwischen lauter anderen Pünktchen auf einer benachbarten Luftstraße dahinglitt. Ein rascher Zoom durchs Seitenfenster, am Triebwerk vorbei – ein Chandara-Falke, ein großer Luftschlitten mit dunkel getönten Scheiben. Typisches Modell für Regierungsbeamte. Drei Komma eins Kilometer entfernt. Hatte sich eindeutig an ihre Fersen geheftet und beobachtete sie.

Zutiefst gereizt griff sie auf eine andere, vertrautere Verbindung zurück und wartete auf Antwort. Sie kam nur wenige Sekunden später.

»Sandy?«

»Hi, Ricey«, sagte sie und überprüfte zeitgleich über einen anderen Link ihre zugewiesene Route. »Bist du schon wieder im Dienst?«

»Bin gerade zu Hause aus dem Wagen raus – ich dachte mir, ich ziehe mich besser noch kurz um. Was gibt’s denn?«

»Ich bin gerade im Gleiter unterwegs, auf dem Rückweg von der Küste, und irgendjemand folgt mir. Chandara-Falke, keine Identifikationskennzeichen. Ist ungefähr drei Kilometer entfernt, aber sie haben ein verdammtes Überwachungsprogramm hier im lokalen Infrastrukturnetz sitzen, das sie direkt mit Informationen versorgt.«

»Was Offizielles?« Vanessa klang besorgt.

»Sieht zumindest danach aus, aber hey, wenn ich wie der Osterhase aussehen will, klebe ich mir Ohren und einen Puschelschwanz an. Ich überlege, ob ich rausfinden soll, wer sie sind.«

»Himmel, bloß nicht. Schick einen kurzen Bericht mit hoher Dringlichkeitsstufe an die Zentrale. Die schnappen sie sich und befragen sie zu der Sache.«

»Okay, das ist besser.« Sie lächelte und erledigte das gedankenschnell, sandte die kompletten Positions- und Identifikationsdaten direkt in die CSD-Zentrale. Der Zuständige in der Zentrale müsste bald ausgesprochen interessante Daten reinbekommen, und zwar in diesem …

»Hallo, Snowcat, hier spricht die Zentrale«, hörte sie eine förmlich klingende fremde Stimme im Innenohr. »Der Flieger, den sie überprüft haben wollen, ist schwarz geflaggt. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

Schwarz geflaggt. Das hieß: Regierungsfahrzeug. Und nicht nur das, sondern darüber hinaus: offiziell, autorisiert, leg dich mit uns nicht an. Durch weit geblähte Nasenlöcher sog Sandy die Luft ein. Das goldene Licht über den gleißenden Türmen verblasste – eine Hitzesignatur inmitten des dunkleren Schleiers der Infrarotsicht. Auch Bewegung war hervorgehoben: die dahingleitenden Luftfahrzeuge. Es war die Vorstufe des Zielsuchmodus, stark erhöhte Aufmerksamkeit. Überdeutlich spürte sie das Summen der Motoren auf ihren Trommelfellen vibrieren, ganz neue, komplexe Klangfärbungen entfalteten sich. Sie dachte darüber nach, sich an eine höhere Instanz zu wenden. Darüber, Ibrahim zu kontaktieren und ihn persönlich zu fragen. Er hatte ihr gesagt, dass das SEB sie beobachtete. Sie hätte nicht gedacht, dass das bedeutete, selbst beim Surfen beschattet zu werden. Überhaupt hatte sie nicht mit derart unverfrorener Überwachung gerechnet.

Aber für solche Anfragen gab es den richtigen und den falschen Zeitpunkt, und ihr war instinktiv klar: Hier und jetzt wäre es der falsche.

»Nein. Danke, Zentrale.« Sie wechselte auf eine andere Frequenz, fuhr ihre Verschlüsselung hoch und schaltete wieder zurück auf die vorige Verbindung.

»Sandy? Scheiße, ist das wieder eine von deinen Spezialverschlüsselungen? Von dem Kram bekomme ich Kopfweh.«

»Laut Zentrale ist mein Schatten schwarz geflaggt.«

Schweigen am anderen Ende. Sandys Daten verrieten ihr, dass der Falke immer noch da war und sie über das ins Verkehrsleitprogramm eingeschleuste Programm verfolgte. Ihr Abzugsfinger juckte, und die Anspannung zog durch ihre Hand den ganzen Arm hinauf. Ihr Blickfeld war noch immer rot eingefärbt.

»Na ja, im Grunde war mit so was ja zu rechnen«, bemerkte Vanessa.

Sandy traf eine Entscheidung, schaltete halb in Trance in den Angriffsmodus und infiltrierte die Luftüberwachung. »In der Tat, das war es«, antwortete sie knapp und griff mit blicklosen Augen auf die Schutzbarrieren ihres Verfolgers zu. Knackte sie mit Hilfe ihrer besten Codes und setzte ein Killerprogramm im System frei, einen militärischen Codefresser. Einen selektiven Virus, der komplizierte Software verschlang. Jahrzehntelange erprobte und ständig verfeinerte Programmierkünste der Liga trugen Früchte – die zivile Verkehrskennung erlosch mit einem schrillen Fiepen.