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Die Fronten verhärten sich. Jaydees Tat in Phoenix bleibt nicht vergessen und Tashi zerbricht fast an einem weiteren Verlust aus ihrer Familie. Lilija zieht ihre Pläne dennoch vehement durch und entschließt sich zu einem gewaltigen Schritt, um Jaydee von seiner Geschichte zu lösen. Auch Jess forscht weiter und findet in der Vergangenheit eine Antwort, mit der sie nicht gerechnet hätte. Vielleicht stehen die Chancen doch nicht so schlecht, wie sie glaubte, um Jaydee wieder zurückzuholen. Dies ist der 39. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7
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Seitenzahl: 213
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Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel4
2. Kapitel12
3. Kapitel21
4. Kapitel25
5. Kapitel31
6. Kapitel38
7. Kapitel45
8. Kapitel51
9. Kapitel61
10. Kapitel76
11. Kapitel81
12. Kapitel91
13. Kapitel96
14. Kapitel100
15. Kapitel104
16. Kapitel113
17. Kapitel124
18. Kapitel128
19. Kapitel136
20. Kapitel148
21. Kapitel156
22. Kapitel162
23. Kapitel171
24. Kapitel175
Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«188
Die Fortsetzung der Seelenwächter:189
Impressum190
Die Chroniken der Seelenwächter
Feuer
Von Nicole Böhm
... das Feuer beherrscht die Luft, ...
Es krachte. So laut, dass William das Gefühl hatte, der gesamte Berg würde über ihm zusammenstürzen. Aber River schien es im Griff zu haben. Sie bewegte sich durch den Felsen, als bestünde er aus Wasser, nicht aus festem Gestein. Sie schlug eine Schneise nach der anderen, um einen Fluchtweg für sie zu schaffen. William folgte fassungslos, genau wie Ben und Ikarius. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Nicht mal ein Erdwächter war hierzu in der Lage, und die waren am engsten mit diesem Element verbunden. Rivers Körper verschwand ein weiteres Mal vor ihnen in der Wand, in der nächsten Sekunde erschien ein Durchgang, der gerade groß genug für die drei Männer war.
»Das ist wirklich sehr …«, setzte William an, doch da zischte ein Feuerball haarscharf über seinen Kopf hinweg. William zog instinktiv die Schultern ein und duckte sich, genau wie Ikarius und Ben.
»Sie holen auf«, sagte Ikarius und spähte zurück.
William hielt ebenfalls inne und sah nach den Angreifern. Auf die Ferne konnte er nicht erkennen, welche Seelenwächter es waren, aber er spürte die geballte Kraft des Feuers und der Luft.
»Geht weiter«, rief William. »Ich halte sie hin.«
»Ich bleibe bei dir«, sagte Ikarius.
»Nein, du hast deine Moralsperre noch.«
»Ich habe gegen Marysol gekämpft, ich kann das, vertraue mir.«
William rümpfte die Nase, doch er nickte. Zu zweit hätten sie wirklich größere Chancen, und er hatte jetzt keine Zeit zu diskutieren.
»Ben, du bleibst bei River. Ihr kämpft euch weiter nach draußen durch. Wir kommen nach!«
»Soll ich euch wirklich nicht helfen?«, fragte Ben.
»Nein, geh! Sie dürfen dich nicht sehen.« William zückte sein Schwert und stellte sich den Angreifern entgegen.
Auch Ikarius machte sich kampfbereit und zog seine Waffe.
»Ich werde in ihre Köpfe eindringen und sie verwirren, nutze die Zeit und schlag zu«, sagte er und lief mit William den Weg zurück, den sie eben gekommen waren.
William stellte sich auf das Schlimmste ein – auch dass er möglicherweise gleich einen der Ihren töten musste. Er wollte es nicht, spürte schon jetzt, wie sein Herz sich bei dem Gedanken verkrampfte, aber er hatte keine Wahl. Er würde kämpfen, er musste kämpfen, genau wie er es bei den Dowanhowee getan hatte, als diese von Kedos geblendet worden waren.
