Die Aufklärung vor Europa retten - Nikita Dhawan - E-Book

Die Aufklärung vor Europa retten E-Book

Nikita Dhawan

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Beschreibung

Die politische Philosophin Nikita Dhawan unternimmt den Versuch, postkoloniale, queer-feministische Theorien und Theorien der Aufklärung – in der Tradition von Kant über Adorno und Spivak – zusammenzudenken. Aus diesen scheinbar unvereinbaren philosophischen und politischen Strömungen birgt sie das emanzipatorische Potenzial und skizziert kritische Theorien der Dekolonisierung. Diese können helfen, postimperiale Zukünfte unserer Gesellschaft angesichts multipler Krisen vorstellbar zu machen. Postkoloniale Studien, die sich mit dem Erbe des weltweiten Kolonialismus und Imperialismus auseinandersetzen, erfahren derzeit insbesondere von rechter aber auch liberaler Seite Kritik: Ihnen wird vorgeworfen, gegen die Aufklärung, nihilistisch, eurozentrisch und schließlich antisemitisch zu sein. Nikita Dhawan argumentiert dagegen, dass diese Vorwürfe bestenfalls auf Missverständnissen des Projektes der Dekolonisierung beruhen. Sie versucht, den »versäumten Begegnungen« zwischen Postkolonialen und Holocaust Studies nachzuspüren und darüber hinaus die »Identitätsverwechslung« zwischen postkolonialen und dekolonialen Ansätzen zu bereinigen. Zusammenfassend beleuchtet Dhawan die widersprüchlichen Konsequenzen der Aufklärung, ohne einen gegenaufklärerischen Standpunkt einzunehmen. »Die Aufklärung vor Europa retten« bedeutet für sie, die Unabdingbarkeit der Aufklärung in der Umsetzung kritischer Projekte zu behaupten, zugleich aber ihr »giftiges Erbe« mitzudenken.

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Nikita Dhawan

Die Aufklärung vor Europa retten

Kritische Theorien der Dekolonisierung

Aus dem Englischen von Alwin Franke

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Die politische Philosophin Nikita Dhawan unternimmt den Versuch, postkoloniale, queer-feministische Theorien und Theorien der Aufklärung – in der Tradition von Kant über Adorno und Spivak – zusammenzudenken. Aus diesen scheinbar unvereinbaren philosophischen und politischen Strömungen birgt sie das emanzipatorische Potenzial und skizziert kritische Theorien der Dekolonisierung. Diese können helfen, postimperiale Zukünfte unserer Gesellschaft angesichts multipler Krisen vorstellbar zu machen.Postkoloniale Studien, die sich mit dem Erbe des weltweiten Kolonialismus und Imperialismus auseinandersetzen, erfahren derzeit insbesondere von rechter aber auch liberaler Seite Kritik: Ihnen wird vorgeworfen, gegen die Aufklärung, nihilistisch, eurozentrisch und schließlich antisemitisch zu sein. Nikita Dhawan argumentiert dagegen, dass diese Vorwürfe bestenfalls auf Missverständnissen des Projektes der Dekolonisierung beruhen. Sie versucht, den »versäumten Begegnungen« zwischen Postkolonialen und Holocaust Studies nachzuspüren und darüber hinaus die »Identitätsverwechslung« zwischen postkolonialen und dekolonialen Ansätzen zu bereinigen. Zusammenfassend beleuchtet Dhawan die widersprüchlichen Konsequenzen der Aufklärung, ohne einen gegenaufklärerischen Standpunkt einzunehmen. »Die Aufklärung vor Europa retten« bedeutet für sie, die Unabdingbarkeit der Aufklärung in der Umsetzung kritischer Projekte zu behaupten, zugleich aber ihr »giftiges Erbe« mitzudenken.

Vita

Nikita Dhawan ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden. Ihre Schwerpunkte sind globale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratie und Dekolonialisierung. 2017 erhielt sie den Käthe-Leichter-Preis für herausragende Leistungen in der Frauen- und Geschlechterforschung sowie für die Unterstützung der Frauenbewegung und Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter. Im Jahr 2023 erhielt sie die Gerda-Henkel-Gastprofessur an der Stanford University und das Thomas Mann Fellowship in Los Angeles.Alwin Franke ist Assistant Professor für Germanistik an der Stetson University in den USA. Er promovierte an der Columbia University in New York und forscht zur literarischen Moderne sowie zur globalen Rezeption von Marxismus und Psychoanalyse. Neben dem vorliegenden Band übersetzte er unter anderem Texte von Gayatri Spivak, Maurizio Lazzarato und Joseph Vogl.

»Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.«Walter Benjamin

»Die Aufklärung krankt zuhause.«Gayatri Chakravorty Spivak

»Wir träumten von nichts als Aufklärung.«Moses Mendelssohn

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Danksagung

Einleitung: Postkoloniale Dilemmata – Die Aufklärung aufgeben oder retten?

Von den Deutschen lernen?

Postkoloniale Angst

Argumentation und Gliederung des Buches

Teil I: Die Geschichte der Gegenwart

Kapitel 1: Wer finanzierte die Aufklärung? Kolonialismus und das Zeitalter der Vernunft

Die Entzauberung der Aufklärung

Verteidigung der Aufklärung: Universalismus und Diversität

Imperialistische Aufklärung oder Aufklärung gegen Imperialismus?

Kant: Che Guevara des europäischen Antikolonialismus?

Kolonialismus, Kapitalismus, Kosmopolitismus

Mission Impossible: Die Aufklärung dekolonialisieren

Kapitel 2: Die Selbst-Barbarisierung Europas: Aufklärung und Nazismus

Barbarische Aufklärung: Vom Gebrauch und Missbrauch der Vernunft

Das unvollendete Projekt der Moderne

Die Rettung der Aufklärung: Beherrschende versus befreiende Vernunft

Ambivalente Affinitäten, unvollendete Gespräche und Identitätsverwechslung

Kritik der Schwarzen Vernunft

Erlösende Kritik und Wiederverzauberung der Aufklärung

Kapitel 3: Was kann Europa uns lehren?

Ein anderes Europa ist (un)möglich

Jenseits der Entwestlichung: Epistemische Entflechtung und Dekolonialität

Die Entuniversalisierung Europas: Welchen Unterschied macht ein Unterschied?

Können Nicht-Europäer:innen philosophieren?

Epistemischer Wandel: Transnationale Literalität und planetarische Ethik

Teil II: Woher kommt die Zukunft?

Kapitel 4: Die Nicht-Performativität der Kritik: Protestpolitik, Staatsphobie und die Erotik des Widerstands

Ziviler Ungehorsam: Damals und heute

Dekolonisierung als Tragödie

Der Wille zum Widerstand: Kritik und Protest

Der Staat als monstre froid

Prekarität versus Subalternität

Subalterne Gegenöffentlichkeiten: Ein Paradoxon?

Der Tod des Leviathan

Kapitel 5: Kritik der Gewalt – Gewalt der Kritik

Gewalt: Symptom oder Heilmittel?

Die Waffe der Kritik und die Kritik der Waffe

Die postkoloniale Kritik der normativen Gewalt

Genozidaler versus fehlender Staat

Wer hat Angst vor postkolonialer Souveränität?

Kapitel 6: Ästhetische Aufklärung und die Kunst der Dekolonisierung

Ästhetischer Ungehorsam und dekoloniale Optionen

Ästhetische Bildung und Entsubalternisierung

Die Kunst der Dekolonisierung

Schluss: Affirmative Sabotage der Werkzeuge der Herrschenden

Wie können wir uns eine post-imperiale Welt vorstellen?

Was (nicht) tun?

Die unerträgliche Langsamkeit des Wandels

Literatur

Danksagung

Für Nimmi und María do Mar

Jacques Derrida bemerkte: »Jeder Text bleibt in Trauer, bis er übersetzt wird.« Ich bin äußerst dankbar für die Mitarbeit der folgenden Personen bei der deutschen Veröffentlichung: Judith Wilke-Primavesi, Alwin Jorga Franke, Tatjana Schönwälder, Mark Arenhövel, Gwendal Lamay, Antje Millan, Didi Herman, Ana Maria Miranda Mora, Roberto Luis Ellis, Franz Knappik.

Bei Boris Čeko und »God’s Entertainment« bedanke ich für die Erlaubnis, das Bild für das Buchcover zu nutzen. Das Bild wurde im Rahmen des Projekts »Under The Carpet« erstellt. Die künstlerische Installation deckt die Vertuschung verschiedener Fakten in Bezug auf die politische, kulturelle, soziale und mediale Landschaft innerhalb und außerhalb der EU auf, Fakten, die für die Gesellschaft von Bedeutung sein sollten, ganz im Sinne des Sprichworts: etwas unter den Teppich kehren.

Ich möchte auch den folgenden Institutionen für ihre Unterstützung danken: VolkswagenStiftung, Technische Universität Dresden, Campus Verlag, transcript Verlag, Routledge, Duke University Press, Goethe Institute, Thomas Mann House Los Angeles, ICI Berlin Institute for Cultural Inquiry, Institut für Auslandsbeziehung (Ifa), Justus-Liebig-Universität Gießen, Die Forschungsplattform (FP) Geschlechterforschung: Identitäten – Diskurse – Transformationen an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Der Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen«, das Cornelia Goethe Centrum für Geschlechterforschung sowie das Frankfurter Inter-Zentren-Programm »Afrikas Asiatische Optionen (AFRASO) an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Das interdisziplinäre Graduiertenkolleg »Dynamiken von Raum und Geschlecht« Universität Kassel und Georg-August-Universität Göttingen, University of Berkeley California, Columbia University New York, Stanford University, Institute for International Law and the Humanities, Melbourne Law School, The University of Melbourne, Mumbai University, SNDT Women’s University Mumbai, Indian Institute of Technology Mumbai, Jawaharlal Nehru University Delhi, Central University of Punjab, Pusan National University South Korea, Universidad de La Laguna, Universidad de Costa Rica, Universidad Nacional Autónoma de México, FLACSO Ecuador.

