Die Archive der Seelenwächter: Weg des Kriegers - Nicole Böhm - E-Book

Die Archive der Seelenwächter: Weg des Kriegers E-Book

Nicole Böhm

5,0

Beschreibung

Akil ist ein Seelenwächter. Im ewigen Kampf gegen die Schattendämonen hilft er den Menschen und nutzt dazu die Kraft seines Elementes: der Erde. Doch nun hat ihn diese Kraft verlassen, und Akil möchte nur noch eines: darüber hinwegkommen. Wie? Am besten mit einer wilden Party. Bei einem feuchtfröhlichen Abend in einer Bar lernt er einen Fremden kennen. Akil ahnt nicht, dass diese Begegnung schwerwiegende Folgen für ihn haben wird und er sich einem Menschen aus seiner Vergangenheit stellen muss, den er eigentlich vergessen wollte. Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel4

2. Kapitel8

3. Kapitel16

4. Kapitel30

5. Kapitel46

6. Kapitel54

7. Kapitel58

8. Kapitel65

9. Kapitel69

10. Kapitel85

11. Kapitel91

12. Kapitel103

13. Kapitel108

14. Kapitel119

15. Kapitel122

16. Kapitel128

17. Kapitel131

18. Kapitel150

19. Kapitel153

20. Kapitel159

21. Kapitel161

22. Kapitel175

23. Kapitel191

24. Kapitel203

25. Kapitel205

26. Kapitel213

27. Kapitel214

28. Kapitel222

29. Kapitel227

30. Kapitel235

31. Kapitel254

32. Kapitel264

33. Kapitel271

34. Kapitel280

35. Kapitel285

Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«288

Die Fortsetzung der Seelenwächter:289

Impressum290

Die Archive der Seelenwächter

Der Weg des Kriegers

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

Malea Island, Karibik – Die Gegenwart

Akil zog sein Shirt glatt, atmete einmal durch und läutete die Glocke des Gästehauses. Sechs Tage. So lange war er weggewesen. Unfassbar, was in der Zeit alles geschehen war. Gefühlt konnte er mit den Ereignissen ein ganzes Leben füllen, aber das war ihm schon öfter so ergangen. In den zweitausend Jahren, in denen er auf der Erde wandelte, hatte er viel gesehen, viel erlebt, viel verkraften müssen.

Die letzten sechs Tage toppten einiges.

Gerade als er sich überlegte, ein zweites Mal zu klingeln, ging die Tür auf.

Und da stand er: Jaydee. Sein Freund. Sein Bruder. Mit nacktem Oberkörper, tätowiert und verdammt kurzen Haaren.

Für einen Moment vergaß Akil seine Sorgen, vergaß, was mit ihm geschehen war. Er wollte einfach nur seinen Freund an sich ziehen und seine Nähe genießen. Also breitete er die Arme aus. »Ich bin wieder da, Herzchen!«

Statt sich zu freuen, starrte Jaydee ihn an. Entgeistert. Schockiert. Und vielleicht ein klein wenig entrückt. Akil trat nach vorne und riss ihn an sich.

»Oh, mein Gott«, rief Jess auf einmal. »Akil!«

Er blickte auf, Jaydee schob ihn von sich. Jess steckte ihr Handtuch an ihrem Körper fest, rannte um die Couch herum und stürmte auf Akil zu. Und da wurde es ihm klar: Jaydee halbnackt, Jess halbnackt ... beide allein.

Er blickte über Jaydees Schulter zu ihr, zurück zu ihm.

»Ups.«

»Ja, ups ...«

»Ich bin wohl ...«

»Akil!« Jetzt lag auch Jess in seinen Armen. Sie drückte sich an ihn, ohne Scheu oder Ekel vor seinem Outfit. Er hob sie hoch, wirbelte sie einmal herum und setzte sie wieder ab.

»Wie geht es dir?«, fragte Jess.

Akil lächelte entschuldigend. »Jay! Ey, Mann, das ist jetzt aber echt ...«

»Du sagst es.« Er hob eine Augenbraue, schubste ihn nach draußen und knallte die Tür vor seiner Nase zu.

Zack.

Akil realisierte erst nach ein paar Sekunden, dass er ausgesperrt worden war. Er schüttelte den Kopf und strich sich die Haare zurück. Vielleicht war es doch kein guter Zeitpunkt gewesen, um zurückzukommen.

Auf einmal ging die Tür wieder auf und Jess sah ihn an. Akil lächelte. »Lasst euch bloß nicht von mir aufhalten. Die paar Minuten kann ich noch warten.«

»Du kommst sofort rein«, sagte Jess. »Und wie siehst du überhaupt aus?«

»Tut mir wirklich leid, Mann«, sagte er zu Jaydee.

»Tut es nicht, aber egal.«

Er ließ sich von Jess ins Haus ziehen und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Gott, sahen die beiden gut aus! Ein wenig erschöpft vielleicht, aber dieses angespannte Knistern, das sonst zwischen ihnen hing, war weg. Oder eher: Es hatte einer anderen Art von Knistern Platz gemacht. Akil war durchaus klar, was die beiden trieben. »Ihr habt es also geschafft, mh?«

»Eigentlich wollten wir es eben schaffen«, sagte Jaydee.

Scheiße. Das war also ganz schlechtes Timing gewesen. »Warum bist du tätowiert?« Er fragte das eigentlich nur, um die Spannung etwas zu mildern.

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Und warum sind deine Haare so kurz?«

Jaydee strich sich über den Kopf. »Hab mit dem Feuer gespielt.«

»Das kannst du doch noch später erzählen«, sagte Jess. »Erst Akil!«

»Das kann ich nicht in zwei Sätzen zusammenfassen, und außerdem musst du dir dazu etwas anziehen. Das hält man ja nicht aus.« Jess war nun mal eine Fackel. Wäre Jaydee nicht so interessiert an ihr gewesen, hätte Akil sie längst flachgelegt.

»Okay. Mach ich. Aber du versprichst, dazubleiben.«

»Oder du kommst morgen wieder«, sagte Jaydee.

Akil zuckte mit den Schultern, es tat ihm wirklich leid, aber eigentlich wollte er nicht morgen wiederkommen. Er wollte hierbleiben und seinen Freunden erzählen, was er erlebt hatte. Er musste! Sonst würde er platzen!

Jess sah ihn erwartungsvoll an. Sie würde ihn nicht gehen lassen, so viel war klar. Für Jaydee gab es heute leider keinen Sex.

»Also gut, ich erkläre euch alles«, sagte Akil schließlich. »Aber ihr setzt besser ’nen Kaffee auf. Ihr werdet nämlich nie glauben, was mir passiert ist ...«

Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten:

Bedingung und Gesetz; und aller Wille

So sind wir scheinfrei denn nach manchen Jahren

Nur enger dran, als wir am Anfang waren.

2. Kapitel

Die Insel Faial, Azoren, vor sechs Tagen

»Trinken! Trinken! Trinken!«

Die Menge grölte. Akil stand auf einem Tisch in der Mitte der Bar, hielt einen Zwei-Liter-Bierkrug an die Lippen und kippte den Inhalt Schluck für Schluck hinunter. Die Hälfte war geschafft, aber ihm war so kotzübel, dass er bezweifelte, den Rest auch zu packen. Er setzte ab und sah nach links. Auf dem Nachbartisch stand Tom und trank ebenfalls. Er hatte seinen Krug fast geleert, schwankte jedoch bei jedem Schluck. Nicht mehr lange, und er kippte um. Auch Akils Kopf schwirrte. Er hatte keine Ahnung, wie viel er intus hatte. Irgendwo zwischen dem fünften und sechsten Bier hatte er den Überblick verloren.