»Ich versuche sie auszuknocken.« William ballte die Hand zur Faust und rief eine Feuerkugel wach. Er ließ die Flammen zwischen seine Finger gleiten, nahm die Stärke seines Elementes auf und gab sich dieser Kraft hin.
»Lass mich nicht hängen«, flüsterte er und wartete, bis Ikarius ihm ein Zeichen gab, wann er zuschlagen konnte. Er musste nicht lange ausharren. In der nächsten Sekunde hörte er die anderen schon näherkommen.
»Da drüben«, rief einer von ihnen, und William erkannte die Stimme.
Eric.
Er war das Oberhaupt einer Familie auf den Philippinen und ein ausgezeichneter Feuerwächter. William war öfter zu Besuch bei der Familie gewesen, hatte viel mit ihm geredet, Wein getrunken, schöne Abende am Kamin verbracht und über Magie philosophiert. Und nun? Standen sie im zerstörten Ratstempel und kämpften auf unterschiedlichen Seiten.
Wieder krampfte sein Herz. Seine Seele ertrank in Bedauern über diese Situation. William wollte und konnte nicht gegen diese wundervollen Wesen kämpfen, aber er hatte auch keine andere Wahl.
Sie bogen um die Ecke. Eric bemerkte sie als Erstes, hielt inne, richtete einen Feuerzauber auf William und Ikarius, aber er zögerte einen Moment. Vielleicht ging es ihm genauso wie William, vielleicht erkannte er die Absurdität dieses Moments.
Ihm zur Seite standen Manila und Roxy, die beide der Luft gehörten, und Ameda, eine Feuerwächterin.
Die ganze Familie auf Lilijas Seite.
William bekreuzigte sich mit der freien Hand, während er mit der anderen den Feuerball größer werden ließ. Eric fixierte ihn eindringlich, während auch Ameda ihr Element anrief.
»Das muss doch nicht so enden«, sagte William. »Wollt ihr wirklich gegen uns kämpfen?«
Eric schnappte nach Luft. Für einen kurzen Augenblick schien er wirklich zu zweifeln. Er verzog das Gesicht in Reue, dann schoss er den Feuerball auf William ab und erwischte ihn voll auf der Brust. William stürzte nach hinten und donnerte gegen die nächste Wand.
So viel zu Verhandlungen!
Sofort griff auch Ikarius an, er hob eine Hand und drang offenbar in die Köpfe der vier ein. Sie krümmten sich keine Sekunde später zusammen und fassten sich an die Schläfen.
»Los«, rief Ikarius und stürzte nach vorne, um Manila zu attackieren. Sie sah ihn jedoch kommen und fing ihn mit ihrem Schwert ab.
William rappelte sich hoch, schüttelte sich und entließ nun auch sein Feuer auf die kleine Gruppe. Eric schoss einen Zauber zur Abwehr dagegen, die Flammen explodierten in ihrer Mitte. William sah für einen Moment nur wirre Punkte, aber er kämpfte sich durch das Chaos, legte sein Schwert richtig in die Hand und griff ebenfalls an. Der Tempel wurde erfüllt vom Lärm der aufeinanderprallenden Klingen und dem Rauschen des Feuers, das mit jedem Atemzug anschwoll. William warf einen Blick zu Ikarius, der den Flammen genauso ausweichen musste wie Manila und Roxy. Sie gingen zu zweit auf Ikarius los und attackierten ihn nun mit Gedankenkontrolle, auch er krümmte sich und verzog das Gesicht vor Schmerz. Ikarius kam ins Taumeln, riss sein Schwert noch mal hoch und griff abermals Manila an. Weiter konnte William dem Kampf nicht folgen, denn er hatte selbst alle Hände voll zu tun, als Eric sich wieder auf ihn stürzte.