Mein Dank gilt auch meiner Familie, Freund:innen und Kolleg:innen: Suresh Dhawan, Nalin Dhawan, Estrella Varela Pazos, Carlos Castro Pena, Rahul Warke, Shwetha Warke, Juliet D’Sousa, Teresa Orozco, Priyadarshi Jetli, Nutan Sarawgi, Gisela Ott-Gerlach, Uschi Wachendorfer, Birgit Rommelspacher, Putul Sathe, Jyoti Sabharwal, Manisha Ghatage, Gayatri Chakravorty Spivak, Judith Butler, Angela Davis, Shalini Randeria, Chandra Talpade Mohanty, Tejaswini Niranjana, Avishek Ganguly, Sundhya Pahuja, Sara Ahmed, Manuela Picq, Davina Cooper, Janet Newman, Rahul Rao, Banu Subramaniam, Ilan Kapoor, Ratna Kapur, Malathi de Alwis, Dipesh Chakrabarty, Wendy Brown, Ann Laura Stoler, Ursula Apitzsch, Jamila Mascat, Manjeet Ramgotra, Dirk Rupnow, Manuela Picq, Sruti Bala, Thomas Lindenberger, Bélen Martín Lucas, Eva Darias Beautell, Emma Wolukau-Wanambwa, Randi Elin Gressgård, Nivedita Menon, Shuddhabrata Sengupta, Christoph Holzhey, Antke Engel, Volker Woltersdorff, Greta Olson, Sonia Correa, Philipp Schulte, Nina Tabassomi, Ana Vujanović, Jochen Schmon, Ayça Çubukçu, Hasret Cetinkaya, Anja Besand, Elad Lapidot, Emilia Roig, Rirhandu Mageza-Barthel, Johanna Leinius, Elisabeth Fink, Luisa Hoffmann, Hanna Al-Taher, Daniel James, Natalia Fomina, Daniel Heinz, Eleonora Hummel, Susanne Bernhart, Julia Redmann, Mithu Sanyal, Refqa Abu-Remaileh, Achille Rossini, Madhusree Mukherjee, Sandra Chatterjee, Walter Anyanwu, Valerie Gaugl, Teresa Blasi Marti, Kira Kosnick, Uta Ruppert, Katharina Mückstein, Sylvia Nagel, Silvia Osei, Dimitria Clayton, Anuja Phadnis, Cigdem Esin, Denise Gigante, Isabel Raabe, Uriel Orlow, Saraswati Patel, Reema Khanna und Familie Wadhawan.

Berlin im Juli 2024,

Nikita Dhawan

Einleitung: Postkoloniale Dilemmata – Die Aufklärung aufgeben oder retten?

Von den Deutschen lernen?

Deutschland gilt häufig als Vorbild dafür, wie ein Land seine gewaltförmige Vergangenheit aufarbeiten kann. Prominent ist etwa Susan Neimans Argument, dass kein anderes Land sich so schonungslos mit seinen historischen Verbrechen auseinandergesetzt habe wie Deutschland (2019). Die Vereinigten Staaten und Großbritannien sollten daher, so Neiman, bei der Aufarbeitung ihrer eigenen rassistischen Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus von Deutschland lernen. In ihrem Bemühen, die Verbrechen des Holocaust zu sühnen, hätten sich die Deutschen auf den langen und steinigen Weg der Vergangenheitsaufarbeitung begeben. Die Früchte dieser Arbeit zeigten sich etwa in Bildungsinitiativen, Gesetzen und nicht zuletzt in der Erinnerungs- und Außenpolitik. Während Neiman Deutschlands Verhältnis zu seiner Nazi-Vergangenheit unter die Lupe nimmt, bleibt die deutsche Kolonialgeschichte aber ein Zankapfel.

Im April 2020, inmitten der Covid-19-Pandemie, kam es in Deutschland zu einer heftigen Kontroverse um das Verhältnis von Postkolonialen Studien und Holocaust-Forschung. Bereits 2012 war Judith Butler anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises aufgrund ihrer Unterstützung der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) angegriffen worden. Nun traf der Vorwurf des Antisemitismus den Philosophen Achille Mbembe, der aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun stammt. Stein des Anstoßes war insbesondere sein Vergleich von Israel mit dem Apartheidstaat in Südafrika und seine Kritik an der Besetzung Palästinas, die er als eine Form von »Siedlerkolonialismus« bezeichnete. Beides laufe darauf hinaus, Israels Existenzrecht in Frage zu stellen, so Kritiker:innen. Im Anschluss an die Mbembe-Kontroverse verabschiedete der Deutsche Bundestag eine nicht-bindende Resolution, die die Förderung von BDS-nahen Gruppen mit Bundesgeldern untersagte, da die Bewegung in ihren Argumentationsmethoden und -mustern als antisemitisch eingestuft wurde.1

Der Vorwurf des postkolonialen Antisemitismus2 tauchte dann mit Vehemenz im Kontext der Documenta 15 wieder auf. Die alle fünf Jahre abgehaltene Ausstellung gilt als eines der wichtigsten Ereignisse in der Kunstwelt. Die Documenta 15, die von Juni bis September 2022 stattfand, wurde von ruangrupa, einem indonesischen Künstler:innenkollektiv, kuratiert. Monate vor der Eröffnung wurde ruangrupa des Antisemitimus bezichtigt – das Kollektiv unterstütze die BDS-Bewegung und führe einen »stillen Boykott« jüdisch-israelischer Künstler:innen durch. Ruangrupa wies diese Vorwürfe entschieden zurück und warf seinerseits der deutschen Öffentlichkeit und Medienlandschaft Rassismus vor.

Vier Tage nach der Eröffnung wurde das großformatige Banner »People’s Justice« (»Gerechtigkeit des Volkes«) des indonesischen Kollektivs Taring Padi aus dem Jahr 2002 aufgrund seiner nicht zu entschuldigenden antisemitischen Bildsprache zunächst verhüllt und später entfernt. Die Documenta 15 wurde daraufhin zum »Waterloo des Postkolonialismus«3 erklärt, was nicht nur den Postkolonialen Studien, sondern auch der gesamten »Dritten Welt«4 weitreichende Antisemitismusvorwürfe eintrug. So kommentierte der renommierte Kunstkritiker Bazon Brock: »Alle diese Staaten des ›globalen Südens‹ sind nicht nur religiös fundamentalistisch ausgerichtet, sondern verglichen mit der Sozialstaatlichkeit Westeuropas lassen sie asoziale Haltungen geradezu als selbstverständlich gelten.«5 Ironischerweise taucht in Brocks pauschaler Verunglimpfung der postkolonialen Welt ausgerechnet Nazivokabular auf: In den Konzentrationslagern wurden sogenannte »Asoziale« mit dem »schwarzen Winkel« gekennzeichnet. Dazu gehörten an den Rand der Gesellschaft gedrängte soziale Gruppen wie Roma und Sinti, Menschen mit Behinderung, Wohnungslose, Nomaden, Prostituierte, Diebe, Alkoholiker:innen, Bettler:innen, Mörder:innen, Pazifist:innen und Lesben.

Neben der antisemitischen Abbildung ist auf dem Banner auch eine rassistische Darstellung eines Schwarzen GI zu sehen, der mit Penis in der Hand ejakuliert. Bemerkenswerterweise gab es dazu kaum Berichte in den deutschen Medien, geschweige denn eine breitere Diskussion in der Öffentlichkeit. Vor Eröffnung der Kunstschau wurden im Ausstellungsraum, der Arbeiten des palästinensischen Künstler:innenkollektivs The Question of Funding zeigen sollte, kryptische Todesdrohungen an die Wand geschmiert,6 woraufhin die Gruppe sämtliche Veranstaltungen absagte und Kassel verließ.7 Eyal Weizman griff in der Berliner Zeitung Hannah Arendts Metapher des Bumerangs auf, um zu erklären, wie die europäische Bildsprache des Antisemitismus durch den Kolonialismus in den »globalen Süden« exportiert worden sei und dann auf der Documenta als ein Kunstwerk wiederkehrte, das nach den Beteuerungen der Kurator:innen anti-imperialistische Kunst sein sollte.8 Die verwickelte Komplizenschaft von Kolonialismus, Nazismus, Militarismus und Kapitalismus zeigt, dass eine saubere Trennung von Antisemitismus und Rassismus, Imperialismus und Totalitarismus unmöglich ist und damit auch eine eindeutige Zuschreibung von Täter- und Opferrolle.

Man sollte dabei nicht der Versuchung erliegen, die Kontroverse als eine provinzielle deutsche Debatte abzutun, denn die Auswirkungen auf die postkoloniale Forschung sind weitreichend. Seit dem 7. Oktober 2023 sind die Vorwürfe gegen die postkolonialen Studien weltweit lauter geworden. Wie immer wieder angemerkt wurde, dient die pauschale Verunglimpfung des »globalen Südens« als antisemitisch unter anderem dazu, vom rechten Antisemitismus abzulenken, der eine ernste globale Bedrohung darstellt.9 Darüber hinaus laufen die Versuche, Antisemitismus, Rassismus und andere Diskriminierungsformen voneinander zu entkoppeln, einem intersektionalen Ansatz zuwider.10 Dabei wird im Sinne des »Teile und herrsche« eine Minderheit gegen die andere ausgespielt. So wird ein toxisches Klima der gegenseitigen Feindseligkeit erzeugt, was Solidarität und Zusammenarbeit erschwert. Da der Deutsche Bundestag und Teile der deutschen Zivilgesellschaft die BDS-Bewegung und ihre Unterstützer:innen als antisemitisch einstufen, wurde auch solchen Veranstaltungen die Förderung entzogen, zu denen jüdische und jüdisch-israelische Wissenschaftler:innen eingeladen waren, die BDS unterstützen oder Israel kritisch gegenüberstehen (Weizman 2022).11

