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Jaydee hat es getan: Er ist an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt. Dort muss er erneut einem mächtigen Gegner gegenübertreten, den er fast nicht besiegen kann. William kann nun endlich zu der mysteriösen Familie nach Schottland reisen und sieht sich plötzlich zurück in seine Vergangenheit katapultiert. Alte Geheimnisse treten zum Vorschein, gemeinsam mit einer dunklen Bedrohung, die die gesamte Welt der Seelenwächter in Gefahr stürzt. Wer kämpft auf wessen Seite? Wem können die Seelenwächter vertrauen - und wen sollten sie besser fürchten? Dies ist der 5. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7
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Seitenzahl: 189
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Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel3
2. Kapitel15
3. Kapitel23
4. Kapitel27
5. Kapitel36
6. Kapitel42
7. Kapitel49
8. Kapitel57
9. Kapitel68
10. Kapitel75
11. Kapitel86
12. Kapitel95
13. Kapitel105
14. Kapitel110
15. Kapitel118
Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«123
Die Fortsetzung der Seelenwächter:124
Impressum125
Die Chroniken der Seelenwächter
Die Prophezeiung
Von Nicole Böhm
Jaydee
Es war finstere Nacht, als ich in Kanada ankam. Der Mond hing als schiefe Sichel am Himmel, durch das Blätterdickicht funkelten die Sterne. Die Temperaturen waren angenehm lau, es duftete nach wilden Rosen, Gras und Freiheit. Eigentlich eine perfekte Sommernacht, um das Leben zu genießen. Stattdessen stand ich seit knapp einer Stunde vor dem schmiedeeisernen Tor, das in den Garten von Mikael führte, und starrte die Stäbe an. An einem der Dorne klebte noch ein Rest getrocknetes Blut. Mein Blut, das ich vor eineinhalb Wochen vergossen hatte, als ich mit Akil Joanne jagte. Unfassbar, dass erst so wenig Zeit seither vergangen war.
Ich atmete tief ein und blickte mich zum hundertsten Mal um. Die Natur hatte sich diesen Teil des Parks längst zurückerobert und selbst das Wohnhaus mitsamt der Kirche integriert. Wäre Mikael noch am Leben, würde es ihm das Herz zerreißen. Er hatte so viel Zeit und Liebe in die Erhaltung seines Gartens gelegt. Es war sein Platz der Erholung, des Innehaltens, der Einkehr. Der einzige Ort, an dem er für sich sein konnte, und jetzt war nichts mehr davon übrig. So wenig wie von ihm.
Ich trat näher und legte vorsichtig einen Finger auf die alten Stäbe. Beim letzten Mal hatte mich die Berührung in meine Vergangenheit zurückkatapultiert. Ich hatte mich selbst gesehen, wie ich als Sechzehnjähriger vor den Flammen floh, die Mikael das Leben kosteten.
Dieses Mal war ich besser vorbereitet. Dieses Mal behielt ich meine inneren Schutzmauern oben und blockte jedwede Emotion aus, die sich meiner bemächtigen könnte. Das hier war nur ein verrottendes Gebäude ohne Seele. Ohne Herz. Das war nicht mehr der Ort meiner Kindheit. Ich musste es mir nur immer wieder vorsagen.
Ich ließ die Luft aus den Lungen und öffnete das Tor. Es quietschte, als hätte es Schmerzen. Das Geräusch durchschnitt die Stille der Nacht wie eine Sirene. Ich wagte den ersten Schritt und starrte dabei auf den Boden, als könnte sich jeden Moment ein Loch auftun und mich verschlingen. Natürlich tat sich kein Loch auf noch prasselten irgendwelche ungewünschten Erinnerungen auf mich ein. Ich war nur ein Besucher in einem verwilderten Garten. Mehr nicht. Ich machte den nächsten Schritt und noch einen und noch einen. Mit jedem neuen Meter wuchs mein Vertrauen, dass ich das hier tatsächlich durchziehen konnte.