»Komm schon, Akil!«, rief Raphael und klatschte in die Hände. »Nicht schlappmachen!«

Der Arsch hatte gut reden. Er war noch ein Seelenwächter. Er konnte nicht betrunken werden, zumindest nicht, wenn er das nicht wollte. Wie jeder Wächter der Erde besaß Raphael Selbstheilungskräfte. Alkohol, Drogen oder andere Gifte hatten bei ihm keine Wirkung. Normalerweise. Raphael mischte sich gerne mal Titaniumstaub in seine Cocktails. Das Zeug war das einzige, was einem Seelenwächter schaden konnte. Eigentlich wurde Titanium nur für das Schmieden der Waffen verwendet, aber Raphael hatte es zweckentfremdet und setzte es für sein eigenes Vergnügen ein. Akil blickte zu ihm. Raphaels Pupillen waren erweitert, er wirkte verklärt und entrückt, also hatte er wieder Stoff nachgelegt.

Volldepp.

Früher hatte es Akil nicht gestört, wenn Raphael sich so gehen ließ. Und so lange er niemandem damit schadete, konnte er tun, was er wollte. Heute empfand er es als persönlichen Angriff. Als Beleidigung dessen, was die Seelenwächter waren. Raphael sollte froh darüber sein, dass er noch mit dem Element Erde verbunden war und ihre Kraft spüren durfte. Akil würde seinen rechten Arm dafür geben, wenn er seine Fähigkeiten zurückerlangen könnte.

Seit er von dem Pfeifzauber erwacht war, den Joanne über Ilai, Anna und ihn gelegt hatte, fühlte er sich, als wäre ihm ein Teil seiner Seele entrissen worden. Die Erde sprach nicht mehr zu ihm. Wo früher das Leben durch seine Zellen pulsierte, wo er mit jedem Atemzug die Natur um sich spürte, ihre Stärke und ihre Energie in sich aufgenommen hatte, war nur Leere. Dumpfe, ekelhafte, kalte, graue Leere. Akil war unvollständig. Er war weder ein richtiger Mensch noch war er ein Seelenwächter. Er hing in einem Zwischenstadium. Schwach und wackelig und zu nichts zu gebrauchen.

Die Erkenntnis stieß bitter in ihm auf. Oder es war das Bier. Oder beides. Egal. Er setzte den Krug ein weiteres Mal an und trank und trank und trank. Der Alkohol sackte in seinen Bauch, verteilte sich in seiner Blutbahn, machte ihn leicht und gleichzeitig schwer. Die Menge um ihn jubelte, feuerte ihn an. Auch das war ihm egal.

Er trank, bis der Krug leer war.

Akil setzte ihn ab, torkelte. Die Leute sahen ihn erwartungsvoll an. Er blickte zum Tisch nebenan. Tom hatte ein Viertel Bier vor sich. Das hieß wohl, dass Akil gewonnen hatte.

Yeah.

Oder auch nicht.

Mir ist schlecht.

Er ließ den Krug fallen, rülpste und plumpste vom Tisch.

Das Lachen um ihn herum wurde lauter, jemand fing ihn auf, hielt ihn, stützte ihn.

»Hab dich, Kumpel«, säuselte Raphael. Akil krallte sich an seiner Schulter fest und ließ sich von ihm auf den nächsten Stuhl bugsieren. Er kämpfte gegen den Brechreiz und versuchte krampfhaft, den Geschmack nach Bier auf seiner Zunge zu ignorieren. Noch ein Schluck, und er würde alles wieder nach oben befördern. Raphael legte eine Hand auf Akils Schulter. Warme, angenehme Energie sickerte in ihn. Der Geruch nach frischem Moos und Erde mischte sich unter die Ausdünstungen der Bar. Für einen Moment überwog die Natur, zog Akil in ihren Bann und in ihre Arme. Raphael trat hinter ihn und legte die andere Hand auf seine Stirn, als wolle er Fieber messen. Doch Akil wusste, was er tat. Er heilte ihn. Half seinem Körper, den Alkohol abzubauen und einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Raphaels Energie rauschte durch seine Zellen. Es war ein sagenhaftes Gefühl, als stünde er unter einem erfrischenden klaren Wasserfall, der all den Dreck und das Schlechte aus ihm herausspülte.

Akil schloss die Augen, nahm die Kraft der Erde in sich auf, bis sie tief in seinen Bauch sickerte und sich dort in Wärme verwandelte. Am liebsten hätte er sich Raphael gekrallt und wäre in ihn hineingekrochen, nur damit er mehr davon haben konnte.

So gut.

So stark.

So vergangen.

Akil war kein Seelenwächter mehr.

Er war nicht mehr Teil hiervon. Je schneller er das begriff, umso besser.

»Hör auf«, sagte er, schlug Raphaels Hand weg und beugte sich nach vorne. Raphael hatte ihn nicht komplett heilen können. Noch immer rauschte der Alkohol durch sein Blut, der Boden tanzte, aber wenigstens war die Übelkeit weg. Vielleicht sollte Akil nachlegen. Sich richtig abschießen und nie mehr aufwachen.

»Gibt es in diesem Laden auch was zu trinken?«, rief er zur Bar.

Jemand lachte leise und ließ sich auf den Stuhl neben ihn sinken. »Hast nicht genug?«, fragte Tom. Er sah wesentlich fitter aus als Akil. »Hier.« Er hatte zwei Biergläser dabei und stellte ein volles vor ihm ab. Akil griff danach, verfehlte es zweimal, bevor er den Henkel erwischte.

»Ich mag trinkfeste Kerle«, sagte Tom und zwinkerte.

Es war Akil nicht entgangen, dass der Typ mit ihm flirtete und versuchte abzuchecken, ob er Chancen hatte. Vielleicht hatte er die auch. Tom passte durchaus in Akils Beuteschema. Er war ein Fischer, also braungebrannt, mit Muskeln an den richtigen Stellen – soweit er das unter dem Shirt erkennen konnte –, war humorvoll und charmant. Vor ein paar Tagen wäre er sofort auf ihn angesprungen. Akil war es gleich, ob er mit Männern oder Frauen oder beiden gleichzeitig in die Kiste stieg. Für ihn zählte der Mensch, nicht das Geschlecht.

»Wir könnten auch auf einen Absacker zu mir«, redete Tom weiter. »Mein Boot ankert im Hafen. Wir fahren raus, wenn du willst. Die Nächte auf dem Meer sind toll.«

»Erstens bist du betrunken und solltest nirgendwohin fahren, zweitens bin ich betrunken, und bei aller Liebe, aber du glaubst nicht ernsthaft, dass ich heute zu mehr in der Lage bin, als ins Koma zu stürzen, und drittens ...« Tja, was?

Drittens hatte er keinen Bock. Auf nichts. Er wollte vergessen und auch nicht. Er wollte die Zeit zurückdrehen. Jaydee daran hindern, dass er im Training Akils Fähigkeiten absorbierte – falls das überhaupt der Grund für seinen momentanen Zustand war. Er wollte nie diesem Pfeifzauber ausgesetzt werden, wollte davonrennen, sich absetzen und irgendwo alleine mit seinem Element leben.

Bei allen Göttern, wann war er so ein elender Waschlappen geworden?

»Drittens stehst du nicht auf Männer?«, fragte Tom und lehnte sich näher. »Oder deute ich deine Signale falsch?« Er lächelte sanft, legte eine Hand auf Akils Knie und drückte zu. »Mein Angebot steht.«

Zu schade, dass bei Akil nichts stand und auch in nächster Zeit nicht würde. Ihm war nicht nach Gesellschaft, doch genauso fürchtete er sich vor dem Alleinsein.