Unter den zahllosen jüdischen Personen, die wegen ihrer Unterstützung einer Waffenruhe im Krieg zwischen Israel und der Hamas im Jahr 2023 ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik gerieten, ist insbesondere das Beispiel von Masha Gessen lehrreich für die Herausforderungen kritischer Interventionen. Gessen sollte den renommierten Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken erhalten, doch ihr Vergleich des Gazastreifens mit Ghettos aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sorgte in Deutschland für Unmut. Wie aufschlussreich dargelegt wurde, hätte auch Hannah Arendt den Hannah-Arendt-Preis nicht erhalten. Auch sie wäre in Deutschland heute wegen ihrer politischen Haltung zu Israel und ihrer Ansichten über den Zionismus wahrscheinlich gecancelt worden.12 Ironischerweise scheinen viele der Ansicht zu sein, man müsse den Brandstiftern die Aufgabe zuteil werden lassen, das Feuer zu löschen – das zumindest ist der Eindruck, der entsteht, wenn man etwa bedenkt, dass der Gründer der Documenta, Werner Haftmann, ein Nazi-Kriegsverbrecher war.13

Angesichts der beschämenden Geschichte des eliminatorischen Antisemitismus in Deutschland kann man das Engagement und die Wachsamkeit des deutschen Staates und der deutschen Zivilgesellschaft im Kampf gegen den Antisemitismus nur loben. Aber die Strategie, die »Boykotteure zu boykottieren« (Cooper/Herman 2019), indem man der postkolonialen Welt pauschal Antisemitismus unterstellt, läuft Gefahr, das postkoloniale kritische Denken zu zensieren. Im Mai 2021 löste Dirk Moses mit seiner scharfen Kritik am »deutschen Katechismus« einen neuen Historikerstreit aus.14 Moses führte aus, dass ein herrschendes Dogma jeden Vergleich zwischen Holocaust und Kolonialismus unmöglich mache, da komparative Ansätze und die Beschäftigung mit kolonialen Völkermorden pauschal als Relativierung des Holocaust und damit als antisemitisch verunglimpft würden (Traverso 2022).15 In ihren jüngeren Interviews und Vorträgen hat auch Neiman die Situation in Deutschland als eine »aus dem Ruder gelaufene Wiedergutmachung«16 und »philosemitischen McCarthyismus«17 bezeichnet.

Im Anschluss an diese Kontroversen wurden in den deutschen Medien und sogar im deutschen Parlament (die AfD stellte einen entsprechenden Antrag) Forderungen laut, den Postkolonialen Studien die Förderung zu streichen und die Anti-BDS-Resolution rechtlich bindend zu machen, wodurch es staatlich finanzierten Einrichtungen und Veranstaltungen verboten würde, Redner:innen einzuladen, die BDS unterstützen.18 Angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der akademischen, kulturellen und künstlerischen Einrichtungen in Deutschland, aber auch in anderen Teilen Europas19, staatlich finanziert wird, könnte diese Auseinandersetzung gravierende Folgen haben. Die Kontroverse wirft grundlegende Fragen nicht nur zur Freiheit der kritischen Wissenschaft auf, sondern auch zum Verhältnis zwischen Postkolonialen Studien und Jüdischen Studien, zwischen Europa und der postkolonialen Welt sowie zwischen Antisemitismus und anderen Formen der Diskriminierung.

Die Zurückhaltung der Vertreter der Frankfurter Schule, immerhin Wiege der Kritischen Theorie, in dieser Debatte ist bemerkenswert. So hat der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm20 etwa Jürgen Habermas für sein Schweigen zu Israel kritisiert. In einem Interview von 2012 hatte Habermas noch erklärt, dass »die gegenwärtige Situation und die Politik der israelischen Regierung« zwar eine »politische Bewertung« erforderten, dies aber »nicht die Sache eines deutschen Privatbürgers meiner Generation« sei.21 Wie Boehm überzeugend darlegt, sollte die kritische Auseinandersetzung mit dem Holocaust aber gerade zur globalen Solidarität beitragen und universelle Normen wie Menschenrechte und das Völkerrecht stärken, statt ethno-nationalistische Ideologien zu nähren, die andere Formen der Erinnerungskultur ausschließen.22 Obwohl er Habermas’ Zögern, Israel zu kritisieren, Verständnis entgegenbringt, sieht Boehm doch einen Widerspruch darin, dass der Meister der Diskursethik und öffentliche Intellektuelle par excellence »den Mut« zur öffentlichen Ausübung seiner Vernunft, den die Aufklärung im kantischen Sinne von sapere aude fordert, nicht aufbringt. Es handele sich geradezu um einen Verrat an der Tradition der Aufklärung und am kantischen Diktum vom »Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«. Die Zurückhaltung beim kritischen Urteilen und Abwägen im öffentlichen Raum hat weitreichende Konsequenzen und stellt die ultimative Prüfung der Aufklärung selbst dar. Es ist kein Zufall, dass Habermas zum Kolonialismus und seinen Folgen für die Kritische Theorie geschwiegen und auch auf die Frage nach der Relevanz seiner Theorie für die »Dritte Welt« eine Antwort verweigert hat, worauf noch zurückzukommen ist (Habermas cit. Morrow 2013: 128-129). Während des Krieges zwischen der Hamas und Israel im Jahr 2023 brach Habermas dann sein Schweigen und erklärte, dass aus dem Prinzip des »Nie wieder« eine deutsche Verpflichtung zum Schutz jüdischen Lebens und des Existenzrechts Israels hervorgehe.23 Damit steht er im Einklang mit der Merkel-Doktrin, dass die Sicherheit Israels deutsche »Staatsräson« sei.

Nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine wollte Deutschland seine langjährige Abhängigkeit von russischem Gas beenden und suchte nach alternativen Lieferanten, darunter Katar. Wenn aber die Hamas finanzielle und immaterielle Unterstützung aus Katar erhält, was bedeutet es dann, wenn Deutschland Milliarden Kubikmeter Gas aus Katar kauft? Wird sich darüber Rechenschaft abgelegt? Im Kontext der Antisemitismus-Kontroversen um die Documenta entschied sich Bundeskanzler Olaf Scholz im Juni 2022, der Ausstellung fern zu bleiben, reiste aber wenige Monate später nach Saudi-Arabien und Katar, um die Energiepartnerschaft mit diesen Ländern zu vertiefen. Beide Länder erkennen Israel seit dessen Unabhängigkeit 1948 nicht an und akzeptieren keine von Israel ausgestellten Pässe. Die in diesen Beispielen zum Ausdruck kommenden Widersprüche – man könnte auch sagen: die Doppelmoral – bei manchen öffentlichen Intellektuellen und mehr noch in der deutschen Realpolitik, geben unter anderem Anstoß für dieses Buch.

Postkoloniale Angst

Was früher als provinzielle deutsche Kontroverse abgetan wurde, hat seit den grausamen Anschlägen der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem anschließenden Ausbruch des Hamas-Israel-Krieges schwerwiegende Folgen für die Postkolonialen Studien. Am 13. Oktober 2023 postete der rechte Aktivist Christopher Rufo auf X: »Konservative müssen in der Öffentlichkeit eine starke Assoziation zwischen Hamas, BLM [Black Lives Matter], DSA [Democratic Socialists of America] und akademischer ›Dekolonisierung‹ herstellen. Stellt den Zusammenhang her, greift an, delegitimiert und diskreditiert. Zwingt die gemäßigte Linke dazu, mit ihnen zu brechen. Macht sie zu politisch Ausgestoßenen.«24 Man spürt eine gewisse Schadenfreude dabei, die postkoloniale Welt als »verkappte Antisemiten« (closet antisemites)25 zu entlarven.

Von prestigeträchtigen Filmfestivals wie der Berlinale26 bis hin zum Glamour der Oscar-Verleihung27, von Tech-Giganten wie Google28 bis hin zu Graswurzelbewegungen wie der »Abandon Biden-Kampagne«29, von der Eurovision30 bis hin zu PEN America31 – nie zuvor stand die Idee der »Dekolonialisierung« derartig im Rampenlicht. Unabhängig von den je unterschiedlichen historischen und geografischen Ausprägungen dieser Debatte wird sie in meinen Augen von der globalen Rechten dazu genutzt, eine »postkoloniale Angst« zu schüren. Die Postkolonialen Studien und andere kritische Ansätze wie die Gender und Queer Studies, Diversity Studies, Intersektionalität oder Critical Race Theory werden systematisch disqualifiziert und als antisemitisch gebrandmarkt.32 So wird den Postkolonialen Studien sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland und Frankreich vorgeworfen, die ideologische Grundlage für die Legitimierung der im Namen der Dekolonisierung begangenen Gräueltaten zu liefern. Weltweit profitiert ausgerechnet die extreme Rechte am meisten von diesen Angriffen auf das postkoloniale kritische Denken, indem von ihrem eigenen Antisemitismus abgelenkt und gleichzeitig progressives Denken und kritische Praxis in Verruf gebracht werden. Man denke nur an die Anhörungen zu Antisemitismus im US-Kongress, bei denen Unterstützer:innen von Donald Trump die Präsident:innen verschiedener Universitäten zu Antisemitismus auf ihren Campus in die Mangel nahmen.33

Die Studierendenproteste in den Vereinigten Staaten sowie in Ländern wie Frankreich, den Niederlanden, Chile, Australien und Japan liefern ein weiteres Beispiel. Obwohl die meisten Proteste und Besetzungen friedlich verlaufen sind, werden sie in den konservativen Medien als Gefahr für die öffentliche Ordnung dargestellt. Der unverhältnismäßige Fokus auf besonders konfliktgeladene Begegnungen der Protestierenden mit der Polizei oder Gegendemonstrant:innen sowie die insgesamt parteiische Medienberichterstattung haben zu einer verzerrten Darstellung der Forderungen der Studierenden geführt. Dabei wurden auch jüdische Mitarbeiter:innen und Student:innen von der Polizei geschlagen, obwohl die Bildungseinrichtungen doch behaupteten, die Polizeieinsätze seien zum Schutz jüdischer Personen auf dem Campus erforderlich.34

Am 1. Mai 2024 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus als Reaktion auf die Proteste an den Universitäten den Antisemitism Awareness Act. Das von einem Republikaner aus New York eingebrachte Gesetz verpflichtet das Bildungsministerium, die Arbeitsdefinition für Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu verwenden. Kenneth Stern, der an der Ausarbeitung der IHRA-Definition beteiligt war, gab daraufhin zu bedenken: »Wenn alles antisemitisch ist, dann ist nichts antisemitisch, und das erschwert den Kampf gegen Antisemitismus.«35 Kritiker:innen weisen außerdem darauf hin, dass Bundesgesetze antisemitische Diskriminierung und Belästigung bereits verbieten. Anstatt dem Antisemitismus entgegenzuwirken, so wird befürchtet, könnte dieses Gesetz die freie Meinungsäußerung einschränken und die Gegenbewegung gegen kritische Theorien weiter stärken.