Am Rande registrierte William allerdings, dass es ein Seelenwächter zu wenig war, denn Ikarius hatte bei ihrer Ankunft im Tempel fünf gezählt. Drei Luft und zwei Feuer. Also fehlte einer …
»Achtung!«, rief Ikarius, doch da explodierte wieder etwas vor William. Das Feuer, das Eric und Armada erzeugt hatten, breitete sich im gesamten Raum aus und schoss in die Gänge. Es stürzte sich auf Ikarius, der zurückweichen musste und schützend die Hände vor sich hielt. William musste von der Attacke ablassen und seinem Freund helfen. Hinter den Flammen erkannte er nun auch die letzte Gestalt. Eine Luftwächterin mit langen dunklen Haaren und feinen Gesichtszügen. William konnte ihr Gesicht nicht ausmachen, doch das würde er sicherlich gleich. Er erreichte Ikarius, baute einen Schutzkreis um ihn auf und hielt so die Flammen ab.
»Danke«, keuchte er und klopfte die Glut von seinem Hemd. »Die Letzte ist Nikita. Sie hat mit einem Luftstrom das Feuer aufflammen lassen.«
»Da entlang«, sagte William und deutete auf den Gang, der in die Freiheit führte. River und Ben waren hoffentlich schon draußen oder kurz davor. William drehte herum und bekam einen Schockzauber ins Kreuz. Er keuchte, als seine Muskeln krampften, und wehrte sich gleichzeitig mit seiner eigenen Magie dagegen.
»Scheiße«, fluchte Eric. Er war nur wenige Jahre jünger als William und daher eigentlich ähnlich stark, aber William hatte mittlerweile sehr viel mit seinem Element erlebt und war durch den Ausflug zu den Dowanhowee besser geworden. Er fuhr herum, sammelte die Energie zwischen seinen Fingern und schleuderte den Zauber zurück zu Eric. Der schrie auf, als der Schock ihn traf, Ameda machte rechtzeitig einen Satz zur Seite. Auch Manila und Roxy griffen wieder an. Plötzlich bekam William wirre Bilder und Geräusche in seinen Kopf. Er konnte sie gar nicht richtig greifen, es war eine schnelle Abfolge von Landschaften, Menschen, Kämpfen, Schattendämonen. Die beiden fluteten sein Hirn mit alten Erinnerungen, bis er kaum noch klar denken konnte. William taumelte nach hinten, stieß gegen eine Wand und hielt sich daran fest. Ikarius tauchte wieder vor ihm auf, griff ihn am Arm und zerrte ihn mit sich. Die beiden machten erneut einige Meter gut, doch Ameda schoss Feuer nach oben und löste einen Teil der Decke ab. William und Ikarius mussten ausweichen, wurden zurück in die Arme ihrer Angreifer getrieben. Ikarius fasste William an die Stirn und löste so ebenfalls eine Flut an Energie in ihm aus, die endlich die verwirrenden Bilder aus seinem Geist fegten.
»Das ist der reine Irrsinn«, sagte William. »Wir halten uns nur gegenseitig mit unseren Fähigkeiten hin.«
»Ich weiß.«
Ikarius und William hatten den Vorteil, dass sie stärker waren. Das Plus der anderen war ihre Überzahl. So waren die Machtverhältnisse ungefähr ausgeglichen, aber William hatte nicht vor, sich bis zum jüngsten Gericht hier unten mit ihnen zu duellieren. Er wandte sich Eric zu und hob die Hand, um ihm zu zeigen, dass er sich nicht wehren wollte.
»Lasst uns das bitte beenden.«
»Klar, ihr müsst euch nur ergeben.«
Roxy und Manila kreisten die beiden ein, Nikita hielt sich etwas im Hintergrund, hatte aber die Hände zu Fäusten geballt und blieb in Angriffsstellung.
»Es ist ganz einfach für euch«, redete Eric weiter und formte schon wieder Feuerbälle.
William schüttelte den Kopf, wich mit Ikarius ein paar Schritte zurück. Sie wurden allerdings weiter eingekreist, und langsam nahm auch das Drücken in Williams Schädel wieder zu. Roxy und Manila drangen schon wieder in sein Hirn ein.
