Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Annas Leben steht Kopf. Die Seelenwächterin muss sich ihrem schlimmsten Dämon stellen. Um zu überleben, bleibt ihr nur eines: kämpfen. Für ihre Seele. Für ihren Körper. Und für ihre Familie. Anna gräbt sich tief in ihre Zeit als Mensch und begibt sich auf die Suche nach dem mächtigsten Musikinstrument, das je erschaffen wurde: der Harfe von König David. Wird deren Magie ausreichen, um Annas Leben die entscheidende Wende zu geben? Oder gerät sie nur noch tiefer in den Strudel ihres Verderbens? Dies ist der 2. Roman aus der Reihe "Die Archive der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 430
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Inhaltsverzeichnis
Prolog4
1. Kapitel19
2. Kapitel33
3. Kapitel42
4. Kapitel47
5. Kapitel56
6. Kapitel68
7. Kapitel72
8. Kapitel78
9. Kapitel88
10. Kapitel97
11. Kapitel103
12. Kapitel108
13. Kapitel114
14. Kapitel120
15. Kapitel124
16. Kapitel140
17. Kapitel143
18. Kapitel148
19. Kapitel154
20. Kapitel162
21. Kapitel164
22. Kapitel170
23. Kapitel173
24. Kapitel180
25. Kapitel184
26. Kapitel190
27. Kapitel194
28. Kapitel198
29. Kapitel204
30. Kapitel208
31. Kapitel213
32. Kapitel218
33. Kapitel226
34. Kapitel235
35. Kapitel240
36. Kapitel244
37. Kapitel249
38. Kapitel251
39. Kapitel259
40. Kapitel262
41. Kapitel266
42. Kapitel273
43. Kapitel275
44. Kapitel285
45. Kapitel292
46. Kapitel296
Die Fortsetzung der Seelenwächter:299
Impressum300
Die Archive der Seelenwächter
Der geheime Akkord
Von Nicole Böhm
Prolog
1642 n. Chr. – Carleigh, England.
Andrew Caulfield lag auf dem Bett in seinem Schlafgemach und dachte über die Zukunft nach. Das tat er häufig und gerne, denn nur wer seinen Blick nach vorne richtete, konnte in der Welt etwas bewegen. Und Andrew war dazu auserkoren worden, ganze Berge zu versetzen.
Das hatte er schon als Zehnjähriger erkannt, während er erst der Hure von einer Mutter und zwei Jahre später seinem versoffenen Vater die Kehle durchgeschnitten hatte. In dem Moment, als das Blut über seine noch unschuldigen Hände geflossen war, hatte er gewusst, dass er zu Größerem bestimmt war. Dass er sich aus sämtlichem Elend selbst befreien konnte. Er hatte die Kontrolle übernommen, die ihm von seiner Familie entrissen worden war. Er war zu seinem eigenen Herrscher auferstanden. Er allein war für sich verantwortlich geworden.
Heute – zwölf Jahre später – dachte er gerne an diese beiden Tage zurück. Seine Mutter hatte er in einer abgelegenen Hütte am Waldrand umgebracht. Dort hatte sie ihn regelmäßig mit hingenommen, um ihre Freier zu empfangen. Die Männer hatten meist mehr gezahlt, wenn ein Kind dabei war. Als der Mann gegangen war, hatte Andrew sich das Messer genommen, das seine Mutter stets bei ihren Sachen aufbewahrte, und es getan. Er wollte und konnte nicht länger ertragen, dass sie die Beine für jeden breit machte und ihn dabei zusehen ließ. Später hatte er behauptet, ein Mann hätte sie überfallen.
Der Mord an seinem Vater war ihm noch leichter von der Hand gegangen. Der Alte war viel zu betrunken gewesen und hatte es nicht mal kommen sehen. Andrew hatte zugeschaut, wie sein Körper in sich zusammensackte und alles Leben aus ihm floss. Danach hatte er das blutige Messer an seinem Hosenbein abgewischt, war aus dem Haus marschiert und nie mehr zurückgekehrt. Keiner seiner sechs Geschwister hatte ihn aufgehalten. Alle waren froh gewesen, dass das Martyrium ein Ende hatte, aber keiner hätte je den Mut gefunden, es von sich aus zu tun. Mittlerweile lebten nur noch zwei Schwestern und ein Bruder, und Andrew scherte sich einen Dreck um sie. Der einzige Mensch, der ihm wichtig war, war er selbst.
Zurzeit wurde ihm dies allerdings unnötig erschwert! Die Dinge entwickelten sich nicht zu seiner Zufriedenheit.
Er schnappte sich den Brief von Chadwick, der ihn vor drei Stunden erreicht hatte, und las ihn erneut. Chadwick war vor Kurzem in Andrews Anwesen Gast gewesen und hatte die Vorzüge von Anna – Andrews köstlicher Frau – kennenlernen dürfen. Sie hatte ihn eine ganze Nacht lang mit ihrer Schönheit und Anmut verzaubert; der Mann hätte Andrew am nächsten Morgen seine gesamten Ländereien überschrieben, wenn er darum gebeten hätte. Doch Andrew brauchte nur einen einzigen Gefallen von ihm: Chadwick sollte Andrew John Hampden vorstellen; einem einflussreichen Mann, der im Parlament zu einem der fünf Unterhäuser gehörte. Dummerweise war Hampden nun wegen Hochverrats angeklagt worden: »... mit großem Bedauern muss ich dir mitteilen, dass John nächste Woche vor den Richter treten wird. Ein Treffen wird sich nicht mehr ...«
Andrew zerriss den Brief und warf die Fetzen auf den Boden. »Stümper.« Wenn er gekonnt hätte, hätte er Chadwick einen Kopf kürzer machen lassen! Aber er brauchte den Mann noch. Chadwicks Verbindungen in London waren zu wertvoll. Andrew musste Ruhe bewahren. Wenn nicht Hampden, dann ein anderer Politiker. Andrew würde noch bekommen, was er wollte. So wie bisher auch.
Er musste nur seine Ungeduld zügeln. Wie immer. An manchen Tagen konnte er sie kaum kontrollieren, dann fühlte er dieses übermenschliche Brodeln, das sich unbedingt Bahn brechen musste. Wehe dem, der ihm dabei im Weg stand. Andrew hatte früher jedem dieser Impulse nachgegeben und sich so etliche Wege verbaut. Mittlerweile hatte er gelernt, mit der Ungeduld zu leben. Sie war nicht weg, aber er und sie hatten ein stilles Arrangement getroffen, und Andrew hatte Ventile gefunden, wie er ihr Raum geben konnte.
Er schwang sich aus dem Bett, goss ein Glas Wein ein und lief zu seinem Balkon. Sein Zimmer war nach Westen ausgelegt, sodass er die wohltuende Wärme der Abendsonne genießen konnte. Der Winter stand bevor, die Nächte wurden kühler, und vermutlich würde es in diesem Jahr viel Schnee geben. Er mochte die Kälte, sie hielt den Geist klar und frisch. Genau das, was er brauchte. Er nippte an seinem Wein und blickte über sein Anwesen. Sein Eigentum: Wolveshire Rock.
Andrew hatte nur zwei Jahre gebraucht, um Herr dieser Mauern zu werden. Eine harte Zeit, aber er hatte es geschafft. Der ehemalige Besitzer von Wolveshire Rock lag mittlerweile als ausgedörrte Leiche im Wald verscharrt. Niemand trauerte ihm nach, und wenn, hätte Andrew denjenigen sofort daneben begraben. Er hatte sämtliche Bedienstete gegen loyale Männer und Frauen ausgetauscht. Viele fürchteten Andrew, aber das kümmerte ihn nicht weiter.
Sollen sie ruhig.