Dies sind nur einige wenige Beispiele aus einer ganzen Reihe an Kontroversen weltweit, in denen die postkoloniale Forschung in die Enge getrieben und dazu genötigt wird, ihr emanzipatorisches Potenzial zu verteidigen. Während sich die Postkolonialen Studien also mit immer neuen Vorwürfen konfrontiert sehen, inszenieren sich Europa und die Europäer:innen als diejenigen, die Werte der Aufklärung wie Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie schützen und fördern. Die postkoloniale Welt wird wieder als »barbarisch« und »gewalttätig« dargestellt, während die Europäer:innen angeblich die »Last« zu schultern haben, die Werte von Toleranz und Gleichheit zu verteidigen. Wir müssen deshalb im Sinne einer Foucaultschen »Geschichte der Gegenwart« versuchen zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass es den Europäer:innen einmal mehr als ihre Bestimmung erscheint, die »Last des weißen Mannes« zu schultern und den Rest der Welt über die richtige Lebens- und Denkweise aufzuklären. Möglich ist das nur, weil der Kolonialismus nach wie vor Gegenstand einer willkommenen Geschichtsvergessenheit ist. Das erinnert an eine Bemerkung von Gayatri Spivak, die in einem privaten Gespräch einmal beklagte, dass »wir in einer Welt leben, in der die Vergewaltiger für die Spurensicherung zuständig sind«.

Angesichts dieser Entwicklungen möchte dieses Buch sich den Herausforderungen stellen, denen sich der postkolonial-queere Feminismus gegenübersieht. Dabei scheint nichts weniger als die Glaubwürdigkeit dieses Ansatzes auf dem Spiel zu stehen, wird er doch angeklagt, gewaltsamen Widerstand zu legitimieren. Während früher Gandhi, Martin Luther King Jr. und Nelson Mandela als Symbole der gewaltfreien Dekolonisierung galten, werden jetzt Schriften von Fanon36 und Malcolm X als Beweis für »Terrorismusverharmlosung«37 ins Feld geführt, so etwa X’ berühmte Forderung, die Bürgerrechte »mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln« zu erkämpfen.38 Dagegen werde ich argumentieren, dass wir Jean Amérys Konzept der Schicksalsverwandtschaft (2005: 15-16) aufgreifen müssen, um diesem spaltenden Narrativ, das das Leiden einer Minderheit gegen das einer anderen ausspielt, entgegenzuwirken. Dieser Begriff hebt die kollektiven Erfahrungen der Entmenschlichung und Brutalität hervor, die die Opfer sowohl des europäischen Kolonialismus als auch des Nationalsozialismus gemacht haben. Ein Beispiel, das dies veranschaulicht, ist das gemeinsame Leiden vulnerabler Gruppen wie Frauen, Kinder und alte Menschen am und nach dem 7. Oktober 2023. Ich möchte die Dringlichkeit der gleichzeitigen Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus auf globaler Ebene unterstreichen und stütze mich dabei sowohl auf die Kritische Theorie der ersten Generation als auch auf die Postkolonialen Studien, welche die aufklärerischen Versprechen der Menschenrechte und der Demokratie als hohl entlarven.

Man könnte vielleicht einwenden, dass die Vorwürfe gegen die Postkolonialen Studien so oberflächlich, deren Verdienste um das kritische Denken hingegen so offenkundig sind, dass die Anschuldigungen eine ernsthafte Diskussion gar nicht verdienen, von einem Buch ganz zu schweigen. Meiner Ansicht nach verlangen die immer schärferen Angriffe auf die Postkolonialen Studien aber nach einer Antwort. In diesem Sinne verfolgt mein Buch die folgenden Hauptanliegen: Erstens geht es mir darum, den Vorwurf zu entkräften, dass die postkoloniale Theorie durch ihre angebliche Ablehnung der Aufklärung einem »normativen Nihilismus« Vorschub leiste. Meines Erachtens muss darüber verhandelt werden, welche Gespenster vertrieben werden müssen, um die notwendige Klarheit im kritischen Impetus des postkolonialen Denkens zu gewinnen. Wie ich zeigen werde, sind es nicht die Postkolonialen Studien, die gegen die universellen Prinzipien der Aufklärung von Toleranz und Freiheit verstoßen; vielmehr sind diese Prinzipien selbst von Anfang an unzulänglich. Zweitens versuche ich, die »verpassten Begegnungen« zwischen den Postkolonialen Studien und der ersten Generation der Kritischen Theorie nachzuzeichnen, die beide aufgrund ihrer jeweiligen Kritik an der westlichen Vernunft mit »performativen Widersprüchen« umzugehen haben. Drittens versuche ich, die Unterschiede zwischen postkolonialen und dekolonialen Ansätzen herauszuarbeiten und so ihre »Verwechslung« aufzuklären. Sowohl die Postkolonialen als auch die Dekolonialen Studien verfolgen das Ziel der Dekolonisierung, unterscheiden sich jedoch in ihrer Vorstellung davon, wie diese zu erreichen sei. Diese Kontroverse bleibt im Zentrum des anhaltenden theoretischen Schlagabtauschs darüber, was »dekolonisieren« bedeutet, bestehen. Und schließlich möchte ich zeigen, wie die Postkolonialen Studien dazu beitrugen, das kritische Denken neu zu fassen und seinen Wirkungsbereich neu abzustecken.

Auch nach Jahrzehnten postkolonialer Forschung mit ihren akribischen Bemühungen, Europa für seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen, wird der Postkolonialismus noch immer beschuldigt, den Auswüchsen der Identitätspolitik und einem gefährlichen Anti-Universalismus Vorschub zu leisten. Das vorliegende Buch verteidigt die Postkolonialen Studien gegen diese Vorwürfe, indem es das gewaltsame Erbe der Aufklärung selbst in den Blick nimmt und zugleich skizziert, warum gerade dem Postkolonialismus die anspruchsvolle Aufgabe ihrer Rettung gelingen könnte. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno planten unter dem Titel »Rettung der Aufklärung« eine Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer 1985b [1946] GS 12: 598). Das Projekt der Rettung wurde jedoch nie in Angriff genommen. Diese unverwirklichten Bestrebungen Horkheimers und Adornos inspirieren mein Buch. Im Gegensatz zur pauschalen Ablehnung von Moderne und Aufklärung in den sogenannten dekolonialen Ansätze geht es mir gerade um die normativen Dilemmata, von denen die postkoloniale Auseinandersetzung mit der Aufklärung heimgesucht wird. Ich möchte dabei zeigen, dass kritische Theorien der Dekolonisierung versuchen, die unterdrückerischen Aspekte der Aufklärung zu bekämpfen und gleichzeitig ihre emanzipatorischen Prinzipien zu retten.

Argumentation und Gliederung des Buches

Seit ihren Anfängen in Edward Saids Buch Orientalismus (1978) sehen sich die Postkolonialen Studien immer wieder dem schweren Vorwurf ausgesetzt, der Aufklärung feindlich gegenüberzustehen. Die Fatwa gegen Salman Rushdie etwa oder auch Boko Haram, deren Name sinngemäß »Verwestlichung ist Sünde« bedeutet, gelten dann pauschal als Beleg für die aufklärungsfeindlichen Tendenzen der postkolonialen Welt und werden mit dem theoretischen Misstrauen gegenüber der Modernität und ihren Prinzipien kurzgeschlossen. Dies hat schwerwiegende Folgen, denn selbst wenn zähneknirschend anerkannt wird, dass Kolonialismus zu verurteilen ist, werden postkoloniale Perspektiven als »unkritisch« und letztlich unemanzipatorisch abgetan, da sie keine normativen Grundsätze von universeller Gültigkeit liefern können. Während einige auf diese Vorwürfe erwidern, dass Dekolonisierung notwendigerweise mit einer Ablehnung der Moderne einhergehe, geht es mir zunächst einmal darum, die komplexen Beziehungen zwischen Postkolonialen Studien und der Aufklärung nachzuzeichnen. Dass es Verflechtungen gibt, mag vielleicht als eine ausgemachte Sache erscheinen, ist aber, wie ich in den verschiedenen Kapiteln akribisch darlegen werde, alles andere als selbstverständlich. Jede Anfechtung der Aufklärung und ihres Erbes gerät in Verdacht, die emanzipatorischen Ideale von Menschenrechten, Säkularismus, Meinungsfreiheit und Demokratie zu vernachlässigen.