In ruhigem Tempo lief ich weiter, die verknöcherten Wurzeln und Äste knackten unter meinen Stiefeln. Ich blickte nach links und rechts, hielt Ausschau, ohne zu wissen, nach was. Trotz der Dunkelheit erkannte ich jedes Detail meiner Umgebung. Den kaputten Brunnen mit dem Wasserspeier, die kleine Bank, auf der Mikael gerne mit Auguste, unserer Haushälterin, gesessen hatte. Es war alles noch da, und trotzdem war nichts mehr wie früher.
Ich war auf der Rückseite des Gebäudes. Direkt an den Garten schloss sich Mikaels Büro an, von da gelangte man entweder in die Kirche oder ins Wohnhaus. Mein Schlafzimmer war im oberen Stock gelegen, mit Aussicht auf den Park. Mikael hatte es mir gegeben, weil er glaubte, der Blick auf die Natur könnte meinem unsteten Gemüt helfen. Ich hingegen hatte die Gelegenheit genutzt und war nachts von meinem Fenster gerne auf die gegenüberliegende Eiche gesprungen und hatte mich vom Acker gemacht, um spazieren zu gehen.
Im Gebüsch hinter mir raschelte es. Sofort fuhr ich herum und blähte die Nasenflügel. Der Wind stand günstig und trug eine fruchtige Mischung aus Blumen und Gras zu mir, sonst nichts. Vermutlich hatte sich ein Tier dort aufgehalten und war durch mich aufgeschreckt worden. Es spielte eh keine Rolle. Es gab wenig, was ich fürchten musste.
Nach einigen Sekunden drehte ich mich wieder zurück und lief weiter auf das Büro zu. Die Fenster waren mit Brettern zugenagelt, von denen einige bereits vermodert waren. Die Tür stand sperrangelweit offen. Vorsichtig spähte ich in die Dunkelheit hinein. Das Zimmer war bis auf einen alten Holzstuhl leer. Auf dem Boden waren verschiedene Fußspuren im Dreck zu sehen. Einige davon stammten sicherlich von Jess, als sie hier eingebrochen war, andere vielleicht von Akil, als er sie rettete – oder von Joanne. Ich wandte mich von der Tür ab und lief nach links.
An der Hauswand war der Briefkasten angebracht, in den Ben die Phantomzeichnung des Mädchens stecken wollte. Mal sehen, ob er es schon erledigt hatte – und vor allen Dingen, ob der Kasten noch hing. Der Garten war in zwei Bereiche aufgeteilt: den öffentlichen für die Besucher und diesen privaten Abschnitt. Getrennt wurde er von einer Hecke. Der Briefkasten konnte von einer Seite befüllt und von der anderen geleert werden. Auf die Art hatte Mikael seine Post holen können, ohne von jemandem angesprochen zu werden, wenn er das nicht wünschte.
Ein paar Meter weiter sah ich den Kasten schließlich. Das Aluminium war oxidiert, stach aber trotzdem hell in der Dunkelheit hervor. Das Schloss war ausgeleiert und durchgerostet. Eine Staubwolke stob auf, als ich öffnete. Im Inneren lag ein dunkelbrauner Umschlag. Ich nahm ihn heraus, schob den Daumen zwischen den Falz und riss ihn auf. Ich widmete mich erst der Zeichnung. Sie war so detailgetreu gemalt, dass sie fast wie ein Foto aussah. Abgebildet war ein junges Mädchen mit schwarzen Haaren und einem irren Blick. Jetzt war mir klar, was Ben gemeint hatte: Sie sah tatsächlich aus, als käme sie direkt aus der Hölle. Ihre Pupillen waren nicht von der Iris zu unterscheiden, was sicher nicht an der Unfähigkeit des Zeichners lag. Die Lider waren halb geschlossen, die Augen mit dunklen Ringen unterzogen. Der Gesichtsausdruck neutral und dennoch irgendwie abwesend. Ihre Haut makellos rein und hell, die Züge noch nicht richtig fraulich, aber auch nicht mehr Kind.