»Ich spüre, dass die anderen draußen sind«, hörte William auf einmal Ikarius in seinen Gedanken flüstern. »Mach dich bereit, ich teleportiere uns raus an den Strand. Das hier hat keinen Sinn.«
William nickte nur ganz leicht und hob die Hände höher, als wollte er sich wirklich ergeben. »Warum tut ihr das? Warum kämpft ihr auf Lilijas Seite?«
»Weil sie …« Ein Zögern. Nur eine Sekunde. »Sie wird uns helfen. Sie hat einen Plan, der endlich die Plage beseitigen wird. Wir … Wir glauben an sie.«
»Tut ihr das wirklich?«, hakte William nach, und Eric biss den Kiefer hart zusammen.
»Ja«, presste er mit Mühe heraus.
William schüttelte den Kopf, denn er glaubte ihm kein Wort. »Es ist noch nicht zu spät. Bitte sag das den anderen. Ihr könnt jederzeit zurückkommen, wir hegen keinen Groll. Jeder trifft falsche Entscheidungen, und ihr …«
»Schluss!«, rief Ameda und schoss einen Feuerball auf William. Er konnte gerade so die Hand vors Gesicht halten.
»Lilija ist hier der Feind«, redete William weiter. »Ihr müsst es doch spüren! Oder hat sie euch wirklich bis ins Detail über ihre Pläne informiert? Wisst ihr wirklich, was auf euch zukommt? Wisst ihr, dass sie mordet, ohne mit der Wimper zu zucken? Nicht nur Schattendämonen, auch unseresgleichen, auch unschuldige Menschen. Sie geht über Leichen und sie wird sich niemals aufhalten lassen. Das hat sie noch nie.«
»Legt die Waffen nieder«, sagte Eric. »Kniet euch hin, dann werden wir euch zu …«
»Jetzt«, sagte Ikarius und griff nach Williams Handgelenk.
Er wehrte sich nicht dagegen, sah nur Eric an, während der Sog in seiner Mitte entstand und Ikarius seine Macht einsetzte, um sie beide in Sicherheit zu bringen. Eric sprang nach vorne, als er erkannte, was die beiden taten, und feuerte einen weiteren Schockzauber, doch dieses Mal war er zu spät.
William und Ikarius lösten sich auf und ließen den Tempel hinter sich.
Vermutlich für immer.
Jessamine
»Ich hatte ihn fast«, sagte ich und tigerte im Wohnzimmer hin und her. Anna war eben nach draußen gegangen, um mit Akil zu sprechen und ihn auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Katarina hockte im Sessel hinter mir, meine Mutter lehnte am Sofa.
»Setz dich mal hin, Calliope, du bist noch immer ganz blass«, sagte sie.
»Es hat nicht mehr viel gefehlt«, erwiderte ich und blieb schließlich vor dem Fenster stehen, das hinaus auf die Straße zeigte. Ich blinzelte gegen den grellen Schnee, der in der Mittagssonne glitzerte, und blickte Anna hinterher. Akil hatte auch Kjell mit ins Dorf gebracht, ich fragte mich, warum. Wegen Joanne wollten wir eigentlich keinen von außen hier haben. Aber sicherlich hatte Akil seine Gründe dafür, er würde sie nie einfach so in Gefahr bringen und verraten.
Abgesehen davon hatte ich gerade sowieso keinen Kopf, um mir darüber Gedanken zu machen. Meine Seele war so voll mit Eindrücken, dass ich fast platzte! Das eben mit Jaydee war zu intensiv gewesen. Zu echt, obwohl wir uns nur in einer Vision getroffen hatten. Ich strich mir über die Lippen, rief diesen Kuss wach, den Jaydee mir quasi aufgezwungen hatte und der mich nach wie vor verwirrte.