Ich befürchte, dass das Zerrbild einer aufklärungsfeindlichen postkolonialen Kritik die differenzierten Analysen jener postkolonialen Wissenschaftler:innen überschattet, die die Aufklärung für ihre Verfehlungen zur Rechenschaft ziehen wollen, ohne sie deswegen aber kategorisch abzulehnen. Darüber hinaus stoßen wir ungeachtet der jahrzehntelangen »Beweisaufnahme« durch postkoloniale und feministische Wissenschaftler:innen, die den Rassismus und Sexismus der Aufklärer detailliert nachgewiesen haben, immer wieder auf revisionistische Lesarten von Denkern wie Kant. Die glühenden Anhänger:innen der Aufklärung verharmlosen Kants Rassismus, Sexismus und Antisemitismus als zwar irrationale, letztlich aber eben auch banale Vorurteile, die für das emanzipatorische Projekt der Aufklärung nur von randständiger Bedeutung seien. Es ist dringend geboten, dieser Umdeutung der Aufklärung zu einem eindeutig antiimperialistischen Projekt entgegenzutreten, denn die bornierten Vorurteile über die außereuropäische Welt, die von den Denkern der Aufklärung in die Welt gesetzt wurden, haben nach wie vor großen Einfluss. Im Gegensatz zu den neuen Perspektiven über den Neo-Kantianismus argumentiere ich, dass Rassismus, Sexismus und Antisemitismus dem Denken Kants eben nicht wesensfremd sind. Vielmehr wurzeln sie tief in der westlichen Vernunft und dem normativen Verständnis davon, wer als Mensch gilt und wer als legitimes politisches, ethisches und rechtliches Subjekt betrachtet wird.

Um der Trivialisierung der postkolonialen Kritik entgegenzuwirken, richte ich meine Aufmerksamkeit auf die Frage, wie tief die Praktiken der Dehumanisierung in den Prinzipien des Kosmopolitismus, der Toleranz und der Gleichheit verwurzelt sind. So werde ich zum Beispiel zeigen, dass die »ungerechten Feinde« Kants nicht nur die »unzivilisierten« Menschen in den Kolonien meinten, sondern auch die europäischen Jüd:innen. Das Versprechen der Aufklärung, jüdische Menschen zu Bürgern der europäischen Nationalstaaten zu machen, muss als ein Teil der zivilisatorischen Mission Europas verstanden werden. Die »Besserung« der Jüd:innen sollte dadurch erreicht werden, dass man sie zu aufgeklärten Bürgern machte und das Judentum in eine unpolitische »Religion« verwandelte. Mein Buch zeigt anhand dieser und anderer Beispiele die Verflechtungen zwischen verschiedenen Formen der Diskriminierung auf und richtet sich so auch gegen die Leugnung der Verflechtungen zwischen Aufklärung, Kolonialismus und Nationalsozialismus.

Zweitens geht es mir darum, an die »unvollendeten Gespräche«39 zwischen den Postkolonialen Studien und den Holocaust-Studien anzuknüpfen und die dem Postkolonialismus und der Kritischen Theorie der ersten Generation gemeinsamen Anliegen und Strategien herauszuarbeiten. So wäre dieses Buch zum Beispiel ohne Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung nicht denkbar. Dem Vorwurf des »postkolonialen Antisemitismus« zum Trotz hoffe ich deshalb, dass die Postkolonialen Studien und die Jüdischen Studien sich gegenseitig bereichern statt sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Ein Großteil der Kritik an Denkern wie Horkheimer und Adorno oder Foucault und Derrida, wie sie insbesondere von Jürgen Habermas als einem der mächtigsten und vermeintlich stärksten Verteidiger der Aufklärung artikuliert wurde, dient ja zugleich auch der Diskreditierung der Postkolonialen Studien. Der erstaunliche Mangel an wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit den ambivalenten Affinitäten zwischen der Kritischen Theorie der ersten Generation, dem Poststrukturalismus und den Postkolonialen Studien hat mich dazu veranlasst, diese Forschungslücke zu schließen.

Drittens möchte ich mit diesem Buch die »Verwechslung« des postkolonialen mit dem dekolonialen Ansatz aufklären. Wie im Einzelnen zu zeigen sein wird, lehnen die dekolonialen Denker:innen die Aufklärung und die westliche Vernunft kategorisch ab. Die aus Lateinamerika stammenden dekolonialen Ansätze verwerfen das postkoloniale Bemühen um eine »Rettung« der Aufklärung und kritisieren die vermeintlichen ideologischen Scheuklappen und hohlen Behauptungen im Diskurs über den emanzipatorischen Charakter der Moderne. Auch sie beschuldigen die Postkolonialen Studien, »unkritisch« und »unemanzipatorisch« zu sein, da sich das postkoloniale kritische Denken auf Erkenntnisse des Poststrukturalismus sowie des Marxismus bezieht. Trotzdem werden postkoloniale und dekoloniale Ansätze oft gleichgesetzt. Es ist aber von großer Wichtigkeit, die Unterschiede zwischen den beiden Herangehensweisen zu verstehen, insbesondere was das Verständnis von Dekolonisierung und die Aufgabe der Kritik betrifft. Walter Mignolo spricht gar von einer »radikalen Differenz« (2007: 163) zwischen postkolonialen und dekolonialen Ansätzen. Andererseits gibt es inzwischen auch zahlreiche Arbeiten, die diese Kluft zwischen postkolonialem und dekolonialem Denken thematisieren, wobei einige Autor:innen etwas halbherzig versuchen, beide Ansätze miteinander zu versöhnen (Bhambra 2014), während andere in dem Streit klar Stellung beziehen (Colpani/Mascat/Smiet 2022).

Ich werde sowohl postkoloniale als auch dekoloniale Argumente einer kritischen Prüfung unterziehen und nehme dann zum dekolonialen Anspruch Stellung, ein Korrektiv für die »ideologischen blinden Flecken der postkolonialen Theorien« (Moraña/Dussel/Jáuregui 2008: 5) darzustellen. Dass die postkolonialen Studien einer aus Europa stammenden kritischen Tradition verpflichtet sind, kompromittiert sie aus dekolonialer Perspektive von Anfang an, wobei das »post« in postkolonial dann als Zeichen politischer Unwirksamkeit gelesen wird. Im Gegensatz dazu zieht die dekoloniale Alternative ihre Daseinsberechtigung aus ihrer epistemischen Transgression, also aus dem Anspruch, in der Lage zu sein, den europäischen Kanon grundsätzlich zu überschreiten (Colpani/Mascat/Smiet 2022: 3-4). Dekoloniale Ansätze positionieren sich so als die radikalere und auch aktivistischere Alternative und erklären den Postkolonialismus für passé, weil dieser sich letztlich zum Komplizen von »alten weißen Männern« gemacht habe. Was in diesen Grabenkämpfen auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als die Fähigkeit der postkolonialen Theorie, kritische Impulse für die Aufgabe der Dekolonisierung geben zu können.

Angesichts dieser Gemengelage, in der die Postkolonialen Studien dem Vorwurf ausgesetzt sind, sowohl Anti-Aufklärung als auch eurozentrisch zu sein, mag es heikel erscheinen, kritische Theorien der Dekolonisierung vorzuschlagen, ist doch der Begriff der Kritik tief in der Tradition der europäischen Aufklärung verwurzelt. Trotz der boomenden Forschung zum Postkolonialismus und neuer Entwicklungen in der normativen politischen Theorie wurden die Verbindungen und Brüche zwischen Postkolonialismus und Aufklärung bisher kaum untersucht. Dieses Buch wird eine dringend benötigte Perspektive auf das postkoloniale kritische Denken formulieren, die verdeutlicht, dass es weder einfach in Opposition zur Aufklärung steht noch mit ihr unvereinbar ist. Wesen und Wirkungsweise kritischer Theorien der Dekolonisierung neu zu durchdenken bedeutet auch, zu skizzieren, wie normative Prinzipien – man denke etwa an Menschenrechte, globale Gerechtigkeit und Demokratie – von der und für die postkoloniale Welt verhandelt werden. Dieser Band schlägt aber keine ideale Theorie der Gerechtigkeit oder der Demokratie vor. Vielmehr geht es darum, auf Diskussionen um Bürgerrechte und Kosmopolitismus, soziale Bewegungen und Alter-Globalisierung, Menschenrechte und Souveränität aus postkolonial-queer-feministischer Perspektive einzugehen.

Es geht mir darum zu zeigen, dass kritische Theorien der Dekolonisierung eher als heuristische Praktiken und nicht als eine Zusammenstellung fester Prinzipien verstanden werden sollten. Dabei lasse ich mich von der europäischen kritischen Tradition inspirieren, hinterfrage aber zugleich deren blinde Flecken. Die postkoloniale Praktik der Kritik schärft die Fähigkeit zu differenzieren, indem sie bohrende Fragen stellt und den ausgrenzenden und unterdrückerischen Impulsen der Aufklärung nachspürt. Im Gegensatz zu einer rein »diagnostischen Qualität der Kritik« (Anker/Felski 2017: 4), bei der die Kritikerin als unvoreingenommene Expertin fungiert, die die Malaisen der Gesellschaft und ihrer Institutionen einfach nur identifiziert, hinterfragen kritische Theorien der Dekolonisierung beständig ihre eigenen Annahmen und Vorurteile, wodurch die kritische Praktik selbst zu einem ergebnisoffenen Prozess wird. Wer die Ziele und Strategien kritischer Theorien der Dekolonisierung verstehen möchte, muss sich klar machen, wie sehr die postkoloniale Aufgabe, das oppressive Erbe der Aufklärung kritisch zu hinterfragen, von der Aufklärung selbst inspiriert wurde.

Dementsprechend möchte ich schließlich zeigen, dass die Entsubalternisierung nicht-westlicher Epistemologien unmöglich ist, ohne das europäische Monopol auf die Praktik der Kritik zu brechen. Das würde erfordern, die normative Idee der »Kritik«, wie sie in der europäischen Aufklärung definiert wurde, ganz neu zu denken. Ohne eine Demokratisierung des Zugangs zu intellektueller Arbeit, insbesondere für subalterne Gruppen,40 wird die im Namen der emanzipatorischen Prinzipien der Aufklärung ausgeübte Gewalt reproduziert. Die Nicht-Performativität der Kritik, d.h. die Diskontinuität zwischen der Rhetorik von Freiheit, Gleichheit und Recht auf der einen und der Realität von Entrechtung und Enteignung auf der anderen Seite, macht es notwendig, die Aufklärung vor den Europäer:innen zu retten, die in vielerlei Hinsicht ihre größten Verräter:innen sind. Neben der wichtigen Aufgabe, die Praktiken der Ausgrenzung und Marginalisierung im europäischen politischen Denken zu untersuchen, geht es auch darum, das Beste der Aufklärung zu retten, um das Projekt der Dekolonisierung zu verwirklichen. Weder bedeutet »Dekolonialisierung der Aufklärung«, sie zu verwerfen, noch bedeutet eine Auseinandersetzung mit ihr, sie kritiklos anzunehmen.