Plötzlich raschelte es wieder. Ich blickte erneut in die Richtung. Im Park gab es etliche Nager, Eichhörnchen, Vögel, ab und an verirrten sich auch Füchse her. Gebannt spähte ich in die Dunkelheit, scannte die Hecke, den Boden, die Bäume. Für einige Minuten verharrte ich vollkommen bewegungslos, als wäre ich selbst Teil des Gartens, und spitzte die Ohren. Bis auf die üblichen Geräusche der Nacht blieb es still. Ich wandte mich wieder dem Umschlag zu und zog die Notiz hervor, die noch darin lag. Ein Brief von Ben:
Hi Jaydee,
anbei die Zeichnung. Ich finde, Salvatore hat sich selbst übertroffen. Nachdem ich ihm erzählt habe, ich bräuchte es für meine kleine Nichte – die im Kunstunterricht leider nicht sehr gut ist und unbedingt ein Bild zum Thema Halloween einreichen muss –, hat er sich richtig ins Zeug gelegt. Ich hoffe, es hilft dir weiter.
Viel Glück bei deiner Suche und melde dich, wenn du etwas brauchst. Mein Fenster steht dir jederzeit offen.
Alles Gute,
Ben
P.S.: Falls du vorbeikommst, bring bitte Red Bull mit. Und ein Snickers.
Oder besser zwei.
Danke.
Vielleicht würde ich Ben wirklich einen Besuch abstatten. Ich mochte ihn, was nicht oft bei Menschen vorkam. Außerdem lag in der Asservatenkammer noch immer der Dolch von Jess, mit dem sie mich bei unserem ersten Zusammentreffen verletzt hatte. Nach wie vor wollte ich ihn haben, immerhin war es die erste Waffe, die mir bisher schaden konnte, aber eins nach dem anderen. Ich steckte den Brief und das Bild in den Umschlag, faltete alles zusammen und verstaute ihn in der Innentasche meiner Lederjacke. Sobald Anna wieder ansprechbar war, würde ich ihr die Zeichnung zeigen und sehen, ob es sich um Coco handelte. Somit hätten wir ein Gesicht und einen Namen, damit könnten wir recherchieren. Diese Frau wandelte seit vierhundert Jahren auf der Erde, es musste etwas über sie zu finden sein.
Jetzt war nur noch eine Sache zu erledigen: Den Jadestein zu suchen, den ich hier verloren hatte. Er war damals das Einzige gewesen, was ich bei mir getragen hatte, als ich vor Mikaels Tür abgegeben wurde. Der Stein, dem ich meinen Namen zu verdanken hatte: Jaydee als eine Abwandlung von Jade.
Bevor Ariadne starb, sagte sie, ich solle ihn finden, er würde mir weiterhelfen. Bei was oder wieso, hatte sie leider nicht mehr erzählen können, denn kurz darauf bohrte sich ein Splitter in ihre Halsschlagader.
Ich lief zurück zum Büro, stemmte meine Hände links und rechts gegen den Türrahmen und spähte hinein. Der Geruch nach Staub und Moder schlug mir entgegen. Ich hielt sofort den Atem an, aus Angst, doch noch einen bekannten Duft aufzuschnappen. Einen Hauch Myrrhe vielleicht oder Mikaels Aftershave, aber wie sollte das möglich sein nach neun Jahren Abwesenheit?
Vorsichtig betrat ich das Zimmer. Es war ein komisches Gefühl, als würde ich über eine wackelige Holzplanke laufen, um am Ende in ein haiverseuchtes Gewässer zu springen. Obwohl sich alles in mir sträubte, trugen mich meine Beine voran, und schließlich hatte ich den Raum durchquert. Ich blickte durch die nächste Tür. Auch sie stand offen. Auf dem Boden waren alte Blutflecken. Rote und schwarze. Mensch und Dämon. Akil hatte mir erzählt, dass Jess sich einen Kampf mit Joanne geliefert hatte. Ein Teil davon hatte offenkundig hier stattgefunden. Ich passierte auch diese Tür, ließ endlich die Luft aus den Lungen, als ich im Gang war.