Wer oben stehen wollte, hatte keine Freunde. Dank dieser Einstellung hatte Andrew sein Vermögen in den letzten zwei Jahren verfünffacht. Er hatte vor nichts zurückgeschreckt, hatte sich genommen, was er wollte, die entsprechenden Leute bestochen, Konkurrenten aus dem Weg geräumt, reiche Frauen bezirzt, um Gelder lockerzumachen. Jedem anderen hätte es sicherlich genügt, in dieser Gegend so viel Einfluss zu haben; Carleigh war eine kleine und schöne Gemeinde, Wolveshire Rock das größte Anwesen. Andrew könnte sich für den Rest seines Lebens in Frieden niederlassen, ihm würde es an nichts mangeln.
Aber das war nicht er. Es war seine Bestimmung, eines Tages auf einem Thron zu sitzen. Er fühlte es in seinem Blut und in seinem Herzen. Andrew war dafür geboren worden, zu herrschen. Und nichts zwischen Himmel und Hölle konnte ihn stoppen.
Er lehnte sich auf das Balkongeländer und überblickte den Innenhof. Eine Mauer zog sich rings um das Gelände und hielt jeden Eindringling fern. Sollte dennoch jemand versuchen einzubrechen, stieß er auf eine der zahlreichen Wachen, die ständig patrouillierten. Andrew sorgte für die Sicherheit in seinen eigenen vier Wänden. Jeder, der hier weilte, durfte sich dessen gewiss sein, aber natürlich hatte diese Sicherheit auch seinen Preis.
Ein heiteres Lachen erhellte den Innenhof.
Er lehnte sich nach vorne und sah Anna, die mit dem Bäckerssohn Brion plauderte. Er überreichte einer Magd einen Korb mit Brot, und Anna bezahlte ihn dafür. Als Bonus hatte er ihr ein Gebäck geschenkt, das sie lächelnd entgegengenommen hatte. Sie wirkte losgelöst und frei. Ihr Gesicht strahlte mit einer Unbeschwertheit, die Andrew schon lange nicht mehr an ihr erlebt hatte, denn in seiner Nähe kuschte sie ständig.
Bei Brion hingegen wirkte sie locker und offen.
Was fällt dem ein?
Der Bursche war nicht viel älter als Anna, gut gebaut, sehnig, trainiert von der Arbeit in der Mühle. Andrew kannte die Familie, es waren gute Leute, die fleißig ihr Werk verrichteten und nicht auffielen. Der Junge würde sicherlich die Mühle erben. Er – oder einer seiner beiden jüngeren Brüder.
»Gareth«, rief Andrew.
Es dauerte nur einen Augenblick, bis der Diener eintrat. »Ja, Herr?«
»Der junge Brion verlässt gleich unseren Hof. Vermutlich ist er auf dem Weg nach Hause.«
»Er hat die Brotlieferung für die Woche gebracht.«
»Sorge dafür, dass es seine letzte war. Und lass es wie einen Unfall aussehen.«
»Sehr wohl, Herr.«
Gareth wandte sich zum Gehen.
»Warte.« Andrew musste nicht hinsehen, um zu wissen, wo Gareth stand: An der Tür, bereit, seine Befehle zu empfangen. »Sag ihm Grüße von mir und dass er sich besser eine andere Frau zum Anschmachten ausgesucht hätte.«
»Natürlich.«
Die Tür klickte hinter ihm. Andrew lächelte und nippte an seinem Wein. Oh ja, er liebte es, Macht zu haben. Er stellte sich vor, wie Gareth Brion irgendwo zwischen hier und der Mühle abfangen würde. Er würde ihn von der Straße locken, vielleicht einen Unfall fingieren, bei dem er Hilfe brauchte. Und dann, wenn Brion es nicht erwartete, würde Gareth ihm den Schädel einschlagen. Er würde ihm das Geld stehlen, die Kleidung, alles Wertvolle; und dann würde er es so aussehen lassen, als hätten Diebe dieses Werk verrichtet.
Andrew sollte ihm noch sagen, dass Gareth alles behalten konnte und sich einen schönen Abend damit machen sollte. Gareth hatte seine Belohnung verdient. Der Mann war mehr wert als zwanzig seiner Soldaten. Und das Beste: Er tat es nicht wegen des Geldes, sondern aus purer Loyalität. Gareth hatte erkannt, dass er selbst nie den Biss haben würde, sich nach oben zu arbeiten, aber er wusste, an wen er sich halten musste, um sich in der Wärme der Macht zu sonnen. Seite an Seite mit Andrew. Als rechte Hand des Teufels.
Andrew grinste, trank einen weiteren Schluck und sah sich noch mal nach seiner Frau um, die allerdings ins Haus gegangen war. Sollte er ihr später einen Besuch abstatten? Heute war Mittwoch. Der Tag, an dem er sie besonders motivieren musste, weil sie oft ab der Hälfte der Woche träge wurde und ihre Pflichten vernachlässigte. Er könnte seine neue Peitsche ausprobieren, die gestern eingetroffen war. Feinstes geflochtenes Pergament aus Brasilien. Es hatte Andrew ein halbes Vermögen gekostet, um das Stück zu erwerben, aber für seine Frau war ihm nichts zu teuer. Schon beim Gedanken daran, wie sie sich unter den Riemen wand, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Das würde ihn definitiv für den Ärger dieses Tages entschädigen, so viel war klar.
Er ging zurück ins Zimmer, wollte sich ein zweites Mal nachgießen, als er die Unruhe im Hof hörte. Seine Männer waren laut geworden. Andrew war sofort alarmiert. Nicht, weil die Soldaten sich offenkundig mit jemandem stritten, das kam schon mal vor. Sondern wegen der Anspannung in ihren Stimmen. Andrew war erfahren genug, um herauszuhören, wann es ernst wurde.
Er stellte das Weinglas weg, schnappte sich seine Lederjacke und band sein Schwert um. Die Schwere des Metalls an seiner Hüfte erfüllte ihn mit Selbstsicherheit und Stärke. Er liebte Waffen aller Art, seine Kammer war randvoll mit Bögen, Schwertern, Messern, Schlagstöcken, Gewehren und Pistolen aus aller Herren Länder.
Andrew zurrte den Gürtel fester und eilte hinaus auf den Flur.
Talbot kam ihm entgegen.
»Was ist los?«, fragte Andrew.
Der junge Mann war seit einem Jahr bei Andrew angestellt und hatte sich als äußerst tüchtig erwiesen, obwohl er erst sechzehn war.
»Eine junge Frau sorgt für Unruhe, Herr. Sie ist vor dem Tor und möchte mit Euch sprechen.«
»Eine Frau?«
»Ja. Sie ist ...« Talbot stand der Schweiß auf der Stirn, und er war ziemlich blass um die Nase. »Sie hat drei Männer getötet.« Talbot schluckte trocken und wurde immer käsiger im Gesicht.
»Deshalb zitterst du wie ein Weib?«
»Nein, Herr, aber sie hat den Männern die Herzen herausgerissen. Mit bloßen Händen, und dann hat sie ...« Er musste durchatmen, würgte.
»Wenn du dich übergibst, werde ich dir die Zunge herausschneiden.«
»Sehr wohl, Herr.« Talbot straffte die Schultern, riss sich zusammen. »Sie hat die Herzen gegessen. Roh.«
»Was?«
Talbot nickte.
Andrew schüttelte ungläubig den Kopf. Er wusste, dass manche Naturvölker abstrusen Riten folgten, aber von Menschen, die Herzen aßen, hatte er noch nie gehört. Andrew schob sich an Talbot vorbei und eilte durch sein Anwesen. Die Bediensteten sprangen ihm aus dem Weg, verneigten sich, als er sie passierte und gingen sogleich wieder ihren Beschäftigungen nach. Andrew kam an die Steintreppe, rannte nach unten und steuerte auf den Ausgang zu. Die Tore wurden ihm geöffnet, noch ehe er sie erreichte.
Er trat hinaus in den Hof. Es war ruhig geworden, die Soldaten schickten alle Bediensteten hinein. Andrew winkte Gerome heran. Er war der Hauptmann der Wachen und gerade dabei, seine Leute zusammenzurufen.
»Hast du sie gesehen?«, fragte Andrew und ging weiter. Gerome setzte sich sofort an seine Seite, vier Soldaten folgten.