In Provincializing Europe argumentiert Dipesh Chakrabarty (2000: 5), dass postkoloniale Denker:innen sich notwendigerweise mit den abstrakten und universellen Kategorien auseinandersetzen müssen, die während der Aufklärung geschmiedet wurden und die die Theoriebildung zu historischen, sozialen und wirtschaftlichen Phänomenen in der postkolonialen Welt weiterhin prägen. Es ist nicht so sehr die europäische Genese von Menschenrechten und Demokratie, die ihre Geltung gefährdet, sondern vielmehr die »normative Gewalt« (Butler 1999: xx) gegenüber denjenigen, die gegen die hegemoniale Rahmung dieser Prinzipien verstoßen. Postkoloniale, queere und feministische Theoretiker:innen versuchen deshalb, die Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit neu zu denken, um diese Ideale für neue Möglichkeiten der Verhandlung, Aneignung und Transformation zu öffnen, auch wenn sie dabei zugleich deren euro- und androzentrische Schieflage kritisieren (Dhawan et al. 2016). Obwohl die Prinzipien der Aufklärung unzureichend sind, sind sie für das Verständnis der postkolonialen Situation doch unverzichtbar (Chakrabarty 2000: 4). Gleichzeitig ist die postkoloniale Welt aber kein passiver Empfänger dieser Prinzipien, sondern vielmehr aktiv an der Um- und Neugestaltung von Schlüsselbegriffen wie Universalität, Freiheit und Gleichheit beteiligt, die im Zusammenspiel von Kolonie und Mutterland immer wieder neu geschmiedet wurden und werden. Die Herausforderung besteht darin, mit dem Erbe der Aufklärung so umzugehen, dass die konstitutive Gewalt, die die Entstehung ihrer Normen geprägt hat, nicht reproduziert wird.

Die Ironie des europäischen Selbstverständnisses, eine »zivilisierende Kraft« zu sein, besteht darin, dass eine solche positive Selbsteinschätzung nur deshalb möglich ist, weil die enormen Kosten dieser Mission in Form von Faschismus und Kolonialismus einer beispiellosen Geschichtsvergessenheit zum Opfer gefallen sind. Europa hat nichts unversucht gelassen, um für seine koloniale Vergangenheit nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, die Vergangenheit aber holt ihre Schuldigen immer wieder ein. Wie Derrida (1998: 64) einmal unter Berufung auf Freud bemerkte, ist das Interessanteste an verdrängten Erinnerungen gerade dasjenige, was im Prozess der Verdrängung nicht vergessen und ausgelöscht werden kann. Kritische Theorien der Dekolonisierung markieren die Wiederkehr des Verdrängten.

Im Interesse einer »Reparatur der Welt« muss Europa für seinen Verrat an den Werten der Aufklärung (Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Emanzipation) zur Rechenschaft gezogen werden. Dabei lasse ich mich vom Prinzip des tikkun olam aus der jüdischen Ethik inspirieren. Obwohl Europa beschuldigt wird, den Rest der Welt zu unterdrücken und auszubeuten, behauptet es zu seiner Verteidigung, dass seine Tradition der Selbstkritik und Selbstevaluation es den Europäer:innen ermögliche, ihre Verbrechen und Versäumnisse im Sinne einer Selbstkorrektur kritisch zu reflektieren und aus diesem Prozess als ethischere und verantwortungsbewusstere Subjekte hervorzugehen. Diese besondere kritische Tradition wird in allen großen Diskursen der Europäer:innen über Europa immer wieder angepriesen. Europas Praktik, sich selbst in Frage zu stellen, gilt als seine größte Stärke und als das bedeutendste Erbe der europäischen Aufklärung; dies unterscheide Europa von anderen Kulturen, denen genau diese Fähigkeit zur kritischen Selbstprüfung abgesprochen wird. Das Gebot, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen, und die daraus resultierende Besserung des Selbst im Denken und Handeln werden als etwas einzigartig Europäisches in Anspruch genommen.

Wie Adam Phillips41 mit Scharfsinn gezeigt hat, kann Selbstkritik aber auch als ein »unverbotener Genuss« fungieren, der fantasielos und narzisstisch ist. Europa umgarnt uns dabei mit Selbstvorwürfen, die seine Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion zur Schau stellen sollen; mir geht es darum, genau dieses europäische Selbstverständnis in Frage zu stellen. Meiner Ansicht nach ist die europäische Selbstkritik »nicht-performativ« (Ahmed 2006). Wie Sara Ahmed argumentiert, bedeutet die Nicht-Performativität einer Äußerung aber deshalb nicht deren Scheitern. Vielmehr kann ihr Erfolg gerade darin liegen, nicht das zu tun, was sie behauptet. Das gilt sogar dann, wenn sie als performativ gelesen wird, also so, als täte sie tatsächlich das, was sie verspricht. Die Farce des europäischen Anspruchs, sich durch die Praktik der Selbstkritik zu vervollkommnen, liegt darin, dass hier eine negative Beziehung zwischen Rhetorik und Realität besteht. Bei allem Gerede über den europäischen Einsatz für Gleichheit und Freiheit liefert die bloße Rhetorik der Kritik noch keine post-imperiale Politik oder Ethik.

Statt einer polemischen Verwerfung des europäischen kritischen Denkens versucht mein Buch jedoch, dessen Rolle in Dekolonisierungsprozessen begrifflich neu zu positionieren. Dabei kann es natürlich nicht darum gehen, das Erbe der Aufklärung und des Kolonialismus einfach ungeschehen zu machen; es handelt sich um das viel schwierigere Unterfangen, die »seltsamen Früchte«42 der Aufklärung zu retten und neu zu gestalten. Foucault sprach einmal davon, sich der »intellektuellen und politischen Erpressung für oder gegen die Aufklärung zu sein« zu entziehen (Foucault 2005d: 701). Ich bemühe mich in diesem Sinne, die Möglichkeit einer »Wiederverzauberung« der Aufklärung zu erkunden, ohne aber die Kosten und Risiken dieses Unterfangens außer Acht zu lassen. Die Frage nach unserem Verhältnis zur Aufklärung ist von der Unmöglichkeit geprägt, uns kategorisch einfach jenseits von ihr zu verorten (Cascardi 1999: 5). Wenn, wie betont wird, »Aufklärung Kritik ist«, besteht die postkoloniale Herausforderung darin, das Erbe der Aufklärung neu zu gestalten und es für die außereuropäische Welt fruchtbar zu machen.

Im Folgenden werden Denker:innen wie Kant, Fanon, Adorno, Foucault, Derrida, Habermas, Spivak, Butler und Mbembe oft im Zentrum meiner Analyse stehen, da sich meine eigenen Argumente und Perspektiven im kritischen Austausch mit ihnen entfalten. Um zu verstehen, wie die postkoloniale Welt das ambivalente Erbe der Aufklärung verhandelt, setze ich mich auch mit zentralen Begriffen wie Subalternität, Kritik, Vernunft, Kosmopolitismus, Öffentlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte, Gerechtigkeit und Demokratie auseinander. Insbesondere die Schriften von Gayatri Spivak sind für mein Projekt von zentraler Bedeutung, da sie eine der führenden Denkerinnen jenes Double Bind ist, in dem sich postkolonialer Feminismus und Aufklärung aufeinander beziehen. Ihre Arbeit beschäftigt sich unermüdlich damit, die Unzulänglichkeit, aber auch die Unverzichtbarkeit der Aufklärung für die postkoloniale Kritik aufzuzeigen. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Prozess der Dekolonisierung ohne Entsubalternisierung unvollständig ist.

Ich spreche in meinem Buch sowohl von »Kritischer Theorie« im Singular mit dem großen »K« als auch von »kritischen Theorien« im Plural mit dem kleinen »k« (Allen 2019). Während die Kritische Theorie mit Frankfurt am Main als ihrem Geburtsort geografisch eindeutig verortet ist, bringen die kritischen Theorien eine Vielzahl von Perspektiven aus der Kultur-, Sozial- und politischen Theorie mit, denen gemeinsam ist, dass sie globale Macht- und Herrschaftsverhältnisse in Frage stellen. Auch wenn die Kritische Theorie der ersten Generation der Frankfurter Schule wichtige Impulse für dieses Buch liefert, ist Kritik in meinem Verständnis nicht auf die europäische Tradition reduzierbar. Trotz ihres Anspruchs auf Universalität muss die »Kritische Theorie« im engeren Wortsinn bedauerlicherweise provinziell bleiben, wenn sie eine regionale europäische Perspektive als eine globale ausgibt. Im Gegensatz dazu verzichten die Strömungen, die unter dem allgemeineren Begriff »kritische Theorien« zusammengefasst werden – etwa feministische Theorie, postkoloniale und dekoloniale Theorie, queere Theorie und Critical Race Theory –, auf den Anspruch der Universalität, weil sie sich ihrer historischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen und geografischen Situiertheit bewusst sind. Der postkoloniale Queer-Feminismus erkennt an, dass unterschiedliche Erfahrungen, Perspektiven und Standorte einen Unterschied machen und zeichnet nach, wie normative Prinzipien in der nicht-europäischen Welt formuliert und operationalisiert werden. Damit leisten »kritische Theorien« einen wichtigen Beitrag, das Ungedachte des euro- und androzentrischen kritischen Denkens zu umreißen.