Eine Weile verharrte ich einfach. Wohin jetzt?
Rechts ging es weiter zur Küche. Früher war ich jeden Samstag dort durchs Fenster geklettert, um von den legendären Dampfnudeln zu klauen, die Auguste machte. Die Gute konnte fluchen wie ein Kesselflicker, wenn die Kruste nicht so wurde, wie sie es wollte, doch richtig in Fahrt kam sie, wenn sie mich auf frischer Tat ertappte. Zum Glück besaß ich schon als Kind außerordentliche Heilkräfte. Ob Auguste noch lebte? Sie verließ uns einige Jahre vor dem Brand und trat ihre Rente an. Leider hatte ich sie nie wieder gesehen oder gesprochen.
Ich schüttelte die Gedanken ab und wandte mich nach links. Es war unwahrscheinlich, dass der Stein im Wohnhaus war. Das letzte Mal hatte ich ihn am Tag des Feuers getragen, also musste er mir auf dem Weg vom Kirchenschiff hinaus in den Garten abgefallen sein. Ich blickte die kleine Zwischentür an, durch die Mikael immer die Kirche betreten hatte, um seinen Gottesdienst zu beginnen. Dahinter lauerte die schlimmste Erinnerung von allen. Dort war er gestorben. Ganz langsam, als könnte ich durch eine zu hastige Bewegung irgendetwas aufschrecken, bewegte ich mich auf die Tür zu.
Der Weg kam mir ewig lang vor, als ginge ich auf einem Laufband, ohne mich von der Stelle zu bewegen. Doch schließlich stand ich direkt vor der Tür. Sie roch nach vermodertem Holz und vielleicht auch ein wenig nach einem erloschenen Feuer. Ich strich mit der Fingerspitze über die Oberfläche, wappnete mich für das, was gleich über mich herfallen könnte. Ich fühlte mich, als hätte ich Betäubungsmittel in den Adern. Alles um mich war gedämpft, ich konnte nichts mehr hören, nichts mehr riechen … als bäumte sich mein Körper mit aller Kraft gegen diesen Ort auf.
Langsam gab ich der Tür einen Schubs und linste um die Ecke. Das Kirchenschiff lag ruhig und verlassen da. Geröll und Schutt bedeckten einen Großteil des Bodens. Die Wände waren kahl, der Putz an vielen Stellen abgebröckelt. Dieses Gebäude hatte nichts von seinem früheren Glanz behalten. Alle heiligen Insignien waren entfernt worden. Einzig die großen Rundfenstern, die ebenfalls zum Teil zugenagelt waren, und den Bögen an der Decke erinnerten noch an eine Kirche. Ich wagte einen Schritt hinein und mied es, die Stelle anzublicken, an der Mikael begraben wurde, auch wenn ich fühlen konnte, wie sie um meine Aufmerksamkeit buhlte. Je tiefer ich mich in das Gebäude bewegte, umso stärker wurde das Gefühl der Vertrautheit, das über mich strich wie ein sanfter Regenschauer. Ich schloss die Augen und versuchte es abzuschütteln, doch die Energie des Gemäuers umschlang mich und zerrte an meinem Magen. Mir wurde übel, der Boden schwankte unter mir, aber ich zwang mich trotzdem weiter. Der Schweiß lief mir den Nacken hinab, es kribbelte und juckte überall auf meiner Haut. Auf einmal glaubte ich, nicht mehr alleine hier zu sein. Vielleicht lauerten die Geister meiner Vergangenheit doch noch in den Wänden. Vielleicht warteten sie nur auf den richtigen Zeitpunkt, um zuzubeißen.
Plötzlich legte sich eine Hand von hinten auf meine Schulter. Mein Herz setzte einen Schlag aus, ich wirbelte herum, packte die Hand des Angreifers und drehte sie nach hinten, bis es krachte.