»Sie ist kaum dem Mädchenalter entwachsen.«
»Hat sie wirklich drei der Männer getötet?«
»Und fünf weitere bewusstlos geschlagen. Wir haben sie attackiert, aber sie ... Sie ist weder zu fassen noch zu verletzen. Alles prallt an ihr ab. Sie ist der Teufel.« Er bekreuzigte sich hastig. Andrew rollte mit den Augen und wünschte, der Mann risse sich zusammen.
»Bringt Anna nach unten«, sagte Andrew. Er würde nie eine Gefahr unterschätzen, egal, wie unmöglich sie klang. »Bereite alles für eine rasche Abreise vor. Falls nötig, verschwindet ihr sofort aus dem Schloss.«
Früher hielten die Herren dieses Anwesens Wölfe und ließen sie durch die Gänge hinaus in die Wälder, damit sie jagen konnten. Die Gänge gab es noch immer, Andrew hatte sie sichern lassen. Niemand von außen konnte sie einsehen, weil sie geschickt verborgen in die Schlossmauern eingebaut waren. Es war ein heimlicher Fluchtweg, den er sich für Notfälle offenhielt.
Gerome bellte seinen Männern Befehle zu, zwei lösten sich von dem Trupp, wurden aber sofort von zwei neuen ersetzt, sodass Andrew volle Rückendeckung hatte. Er war zufrieden. Aber er zahlte ja auch genug dafür.
Die große Pforte war üblicherweise mit einer massiven Eisentür verschlossen, die über fünf Riegel gesichert war. Entweder konnte man das gesamte Tor öffnen, sodass Kutschen hindurchpassten, oder eine kleine Tür, die rechts eingebaut war. Andrew deutete mit einem Kopfnicken auf diese, und sofort ließ ihn einer seiner Männer hindurch.
Die Sonne stand tief und strahlte ihm ins Gesicht, als er hinaustrat. Um diese Jahreszeit hielt sie diese ungünstige Position, und Andrew hatte sich sogar überlegt, die Eingangspforte verlegen zu lassen. Aber das Schauspiel dauerte nur wenige Minuten und kam auch nur in den Herbstmonaten vor. Die Kosten für einen Umbau waren ihm im Moment zu hoch.
Jetzt bereute er, dass er es nicht längst hatte machen lassen. Das Mädchen hatte die perfekte Zeit abgewartet, um mit ihm zu sprechen.
Er trat durch die Tür, hielt den Blick leicht gesenkt, um nicht zu sehr von der Sonne geblendet zu werden, und sah sich um.
Das Mädchen stand inmitten der drei Leichen und leckte sich die Finger sauber. Tatsächlich waren die Brustkörbe der Männer aufgerissen, ein halbes Herz lag auf dem Boden. Überall war Blut, ein reines Massaker.
Das Mädchen hatte lange schwarze Haare und trug ein hellbeiges Kleid, das über und über besudelt war. Ihr selbstgefälliger Gesichtsausdruck verriet allerdings, dass es sie nicht störte.
»Ah, da ist ja der große Herr und Meister.« Sie hörte auf, ihren Finger abzulutschen und verneigte sich äußerst elegant vor ihm. »Ich grüße dich, Andrew Caulfield.«
Andrew war bekannt in der Gegend. Es war ein Leichtes für sie, seinen Namen herauszufinden. »Was willst du?«
»Mein Name ist Coco, und ich bin gekommen, um dir ein Angebot zu machen.«
Andrew trat näher, behielt die Kleine im Visier. Ihre Pupillen waren fast schwarz, ihre Haut war so ebenmäßig und weiß, als bestünde sie aus Porzellan. Auf den ersten Blick mochte dieses Mädchen harmlos wirken. Doch Andrew spürte ihre Verschlagenheit, er erkannte das Böse in ihren Augen, denn es war dasselbe Funkeln, das ihm morgens im Spiegel entgegenblickte. Sie beide waren aus dem gleichen Holz geschnitzt. Eine ebenbürtige Gegnerin. Die traf er selten.
»Welches Angebot?«
»Das werde ich nur unter vier Augen mit dir besprechen.«
»Nein.«
Sie seufzte genervt. »Ich kann auch gerne all deine Männer töten und jeden, der hier lebt. Bis auf deine wundervolle Frau natürlich. Die kostbare Perle ist tabu.«
Ah, sie war also an Anna interessiert. Nicht die Erste.
Langsam umrundete er Coco. Sie blieb ruhig stehen, fühlte sich nicht im Geringsten von ihm bedroht.
»Es liegt an dir, wie schnell wir das hinter uns bringen, weißt du?« Coco pulte an ihrem Fingernagel herum und kratzte das getrocknete Blut herunter. »Deine Leute können mir nichts anhaben, haben sie dir das nicht erzählt?«
»Doch.«
»Aber du willst erst noch das Bein heben und die Grenzen abstecken; mir zeigen, was für ein toller Mann du bist. Nur zu. Spiel dich auf, droh mir, du kannst auch gerne deinen besten Mann auf mich hetzen. Ich bin für alles offen.«
Das Weib gefiel ihm, das musste er zugeben. Er witterte nicht die geringste Angst an ihr.
»Wenn du genug gespielt hast, sag Bescheid, dann können wir über die wichtigen Themen plaudern.«
Andrew blickte auf die Leichen seiner Männer. Sie sahen aus, als hätte ein Raubtier seine Klauen in ihnen versenkt. Die halbe Brust war aufgerissen. »Ich bin neugierig, das muss ich zugeben.«
»Sehr gut.« Coco klatschte in die Hände und drehte sich zu ihm. »Dann lass uns reingehen, ein Glas Wein trinken und übers Geschäft plaudern. Kochen musst du nichts, ich bin satt.«
»Ich werde dich nicht in meine vier Wände einladen, wenn ich nicht weiß, wer du bist.« Andrew würde nicht das Böse in sein Haus lassen. Er gab zwar einen Scheiß auf Gott oder seine Gesetze. Er glaubte weder an die Hölle noch an den Himmel. Aber er wusste, dass es Dinge auf dieser Erde gab, die nicht mit dem normalen Verstand zu begreifen waren.
»Ach, das ist doch albern.« Coco stieg über die drei Männer hinweg und lief Richtung Schloss. Sofort bauten sich Andrews Soldaten vor dem Tor auf, bereit, es jederzeit zu verteidigen. Coco blickte über ihre Schulter zu Andrew. »Brauchst du die noch?«
Ehe er antworten konnte, fuhr sie herum und riss dem ersten Mann den Kopf ab.
Andrew zuckte zusammen. Noch nie hatte er jemanden gesehen, der derart übermenschliche Kräfte besaß! Die Soldaten attackierten sie umgehend, aber Coco tanzte regelrecht zwischen ihnen hindurch, schlug dem nächsten so fest gegen das Bein, dass sein Knie nach hinten wegbrach, einen weiteren Mann zerrte sie an sich und biss ihm die Kehle heraus. Sie lachte, freute sich über das Chaos, das sie verbreitete.
Schon bald waren die Männer tot und Coco in Blut getaucht. Sie wischte sich über den Mund, verschmierte es nur noch mehr und drehte sich wieder zu Andrew herum. Dann trat sie rückwärts über die Schwelle seines Anwesens und breitete die Arme aus.
Sie brauchte keine Einladung. Sie konnte sich nehmen, was sie wollte. Und sie würde nicht eher gehen, bis sie es besaß.
»Und?«, rief sie. »Kommst du rein, oder muss ich ohne dich feiern? Das fände ich sehr bedauerlich.«
Andrew knurrte und setzte sich in Bewegung. Das Mädchen führte ihn vor. Sie machte sich über ihn lustig, und er konnte rein gar nichts dagegen tun.
Womöglich konnte dieser Besuch doch unangenehmer werden, als er glaubte ...