Das Buch verfolgt einen transdisziplinären Ansatz und ist in erster Linie theoretisch ausgerichtet, greift aber auch auf historische und zeitgenössische Beispiele zurück, um seine Argumente zu illustrieren. Durch den Vergleich und die Gegenüberstellung konkurrierender Theorien ist das Ziel nicht nur, neue Perspektiven in den Postkolonialen Studien, in der breiteren Aufklärungsforschung und der zeitgenössischen Kritischen Theorie zu eröffnen, sondern auch, einen Beitrag zu Gender Studies, Queer Studies und zur Critical Race Theory zu leisten.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile, wobei sich der erste Teil in drei Kapiteln mit den normativen Dilemmata auseinandersetzt, die mit der Dekolonisierung der Aufklärung einhergehen. Dabei werden zunächst die kolonialen und antikolonialen Aspekte des politischen Denkens des 18. Jahrhunderts beleuchtet. Der Schwerpunkt liegt sodann auf der Aufklärungskritik der Kritischen Theorie der ersten Generation und schließlich auf den vergangenen und zukünftigen Beziehungen zwischen Europa und der postkolonialen Welt. Der zweite Teil, der ebenfalls aus drei Kapiteln besteht, befasst sich mit dem politischen, ethischen und ästhetischen Erbe der Aufklärung: Hier geht es um die Rolle der Kritik in aktuellen sozialen Bewegungen, um das Verhältnis von Widerstand und Gewaltlosigkeit und schließlich um die Bedeutung einer ästhetischen Bildung im Prozess der Entsubalternisierung.

Da sich das Buch an eine allgemeine Leser:innenschaft richtet, führe ich auch in die historischen und theoretischen Hintergründe ein, die meine Argumente kontextualisieren. Ohne diese Einblicke wäre es schwierig, den Nuancen der Auseinandersetzungen zwischen postkolonialen und dekolonialen Ansätzen sowie zwischen der Kritischen Theorie der ersten Generation und ihrer Neuausrichtung in der Zeit nach Adorno zu folgen, oder die ambivalenten Affinitäten zwischen Postkolonialen Studien und der Kritischen Theorie der ersten Generation zu verstehen. Ich hoffe, dass die Leser:innen diese Hintergrundgeschichten und Exkurse als eine Bereicherung empfinden.

Das erste Kapitel zeichnet die anhaltende Kontroverse um den wichtigsten Vertreter der Aufklärung, Immanuel Kant, nach. Kritiker:innen der Aufklärung treffen hier auf ihre Verteidiger:innen. In den letzten Jahrzehnten gab es eine Flut von revisionistischen Studien, die versuchen, den Imperialismus als tugendhaftes Unterfangen zu rehabilitieren. Jüngere Darstellungen unterscheiden ideologisch zwischen einem »guten, verantwortungsbewussten« und einem »bösen, unverantwortlichen« Imperialismus und betonen dessen »positive« Kraft, um die Leistungen der Kolonialreiche hervorzuheben. Diese entschuldigenden Narrative verschleiern die Gewalt und Unterdrückung, mit der sich die Europäer:innen als die einzigen ethischen Subjekte inszenierten, die »rückständige« Völker durch Recht und Gerechtigkeit erlösten. Die Tatsache, dass Europa aus den in seinen ehemaligen Kolonien erwirtschafteten Überschüssen Profit schlug und immer noch schlägt, wird in diesen Darstellungen bequemerweise ignoriert. Die internationalen Systeme, die aus dem Kolonialismus hervorgegangen sind, bewahren und verstärken die globale Ungleichheit. Die Früchte der Modernisierung gingen mit einer systematischen Verarmung von Teilen der Gesellschaft einher.

Interessanterweise versuchen einige renommierte Publikationen (Muthu 2003, Flikschuh/Ypi 2014) das angeblich falsche Bild der erkenntnistheoretischen Verstrickung von Aufklärung und Imperialismus zu korrigieren, indem sie verschüttet geglaubte kritische Perspektiven innerhalb des kanonischen politischen Denkens Europas wieder sichtbar machen. Als Kontrapunkt zur postkolonialen Kritik an der Aufklärung wird dann behauptet, die Aufklärung sei in Wahrheit antiimperialistisch gewesen. Andererseits lehnen einige lateinamerikanische Wissenschaftler:innen wie Walter Mignolo (1995) und Ramón Grosfoguel (2007) die europäische Moderne kategorisch ab. Sie misstrauen ihren emanzipatorischen Versprechen prinzipiell und plädieren für eine »Rückkehr« zu indigenen Kosmologien. Kritische Wissenschaften wie die Postkolonialen Studien, die Geschlechterstudien und die Queer Studies, die sich alle auf die Erkenntnisse der Aufklärung beziehen, würden den Eurozentrismus letztlich nur reproduzieren, so dekoloniale Wissenschaftler:innen, die stattdessen einen endgültigen Bruch mit der Aufklärung fordern. Angesichts des Vorwurfs, die postkolonialen Studien seien aufklärungsfeindlich und eurozentrisch, werde ich in Kapitel 1 versuchen, den Mittelweg zu skizzieren, den kritische Theorien der Dekolonisierung beschreiten müssen, und zugleich die normativen Dilemmata aufzeigen, mit denen das Projekt einer Dekolonisierung der Aufklärung umzugehen hat.

Kapitel 2 ist den Kritischen Theoretikern der Frankfurter Schule der ersten Generation gewidmet, die sich mit dem Scheitern der Aufklärung auseinandersetzten. Ihre Kritik an der instrumentellen Vernunft und deren Verstrickung in den Nationalsozialismus steht im Einklang mit den von den Postkolonialen Studien herausgestellten Unzulänglichkeiten der Aufklärung. Vielleicht lassen sich die Postkolonialen Studien am besten in Analogie zu Horkheimers und Adornos Unterfangen in ihrem Werk Dialektik der Aufklärung verstehen, nämlich als Versuch, »die Aufklärung über sich aufzuklären« (Habermas 1985: 143). Kapitel 2 beschäftigt sich also mit der Frage, wie sich die Kritische Theorie der ersten Generation zu antikolonialen und postkolonialen Projekten verhält. Meine Herangehensweise unterscheidet sich hier von Amy Allens (2019) Ansatz, der sich vor allem mit den Versäumnissen der post-adornitischen normativen Theorie befasst, während ich den »unvollendeten Gesprächen« zwischen Postkolonialen Studien und Holocaust-Studien nachgehe. Der letzte Abschnitt des Kapitels greift dabei – vielleicht etwas überraschend – auf postkoloniale Perspektiven zurück, um Horkheimer und Adorno gegen den Vorwurf des »performativen Widerspruchs« zu verteidigen, den Habermas gegen die Dialektik der Aufklärung gerichtet hat.

Kapitel 3 befasst sich mit dem Problem der »kolonialen Geschichtsvergessenheit« und ihren Auswirkungen auf das postkoloniale Europa. Mein Befund ist: Je mehr Europa mit seiner gewalttätigen Vergangenheit konfrontiert wird, desto mehr neigt es dazu, denen Gewalt anzutun, die es an seine historischen Verbrechen erinnern. So ist meiner Ansicht nach ein ethisches Verhältnis zur europäischen Vergangenheit für das zukünftige Europa unerlässlich. Ich argumentiere, dass es nicht ausreicht, den europäischen Kolonialismus einfach »ungeschehen« machen zu wollen, um eine Welt ohne Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu schaffen. Wollen wir eine herrschaftsfreie Zukunft neu entwerfen, müssen wir Europas Verhältnis zur postkolonialen Welt grundlegend überdenken.

Im zweiten Teil des Buches lege ich den Schwerpunkt auf die Rolle der Kritik in der zeitgenössischen Politik, Ethik und Ästhetik. Dabei werde ich untersuchen, wie die aufklärerischen Ideen von Staatlichkeit, Souveränität und Ästhetik ihrer grausamen Geschichte entrissen und für eine progressive Politik wieder nutzbar gemacht werden können. Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Frage, ob die sozialen Bewegungen der Gegenwart progressive politische Ziele durchsetzen können oder ob oppositionelles Denken nicht-performativ sein kann und den sozialen Wandel eher behindert als erleichtert. Unter den Bedingungen von Spätkapitalismus und Neokolonialismus versuchen die Protestpolitiken, Hoffnung und Optimismus zu wecken. Doch wie Adorno (1963 [1955]: 28) warnte, muss man der Versuchung einer radikalen Aktion widerstehen, die »alles in Frage [stellt] und nichts an[greift]«. In diesem Kapitel werden die komplexen Beziehungen zwischen internationaler Zivilgesellschaft, Gegenöffentlichkeiten und postkolonialen Staaten untersucht. Ich skizziere dabei, wie der »Wille zum Widerstand« und die Staatsphobie transnationaler Eliten die Entrechtung subalterner Kollektive paradoxerweise verschärfen, anstatt sie zu mildern.

Die postkoloniale Kritik der Aufklärung zeigt, wie der Imperativ, »kritisch zu sein«, selbst oppressiv und gewalttätig werden kann, statt eine emanzipatorische und gegenhegemoniale Wirkung zu entfalten. Kapitel 5 befasst sich deshalb mit der Frage, wie die Praktik der Kritik, statt eine gewaltfreie Welt herbeizuführen, zur Aufrechterhaltung von Gewaltzyklen beitragen kann. In Auseinandersetzung mit Fanon, Arendt, Gandhi, Ambedkar, Butler und Mbembe geht das Kapitel dem uralten Dilemma nach, ob Emanzipation mit Zwangsmitteln erreicht werden kann oder ob sich Gewalt dadurch nur endlos vervielfältigt und mit jedem Gewaltakt verstärkt. Darüber hinaus analysiere ich die ambivalente und widersprüchliche Natur sowohl staatlicher als auch antistaatlicher Gewalt und ihr Verhältnis zur kritischen Praktik.

Kapitel 6 unternimmt den Versuch, die Politik, Ethik und Ästhetik der Dekolonisierung zusammenzudenken. Unter »Unmündigkeit« versteht Kant die Unfähigkeit, sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Ironischerweise ist es aber genau diese Fähigkeit, die der Kolonialismus zerstörte, indem er es den Einheimischen unmöglich machte, ihre intellektuelle Arbeit selbstständig auszuüben. In diesem Kapitel beschäftige ich mich mit dem in Auseinandersetzung mit Kant und Schiller entwickelten Argument Spivaks, dass eine ästhetische Erziehung zur Schulung der Vorstellungskraft ein Schlüsselaspekt der Entsubalternisierung und folglich der Dekolonisierung ist.