»Au! Du verfluchter Mistkerl!« Akil wich zurück. »Hast du sie noch alle?«
»Ich … hab dich nicht … wie kannst du …? Warum schleichst du dich an mich heran?«
»Jetzt schlägt’s dem Fass aber den Boden aus! Ich rufe dich schon die ganze Zeit und mache mehr Lärm als ein Festumzug.«
»Im Ernst?«
Akil knetete sein Handgelenk, das bereits heilte. »Wo warst du denn mit deinen Gedanken?«
»Ich … ich weiß nicht.« Hatte mich dieser Ort doch mehr unter Kontrolle, als mir bewusst war? »Was machst du hier?«
»Nach dir sehen, damit du keinen Unfug anstellst. Zu Recht, wie mir scheint. Wäre ich ein gewöhnlicher Mensch, hättest du jetzt ernsthafte Probleme.«
»Es … es tut mir leid.«
Akil brummte leise. Zum Glück lag es nicht in seiner Natur, nachtragend zu sein. »Was machst du hier drinnen? Ich dachte, du wolltest nur das Bild holen.«
»Ich suche noch nach meinem Jadeanhänger.«
Er kannte den Stein natürlich. In meinem Zimmer lagen etliche Zeichnungen von ihm. Irgendwie hatte ich nach dem Brand das Bedürfnis gehabt, ihn zu malen, auch wenn ich ihn eh nie vergessen würde. Ich konnte mich an jedes Detail erinnern, angefangen von den verblassten Gravuren über die Farbabweichungen im Material.
»Na, dann mal viel Spaß. Das wird die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.«
»Ich weiß. Wie geht es Anna?«
»Unverändert. Ich habe ihr einen Trunk gemischt, damit sie schlafen kann. Jess und Violet sind bei ihr, ach, und Will traf ich noch, bevor ich ging. Er kam gerade aus der Bibliothek und wollte noch irgendwas mit Ilai bequatschen.«
»Der wollte doch nach Schottland, um die Locke der Undine abzugeben.«
»Macht er noch. Du weißt ja, wie er ist, wenn es um Anna geht. Außerdem muss er Jess noch beruhigen. Sie fragt ständig nach dem schwarzmagischen Zauber in ihrem Blut. Warum hast du ihr eigentlich davon erzählt?«
»Weil es nötig war. Wir hätten das schon längst tun sollen.« Ich lief ein Stück weiter und kickte den Schutt zur Seite.
»Violet ist total ausgeflippt, als sie das gehört hat, und wollte sofort zu Ilai stürmen, doch der ist bei seinem Kraftplatz und tüftelt an dem Gegenzauber für die Goldketten.«
Gut so. Je schneller er damit fertig wurde, umso besser. Ich schob eine alte Holzlatte weg. Einige Käfer stoben in alle Richtungen davon. Wie zum Teufel sollte ich in diesem Müll einen kleinen Stein finden? »Hat Anna sonst noch etwas erzählt?«
»Nein. Wenn sie zwischendrin aufwacht, wiederholt sie sich. Sie brabbelt von Coco und der Begabung, hinter der sie her ist, und dass diese an ihre Nachfahren weitervererbt wird, sie aber alles getan hat, um ihre Blutlinie zu schützen. Oder eher der Kranich hat es getan. Weißt du, was es mit dem Ding auf sich hat?«
»Als ich beim Rat der Seelenwächter war, ist Ilai ein Kästchen mit einem eingestanzten Kranich aus der Tasche gefallen. Er war ziemlich irritiert deswegen, hat aber leider nicht viel dazu gesagt. Ich habe Anna davon erzählt und sie meinte, sie wollte in die Bibliothek und sehen, ob sie mehr herausfinden könnte.« Vielleicht war das auch der Grund, warum sie in den Flashback gefallen war. Ihr Gehirn musste die Verbindung zu damals wiederhergestellt haben und hatte sie direkt zurückkatapultiert.
»Mh, verstehe. Hast du das Bild von dieser Coco denn bekommen?«
Ich kramte in meiner Jackentasche und reichte Akil den Umschlag. Er holte die Zeichnung heraus und verzog das Gesicht. »Sympathisch.«
»Nicht wahr?« Ich kickte eine weitere Latte weg.