Er nutzte diese Emotionen, um sich mehr und mehr abzukapseln. Er kehrte seine Schwäche in eine vermeintliche Stärke um, aber was würde es am Ende von ihm übrig lassen? Wenn er so weitermachte, hätten wir ihn bald komplett verloren. Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf, denn allein der Gedanke daran war so schmerzhaft, dass ich ihn nicht mal ansatzweise ertrug.
»Er ist noch da«, murmelte ich. »Ich weiß es. Ich … Ich muss es noch mal versuchen.«
»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun«, sagte Katarina auf einmal. Ich zuckte zusammen und wandte mich ihr zu, denn bisher hatte sie geflissentlich geschwiegen und nur mit der Stimmgabel herumgespielt. »Ich mag Jaydee nicht so gut kennen wie ihr, aber er wird sich auf dich vorbereiten, solltest du das erneut probieren. Er ist kein Narr.«
»Ich …«
»Sie hat nicht unrecht«, sagte meine Mutter und lief in die offene Küche. Wie immer in solchen Situationen brauchte sie etwas zur Beruhigung. Sie nahm eine Tasse von der Anrichte und goss sich von dem Tee ein, den sie vorhin gekocht hatte. »Jaydee kennt dich und weiß, dass du nie aufgeben wirst. Schon gar nicht jetzt, wo du eine Verbindung zu ihm gefunden hast. Ein Teil von ihm mag noch menschlich sein, aber wir dürfen nicht den Fehler machen und das Übernatürliche außer Acht lassen.«
Ich schluckte, ihre Worte steckten mir im Hals. Bedauerlicherweise hatte sie recht. Ich durfte wirklich nicht den Fehler machen und ihn unterschätzen, nur weil er mir einen kurzen Blick auf sein verletzliches Ich gewährt hatte. Jaydee konnte wie kein anderer von einer Sekunde auf die andere emotional umschwenken.
»So ein Mist«, sagte ich nur und wandte mich wieder der Straße zu, einfach damit ich mich ein wenig sammeln konnte. Anna stand noch immer draußen und rief mithilfe ihres Elementes gerade irgendwen an. Auf die Entfernung konnte ich es nicht genau ausmachen, aber ich vermutete, es war Haley.
Schritte näherten sich mir leise. Mum blieb dicht bei mir stehen. »Ich weiß, dass es schwer ist, aber bitte mach nichts Unvernünftiges, ja?«
Ich blickte zu ihr und sah in ihre vor Sorge glänzenden Augen. Mum kannte mich gut und wusste um meinen Dickschädel.
»Es ist so wahnsinnig schwer.«
»Das verstehe ich.« Sie strich mir über die Haare und schob mir eine Strähne hinters Ohr. »Stillzuhalten war schon als Kind eins deiner größten Probleme. Jedes Mal, wenn Ariadne oder ich dir etwas verboten, hast du es erst recht gemacht, einfach weil du so neugierig warst und alles selbst erkunden musstest.«
»Violet hat mich deshalb auch oft gerügt.« Einer dieser Momente war jener gewesen, als ich sie enttarnt hatte, weil ich in diesen Bunker gefallen war. Ich war sieben Jahre alt gewesen und Mum hatte mir ausdrücklich untersagt, da reinzugehen, aber ich musste ihn erkunden und hatte mich völlig überschätzt. Rückblickend war ich zwar froh, dass ich auf die Art herausgefunden hatte, wer Violet war. Doch ich hätte mir in dem Bunker genauso gut das Genick brechen können. Irgendwie stellte sich mein Gefahrensinn ab, wenn mich die Neugierde packte. Seit ich bei den Seelenwächtern war, hatte mich genau diese Eigenschaft das eine oder andere Mal in dumme Lagen versetzt.
Ich seufzte lange und tief und schob noch mal Mums und Katarinas Warnung hin und her. Mein früheres Ich wäre zu Jaydee gegangen. Ich hätte gewartet, bis alle schliefen und es dann auf eigene Faust versucht. Ich glaubte so fest an unsere Liebe, dass ich alles damit überwinden wollte.
Früher.