Eine Stunde später saßen er und Coco an der langen Tafel im Speisesaal. Andrew hatte seinen besten Wein auftischen lassen, an dem Coco genüsslich nippte. Er hatte ihr sogar ein frisches Kleid angeboten, doch sie hatte abgelehnt und sich nur das Gesicht mit Wasser gewaschen. Andrew hatte das Gefühl, dass sie das nur seinetwegen getan hatte, in Wirklichkeit störte sie es nicht im Ansatz, das Blut ihrer Feinde auf der Haut zu tragen. Ganz im Gegenteil.
»Also?«, fragte er. »Was willst du mir für ein Angebot machen?«
»Wie bibelfest bist du?«
Andrew hatte früher mit seinem Vater zum Gottesdienst gemusst und es abgrundtief gehasst. Der Mann hatte nach außen hin den rechtschaffenen Bürger gemimt und sobald sie zu Hause waren Schläge verteilt. »Ich denke, ich kenne mich genügend aus«, gab er zurück.
»Dann weißt du sicher auch von David und Saul.«
»Dazu gehört nicht viel.« Der große David, der den Riesen Goliath bezwang.
»Weißt du auch, dass Saul unter Depressionen litt und David eine einzigartige Gabe besaß, diese zu heilen?«
»Das ist mir scheißegal. Komm zum Punkt.«
Coco grinste, tat seinen Einwand aber mit einem Schulterzucken ab.
Sie macht sich über mich lustig!
Er ballte die Hand zur Faust. Sein Arm streifte das Schwert, das er nach wie vor trug.
Coco bemerkte seine Bewegung und beugte sich über den Tisch. »Ich dachte, wir hätten unsere Grenzen gezogen: Du kannst mich nicht töten! Du kannst es versuchen, aber das wäre eine Verschwendung von deiner und meiner Zeit. Also schlucke besser deinen männlichen Stolz hinunter und hör dir an, was ich dir zu erzählen habe.«
Andrews Oberlippe zuckte. Ein Zeichen, dass er kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren.
Coco gab ihm eine Minute, in der sie ihn nur anstarrte. Ohne Provokation. Nur wartend.
»Weiter«, stieß er durch zusammengepresste Zähne heraus.
Sie lehnte sich wieder zurück. »David nutzte für die Heilung von Saul eine Harfe. Immer wenn er spielte, ging es dem König besser, und die bösen Geister ließen von seiner Seele ab. Doch auf Dauer war das nicht genug. David bemerkte, dass er mit gewöhnlichen Melodien nicht in Sauls Kopf vordringen konnte, und so komponierte er eines Tages ein Lied für ihn. Er erschuf ein einzigartiges Werk, das einen geheimen Akkord enthielt. Kein Mensch hatte diese Noten je zuvor gehört oder gespielt, und keiner hat es nach ihm wieder getan.«
Andrew nestelte am Kragen seines Hemdes. Am liebsten wäre er über den Tisch gesprungen, hätte diesem Weib den Kopf auf die Platte gedonnert und ihr gezeigt, was er von dieser Geschichte hielt.
»Deine Ungeduld wird dich eines Tages ins Grab bringen, weißt du?«, sagte Coco, doch sie fuhr fort: »David konnte diesen geheimen Akkord nur spielen, weil er aus einer ungewöhnlichen Blutlinie abstammt. Alle paar Generationen zeigt sich eine Gabe, die diesen Menschen ein einzigartiges Gefühl für Musik verleiht. Der Ursprung dieser Blutlinie geht auf einen weiblichen Engel zurück, der menschlich wurde. Ihr Name war Sophia. Sie hatte vor vielen tausend Jahren ihre Engelsnatur aufgegeben, um diese Blutlinie zu erschaffen.«
»Warum?«
»Das spielt keine Rolle für dich. Für uns ist im Moment nur eines wichtig: Wir benötigen die Harfe und das Lied, das David für Saul komponiert hat. Außerdem brauchen wir einen Nachfahren – so wie David einer war –, der all diese Dinge vereinen kann.«
»Und dann? Willst du alle Menschen von Depressionen heilen?«
Coco warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Nein. Ich will jemanden befreien, der unrechtmäßig eingesperrt wurde. Ihr Name ist Lilija. Sie wurde von ihresgleichen verraten und betrogen, und mit deiner Hilfe werde ich sie zurückholen. Die Harfe allein ist ein mächtiges Instrument. Aber wenn das Lied gespielt wird, entfacht das Mächte, die jenseits dieser Welt existieren.«
»Ich weiß allerdings noch nicht, warum du mich benötigst.« Doch er hatte eine Ahnung: ›Die kostbare Perle ist tabu.‹« Anna musste eine der Nachfahren sein. Es machte durchaus Sinn. An dem Tag, als sie sich kennenlernten, hatte sie ihn völlig mit ihrem Gesang verzaubert, und auch heute besaß sie eine unvergleichbare Eleganz und Anmut. Wenn jemand von einem Engel abstammte, dann sie.
»Du hast Anna«, sagte Coco, die begriffen hatte, dass Andrew alles kombinierte. »Hol mir die Harfe. Ich werde mich um die Noten kümmern.«
»Und dann? Befreist du deine Freundin und freust dich deines Lebens. Was habe ich davon?«
»Ich werde dich nicht umbringen.«
Andrew grinste. »Das wirst du sowieso nicht, denn sonst hättest du es schon getan. Du hättest hier reinmarschieren und dir Anna einfach nehmen können, aber nein: Du brauchst mich. Warum willst du, dass ich die Harfe beschaffe? Warum machst du es nicht selbst?«
Cocos Blick wurde dunkler, aber auch weicher. Zum ersten Mal zeigte sie eine leichte Furcht. »Ich habe Feinde. Sehr mächtige Feinde. Ich muss mich versteckt halten.«
»Wer sind sie?«
Coco schürzte die Lippen.
»Wenn ich dir helfen soll, will ich wissen, mit wem oder was ich es zu tun habe.«
»Seelenwächter.« Coco spuckte das Wort förmlich heraus. »Und die Sapier. Das ist ein Geheimbund, der sich geschworen hat, alle Nachfahren Sophias zu schützen.«
»Noch nie gehört.« Weder das eine noch das andere.
»Sie halten sich im Verborgenen und schützen die Menschen vor den Dämonen des Schattens. Ihre Fähigkeiten ziehen sie aus den vier Elementen: Feuer, Erde, Wasser, Luft. Aber sie sind selbstgefällig und engstirnig. Sie waren es, die Lilija eingesperrt haben.«
»Sie ist auch eine Seelenwächterin.«
»So ist es.«
»Und deine Geliebte?«
Coco lachte hell und beißend. »Mach dich nicht lächerlich. Es gibt so viel mehr auf Erden als fleischliche Genüsse.«
Das sagten nur Menschen, die keine Ahnung hatten.
»Lilija ist seit Jahrtausenden eingesperrt. Ich habe geschworen, sie zu befreien, und die Harfe Davids wird mir dabei helfen. Genau wie deine wundervolle Frau.«
»Ich verstehe nach wie vor nicht, warum du es nicht selbst machst. Ich habe eher das Gefühl, dass du mich ins offene Messer laufen lassen willst.«
»Na schön. Ich sehe, dass ich dir etwas geben sollte, ehe du einwilligst«, sagte sie. »Es passierte vor etwa tausend Jahren. Da wurde die letzte mir bekannte Nachfahrin mit der Gabe geboren: Ihr Name war Rasha. Ich hatte sie in meiner Gewalt, doch die Seelenwächter funkten mir dazwischen. Allen voran: Ilai. Er ist einer der mächtigsten Seelenwächter dieser Erde. Wir kämpften mit allen Mitteln, es war ein einziges Inferno, das ich fast gewonnen hätte, doch die verdammten Sapier rotteten sich zusammen und bündelten ihre Macht. Sie nutzten die Kraft Sophias und raubten mir damit fast den Verstand. Das war nicht unser erster Kampf, auch bei David am Hofe damals war ich sehr nah an meinem Ziel, aber die Sapier drängten mich zurück. Nur mit allerletzter Kraft konnte ich fliehen und brauchte fast dreihundert Jahre, ehe ich mich vollständig regenerierte. Gegen eine Partei zu kämpfen, ist schwer genug, aber wenn sich die beiden zusammentun, habe ich kaum eine Chance. Ehe ich mich ein drittes Mal mit ihnen anlege und womöglich endgültig unterliege, werde ich mir Hilfe holen. Nur Narren denken, sie können alles alleine bewältigen.«
»Was sollte ich gegen sie ausrichten können, wenn nicht mal du es schaffst?«
»Weil du ein Mensch bist. Die Seelenwächter selbst können keine Menschen töten, das verbietet ihnen ihre Moralsperre.«
»Aber die Sapier schon.«
»Ja, doch sie sind schwach zurzeit.«
»Warum? Wo liegt das Problem?« Andrew musste alles wissen, wenn er in den Kampf ziehen sollte.