Was war nur los mit ihm? Auf der einen Seite wollte er gerne zurück nach Hause. Seinen Freunden helfen – und sie konnten jede Hilfe brauchen. Der Rat der Seelenwächter wollte Jess von ihrer Fylgja trennen und sie in ihre Dimension zurückschicken. Williams Bruder wurde von Tag zu Tag mächtiger, Ilai hing in einer Art Kokon gefangen, der sich um seinen Körper geschlungen hatte, und Jaydee hatte sich eben erst aus den Fängen des Jägers gelöst. Es gab so viel zu tun, so viel zu kämpfen, aber Akil war am Ende angekommen, und er hatte keine Ahnung, wie er je wieder zurückfinden sollte.

»Wie wäre es, wenn wir erst mal an die frische Luft gehen?«, sagte Tom. »Du siehst aus, als müsstest du gleich auf den Tisch kotzen.«

Musste er nicht, aber frische Luft wäre trotzdem gut. Akil blickte sich um. Die Leute hatten sich nach der Show zurückgezogen und plauderten miteinander. Noch immer war die Kneipe gut gefüllt, die Atmosphäre stickig warm. Raphael hatte sich zur Theke getrollt und flirtete mit einer Rothaarigen, die auf seinem Schoß saß und ihre Finger unter sein Hemd geschoben hatte. Am Nachbartisch hockten drei Frauen, die zu Akil sahen und lächelten, und der Blonde am Billardtisch ließ ihn auch nicht aus den Augen. Dieser Ort schrie danach, Party zu machen.

Diese Welt stand ihm offen, sie gierten und lechzten danach, ihren Spaß zu erleben.

Akil schob den Stuhl zurück und stand auf. Sofort drehte sich alles, und er musste sich an der Tischkante festhalten. Verdammter Scheiß, echt!

»Okay, langsam«, sagte Tom und legte einen Arm um ihn. »Vielleicht trinkst du erst mal nur Kaffee.«

Ja, außerdem musste er dringend pinkeln. Das war auch so eine Sache! Seit er seine Fähigkeiten verloren hatte, musste er ständig aufs Klo. Dieses ganze verfluchte Menschsein war zum Davonlaufen.

Er ließ sich von Tom aus der Kneipe führen. Kaum war er draußen, steuerte er den nächsten Baum an und erleichterte sich dort.

Die Nacht war lau, es wehte eine angenehme Brise vom Meer her, und nur wenige Wolken standen am Himmel. Früher hätte er am Duft der Natur erkannt, ob es bald regnen würde oder ob morgen ein sonniger Tag käme, ob die Menschen hier glücklich waren. Er hätte aus dem Baum, an dem er im Moment stand, Informationen saugen können. Hätte sich seine Geschichte erzählen lassen, Dinge sehen, die er gesehen hatte.

Früher. Ha! Vor ein paar Tagen erst. So lange war das alles noch gar nicht her. Dennoch kam es ihm vor, als läge ein ganzes Leben dazwischen.

Was sollte er ab nun mit sich anfangen? Er konnte nicht mehr heilen, er hatte keine übermenschliche Kraft. Wie sollte er gegen Dämonen antreten, wenn ihm schon der Weg von der Bar hierher sämtliche Energie aus den Beinen gezogen hatte?

Und wenn er nichts anderes im Sinn hatte, als sich zu bemitleiden.

»Was soll ich nur tun?«, fragte er sich selbst.

»Die Hose zumachen, das wäre ein Anfang«, antwortete Tom.

Akil grummelte und zog sich wieder an. »Das ist echt eine riesengroße Scheiße.«

»Ja, morgen wirst du einen ordentlichen Kater haben.«

Wie auch immer. »Danke fürs Begleiten, ich gehe ’ne Runde spazieren. Allein.«

»Auf keinen Fall. So dicht wie du bist, landest du im Meer.«

Hinter ihm flog die Tür von der Bar auf und Raphael stürmte heraus. Gemeinsam mit der Rothaarigen und den drei Frauen. Er zog im Rennen sein Shirt über den Kopf und knöpfte seine Jeans auf. Vor Übereifer stürzte er über die halb heruntergelassenen Hosenbeine und landete bäuchlings im Sand. Die Frauen jubelten, taten es ihm gleich und entledigten sich ebenfalls ihrer Kleidung. Raphael lachte sich halb tot, warf sich auf den Rücken, streckte die Beine nach oben und zog die Hose herunter. »Komm mit, Akil! Wir gehen schwimmen!«

Akil schüttelte den Kopf. Er hatte absolut keine Lust, sich mit Raphael oder einer der Ladies in den Fluten zu tummeln.

»Ich glaube, das ist keine gute Idee«, sagte Tom. »Er ist genauso breit wie du.«

»Keine Angst, der kommt klar.« Raphael konnte wenigstens nicht ertrinken, egal, was er anstellte.

»Aber der Typ ist total durchgeknallt.«

»Ich weiß.«

Mittlerweile hatte Raphael sich aus seinen Klamotten geschält, nur seine weiße Unterhose stach grell in der Nacht wie eine Warnboje hervor.

Die Rothaarige sprang nackt ins Wasser, Raphael folgte und jubelte. »Hey, Akil! Was ist denn nun?«

Akil drehte sich um und stiefelte in die andere Richtung davon.

»Ey, Mann!«, rief Raphael noch. Seine Stimme ging im Wasser und dem Gelächter der Frauen unter. Es würde keine Minute dauern, bis er vergessen hatte, dass Akil überhaupt da war.

»Wo willst du denn hin?«, rief Tom ihm hinterher, aber Akil ging einfach weiter. Er wollte seine Ruhe. Weg von all dem Scheiß. Von den Menschen. Von Raphael. Von all den Erinnerungen an die Seelenwächter.

Und so lief er einfach den Strand entlang, bis das Gemurmel aus der Kneipe verstummte und die frische Seeluft sein Hirn klarer werden ließ. Er kletterte über Steine, rutschte fast auf dem glitschigen Felsen aus, doch er lief weiter und weiter.

Nach einigen Minuten stülpte sich eine angenehme Ruhe über ihn. Er drehte herum. Die Lichter des Ortes schimmerten in der Ferne wie Glühwürmchen. Das Meer rauschte leise, der Wind blies ihm um die Ohren, es roch nach Salz und ... nach Alkohol. Akil hob das Shirt an seine Nase, verzog das Gesicht und streifte es über seinen Kopf. Die Schuhe zog er ebenfalls aus, watete ins Meer, bis das Wasser an seinen Knöcheln hochstieg und seine Waden umspülte. Es war ein wenig zu kalt, aber egal. Er könnte weitergehen und losschwimmen. Akil war ein guter Schwimmer. Als Seelenwächter der Erde stand er über dem Element Wasser – hatte gestanden ...

Gewöhn dich endlich dran, es ist vorbei.

Akil starrte auf die glitzernde schwarze Oberfläche, die sich bis zum Horizont ausbreitete. So endlos. So frei. So weit. Genauso weit waren auch seine Fähigkeiten von ihm entfernt. Wenn er Pech hatte, für immer.

»Mein Schiff liegt da drüben.«

Akil zuckte zusammen. Er hatte nicht mitbekommen, dass Tom ihm gefolgt war. Großartig. Seine Sinne waren genauso verkrüppelt wie er. Am besten käme ein Dämon daher und trieb ihm eine Klinge von hinten durchs Herz.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Schon gut.«

»Okay, letzter Versuch.« Tom räusperte sich. »Ich will mich echt nicht aufdrängen, aber du siehst so aus, als könntest du heute Nacht Ablenkung brauchen. Sollte ich mich tatsächlich irren, sag es und ich lasse dich endgültig in Ruhe.« Tom kam ein Stück näher und trat ebenfalls ins Wasser. Akil spürte, dass es Tom Überwindung kostete, derart forsch auf ihn zuzugehen. Tom wirkte eher wie der schüchterne Typ, der abwartete, statt sich zu nehmen, was er wollte. Eigentlich eine Eigenschaft, die Akil äußerst reizvoll fand. Er hatte es schon immer gemocht, Menschen aus der Reserve zu locken. Sie so lange zu kitzeln, bis sie über sich hinauswuchsen und Dinge vollbrachten, mit denen sie nie gerechnet hätten.