Hier und heute spürte ich das erste Mal, dass ich mich wirklich zurückhalten musste; dass ich nicht dem Drängen meines Herzens nachgeben durfte, sondern besonnen bleiben musste.
»Ich verspreche, dass ich nichts Unüberlegtes tue und ihn nicht noch mal aufsuchen werde«, sagte ich schier unhörbar. »Ich weiß ja, dass man nicht immer mit dem Kopf durch die Wand kann, auch wenn es echt schwer ist, das nicht zu tun.« Meine Fingerspitzen kribbelten, so gerne wäre ich aktiv geworden. Dennoch hielt ich mich zurück.
Mums Lippen zuckten, ihre Miene entspannte sich deutlich. »Ist meine Tochter doch noch erwachsen geworden?«
Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder und gab ihr einen Stups gegen die Schulter. »Vielleicht.«
»Schön. Wenn ihr fertig mit dem Geplänkel seid und jetzt nichts mehr passiert, gehe ich zurück in mein Haus«, sagte Katarina. »Ist es in Ordnung, wenn ich die mitnehme? Es beruhigt mich.« Sie hielt die Stimmgabel hoch.
»Natürlich«, sagte ich. Vermutlich konnten wir eh nichts mehr damit anfangen, denn an den Schädel Leanders würden wir nicht mehr herankommen.
Katarina stand auf, warf einen Blick auf uns und verschwand. Ich hoffte, sie fand irgendwann Zugang zu uns und konnte sich bei uns integrieren, aber ich kapierte, dass sie das alles überforderte.
Ich rieb die Hände aneinander, blickte ihr durchs Fenster hinterher, wie sie die Straße hinunterlief, und schwenkte zu Anna hinüber, die mit besorgter Miene draußen stand und eine Windböe zwischen ihren Fingern formte. Allerdings sah es nicht so aus, als bekäme sie eine Antwort.
»Bin gleich wieder da«, sagte ich zu Mum und verließ ebenfalls das Haus.
»Ist alles klar?«, fragte ich Anna und trat näher.
»Mit Zac ist alles in Ordnung. Sie schauen sich noch um, aber ich erreiche Will nicht.«
»Oh. Vielleicht kann er nur gerade nicht antworten.«
»Vielleicht.« Sie versuchte es erneut, ließ den Wind zwischen ihren Fingern wirbeln, ehe sie es schließlich aufgab und die Hände senkte. »Hat keinen Sinn.« Anna hielt einen Moment inne, dann straffte sie die Schultern und schüttelte den Kopf. »Wie geht es dir denn? Ist alles klar?«
»Ja.« Ich deutete mit einem Kopfnicken die Straße hinunter. »Warum hat Akil Kjell hergebracht?«
»Weil er ihm von Joanne erzählt hat und sie eine Idee hatten, wie sie Jaydee möglicherweise aufhalten können. Sie wollen den Pfeifzauber modifizieren, den sie damals verwendet hat.«
»Oh.« Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht, aber vielleicht war das wirklich eine Möglichkeit. »Geht das denn? Er war doch halbwegs immun dagegen.«
»Na ja, er war nur immun, weil er alle Elemente in sich vereinte. Das hebelte den Zauber aus, der ja jeweils nur auf eins gewirkt hat. Wenn sie ihn so verändern, dass er alle Elemente gleichzeitig anspricht, müsste es funktionieren. Zudem hat Jaydee damals nie das Gegenmittel erhalten.«
Weil die Gemeinschaft ihn nicht als richtigen Seelenwächter anerkannte. Eine Sache, die ich nie verstand, die uns jetzt aber wohl helfen konnte.
»Was, wenn wir …?«
Auf einmal knallte es unten an der Straße und zwei grelle Lichtblitze erschienen. Anna und ich wandten uns dem Geräusch zu und sahen kurz darauf den Parsumi aus einem Portal treten. Will saß mit einer Frau, die ich im ersten Moment nicht richtig erkannte, im Sattel, der andere Lichtblitz gehörte zu Ikarius und Ben.