»Wo es immer liegt, wenn Menschen zu viel Macht erlangen: Einer will mehr vom Kuchen als der andere. Die Sapier mögen sich die Macht Sophias zunutze machen, aber sie sind gewöhnliche Menschen und als solche anfällig für die Kraft, die ihnen zu Füßen liegt. Nur so konnte ich deine Frau Anna finden. Normalerweise beschützen die Sapier alle Nachfahren mit der Gabe und decken sie mit einem Zauber, aber Anna ist zurzeit ohne Schutz – was bedeutet, dass die Sapier nicht in ihrer vollen Stärke agieren.«
»Kann ich die Sapier erkennen? Würden sie sich mir zeigen?«
»Sie haben alle weiße Haare und reden recht geschwollen, aber normalerweise mischen sie sich nicht in die Leben der Nachfahren ein. Sie sollen sie lediglich vor mir beschützen.«
»Was ist mit den Noten?«
»Lass das meine Sorge sein. Ich bin nahe dran, sie zu finden.«
Andrew strich sich über das Kinn und dachte über alles nach.
Ein gutes Angebot. Ein sehr verlockendes Angebot. Nur eine Sache war noch offen: »Du hast mir noch nicht verraten, was für mich dabei herausspringt.«
»Das, was du dir wünschst: Macht. Die Harfe, nur für sich genommen, ist ein Schatz, der deine kühnsten Träume übersteigt. Derjenige, der ihre Saiten spannt, darf über sie verfügen. Sie hat die Kraft, den menschlichen Geist zu beeinflussen und Dinge in die Realität zu holen, die vorher nicht da waren. Du willst den Thron von England? Die Harfe wird dafür sorgen, dass die Weichen des Schicksals so gestellt werden, dass du ihn erhältst. Die Menschen werden sich deinem Willen fügen und dir hörig sein. Dir wären keine Grenzen gesetzt.«
»Und dafür brauche ich nur die Harfe? Was, wenn ich auch dieses Lied spielen will? Das mit dem geheimen Akkord.«
»Das würde deinen Geist überfordern, glaub mir, denn wird es nicht richtig gemacht, kannst du damit die Gesetze der Natur aushebeln. Du könntest das reine Chaos heraufbeschwören: Naturkatastrophen, eine Sonnenfinsternis. Du hättest rein gar nichts von dieser Macht, denn es wäre niemand da, der dich vergöttern könnte. Ich weiß, dass es verlockend ist, den ganzen Kuchen zu nehmen, aber in diesem Fall wirst du ihn nicht verdauen können.«
Das bliebe natürlich abzuwarten. Coco könnte ihn auch anlügen, um alles für sich zu beanspruchen. Aber Andrew würde mitspielen, und sobald er alles beisammen hatte, würde er sich nehmen, was er wollte.
»Wo ist die Harfe? Ich brauche einen Anhaltspunkt.«
»Du bist also dabei.«
»Möglich.«
Sie nickte zufrieden. »Im Moment in Spanien, vermute ich. Ich werde dir alles zur Verfügung stellen, was ich darüber weiß.«
Andrew hob den Weinkelch und schwenkte den Inhalt sachte. Er war es gewohnt, Entscheidungen schnell zu treffen, und im Grunde hatte er an Cocos Haken gebaumelt, als sie ihm ihre Macht demonstriert hatte.
Dieses Angebot könnte genau das sein, was er brauchte. Das, worauf er gewartet hatte.
»Na schön.« Er hob seinen Kelch und prostete dem Mädchen zu: »Ich bin einverstanden. Ich werde dir helfen.«
Sie tat es ihm gleich, stieß mit ihm an und trank mit ihm auf ihre neue Zusammenarbeit.
»Willkommen in meiner Welt.«
1. Kapitel
Eine Woche vor heute.Annecy. Frankreich.
»Herr, wenn Ihr das lest, werde ich lange nicht mehr unter Euch weilen. Ich hoffe, Ihr seid gut im neuen Leben angekommen und findet diese Worte wohlbehalten. .... Ihr solltet Euch setzen, denn was ich Euch zu erzählen habe, wird sehr lange dauern.«
Andrew sah auf den Brief, den Gareth ihm geschrieben hatte. Sein ehemaliger Diener. Sein Freund. Sein Vertrauter. Gestorben vor fast vierhundert Jahren.
Wer hätte je gedacht, dass sie unter diesen komischen Umständen wieder voneinander hören sollten? Andrew in einem Körper, der nicht mehr der seine war, in einer Zeit, die seiner eigenen weit vorausgeschritten war – und Gareth schon lange tot, aber nicht vergessen. Dafür hatte er sich hier in Frankreich ein kleines Imperium geschaffen. Andrew war extra von Kanada nach Annecy gereist und auf die Familie Girard gestoßen. Die Nachfahren Gareths, die über all die Jahre sein Erbe aufrechterhalten hatten und Andrew nun daran teilhaben ließen.
So wie Andrew einen Weg ins Leben gefunden hatte, hatte auch Gareth seine Mittel eingesetzt, um nicht vergessen zu werden. Er hatte in der Nähe von Annecy ein beeindruckendes Heim geschaffen und durch seine Nachfahren einen eigenen kleinen Geheimbund gegründet. Und Gareths Familie hatte all diese Zeit gewartet, bis Andrew zurückkehren würde. Sie war ihm nach wie vor treu ergeben; nach wie vor bereit, alles für ihn zu tun.
Er blickte zu Mary-Ann auf. Sie hatte ihn vorhin in Empfang genommen und ihn bis in den Salon begleitet. In dem antiken Ambiente des Raumes wirkte sie, als wäre sie nur für diese Kulisse erschaffen worden. Sie trug ein maßgeschneidertes Kostüm, ihre blonden Haare saßen perfekt gestylt, nicht eine Strähne verirrte sich. Ihre Aura war dunkel und kühl und versprühte eine distanzierte Erhabenheit, wie Andrew sie manchmal gerne an Gareth gesehen hätte. Seine Nachfahren waren definitiv selbstbewusster als er, vermutlich, weil sie ein großes Erbe auf ihren Schultern trugen.
»Wie viele gibt es in deiner Familie?«, fragte Andrew Mary-Ann.
»Louis, mein Vater, und Romaine, meine Mutter. Außerdem habe ich einen jüngeren Bruder: Fabrice. Er ist im oberen Stockwerk, meine Eltern warten in Paris. Wir wollten dich nicht überfordern, daher wurde ich ausgewählt, um mit dir in Kontakt zu treten.«
»Weil du eine scharfe Frau bist?«
»Das ist sicherlich hilfreich.«
Es war ein merkwürdiges Gefühl für Andrew. Diese Menschen waren Gareths Verwandte, dem Einzigen, dem Andrew blind sein eigenes Leben anvertraut hätte. Gareth hatte beinahe alles über ihn gewusst, auch dass Andrew von Coco verraten worden war.