»Und du glaubst, dass es die Coco ist, die Anna in ihrem Flashback gesehen hat?«
»Etwas anderes ergibt einfach keinen Sinn. Wie viele Mädchen mit diesem Namen, auf die diese Beschreibung passt, werden schon rumlaufen?«
»Nicht viele, denke ich.« Akil kratzte sich am Bart und tütete das Bild wieder ein. »Wenn dem so ist, müssen wir natürlich noch besser auf Jess aufpassen.«
In der Tat. Obwohl wir es nicht beweisen konnten, ob Anna und Jess verwandt waren, sprach alles dafür. Anna erwähnte, dass sich die Begabung durch eine besondere Aura zeigte, und Jess besaß nun mal genau so eine Aura. Nicht umsonst passte eine Fylgja auf sie auf. »Die Kleine mutiert zur Zielscheibe für sämtliche übernatürliche Wesen.«
Akil nickte und reichte mir den Umschlag. »Dann ist es ja gut, dass du sie trainieren wirst.«
Ich brummte leise und widmete mich dem nächsten Unrat.
»Jaydee …«, bohrte Akil. Ich hasste es, wenn er meinen Namen so künstlich dehnte. »Du macht es doch, oder?«
»Habe ich denn noch eine Wahl?« Außerdem hatte ich ihr bereits zugesagt. Nach der Sache mit der Undine war klar, wie dringend sie lernen musste, sich zu verteidigen, und ich war nun mal der Beste, der ihr das zeigen konnte. »Wir sind erst um sieben Uhr verabredet. Bis dahin bin ich hier fertig.«
Ich schob einen runden Stein zur Seite. Wo kam nur all der Abfall her? Auf einmal bemerkte ich, wie Akil mich musterte. »Was?« Ich blickte mich um. »Hast du was gefunden?«
»Nein, ich habe mich nur gefragt, was in deinem Hirn so vorgeht.«
»Bitte?«
»Will kam gestern zu mir und hat sich von mir heilen lassen, bevor wir zu der Undine aufgebrochen sind. Er meinte, er hätte sich mit dir geprügelt.«
»Hat er.«
»Leider erzählte er nicht, warum.«
Ich zuckte die Schultern. »Was soll ich dazu sagen? Manchmal knallen ihm die Sicherungen durch.«
Akil lachte auf. »Sicher doch. Wills zweiter Vorname ist quasi Selbstbeherrschung. Vermutlich hast du ihn mal wieder getriezt, und wenn ich raten müsste, würde ich mal ganz tollkühn darauf tippen, dass es um Anna ging. Was geht eigentlich zwischen euch ab?«
Hatte Will Akil erzählt, dass ich sie geküsst hatte? Das konnte ich mir nicht vorstellen, er würde sich lieber die Zunge ausbeißen, als darüber zu sprechen. »Nichts. Das habe ich dir schon mal gesagt. Wir sind nur …«
»… Freunde. Klar doch.« Akil verschränkte die Arme vor der Brust. »Hör auf, mich zu veräppeln. Bisher warst du der Einzige, der Anna aus ihrem Flashback holen konnte, sie hatte dir blind vertraut, dich immer an sie rangelassen, und gestern war das nicht der Fall.«
Es war nicht einfach für mich gewesen, mit Annas Zurückweisung klarzukommen, aber ich hatte sie akzeptieren müssen.