Anna und ich warfen uns nur einen Blick zu, dann eilten wir zu ihnen.
»Ist alles in Ordnung?«, rief sie auf dem Weg. Will sprang sofort vom Pferd und kam ihr entgegen.
»Ja. Tut mir leid, ich konnte nicht mehr antworten, wir mussten schnell verschwinden.«
»Schon gut.«
Er küsste sie kurz und nickte mir zu. Ich sah zu der Frau, die noch im Sattel hockte und vorsichtig abstieg.
»O mein Gott«, sagte ich. »River?!«
Sie lächelte mir zu und breitete die Arme aus.
»Ikarius hat dich gefunden!« Ganz offensichtlich – und es ging ihr gut. Sie sah zumindest so aus. Ihre Haut war nicht mehr aus Stein, sondern aus Fleisch und Blut. Sie wirkte erholter, frischer, jünger, gesünder und … Keine Ahnung, einfach menschlicher.
»Was …?«, stammelte ich. »Wie …?«
»Es liegt an der Harfe«, sagte sie. »Als sie zerstört wurde, ging die Veränderung in mir los.«
So wie bei Ikarius. Er hatte angefangen zu sprechen, nachdem das alles vorüber gewesen war. Ich warf ihm einen Blick zu, er hielt Ben noch an der Schulter fest und stützte ihn, bis er sich nach der Teleportation gefangen hatte.
»Das hat uns sehr geholfen«, sagte Will und deutete auf River. »Sie kann sich bewusst in Stein verwandeln und diesen auch mit ihrem Willen verformen. Sie hat uns quasi eine Fluchtschneise geschlagen.«
»Wow«, sagte ich.
River lächelte nur und nickte. »Ich bin froh, dass wir zusammengefunden haben.«
»Wenn ihr mich kurz entschuldigt«, sagte Ben und löste sich von Ikarius. Er sah noch immer blass aus und schwankte leicht. »Es wird mir gerade zu viel.«
»Natürlich«, sagte ich und sah ihn besorgt an. Er presste nur die Lippen aufeinander, als müsste er sich sehr beherrschen, nicht auf einen von uns loszugehen, dann lief er die Straße hinunter, um zu seinem Haus zu gelangen.
»Wart ihr denn erfolgreich?«, fragte ich. »Habt ihr Dereks Sachen finden können – und helfen sie weiter?«
»Das werden wir noch sehen«, sagte Will. »Ich werde sie gemeinsam mit Emma auswerten. Wie geht es Joanne denn?«
»Ich weiß nicht, habe noch nicht mit ihr gesprochen, aber Akil ist gerade mit Kjell bei ihr.«
»Sie besprechen bestimmt das mit dem Pfeifzauber, oder?«
»Kann sein.«
»Ben kann ihn auf den neuesten Stand bringen, ich würde mich jetzt hierum kümmern.« Er zeigte auf seine Tasche. »Weißt du, wo Emma ist?«
»Bestimmt im Haus.«
»Gut. Braucht ihr noch was oder kann ich los?«
»Geh ruhig, bei uns ist alles klar.«
Er verabschiedete sich und ging auf das Haus zu, das Emma bewohnte.
Ich betrachtete River noch mal. Es war wirklich ein Wunder, wie gut sie aussah, als hätte diese Wandlung all das Schöne und Normale in ihr zum Vorschein gebracht.
River. Ikarius. Nadira. Jonathan. Diese vier waren damals verflucht worden, als sie versucht hatten, die Harfe zu zerstören. Ich musste kurz an Jonathan denken und an seine Konstitution. Wenn er die Nomaden nicht engagiert hätte, hätte er dann auch normal werden können? Oder wie River seine Fähigkeit möglicherweise zu kontrollieren gelernt? War es das, was er mir geschenkt hatte, was er hätte werden können? Und hatte er das nur meinetwegen aufgegeben?