Und das, obwohl er alles getan hatte: Er hatte sein Versprechen eingehalten und die Harfe beschafft, und als sie sich ein zweites Mal getroffen hatten, hatte Coco Anna zu sich zitiert. Sie hatte sie angeblickt und zu Andrew gesagt, dass er die Gabe in ihr zerstört hatte und alles umsonst gewesen sei. Danach war sie einfach gegangen und hatte ihn zurückgelassen. Er hatte natürlich versucht, die Harfe einzusetzen, auf ihr gespielt, die Saiten abgezogen und wieder aufgespannt, aber es war rein gar nichts passiert – obwohl er sich sicher war, das richtige Instrument zu besitzen. Entweder hatte Coco gelogen, oder ihm ein wichtiges Detail vorenthalten. Dummerweise wurde ihm kurze Zeit danach auch die Harfe gestohlen. Andrew hatte stets Anna verdächtigt, aber er hatte nie das Wissen aus ihr herausbekommen, und Coco war ebenfalls wie vom Erdboden verschluckt geblieben. Andrew war wieder auf sich alleine gestellt gewesen. Bis schließlich Ananka – eine uralte Heilerin – bei ihm aufgetaucht war und ihm ein zweites Leben angeboten hatte.
Dieses Leben.
Ananka hatte ihn gewarnt, dass er bald sterben würde und es nie schaffen sollte, sein Lebenswerk zu vollenden. Zumindest nicht in diesem Körper. Andrew wollte auch sie zum Teufel jagen, aber Ananka hatte – wie Coco – sehr gute Argumente vorgebracht, und so hatte er eingewilligt.
Mit Gareth hatte er alle Vorkehrungen getroffen: Andrew hatte eine Kirche in Annecy mitfinanziert, damit dort in der Krypta seine Gebeine sicher verwahrt werden konnten. Gareth und er suchten weiter nach der Harfe, aber Andrews Schicksal sah nicht vor, dass er lange genug leben sollte: Eines Nachts wurde er in seinem eigenen Bett erstochen.
Von Anna. Seiner Ehefrau ...
Zum Glück hatte Ananka, anders als Coco, Wort gehalten. Sie hatte Andrews Seele nach seinem Tod konserviert und diese anschließend in den Körper gesteckt, in dem er nun wohnte. Ein wahres Wunder, das er nicht richtig verstand, obwohl er es hautnah durchlebte.
Andrew streckte seinen Arm aus und betrachtete die junge Hand, die nun die seine war.
Zachary Wolf.
Ein enger Freund von Jessamine Harris, die wiederum bei den Seelenwächtern lebte und direkten Kontakt zu Anna pflegte. Ananka hatte den Wirtskörper weise gewählt. Dennoch wünschte Andrew, er hätte einen bekommen, der nicht so lächerlich infantil wirkte. Zac war ein Schwächling: dürr, untrainiert, jung.
Zum Glück hatte Andrew sich mittlerweile ein paar Muskeln zulegen können. Nicht zu viel, denn es durfte nach wie vor nicht auffallen, dass Zac nicht mehr da war.
Aber bald.
Andrew sah auf die Bücher, die vor ihm lagen. Eine Menge Stoff. Fünf Wälzer, voll mit Gareths Handschrift. Er hatte seine Arbeit akribisch festgehalten. Andrew klappte das erste Buch auf und las den Eintrag, der alles einläutete.
»1. Januar 1653. Es fällt mir mehr als schwer, diese Zeilen zu schreiben, und ich hoffe, mein Mut reicht aus, dies festzuhalten: Beatrice hat Euch heute Morgen tot in Eurem Bett aufgefunden. Stichwunde. Mitten ins Herz. Ich kann nicht einmal annähernd in Worte fassen, wie ich mich fühle. Als ich Euren Leichnam sah, das Blut auf den Laken, Euren erstarrten Gesichtsausdruck, war es, als hätte jemand mein Herz durchstochen. Ein Teil von mir ist mit Euch gestorben.
Ich hatte jeden aus dem Zimmer geschickt, den ganzen Tag bei Euch verweilt und gehofft, dass dies nur ein Traum sei, doch am Abend ward Ihr weiterhin fort, und ich musste der Realität ins Auge blicken: Ich hatte Euch verloren. Meinen Freund. Meinen Bruder. Alles, was ich hatte.
Wer auch immer Euch das angetan hat, wird dafür büßen. Ich werde denjenigen finden, ihn aufknüpfen und ihn an seinem Blut ersticken lassen. Ich werde Euch rächen, Herr. Ich schwöre es ...«
Andrew blickte auf und strich über die Seiten. Der Tag seines Todes. Hautnah. Durch Ananka war er darauf vorbereitet gewesen, und er hatte sich nicht davor gefürchtet. Er hatte sogar versucht, Anna abzuwehren, aber sie war zu schnell für ihn gewesen. Zu stark. Heute wusste Andrew, dass es an ihrer Seelenwächternatur gelegen hatte.
Er musste aufpassen, dass es kein zweites Mal passierte. Denn diese Chance war seine letzte. Ananka würde ihn gewiss nicht erneut zurückholen.
Andrew las weiter. Gareths Eintragungen in den nächsten Tagen waren gefüllt mit Trauer und den Vorbereitungen für Andrews Beisetzung. Er hatte seinen Leichnam erst in Wolveshire Rock aufgebahrt, bis die Kirche in Annecy fertiggestellt gewesen war. Wie Andrew wusste, lagerten seine Gebeine mittlerweile hier im Haus. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in einem neuen Körper zu stecken und den alten in der Nähe zu wissen. Er wollte ihn unbedingt noch sehen, aber erst musste er mehr erfahren.
Andrew überflog die folgenden Einträge, denn sie waren ihm zu emotionsgeladen. Womöglich hatte Gareth auch mehr für Andrew empfunden, als ihm damals klar gewesen war. In seiner Zeit hatte Gareth kein Weib gehabt, vielleicht hatte er auf eine Liebe gehofft, die unerwidert bleiben musste. Andrew sah zu Mary-Ann. Gareths Nachfahrin. Das mit dem Weib hatte er ja dann doch noch hinbekommen.
Andrew blätterte das gesamte Buch durch, aber es blieb weitgehend uninteressant. Vieles drehte sich um den Bau der Kirche in Annecy und wie sich die politische Lage im Land entwickelte. Andrew konnte das mittlerweile auch mit Leichtigkeit im Internet nachlesen, aber Gareth wollte wohl alles so gut wie möglich für Andrew festhalten. Er wusste, wie detailverliebt er war, und er hatte damals schlecht ahnen können, wie rasant sich die Technologie in der Welt entwickelte. Noch ehe er ganz mit dem Buch durch war, schob Mary-Ann ihm das zweite hin.
»26. August, 1655. Der Duke von Cornstone hat uns heute ein Angebot zum Kauf von Wolveshire Rock vorgelegt, doch ich habe abgelehnt. Es war äußerst klug von Euch, mir sämtliche Verfügungsgewalt zu übertragen, denn Eure Berater hätten sofort zugestimmt. Aber noch kann ich mich nicht von diesen Wänden trennen, noch erinnert mich zu viel an Euch. Leider verläuft die Suche nach Euren Mördern weiterhin stockend. Ich konnte keinerlei Hinweise finden, wer oder was Euch getötet hat. Manchmal glaube ich fast, es wäre ein Geist gewesen.«
»Nah dran, Gareth. Nah dran.«
»Dafür habe ich heute einen Mann namens Philippe getroffen, der mir einiges über die Nacht, in der Eure Tochter zur Welt kam, erzählen konnte. Es hatte lange gedauert, Philippe aufzuspüren, denn er ist ein fahrender Händler und war schon unten an der Küste. Philippe erklärte mir, dass er in der Nacht am Schloss vorbeigefahren sei und drei Frauen bemerkt habe. Sie hatten weiße Haare, und eine der Frauen trug ein Baby in Stoff eingewickelt bei sich. Er ist sich sicher, dass es ein Baby war, denn er hörte sein Wimmern. Philippe wollte erst nicht über diese Nacht berichten, doch mit der richtigen Bezahlung wurde er redselig. Er gab mir eine genaue Beschreibung von den dreien und erklärte mir, dass eine das Kind und die beiden anderen die Harfe weggebracht haben. Er sagte außerdem, dass Anna ebenfalls noch mal aufgetaucht war und mit ihnen redete. Ich lasse nun nach diesen Menschen suchen.«
»Sapier«, sagte Andrew. Sie hatten also die Harfe und sein Kind an sich genommen. »Natürlich.« Mittlerweile wusste er alles über den Bund. Jess hatte ihn eingehend aufgeklärt, als sie sich vor ein paar Tagen zufällig am See getroffen hatten. Es war die Nacht gewesen, in der sie ihren Freund Zac in die Welt der Seelenwächter mitnahm und ihm erläuterte, wie sie mit Anna verwandt war. Eine Sapierin namens Aimee hatte damals Andrews leibliche Tochter mit einer Totgeburt vertauscht. Wenn sie zu dritt gewesen waren, musste Anna den anderen beiden den Schlüssel zur Kammer gegeben haben. Sein Eheweib hatte ihn gleich zweimal hintergangen und ihm nicht nur sein Kind vorenthalten, sondern ihn auch beraubt.