Eigentlich.

»Tut mir leid«, sagte er träge. »Aber ich hab tatsächlich kein Interesse.« Oder doch? War es so schlimm? Könnte er nicht einfach mit Tom gehen, für ein paar Stunden alles vergessen und sich erst morgen wieder im Selbstmitleid suhlen?

Tom zuckte zusammen. »Verstehe.«

»Es liegt nicht an dir, okay?«, schob Akil nach. »Ich bin nur … ich bin nicht ich selbst im Moment.«

»Schon gut, du musst dich nicht erklären. Ich … ich dachte echt nur ... ach egal. Ich geh zurück auf mein Schiff. Danke für die Unterhaltung.« Er drehte um und stakste den Strand hinunter in die Dunkelheit.

Akil blickte ihm hinterher und fluchte leise. Das hier war nicht er. Das war nicht seine Art, er ging auf Menschen zu und wies sie nicht ab. »Ach, verdammt noch mal.«

Gib dir einen Ruck und hör auf mit dem Geheule! Es gibt Schlimmeres, als mit ’nem gutaussehenden Kerl im Bett zu landen.

Außerdem ist der Weg zur Normalität das Beste, um eine Krise zu überstehen.

»Warte!« Akil joggte Tom in die Nacht hinterher, bog um die Felskante und blickte in die Dunkelheit.

Wo war der so schnell hin?

»Tom?«

Eben war er doch noch ...

Auf einmal traf ihn etwas Hartes auf den Kopf.

Akil keuchte, blinzelte, stütze sich am Felsen ab.

»Tut mir leid, Mann«, sagte Tom und schlug ein zweites Mal zu.

Das letzte, was Akil mitbekam, war, wie er auf dem Boden landete, bevor ihn die Nacht umschloss.

3. Kapitel

Madaktu, Persien, 215 v.Chr.

Srrrrrrrrr....

Akil schlug nach der Fliege, die um seinen Kopf schwirrte, rollte sich auf die Seite und wünschte sich gleichzeitig, er hätte es nicht getan. Seine Glieder waren steif von der langen Nacht auf dem harten Boden, und er hatte mal wieder Magenkrämpfe. Er winkelte die Beine an, atmete tief ein und aus. Er musste sich nur genug entspannen, dann hörten sie meistens auf.

Srrrrrrrrr....

Die Fliege setzte sich auf seine Stirn. Er fegte sie davon, was das Mistvieh nur dazu motivierte, sich an einer anderen Stelle niederzulassen. Akil ignorierte sie und konzentrierte sich stattdessen weiter auf seinen Atem. Ein und aus ... Er legte eine Hand auf seinen Bauch, rieb sachte darüber und wartete, bis das Brennen aufhörte. So machte er das jeden Morgen. Meistens half es, aber auf lange Sicht linderte nur eine Sache: Essen.

Srrrrrrrrr....

Akil fluchte, zog die zerrissene Decke über seinen Kopf und schloss demonstrativ die Augen. Er fror, wie immer am Morgen, doch das würde nicht lange so bleiben. Spätestens wenn die Sonne über Madaktu aufging, stiegen die Temperaturen ins Unermessliche.

Srrrrrrrrr....

»Ahriman soll euch holen!«, brüllte er.

Srrrrrrrrr....

»Hey, Akil!«, rief Zareen.

Großartig. Der hatte ihm noch gefehlt. Lieber zog er eine Horde Fliegen vor, als sich mit seinem großen Bruder herumzuschlagen.

»Scher dich raus und beschaff was zu essen.«

»Scher dich selbst raus!«

Seit Zareen letzten Sommer eine Hand verloren hatte, war er unerträglich geworden. Dabei hatte er Glück gehabt, dass er das überlebt hatte. In Madaktu starben mehr Menschen an eitrigen Wunden als an anderen Gebrechen. War immer ein nettes Bild, wenn die Fliegen ihre Eier in den offenen Stellen ablegten und man kleine krabbelnde Untermieter bekam.

Srrrrrrrrr....

Akil fuchtelte erneut in der Luft herum.

»Hast du nicht gehört, du Nichtsnutz?« Zareen trat in die Hütte. Sie hatte keinen festen Eingang, nur ein Laken, das als Tür diente. Immerhin war es ein Dach über dem Kopf, und sie hielt die gröbsten Sandstürme fern. »Heute fängt der Markt an. Du wirst uns was zu essen besorgen.«

»Besorg dir doch selbst was. Setz dich an den Straßenrand und bettle. Zeigst ihnen deinen Armstumpf und gut is.«

Zareen stapfte auf Akil zu, riss die Decke herunter, packte sein Ohr und zerrte ihn in die Höhe.

»Au!«

»Los jetzt. Ich werde hierbleiben und mich um Mutter kümmern. Das Fieber ist gestiegen. Sie braucht etwas zu essen und frisches Wasser. Im Kübel ist heute Nacht eine Ratte ersoffen.«

Na toll! Das hieß, Akil durfte den elenden Fußmarsch zum Brunnen auf sich nehmen. Er benötigte einen halben Mittag für die Strecke, und das bei der Hitze.

»Warum hast du nicht das Brett draufgelegt?«

»Hab ich, und stell mich gefälligst nicht infrage!« Zareen gab Akil einen Schubs und trat ihm zum Nachklang ins Kreuz. Als würde sein Rücken nicht schon genug schmerzen. Bestimmt hatte der Idiot das Brett absichtlich runtergenommen, damit Akil frisches Wasser holte. Nach ein paar Tagen schmeckte es ekelhaft, aber er sah nicht ein, ständig zum Brunnen zu latschen, nur weil Zareen zu faul war. Dabei konnte er auch mit einer Hand Wasser holen.

»Muss ich dir erst den Hintern versohlen?«, fragte Zareen und drohte den nächsten Schlag an.

»Du kannst mich mal.« Akil lief um die Trennwand in das angrenzende Zimmer. Dort lag seine Mutter auf einer alten Decke und stöhnte leise. Ewa hatte seit drei Tagen Fieber. Sie hatte sich in den Finger geschnitten, als sie eine Ratte ausnahm, um sie zu braten. Akil ging langsam näher. Sie murmelte Wörter im Schlaf und strömte einen leicht fauligen Geruch aus. Fliegen surrten von ihrer Hand hoch und schwirrten Akil ums Gesicht. Er wedelte sie davon und wusste jetzt schon, dass sie sich erneut auf die Wunde stürzen würden, sobald er weg war.

Zaghaft strich er über Ewas Wange. Sie war heißer als gestern. Entweder sie nahm bald die Kurve zurück ins Leben, oder sie würde den Göttern gegenübertreten. Akil seufzte. Er kannte seine Mutter fast nur liegend. Entweder weil ihr die Füße schmerzten, oder weil sie unter irgendeinem Kerl die Beine breitmachte. Diese Frau hatte ihn zur Welt gebracht und sich danach einen Dreck um ihn geschert. Genauso wenig wie sie sich um eins ihrer anderen zahllosen Kinder scherte.

So hatte Akil es Zareen zu verdanken, dass er überhaupt so alt geworden war und bereits fünfzehn Sommer zählte. Naja, vielleicht auch schon sechszehn oder erst vierzehn. So genau wusste das niemand. Genauso wenig wusste er, wer seine anderen Geschwister waren. Entweder trieben sie sich draußen auf den Straßen Madaktus herum, oder sie waren tot.