Mich schüttelte es bei dem Gedanken, ich bekam Gänsehaut. Ich hoffte, dass mein Vater nicht wirklich seine Freiheit für mich geopfert hatte, doch ich hatte das Gefühl, dass es genauso war.
Und was war eigentlich mit Nadira? Sie bestand praktisch nur aus Nebel und war in der Negativität und der Dunkelheit gefangen, die in der Harfe gespeichert war. Im Grunde war sie Jaxon nicht unähnlich, sie lebten beide mit dieser Schwere. Zuletzt war sie von Jason eingesperrt worden und vermutlich noch bei ihm.
Betraf diese Veränderung, die in River und Ikarius stattfand, auch sie? Konnte sie möglicherweise genauso menschliche Gestalt annehmen wie River? Und falls ja, war das eine gute oder eine schlechte Sache? Ich hatte Kontakt zu ihr gehabt und mich alles andere als wohl mit ihr gefühlt, aber ich kannte auch Jaxon, der mit der gleichen Dunkelheit lebte wie sie. Er war kein übler Kerl, auch wenn er gerne so tat.
Was also geschah mit Nadira?
Es gab eine Zeit, da waren wir verwirrt.
Es gab eine Zeit, da haben wir gesucht.
Es gab eine Zeit, da haben wir gehofft.
Es gab eine Zeit, da haben wir getötet.
Es gab eine Zeit, da waren wir die Nacht.
Diese Zeit ist vorüber.
Nadira schlug die Augen auf und nahm das erste Mal seit Tausenden von Jahren einen Atemzug frischen Sauerstoffs. Zumindest fühlte es sich für sie frisch an. In Wirklichkeit roch er abgestanden und schal und stickig.
Doch es kümmerte sie nicht. Dies war ein Moment der Vollkommenheit. Des Nachhausekommens, des Stillstehens, des Erkennens.
Sie war wieder da.
Sie hatte wieder einen Körper.
Sie konnte wieder fühlen.
Endlich konnte sie wieder fühlen.
Die Luft strömte über ihre Haut, ihre Haare kitzelten an ihrer Stirn, Tränen rannen ihre Wangen hinab.
Sie war am Leben! Wirklich und echt und endlos.
Rückblickend konnte sie nicht sagen, wann und wie diese Verwandlung stattgefunden hatte, wie lange sie gedauert hatte oder wie viel Zeit seither vergangen war. Sie wusste nur, dass sie transformiert worden war und dass sie einen Teil ihrer Menschlichkeit gefunden hatte. Noch nie hatte sie sich so vollkommen und gut gefühlt, obwohl nichts an ihrer Situation gut war.
Wir sind eingesperrt.
Wir sind beengt.
Wir kommen nicht mehr raus.
Nadira schüttelte sich. Der Nebel sprach noch mit ihr, sie konnte nicht genau definieren, was davon ihr gehörte und was nicht. All diese Stimmen, die seit Jahrtausenden ihre steten Begleiter waren, hielten sie auch jetzt noch gefangen. Stimmen voller Verzweiflung, voller Dunkelheit, voller Depression, voller Angst. All die Abgründe, die eine menschliche Seele fühlen konnte, all das Eklige und Grausame, all der Abfall, den keiner haben wollte – Nadira hatte alles eingesammelt. Sie hatte sich der Gefühle angenommen, die von allen verstoßen worden waren, und nun waren sie ein Teil ihrer selbst geworden, sodass sie nicht wusste, wo ihr Geist anfing und jener der anderen aufhörte.
Aber vielleicht spielte es keine Rolle. Nadira hatte wieder einen Körper! Einen wundervollen, schmerzenden und steifen Körper. Er war eingeklemmt auf engstem Raum. Sie konnte nicht mal den Arm ausstrecken, war völlig zusammengekauert und berührte mit der Nase ihre Knie, weil sie sich so einrollen musste.
Doch all das störte sie kein bisschen, denn sie konnte wieder fühlen.
Richtig fühlen.
Wir werden sterben.
Wir sind schon tot.
Alles ist dunkel.
Alles ist hoffnungslos.