Andrew wühlte sich weiter durch die Seiten und nahm jedes Wort von Gareth auf.
»11. April 1661. Das wechselnde Wetter macht meinen Gelenken zu schaffen, ich spüre jeden Schritt, den ich zu viel mache, aber ich möchte Euch nicht unnötig mit meiner Krankengeschichte langweilen.«
»Das ist zu freundlich.« Es interessierte ihn auch nicht. Gareth war schließlich schon lange tot.
»Ich habe Diana Blythe gefunden, eine der Menschen, die die Harfe gestohlen haben. Es hat gedauert, bis ich sie zum Sprechen brachte, doch schließlich entlockte ich ihr, dass die Harfe ein mächtiges Instrument sei, mit dem Ihr Euch sämtliche Wünsche erfüllen könnt. Ihr müsst lediglich die richtigen Saiten einspannen und darauf spielen. Dann könnte euch die Welt zu Füßen liegen.«
Andrew ballte die Hand zur Faust und schüttelte den Kopf. »Das habe ich versucht, aber es geschah rein gar nichts.«
»Weil du nicht die richtigen Saiten hattest«, sagte Mary-Ann. »Lies weiter, es wird sich klären.«
Er sah sie stirnrunzelnd an, nahm das Buch und fuhr fort.
»Von Diana erfuhr ich noch, dass sie selbst zwei Saiten der Harfe besitzt. Ich habe sie mittlerweile an mich genommen. Bedauerlicherweise erzählte mir Diana nicht, wo die Harfe versteckt war. Sie behauptete vehement, es nicht zu wissen, sagte aber – kurz bevor sie leider durch die Folter starb –, dass die Saiten und die Harfe sich gegenseitig anzogen, sobald sie nahe genug waren. Ich werde also weitersuchen.«
Andrew blätterte um. Gareth berichtete, wie er den Spuren folgte, wie er zehn Jahre jedem Hinweis hinter herjagte. Andrew war es damals ähnlich ergangen. Er selbst hatte die Harfe – wie von Coco angenommen – in einem abgelegenen Schloss in Spanien gefunden. Da sich der Herr des Hauses nicht kooperativ gezeigt hatte, brannte Andrew alles nieder und hinterließ keine Überlebenden.
»20. Juli 1671. Ich habe einen Hinweis gefunden. In den Karpaten in Rumänien gibt es angeblich ein verfluchtes Tal, in dem weitere Saiten der Harfe versteckt sein sollen und eine Anleitung, wie diese einzusetzen sind. Jeder hat mir davon abgeraten, dorthin zu gehen, doch die Erzählungen schrecken mich nicht. Ich werde in einem Monat mit zwanzig meiner besten und treuesten Männer abreisen. Meine Glieder schmerzen schon beim Gedanken an die lange Reise, aber ich werde meine Mission erfüllen. In meiner Abwesenheit wird Francesca, meine Frau, sich um unseren Umzug von Wolveshire Rock nach Annecy kümmern. Dieser Schritt ist mir sehr schwergefallen, aber ich denke, dass es das Beste für mich sein wird. Das Klima in Annecy ist angenehmer, und ich kann näher bei Euch sein, denn Ihr fehlt immer noch, wenn ich durch die Gänge von Wolveshire Rock streife. Das Schloss werde ich den fähigen Händen meines ersten Verwalters überlassen. Ich vertraue ihm vollkommen, er wird gut darauf aufpassen.«
Mittlerweile existierte Wolveshire Rock nicht mehr. Es war etwa hundert Jahre später eingenommen und bis auf die Grundmauern niedergerissen worden. Eine Schande, aber so war nun mal der Lauf der Zeit.
Andrew blätterte die nächste Seite um und las über Gareths Reise. Es dauerte fast ein Dreivierteljahr, bis der Trupp es endlich in die Karpaten geschafft hatte. Unterwegs wurden sie etliche Male aufgehalten. Entweder von Dieben, die sie überfielen, oder durch zu starke Unwetter. Ihre Reise stand unter keinem guten Stern, und Gareths Einträge wurden von Mal zu Mal mürber.
»2. Februar 1672. Seit fast zwei Monaten haben wir keine Sonne mehr gesehen. Die Welt ist in einen trüben Nebel getaucht, der Boden gefroren, unsere Kleidung bleibt klamm und nass. Wir kommen nur langsam voran und mussten zwei Pferde gegen neue austauschen, weil sie zu entkräftet waren. Die Moral der Männer sinkt mit jedem Tag, den wir unterwegs sind. Drei wollten schon umkehren, noch aber ist das Geld, das ich ihnen versprochen habe, Grund genug, zu bleiben. Ich fürchte, das wird sich ändern, sollte diese Reise unangenehmer werden.
15. März 1672. Der neue Wintereinbruch macht uns zu schaffen. Wir müssen uns durch metertiefen Schnee kämpfen, die Temperaturen sind eisig, und wir bekommen nachts die Zelte kaum warm. Seit einer Woche haben wir keine anderen Menschen mehr getroffen, es scheint, als wären wir in einer unwirklichen Welt gefangen, in der außer uns und diesem Schnee nichts mehr existiert.
21. März 1672. Heute kam es zum Streit unter den Soldaten. Vier ließen ihr Leben, zwei wurden so schwer verletzt, dass wir sie nicht mehr mitnehmen können. Ich habe ihnen eine Waffe dagelassen. Sie sollen selbst entscheiden, wann sie ihrem Elend ein Ende bereiten möchten. Gestern Nacht hat es ein weiteres Mal geschneit, und ich bin mir nicht mehr sicher, ob die Gerüchte um dieses verfluchte Tal nicht doch stimmen könnten und wir auf dem Weg in unseren Untergang sind. Vielleicht ist es auch nur die Magie der Sapier, die uns das Vorankommen erschwert.
24. März 1672. Es hat wieder geschneit, und wir haben weitere Männer verloren. Wir sind noch zu fünft, meine treuesten Diener und ich. Mir ist heute zu kalt, um mehr zu schreiben. Zwei meiner Zehen sind abgestorben, und ich kann meine Hand kaum bewegen. Wir sollten jedoch nahe an dem Tal sein.
14. April 1672. Wir haben es erreicht! Kenrick, Lloyd und ich. Mehr sind nicht mehr übrig geblieben. Wir haben noch Nahrung für zwei Tage. Ich habe keine Ahnung, wie wir hier etwas zu essen finden sollen, denn seit Monaten habe ich keine Menschenseele gesehen, und obwohl der Frühling einziehen sollte, ist hier immer noch alles unter einer ewigen Schneedecke verborgen. Es ist eine Hölle aus Eis und Kälte.