»Du bist ja immer noch da!«, blaffte Zareen und lehnte sich an die Trennwand.

»Meinst du, Mutter stirbt?«, fragte Akil und klang dabei so gefühllos, dass er sich selbst darüber wunderte. War es ihm wirklich egal?

»Kann sein.«

Akil wedelte ein weiteres Mal die Fliegen davon, die sich schon wieder über den schmutzigen Verband an Ewas Finger hermachten, und stand auf.

»Komm nicht ohne Essen zurück«, sagte Zareen.

Akil rollte die Augen. »Natürlich nicht, Eure Hoheit. Heute Abend werden wir fürstlich speisen und trinken. Wir werden uns fett und rund essen, bis wir platzen!« Das wollte Akil schon immer machen. Essen, bis nichts mehr reinpasste, und sehen, ob man wirklich davon platzen konnte.

Er sah zurück zu Ewa. Sie keuchte und schmatzte, als hätte sie etwas besonders Leckeres im Mund. Wäre sie noch da, bis er zurückkehrte? Ganz sicher. Selbst wenn sie sterben sollte, würde Zareen sie nicht raustragen und beerdigen. Das würde Akils Aufgabe sein. Er zögerte, lief zurück, beugte sich über sie und küsste ihre heiße Stirn. »Leb wohl, Mutter.«

Zareen schnaubte ungeduldig. Akil warf ihm einen verächtlichen Blick zu, stand auf und holte das Messer von der Kochecke. Es war nicht erlaubt, Waffen mit auf den Markt zu nehmen, aber Akil wurde selten durchsucht. Er wischte die Schneide an seinem Hosenbein ab, steckte es in den Bund und trat hinaus.

Die Sonne schob sich über die Häuser. Die meisten waren aus Lehm oder Bruchstücken vom Felsen gebaut worden. Wild übereinandergestapelte Behausungen, die nur einen Zweck erfüllten: vor der Witterung zu schützen. Wenigstens einigermaßen. Manche besaßen Türen und Fenster, andere nur drei Wände und als Dach eine alte Decke.

Akil bog nach links ab und machte sich auf den Weg zum Marktplatz. Madaktu war mit einer Mauer geschützt, die in Kreisform um die Grenzen verlief. Die Straßen waren so angelegt, dass alle Wege zum Zentrum führten, man konnte sich also nicht verirren, auch wenn man es versuchte. Aus den Häusern strömten die Bewohner, niemand wollte sich den Markt entgehen lassen. Die perfekte Gelegenheit um Fremde auszunehmen, Essen zu klauen oder sich bei der nächsten Karawane einzuschmuggeln.

Das Positive an diesem Ort war nämlich seine Lage. Jeder, der in die nächstgrößere Stadt Susa reisen wollte, musste in Madaktu Halt machen, um seine Vorräte aufzufüllen. Das hieß, es kamen jede Menge Fremde, die sich nicht auskannten.

Akil lockerte seine Schultern, während er lief. Heute würde ein anstrengender Tag werden. Mit dem Markt stieg zwar das Angebot, aber auch die Kontrollen. Die Wachen wussten natürlich, dass die Straßengangs unterwegs waren, um zu klauen. Ramin verdoppelte in der Zeit seine Leute. Wenn er einen erwischte, wurde man – je nach Vergehen – einen Kopf kürzer gemacht. Das waren immer die besten Spektakel in Madaktu. Blutig und ekelhaft. Zareen hatte damals echt Glück gehabt, dass Ramin ihm nur die Hand abhackte.

Konnte man den Wachen schließlich entwischen, ging die richtige Arbeit los. Man musste das Diebesgut loswerden. Beim letzten Markt hatte Akil einen Beutel mit glitzernden Steinen geklaut. Er hatte sie Zareen gezeigt, der sie ihm um die Ohren gehauen hatte. Man konnte sie nicht essen, und als Zahlungsmittel waren sie in Madaktu unbrauchbar. Also schenkte Akil sie Banu. Einem Mädchen, das einen Sommer älter als er war und zwei Straßen weiter wohnte. Sie mochte die Glitzerdinger sehr und hatte sich sogar für Akil ausgezogen. Er hatte Banu überall anfassen dürfen, und dann hatte sie ihn angefasst. Allein bei dem Gedanken daran, wie er in ihr ... er schüttelte den Gedanken ab. Es war Akils erstes Mal gewesen, und er wusste jetzt schon, dass er mehr davon brauchte. Viel mehr! Das hieß, er benötigte mehr Glitzersteine. Für Banu würde er sogar den Mond vom Himmel holen. Ha! Wie poetisch. Er sollte ihr das sagen.

»Hey, Akil!«

Er drehte sich um. Azam rannte um die Ecke und blieb vor ihm stehen. Woher er die Energie zu rennen nahm, wusste Akil nicht. Vermutlich weil Azam mehr zu essen bekam als er. Seine Familie kümmerte sich gut um alle. Azams Vater ging regelmäßig raus in die Wüste, um zu jagen, was verboten war – und er war ziemlich erfolgreich.

Akil und Azam hatten sich vor fünf Sommern getroffen und waren seither unzertrennlich. Vor einem Sommer kam schließlich Mihra dazu, die mit ihrer Tante hergezogen war. Akil hatte bis heute nicht verstanden, wie man sich freiwillig in Madaktu niederlassen konnte, aber Mihras Tante war wohl der Meinung, dass an diesem Ort besondere Energien wirkten. Sie war recht eigentümlich, Akil hatte sie nicht ein Mal zu Gesicht bekommen.

»Hast’n neues Hemd?«, fragte Akil.

Azam hob den Stoff an. »Ja, hat mir Mutter geschenkt. Hier.« Er griff in seine Hosentasche. »Hast doch bestimmt Hunger.« Er reichte Akil ein Stück getrocknetes Fleisch.

»Oh, bei allen Göttern!« Akil riss es ihm aus der Hand und stopfte es in den Mund.

»Kauen nicht vergessen, ist leider zäh.«

»Egggll!« Was für ein Geschmack! Salzig und rauchig. Sein Magen zog sich zusammen, als könnte er es gar nicht erwarten, bis das Fleisch endlich unten ankam. Da es tatsächlich nicht zu kauen war, schluckte er es in einem Stück.

»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Azam.

»Nich gut. Der Finger sieht echt eklig aus. Zareen passt auf sie auf.« Nicht, dass er etwas tun konnte. Die Sterbensrate in Madaktu war hoch, und man band sich besser nicht zu eng an einen anderen. Azam war die Ausnahme. Er war Akils einziger Freund und seine wahre Familie. Na gut, vielleicht zählte Mihra auch dazu. So genau hatte er das noch nicht entschieden. »Kommt Mihra mit zum Markt?«

»Jep. Wir holen sie unterwegs ab.«

Sie setzten sich in Bewegung und liefen Richtung Osten.

Ein mittelgroßer Hund kreuzte ihren Weg und blieb vor ihnen stehen. Den kannte Akil, der hatte neulich versucht, ihn zu beißen, weil er sein Brot wollte. Der Köter fletschte die Zähne.

»Scher dich weg.« Azam hob einen Stein auf und schleuderte ihn gegen den Kopf des Hundes. Er winselte und knurrte gleichzeitig. Die Straßenhunde waren normalerweise harmlos, man musste nur schneller sein als sie. Und wenn man gebissen wurde, gab auch das oft ’ne fette Entzündung. Azam bückte sich nach dem zweiten Stein. Der Hund zog den Schwanz ein und trollte sich. »Drecksköter.«

»Hab gehört, dass heute auf dem Markt besonders viel los sein wird. In Susa gibt‘s wohl was zu feiern.«

»Ja. Die Prinzessin hat ’nen Prinzen gefunden. Jeder will ihn kennenlernen, die Leute kommen von überall her.«

Praktisch, dass die meisten einen Zwischenstopp bei ihnen einlegten.