Akil trat näher. Sein angenehmer Duft aus feuchter Erde drang in meine Nase. »Versteh mich nicht falsch, ich fände es echt schön, wenn ihr beide mehr sein könntet, doch ich habe irgendwie das Gefühl, dass du mit zu vielen Bällen jonglierst.«
»Du klingst genauso kryptisch wie Ilai.«
»Ich denke, dass du Anna gar nicht willst, sondern sie als Ersatz hernimmst, um dich von Jess abzulenken. War das unkryptisch genug?«
»Wie zum Teufel kommst du auf das dünne Brett? Jess geht mir auf die Nerven, mehr nicht.«
Akil grinste schelmisch und legte beide Arme auf meine Schultern, wie es eben große Brüder taten, wenn sie mit dem unvernünftigen Kleinen sprechen. »Wenn du dir das weiter einreden willst, kannst du das meinetwegen tun. Ich habe gesehen, wie du sie anschaust, sobald du dich unbeobachtet fühlst. Zwischen euch beiden knistert die Atmosphäre, ich spüre sowas, also versuche es gar nicht erst zu leugnen. Mir ist es auch grundsätzlich egal, mit wem du anbandelst, das weißt du. Nur nimm bitte nicht Anna als Puffer dazwischen, das hat sie nicht verdient.«
Das hatte sie wirklich nicht, und es lag mir nichts ferner, als mit ihren Gefühlen zu spielen. Ich streifte Akils Hände von meinen Schultern. »Hier noch mal zum Mitschreiben für dich: Zwischen Anna und mir läuft nichts und das wird es auch nie. Genauso wenig wie mit Jess. Ich kann sie nicht mal anfassen, ohne durchzudrehen. Nicht gerade die beste Grundlage für eine funktionierende Beziehung.«
»Es gibt für jedes Problem eine Lösung.«
Vielleicht nicht für dieses. »Wie dem auch sei, hilf mir lieber suchen und laber mich nicht voll, sonst sind wir hier bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.«
»Wie willst du in diesem Müll überhaupt einen kleinen Anhänger finden?«
»Keine Ahnung.« Es war bedauerlich, dass wir keinen Suchzauber anwenden konnten. Der würde nur funktionieren, wenn ich noch die Kette hätte, an der der Stein gehangen hatte.
Akil lief tiefer ins Kirchenschiff. Seine Schritte hallten von den Wänden wider, genau wie seine Stimme. »Ist es eigentlich okay für dich, hier zu sein?«
»Ich versuche, nicht zu viel darüber nachzudenken.« Akil kannte im Grunde nur die Eckdaten meiner Vergangenheit. Wann ich vor der Kirche ausgesetzt worden war, wann meine Empathie ausgebrochen und wann der Brand gewesen war. Ich hatte mich immer sehr bedeckt mit allem gehalten. Es erschien mir unnötig, über diese Zeit zu plaudern. Sie war vorbei. Das hier war vorbei. Ich bückte mich und schob einen großen Brocken weg. Er war auf einer Seite glatt geschliffen, auf der anderen porös. Vermutlich war er von einem der Deckenbögen abgebrochen. Außer noch mehr Dreck förderte ich leider nichts zutage.
Ich rotierte den Nacken, bis die Wirbel knackten, und blickte an die Stelle, an der früher das Jesuskreuz hinter dem Altar gehangen hatte. »Ein wenig Hilfe wäre nicht schlecht.« Normalerweise betete ich nie, obwohl ich in einem Gotteshaus aufgewachsen war. In all den Jahren hatte Mikael es nie geschafft, mich von seinem Glauben zu überzeugen. Dabei gab es viele Seelenwächter, die ihrer eigenen Religion nachgingen. William zum Beispiel war ein strenger Katholik und trug stets sein Kreuz neben seinem Seelenwächteramulett am Hals. Kirian war Hindu, Akil betete ab und an zu seinen alten Göttern aus Persien …
»Akil, vielleicht sollten wir …« Ein kalter Windhauch streifte meine Haut. Ich drehte mich um und spähte in die Richtung. Eine der Seitentüren stand offen. Es war nichts Außergewöhnliches zu erkennen, aber irgendwie verspürte ich den Drang, nach draußen zu gehen. Ich lief zu der Tür und trat ins Freie. Die hohe Mauer zeichnete sich blass in der Nacht ab. Weiter links war der ehemalige Haupteingang, der nach dem Brand zugemauert wurde. Man konnte im Grunde das Gelände nur über die Rückseite betreten. Ich ging an der Kirche entlang, und als ich um die erste Ecke bog, spürte ich es wieder: ein Kribbeln im Nacken.