19. April 1672. Nun sind nur noch Kenrick und ich übrig. Lloyd hat sich den Knöchel gebrochen. Wir mussten auch ihn zurücklassen, da wir nur noch ein Pferd besitzen, das jedoch auch nicht mehr lange überleben wird. Kenrick soll es später schlachten, damit wir wenigstens das Fleisch verwerten können.«
Andrew seufzte tief und blickte von den Notizen auf. Mit jedem Wort, das hier geschrieben stand, fühlte er Gareths Verzweiflung. Dieser Mann hatte alles für Andrew geopfert, er hatte sich selbst aufgegeben, in dem Wissen, dass er es nicht mehr miterleben würde, wenn Andrew endlich an die Macht käme.
Gareth hatte einem Toten gedient.
»Unvorstellbar.« Andrew blickte zu Mary-Ann, die ihn aufmerksam beobachtete.
Sie verneigte sich stumm vor ihm. Eine Ehrerbietung für den Mann, dessen Blut in ihren Adern floss.
Andrew blätterte eine weitere Seite um.
»21. April 1672. Ich bin am Ziel! Dem Herrn im Himmel sei Dank, ich habe den Steinkreis gefunden. Er ist magisch, erhaben und wunderschön. Der Schnee ist geschmolzen, die Temperaturen sind gestiegen, und endlich kehrt Wärme in meine alten steifen Glieder. Heute werde ich den Kreis betreten und hoffentlich die Saiten finden. Ich wollte erst diesen Eintrag schreiben, ehe ich mich aufmache. Falls ich nicht zurückkehre, müsst Ihr wissen, dass ich es bis hierher geschafft habe. Für Euch.«
Andrew schluckte gegen den Kloß im Hals. Er räusperte sich.
Mary-Ann stieß sich von der Tischkante ab und lief hinter Andrew. Sie legte sanft eine Hand auf seine Schulter, aber er wandte den Blick ab. Es war ihm bisher nur zweimal in seinem Leben passiert, dass ihn etwas derart mitgenommen hatte. Das erste Mal, als er Anna auf dem Feld erblickte und sie ihm mit ihrer Schönheit den Verstand raubte, und das zweite Mal jetzt. Wie sehr hatte Gareth ihn geliebt, um das alles auf sich zu nehmen?
Wie treu war er ihm ergeben gewesen?
Er atmete tief ein und aus und las weiter.
»Herr ... mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, was heute passiert ist. Ich will es dennoch versuchen, auch wenn meine Hand so sehr zittert, dass ich kaum die Feder halten kann: Der Steinkreis ist nicht nur eine Anordnung von Felsen – er ist eine Art Kultstätte. Seine Aufmachung ist recht komplex, große Brocken an drei äußeren Kreisen und kleinere Felsen, je näher es dem Zentrum zugeht. Von außen ist nicht einsehbar, was im Inneren steht. Es ist wie ein Labyrinth aus Stein, durch das ich mich erfolgreich kämpfen konnte. Es war nicht ... Ich weiß nicht, wie ich dieses Ereignis beschreiben soll, aber auf dem Weg ins Innere sah ich mich mit meinen schlimmsten Ängsten konfrontiert. Sie waren so real, dass ich die Hand nach ihnen ausstrecken und sie berühren konnte. Ich sah Euch: Ihr ward zurückgekehrt, habt mich angeklagt, dass ich Euch enttäuscht hätte. Dass ich Schuld an Eurem Tod trüge und nun alles zunichtemachte, was Ihr Euch aufgebaut hättet. Euer Bildnis war so real, dass ich wirklich glaubte, Ihr wärt von den Toten auferstanden, dass ihr doch noch einen anderen Weg gefunden habt. Ich hörte mir Eure Vorwürfe an, wusste, dass Ihr recht hattet, dass ich ein schlechter Diener gewesen war, weil ich Euren Tod nicht hatte verhindern können.
Ich brach zusammen, ertrank fast in meiner Scham und meiner Furcht. Rückblickend kann ich nicht mehr sagen, wie lange ich dort in dem Labyrinth verbracht habe, aber irgendwann fand ich die Kraft, aufzustehen und weiterzugehen. Ich fand die Kraft, mich meinen Ängsten zu stellen, denn ich wusste, dass es genau das ist, was Ihr von mir erwarten würdet.
Sobald ich diese Entscheidung getroffen hatte, verzog sich der Nebel in meinem Kopf, und ich sah klarer. Die Vision von Euch verblasste und offenbarte mir den Weg ins Zentrum des Kreises.
Und da fand ich sie: eine wunderschöne Statue aus reinstem weißen Mondstein. Sie trägt ein Kleid, ihre Augen sind geschlossen, ihre Haare wallen über ihre Schultern. Wenn Ihr sie nur sehen könntet! Sie ist wunderschön! Die Arme hält sie gen Himmel gerichtet. Auf ihren Armen waren tiefe Male, wie Wunden, die sie sich selbst zugefügt hatte. Ich weiß nicht, was es bedeutet, hoffe aber, es herausfinden zu können. Es war unglaublich, Herr. Heute habe ich Gott berührt ...«
Andrew rieb sich den Nacken bei diesen letzten Worten. Genau das hatte sein Vater stets gesagt, wenn er die Peitsche herausgeholt hatte, um alle zu bestrafen: »Ich habe Gott berührt, und du wirst ihn nun auch berühren. Im Schmerz sind wir alle vereint, genau wie Jesus Christus, unser Erlöser ...«
Seit Ewigkeiten hatte er nicht mehr an seinen Vater gedacht oder Gefühle an ihn verschwendet. Er war lange tot. Andrew hatte ihn aus seinem Leben und seiner Seele verbannt. Aber die Art, wie Gareth schrieb, wie sich seine Worte auf dieser Reise verändert hatten ...
Mary-Ann legte auch die zweite Hand auf seine Schulter und massierte ihn sachte. Erst wollte er sich dagegen sperren, doch sie machte weiter und knetete tatsächlich seine Anspannung weg.
»Was hatte es mit diesen Visionen auf sich?«
»Das war eine Sicherheitsvorkehrung. Damit Eindringlinge abgehalten werden.« Mary-Ann massierte ihn fester, Andrew sank gegen die Rückenlehne, schloss die Augen und gab sich ihren Fingern hin.
Die Frau war gut und intensiv. Er spürte, wie sich das Blut in seinen Lenden sammelte, während sie ihn langsam knetete. Sie beugte sich nach vorne, strich mit den Lippen über sein Ohr. Ihr süßliches Parfüm drang in seine Nase, benebelte kurzzeitig seine Sinne.
»Brauchst du eine Pause, damit du mehr hiervon haben kannst?« Ihre Hände glitten tiefer, sie fuhr über seinem Shirt nach unten bis zum Saum, dort hob sie es sachte an und streichelte über seinen nackten Bauch. Zum Glück hatte er mittlerweile Muskeln antrainiert, er hätte es nicht ertragen, von einer Frau angefasst zu werden, wenn er noch in einem dürren weichen Körper steckte. Mary-Ann fand seinen Hosenknopf, öffnete ihn und schob die Finger in seine Unterhose. Andrew zischte und sog hart die Luft ein. Sie massierte ihn geschickt weiter.
»Du kannst alles haben. Egal, wie du es willst, was du willst, mit wie vielen du willst. Sprich es nur aus, und es gehört dir.«
Er schwieg, genoss stattdessen, wie sie ihn umschloss und er von Sekunde zu Sekunde härter wurde. Gleichzeitig war ihm klar, dass er wichtigere Dinge zu tun hatte, als eine schnelle Nummer zu schieben. Zumal es nicht zu seiner bevorzugten Art zählte. Er wollte Sex auskosten, er wollte Grenzen finden, seinen Spaß haben, und den bekam er nicht mit einem so willigen Weib.
»Später. Vielleicht.« Und wenn, dann richtig. Er würde mit Freuden austesten, wie weit Mary-Ann mit ihm gehen würde. Jeder Gehorsam hatte irgendwo ein Ende, auch ihrer, dessen war er sich sicher, und erst dann wurde es interessant. Er packte ihre Hand, zog sie aus seiner Hose und knöpfte sie zu. Mary-Ann gab ein leises Schnauben von sich, doch sie kommentierte es nicht. Andrew nahm sich das Notizbuch und las weiter.
»