»Darum sind mehr Wachen als üblich da. Es wird also besser und gleichzeitig schwerer. Bestimmt ist auch Tus mit seiner Bande auf Beutezug.«

Es war nicht unüblich, dass die Jungs sich zusammenrotteten und gemeinsam stahlen. Tus war der Anführer von drei Jungs, und sie waren gut. Letzte Woche hatten sie zwei Spanferkel geklaut. Und nichts davon abgegeben.

»Er wird uns bei der ersten Gelegenheit verpfeifen«, sagte Akil. Je weniger Konkurrenten, umso besser.

»Jep. Wir müssen heute dreifach wachsam sein.«

Sie blieben vor einer runden Lehmhütte stehen. Azam schob das Tuch zur Seite, das am Eingang hing, und rief nach Mihra.

»Läuft jetzt endlich was bei euch?«, fragte Akil.

»Weiß nich. Sie hat mich an sich herumfummeln lassen, aber das war’s auch schon. Und du? Hab gehört, dass du’s mit Banu getan hast.«

»Ja. War echt cool.«

»War sie sauber?«

»Klar. Ich hab mich auch extra vorher gewaschen.« So viel Anstand musste ja wohl sein.

»Mihra is auch immer sauber, und sie riecht so gut.«

»Das liegt daran, weil ich Seife benutze und nicht nur Wasser«, sagte sie und trat ins Helle. Sie trug ein bodenlanges Kleid. Es war mal weiß gewesen, jetzt eher beige-fleckig. Um ihren Hals hing ihr Amulett. Ein kleiner Spiegel, mit dem sie den Jungs Lichtzeichen gab, wenn sie auf dem Markt waren. Mihra warf die Arme um Azams Nacken und zog ihn zu einem Kuss auf ihre Lippen.

Akil stöhnte. »Könnt ihr das später machen? Wir haben zu tun, und ich hab Hunger.«

Azam löste sich von ihr. »Du hast doch eben was gegessen.«

»Ein Stück zähes Fleisch! Das is für’n hohlen Zahn, Bruder.«

»Hier«, sagte Mihra und reichte Akil ihre Tasche. »Da ist ein Apfel drin.«

»Ernsthaft?«

»Nein, ich mache Scherze, damit du dich freust. Iss.«

Das ließ Akil sich nicht zweimal sagen, er kramte in der Tasche und holte einen herrlich grünen Apfel heraus. Sein Magen zog sich zusammen und gab ein tiefes Brummeln von sich. Akil biss hinein und war im Himmel. Der Apfel schmeckte süß und säuerlich, und überhaupt war er das Beste, was er je gegessen hatte. Wobei er das immer dachte, wenn er etwas aß, also zählte es vermutlich nicht. »Auch?«, fragte er die beiden.

Mihra und Azam schüttelten den Kopf, aber Akil merkte, dass den beiden das Wasser im Mund zusammenlief. Er biss noch einmal ab und reichte den Apfel weiter. Azam bedankte sich, gab ihn allerdings gleich an Mihra, ohne davon zu essen.

Sie wurden auf diese Art nicht satt, aber jeder hatte etwas davon.

»Wo wollen wir als Erstes hin?«, fragte sie, während sie ihren Weg Richtung Marktplatz fortsetzten.

»Wie wäre es mit dem Brunnen?«, sagte Azam. »Da sind die meisten Leute.«

Und füllten ihre Wasservorräte auf. Wie einfach es wäre, wenn jeder den Brunnen nutzen dürfte, so müsste Akil nicht bis hinaus in die Wüste latschen, aber das Ding war nur den Privilegierten vorbehalten und wurde streng bewacht.

»Tus ist bestimmt auch am Brunnen«, sagte Akil. »Wir könnten es bei Marek versuchen.«

Er war der Schmied und hatte an den Markttagen besonders viel Besuch. Mit etwas Glück könnten sie in den Satteltaschen etwas Brauchbares finden.

»Der will aber immer grabschen«, sagte Azam.

Akil lachte. Das stimmte. Marek nahm gerne mal einen der Jüngeren mit nach Hause. Jungs, Mädchen, er kassierte alles ein, bezahlte mit einer guten Mahlzeit und einem warmen Bett. Dumm nur, dass er mit im Bett lag. Akil hatte er bisher noch nicht überzeugen können, er wusste aber von anderen, die schon mitgegangen waren. Auf der einen Seite konnte Akil es verstehen. Hunger war ekelhaft. Vor einigen Wochen hatte er es sich selbst überlegt, als sein Magen nicht aufhören wollte zu krampfen. Er hatte keinen Schritt mehr gehen können, ihm war schwindelig gewesen, und er hatte die ganze Zeit einen Brechreiz gehabt, obwohl nichts in seinem Bauch gewesen war. Da dachte er: Wäre es so schlimm, ein wenig an Marek herumzuspielen und dafür endlich keinen Hunger zu haben? Er war wirklich kurz davor gewesen, doch am nächsten Tag konnte Mihra einen Laib Brot klauen, den sie teilte.

»Mihra lenkt ihn ab, und wir plündern die Satteltaschen«, sagte Akil.

»Oh nein, vergiss es! Ich war beim letzten Mal dran.«

»Und ich davor«, sagte Azam.

Beide Köpfe drehten sich in Akils Richtung. Hätte er doch nur nichts gesagt ... »Na gut. Ich mach das, aber wehe, eure Ausbeute ist beschissen.«

»Lass dir an den Hintern fassen, das mag er besonders gerne«, sagte Azam und gab Akil einen Schubs.

»Ich fass dir auch gleich an den Hintern, und zwar volle Kanne mit meinem Fuß.«

Sie balgten eine Weile herum, schubsten sich und feixten. Akil liebte es. Er besaß nichts außer den Klamotten an seinem Leib, aber er hatte die besten Freunde auf dieser Welt.

Endlich erreichten sie den Marktplatz. Die ersten Obst- und Gemüsehändler hatten schon ihre Stände aufgebaut. Es duftete nach frischem Brot, nach gegrilltem Fleisch und nach der Fremde der Wüste. Akil lief das Wasser im Mund zusammen. Irgendwann würde er mehr von der Welt sehen. Er und Azam, denn es kam auf keinen Fall infrage, dass er ihn hier zurückließ. Sie könnten Susa besuchen, den Palast bewundern, vielleicht sogar dort arbeiten. Man sagte, dass jeder Bedienstete ein eigenes Zimmer hatte. Mit einem Bett und einem Waschplatz! Es gab dort Kleider und Essen, und man musste nie wieder frieren. Jeder war wohlgenährt. Manchmal stopfte Akil sich die Decke unter sein Hemd, um zu sehen, wie er mit Wampe wirken würde.

Er war schmächtig für sein Alter und zu klein. Seine Hüftknochen stachen scharf hervor, genau wie seine Rippen. Aber Akil würde das ändern. Eines Tages hätte er einen Bizeps, bei dem den Leuten nur vom Hinsehen der Angstschweiß ausbrechen würde. Er wäre stark und groß, und er würde Frauen reihenweise flachlegen. Ha! Genau. Bestimmt würde er eine finden, die ihn ohne Bezahlung ranließ, aber nicht in Madaktu. Nicht in seinem Viertel.

»Da drüben ist Ramin«, sagte Azam und deutete nach rechts.

Akil sah in die Richtung. Ramin war ein großer, bulliger Typ ohne Haare und mit einer fetten Narbe am rechten Arm. Er trug seine Lederrüstung mit zwei Schwertern am Gürtel. Ihm fehlten etliche Zähne, weil ihm einer nach dem anderen abfaulte. Deshalb stank er auch aus dem Mund wie ein Stück Aas. Meistens ließ er die Straßenjungs in Frieden. So lange sie nicht mehr klauten als ein paar Lebensmittel, war alles gut. Der Spaß hörte auf, wenn es ans Geld ging. Zareen war das beste Beispiel dafür.

Akil rieb sich durch die Augen, die von der Sonne brannten, und blickte über den Marktplatz. Mareks Schmiede war links, der Brunnen in der Mitte, ringsherum standen die Händler. In Madaktu wurden die unterschiedlichsten Waren feilgeboten. Durch die Menschen, die auf ihren Routen Halt machten, wurde viel umgetauscht. Stoffe, Schmuck, Bilder, Musikinstrumente. Alles Dinge, die für Akil keine Rolle spielten. Er wollte nur Bares – oder Essen. Das war am einfachsten. Und am besten zu vertuschen, denn ohne Beweis konnte nicht mal Ramin etwas unternehmen. Akil hatte mal aus Verzweiflung eine Münze geschluckt, weil Ramin ihn einkassiert hatte. Das Ding hat ihm ganz schöne Darmkrämpfe verursacht, bis es draußen war. Als er sie gesäubert hatte und sie eintauschen wollte, hatte sein Bruder sie ihm abgenommen. Akil hatte nicht mal etwas von den Lebensmitteln abbekommen. Deshalb mochte er es, Essen zu klauen. Es war praktisch, es war sofort zu beseitigen – und es sicherte das Überleben.

Sie betraten den Markt, mischten sich unter die Leute und liefen zielstrebig auf Mareks Schmiede zu. Er hatte ein Zelt aufgebaut, in dem die Pferde warteten. Marek stand vorne dran und redete mit einem hageren Mann. Er trug einen langen Reisemantel aus schwerem Stoff, seine Stiefel waren alt, aber gepflegt, genau wie der Rest von ihm. Kein Reicher, aber jemand, der auf seine Sachen achtete. Dennoch würde es sich nicht lohnen, ihn auszunehmen.

Marek zeigte dem Mann gerade ein Eisen, das ähnlich wie ein Huf geformt war. »Mit denen kann Ihr Pferd quer durch die Wüste und zurück laufen. Glaubt mir, Herr.«

Der Fremde begutachtete das Ding skeptisch. Akil hatte keine Ahnung von diesen Sachen, aber Schmied zu sein schien lukrativ. Marek hatte eine dicke Wampe, die über seine Schürze quoll, er wohnte im westlichen Teil Madaktus – dort wo die Reichen lebten –, und er hatte einen Mörderbizeps. Akil hob den Arm und spannte ihn an. Mihra kicherte, also ließ er ihn rasch wieder sinken. Vielleicht sollte er Marek fragen, ob er bei ihm arbeiten konnte. Dann würde der Sack aber bestimmt an ihm herumfummeln wollen ... außerdem hatte Akil Schiss vor Pferden ...

»Okay«, sagte Azam und blieb stehen. »Wir teilen uns auf. Mihra: Du gehst rechts ums Zelt. Schau nach, ob da die Sättel liegen. Nimm alles aus den Taschen, was du kannst, und hau sofort ab. Ich lenke in der Zeit die Wachen ab und Akil den alten Marek. Wenn wir getrennt werden, treffen wir uns im Unterschlupf.«

»Alles klar«, sagte Akil.

Azam klopfte ihm auf die Schulter und schenkte Mihra einen Abschiedskuss. Sie zwinkerte den beiden zu und tauchte in der Menge unter. Es dauerte nur Augenblicke, bis Akil sie verloren hatte. Die Kleine war richtig gut. Wenn Azam nicht an ihr herummachen würde, hätte Akil es schon längst versucht, aber er wollte seinem Freund nicht in die Quere kommen. Es erschien ihm nicht richtig.

Akil blieb einen Moment stehen, bis auch Azam verschwunden war. Der Marktplatz füllte sich zusehends mit Menschen. Einer rempelte ihn an und ging weiter, ohne sich zu entschuldigen. Akil blendete die Leute um sich herum aus, konzentrierte sich auf Marek und darauf, was er vorhatte.

Er richtete sein Hemd und strich sich durch die strubbeligen Haare. Vielleicht hätte er sich waschen sollen. Das Wasser mit der toten Ratte war nicht mehr trinkbar, aber für ein kurzes Bad hätte es sicherlich getaugt. Naja, egal. Marek war nicht wählerisch, Hauptsache, er hatte einen warmen Körper neben sich im Bett. Akil behielt ihn fest im Blick und überlegte, was er zu ihm sagen sollte. Vielleicht konnte er einfach mit der Tür ins Haus fallen und ihm anbieten, heute Abend mit ihm zu gehen. Aber dann müsste er es auch machen. Da verstand Marek keinen Spaß. Als das letzte Mal einer der Jungs sich weigerte, verprügelte Marek ihn so heftig, dass er es fast nicht überlebt hätte.

Leg dir am besten gleich was Gutes zurecht.

Doch ihm wollte nichts einfallen! Dabei hatte er den Schmied fast erreicht. Marek blickte auf, sah ihn kommen. Gleich. Gleich galt es!

Hallo, Marek ... könnte er sagen. Das war erst mal unverbindlich. Schönes Wetter heute, oder?

Akil rollte die Augen über seine eigene Dummheit. Marek war nicht doof, er würde sofort schnallen, was hier abging. Akil brauchte einen besseren Einstieg. Etwas Gutes. Eine ... ein Fremder lief ihm quer durch den Weg und stieß fast mit ihm zusammen. Akil wollte schon schimpfen, doch dann sah er überall nur Glitzer. An der Robe, an den Hosen, selbst auf den Schuhen funkelte es. Die Kleidung war maßgeschneidert. Der Mann bewegte sich unsicher, was bedeutete, dass er nicht viel Erfahrung mit Märkten wie diesem hatte. Das war eins der Dinge, die man sofort auf der Straße lernte: Akil konnte Menschen in Windeseile einschätzen. Fremde hatten grundsätzlich eine andere Ausstrahlung. Sie wirkten fehl am Platz. Unbeholfen. Genau wie der Mann da. Er wurde von einem Diener begleitet, der dicht hinter ihm lief.

Akil verhielt sich ruhig, wartete, ob jemand ihn bemerkte, aber das war nicht der Fall. Der Fremde blieb neben Akil stehen und tupfte sich den Schweiß mit einem weißen Taschentuch von den Lippen.

»Wie kann man es nur in dieser Hitze aushalten? Und dieser Gestank! Ist das nicht entsetzlich?«

»Ja, Herr.«

»Sieh dir all diese Menschen an. Ungepflegt und stinkend.«

»Gewiss, Herr.«

Der Fremde warf die Robe über seine Schulter und präsentierte einen ledernen Beutel, der an seinem Gürtel hing.

Oh, das war jetzt aber ... Akil leckte sich über die Lippen. Das Ding schrie förmlich nach ihm. Nimm mich! Nimm mich! Der Beutel war mit einem einfachen Knoten befestigt. Einmal ziehen und er wäre offen. Der Fremde stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich um. Der Inhalt des Beutels klimperte: Münzen!

Verdammt, da waren Münzen drin. Fast hätte Akil vor Freude gejubelt. Das war schon zu einfach, um wahr zu sein. Er müsste sich nur kurz ausstrecken und zugreifen. Der Typ würde es nie mitbekommen. Akil machte einen Schritt nach links. Checkte ab, ob er ihn bemerkte. Er tat es nicht.

»Ich hoffe, wir können bald weiter«, sagte der Fremde.

»Übermorgen, Herr. Wir sollten den Pferden die Pause gönnen.«

Akil machte noch einen Schritt. Er war eine Armeslänge von ihm entfernt. Entweder er schlug zu, oder er ließ es bleiben. Kurz blickte er zum Zelt. Von seinen Freunden war nichts zu sehen. Akil könnte den Beutel mitgehen lassen und danach immer noch Marek ablenken. Er atmete ein, wackelte mit den Fingern und griff an den Beutel.

Diese Handgriffe übte er jeden Tag. Meistens an Zareen. Wurde er dabei erwischt, setzte es Prügel. Beim letzten Mal so heftig, dass er drei Tage lang nicht sitzen konnte. Aber das gab Akil neuen Antrieb, seine Quote zu verbessern. Im Moment lag sie bei zwei zu sechs. Zweimal erwischt worden, sechsmal entkommen. Da war Luft nach oben.

Akils Finger schlossen sich um das Lederbändchen. Der Fremde bemerkte nichts. Akil zog vorsichtig, die Schnüre lösten sich und der Beutel fiel lautlos in seine offene Hand. Er grinste, drückte sein Diebesgut an sich und wollte umdrehen ...

... als die Hand des Fremden hervorschoss und ihn festhielt.

Akil zuckte vor Schreck.

»Wen haben wir denn da?«

Kristallblaue Augen fixierten ihn, die Iris zog sich zusammen, als würde er Akil so in die Seele blicken können. Für einige Augenblicke verschwamm alles um ihn herum. Der Fremde hatte eine irritierende Ausstrahlung. Entrückt und diabolisch.

Er grinste und sah auf den Beutel. Akil schluckte. Tja, abstreiten wäre jetzt wirklich schwierig. Wenn der Kerl ihn verpfiff, war es das gewesen. Bei der Beute würde Ramin kein Auge zudrücken. Akils Tage wären gezählt.

Doch der Fremde sagte kein Wort. Er lockerte seinen Griff und ließ ihn los.

»Lauf, kleiner Mann«, flüsterte er. »Lauf um dein Leben.«

Akil taumelte rückwärts, stieß gegen eine Frau mit Korb, die ihn mit wüsten Beschimpfungen bedachte. Er hörte gar nicht hin, starrte nur dem Fremden in die Augen, die ihn immer noch gefangen hielten. Der Beutel strahlte eine unnatürliche Wärme ab, die durch das Leder in seine Haut sickerte und seinen Arm hochwanderte.

Der Fremde lachte lauter. Sein Diener schob sich hinter ihm hervor und starrte Akil ebenfalls an. Doch im Gegensatz zu seinem Herrn schwang ein Ausdruck tiefsten Bedauerns in seinem Blick mit. Er schüttelte leicht den Kopf, als wollte er Akil sagen, dass es zu spät war. Der Fremde warf den Kopf in den Nacken. Leute blieben stehen. Drehten sich zu ihm um. Selbst Marek hielt bei seiner Arbeit inne und sah zu den Dreien.

»Lauf!«, brüllte der Fremde erneut und deutete mit dem Finger auf Akil. »Lauf in dein Verderben!«

Akil keuchte, er torkelte zurück, stolperte über einen Karren, den jemand auf den Markt schob.

»Pass doch auf!«

Akil rappelte sich auf. Die Wärme wanderte weiter seinen Arm hinauf und konzentrierte sich über seinem Herzen. Er presste die Hand auf die Stelle, drehte um und rannte davon, als wäre Ahriman persönlich aus der Hölle emporgestiegen, um ihn zu holen.

Vielleicht war er das ja auch ...

4. Kapitel

Die Azoren – vor fünf Tagen

Akil riss die Augen auf und zuckte zusammen.

Verfluchte Scheiße, wo war er?

Er blickte sich hektisch um, alles war verschwommen, wirkte wie durch einen Schleier aus Dreck und Sand. Genau wie in Madaktu. Er patschte sich gegen die Wangen, rieb sich durch die Augen, zwang seinen Geist zurück in die Gegenwart.

Flashback!

Er hatte einen Flashback gehabt!

Das war das erste Mal in seinem Leben als Seelenwä... Stopp! Er war kein Seelenwächter mehr.

Also konnte er keine Flashbacks haben, oder?

Er richtete sich auf und bereute es augenblicklich. Alles drehte sich. Sein Schädel pochte, als hätte jemand über Nacht Ping-Pong mit seinem Hirn gespielt. Akil kniff sich in den Nasenrücken. Seine Zunge klebte am Gaumen fest, und er hatte einen Brand wie nie zuvor in seinem Leben.

Wie viel bei allen Göttern hatte er getrunken?

Und wo war er überhaupt?

Er blickte sich um. Er war in einem kleinen Raum, die Decke und die Wände waren aus braunem Nussholz, als Fenster dienten runde Bullaugen. Es roch nach Bohnerwachs und Salz. Und alles schwankte. Wenn das Geschaukel nicht vom Restalkohol kam, musste er auf einem Schiff sein.

Toms‘ Schiff. Hundterpro.

Er lag in einem frisch bezogenen Bett und trug die Jeans von gestern Abend, die nach Alkohol und Dreck stank. Allerdings hatte er ein fremdes Langarmshirt an. Sein eigenes hatte er ja am Strand zurückgelassen. Langsam winkelte er die Beine an und schob sie über die Bettkante. Sofort drückte sein Magen, und die Galle stieg ihm hoch.

Oh, Mann, ich trink nie wieder.

Seit Jahrtausenden hatte er keinen Kater mehr gehabt, er hatte völlig verdrängt, wie es sich anfühlte, und nun wusste er auch warum. Er keuchte, stemmte die Ellbogen auf die Knie und bettete sein Gesicht in die Hände. Seine Finger glitten an seinen Hinterkopf. Akil zuckte zusammen, als er über die Beule strich.

Beule.

Richtig.

Tom, der Sack, hatte ihm eine verpasst.

Er betastete die Stelle. Es schmerzte dumpf, die Beule war mit altem Blut verkrustet.

Warum, zum Henker, hatte Tom ihn k.o. geschlagen?

Vielleicht war er ein Perverser und hatte es nicht verkraftet, dass Akil ihn hatte abblitzen lassen.

Nein, so schätzte er ihn nicht ein, aber er konnte sich natürlich täuschen. Seine Sinne waren schließlich nicht mehr die besten.

Er blieb einige Minuten ruhig sitzen, bis sein Kopf klarer wurde und er sich einigermaßen gefestigt fühlte. Das Schaukeln des Schiffes half nicht wirklich dabei. Akil glaubte, jeden Moment kübeln zu müssen. Sein Blick fiel auf den Putzeimer neben dem Bett. Tom hatte also vorgesorgt. Wirklich umsichtig.

Ob er ihn alleine aufs Boot geschleppt hatte? Er war gut gebaut gewesen, aber Akil war nicht gerade leicht, und er war bewusstlos gewesen. Vielleicht hatte er einen Komplizen gehabt, der darauf wartete, bis Tom Akil niedergeschlagen hatte. Aber warum zum Henker? Akil hätte ja auch freiwillig mitgehen können. Das ergab alles keinen Sinn.

Okay, eins nach dem anderen.

Erstens: Er musste pinkeln.

Dringend.

Vorsichtig stand er auf.

Oh-oh ... ganz schlecht ...

Sein Magen hob sich, er schluckte, presste eine Hand darauf und behielt zum Glück alles unten, was gerne rauswollte. Er zwang sich, ruhig zu bleiben und sich auf seinen Atem zu konzentrieren, und tatsächlich hörte der Brechreiz nach kurzer Zeit auf. Ich kann’s also immer noch ...