Im Schlusskapitel argumentiere ich, dass es beim kritischen Durchdenken der entzauberten Gegenwart unerlässlich ist, unser Verständnis von Wandel und Veränderung neu zu definieren. Angesichts der endemischen Probleme wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ungleichheit in der postkolonialen Welt sowie des Aufstiegs autoritärer und antidemokratischer Kräfte ist die kritische Praktik untrennbar mit dem Problem entrechteter Subjekte und deren Überleben verknüpft. Das moralisch-politische Dilemma der postkolonialen Kritik besteht darin, dass sie in der Grammatik der Diskurse über Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit artikuliert werden muss. Die postkoloniale Situation ist von unerfüllten Versprechen geprägt und markiert die Prekarität der Hoffnung. Dies hat auch mit dem ambivalenten Verhältnis des postkolonialen Denkens zu den Werkzeugen der Kritik zu tun, die ebenfalls ein Erbe der europäischen Aufklärung sind. Während Kants Formel für Aufklärung auf die Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit fokussiert, bezieht sich in meiner Lesart die postkoloniale Studie auf Mendelssohns Einsicht, dass für bestimmte verletzliche Gruppen diese Unmündigkeit nicht selbstverschuldet, sondern systematisch auferlegt ist, was es diesen Gruppen nahezu unmöglich macht, daraus Ausgang zu finden. Mendelssohns Zitat im Epigraph zu Beginn dieses Buches spiegelt die postkoloniale Sehnsucht nach Aufklärung wider. Aber anstelle von Lösungen und Garantien sind kritische Theorien der Dekolonisierung von Kontingenzen und Dilemmata geprägt und die Herausforderung besteht darin, ob und wie man die Werkzeuge der Herrschenden einsetzen muss, um das Haus der Herrschenden zu demontieren (Lorde 1984: 110).

Teil I: Die Geschichte der Gegenwart

Kapitel 1: Wer finanzierte die Aufklärung? Kolonialismus und das Zeitalter der Vernunft

Nach der Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 und inmitten der weltweiten Kontroversen um den Abriss von Denkmälern und Statuen,43 die Kolonialismus und Sklaverei verherrlichen, kam es in den deutschen Medien auch zu einer intensiven Debatte um das Erbe von Immanuel Kant, der bis dahin als das Symbol der europäischen Aufklärung und ihrer Prinzipien von Freiheit, Gleichheit, Weltoffenheit und Frieden fungiert hatte. Während einige Kant jetzt vorwarfen, der Gründervater des modernen Rassismus44 und das Symbol einer spezifisch weißen Vernunft zu sein,45 verteidigten ihn andere schlicht als »Mann seiner Zeit«46 oder gar als Verkörperung des Antikolonialismus der Aufklärung.47 Mit dem wiedererwachten weltweiten Interesse an den unvollendeten Prozessen der Dekolonisierung richtet sich der Blick auch wieder vermehrt auf den Zusammenhang von Modernität und »Rasse«, Kapitalismus und Neokolonialismus, Kosmopolitismus und globaler Ungleichheit. Auch die ambivalente Beziehung zwischen Kolonialismus und Aufklärung steht damit wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

In diesem Kapitel werde ich darlegen, warum es so wichtig ist, Kants zentrale Rolle in der Aufklärung und seinen anhaltenden Einfluss auf unser zeitgenössisches Verständnis von kritischer Praxis zu verstehen. Ob Foucault, Butler oder Spivak, selbst die entschiedensten Kritiker:innen des westlichen Denkens verorten sich gegenüber Kant. Darüber hinaus werde ich herausarbeiten, wie sich die aktuelle Außenpolitik westlicher Staaten, sei es im Bereich der Entwicklungspolitik oder der militärischen Intervention, weiterhin auf die kantischen Ideale des Kosmopolitismus und des Völkerrechts bezieht. Im Sinne einer postkolonialen Ideengeschichte ist es für den Prozess der Dekolonisierung deshalb unabdingbar, den Rassismus, Sexismus und Antisemitismus Kants zu thematisieren. Kant einfach zu meiden, indem man ihn als rassistisch oder sexistisch »cancelt«, ist ebenfalls keine tragfähige Alternative, bleibt er doch einer der wichtigsten Denker der Aufklärung, dessen Interpretation der Ideen von Autonomie und Kritik große Wirkmacht entfaltete.

Wer die »Aufklärung dekolonialisieren« will, muss aber in einem ersten Schritt ein grundlegendes Verständnis dieses kontroversen Begriffs und der mit ihm bezeichneten Epoche erlangen.Der Begriff »Aufklärung« ist stark umstritten und bezieht sich auf ein breites Spektrum an Texten, Denkern und Praktiken. Angesichts der Vielfältigkeit der Perspektiven, die unter diesem Etikett subsumiert werden, kann es eine eindeutige Definition, die die Reichweite von »Aufklärung« sowohl als historische Epoche als auch als begriffliches Paradigma vollständig erfassen könnte, nicht geben (Cascardi 1999: 21). Verallgemeinerungen über »das Projekt der Aufklärung« und seine Hinterlassenschaft für unsere Zeit, so wird argumentiert, können die Komplexität ihrer kritischen Praktiken nicht erfassen (Schmidt 1996: 29). Die anhaltenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Befürworter:innen und den Kritiker:innen der Aufklärung reißen derweil nicht ab.

Die Frage »Was ist Aufklärung?«48 wurde ursprünglich vor dem Hintergrund von Diskussionen über Zensur, politische Autorität und religiöse Überzeugungen formuliert, wie James Schmidt in seiner historischen Kontextualisierung überzeugend darlegt. Schmidt zeigt, dass trotz der sehr unterschiedlichen Antworten keiner der Teilnehmer die Fragestellung »Was ist Aufklärung?« einfach nur im Sinne einer historischen Epochenbezeichnung auffasste. Kant betonte in seiner kanonisch gewordenen Antwort den öffentlichen Charakter der Vernunft, die sich in den Kaffeehäusern, Salons, Lesegesellschaften und wissenschaftlichen Akademien der damaligen Zeit entfaltete (Schmidt 1996: 5). Kant machte also den öffentlichen Gebrauch der Vernunft,49 der eng mit der Autonomie des Individuums zusammenhängt, zu einer Grundlage der Aufklärung. Dagegen stellte er nicht die Frage: Wer finanzierte die Aufklärung?

Diese Frage nach den materiellen Grundlagen ist aber gerade mit Blick auf den Kolonialismus unabdingbar. Im Folgenden soll es mir also zunächst um eine Analyse der historischen Verbindungen zwischen Aufklärung und Kolonialismus gehen, wobei ich mich kritisch mit den Verteidiger:innen der Aufklärung auseinandersetze, die für sich in Anspruch nehmen, die lange vernachlässigten antiimperialistischen Impulse des politischen Denkens des 18. Jahrhunderts zu Tage zu fördern. In einem nächsten Schritt will ich mich dann an einer kritischen Einschätzung des zugleich imperialistischen und antiimperialistischen Charakters der Aufklärung versuchen. Tatsächlich laufen postkoloniale Theoretiker:innen Gefahr, die Aufklärung zu vereinheitlichen, wenn sie sich einseitig auf ihre gewalttätigen Hinterlassenschaften konzentrieren. Die Verfechter:innen des politischen Denkens des 18. Jahrhunderts setzen sich in ihrem Versuch, die Aufklärung zu rehabilitieren, hingegen nicht ausreichend mit postkolonialen, queeren und feministischen Perspektiven auseinander. Statt die Aufklärung zu verteufeln oder einfach nur zu zeigen, dass viele ihrer angeblich »universellen« Ideen in Wirklichkeit eben eurozentrisch sind, soll in diesem einleitenden Kapitel ein neues Licht auf die Annahmen geworfen werden, die der Aufklärung zugrunde liegen. Dabei geht es mir nicht darum, die Aufklärung an den Pranger zu stellen, sondern zunächst einfach nur darum, die zentrale Rolle von Kolonialismus und Rassismus im Zeitalter der Vernunft zu beleuchten und die komplexen Beziehungen zwischen Kolonialismus, Kapitalismus und Kosmopolitismus herauszuarbeiten. Ziel ist es, unser Verhältnis zu Kant und anderen Denkern der Aufklärung zu überdenken und neu zu gestalten; nicht, um sie zu diskreditieren, sondern um kritischer zu denken als sie selbst. Und kann es eine bessere Hommage an die Aufklärung geben, als den Versuch, sie zu übertreffen?

Die Entzauberung50 der Aufklärung

Der Einfluss des kritischen Denkens der Aufklärung war tiefgreifend. Ihr intellektuelles und politisches Erbe ist nicht auf eine historische Epoche oder ein geografisches Gebiet beschränkt, sondern wirkt bis in unsere Zeit fort. Wann immer Themen wie die Verletzung der Menschenrechte oder die Untergrabung der Demokratie, der Aufstieg des Autoritarismus, das Leiden von Geflüchteten und staatenlosen Menschen, die Zerstörung der Ökosysteme oder ethische Dilemmata im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz global diskutiert werden, verorten wir uns auch im Verhältnis zur Aufklärung, die nach wie vor wichtige intellektuelle, moralische und politische Ressourcen für das kritische Denken liefert. Die Intellektuellen der Aufklärung postulierten die Ideale von Gleichheit, Recht und Rationalität gegen Feudalismus, Gewalt und Obrigkeitshörigkeit als einen Weg aus der Unterdrückung in die Freiheit. Die Aufklärung, so heißt es oft, habe radikale Bewegungen wie die Französische und die Haitianische Revolution in ihrem Kampf gegen Traditionalismus, Autoritarismus und die Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten inspiriert und fortschrittliches politisches Denken wie den Liberalismus und Sozialismus beeinflusst. Sie ermöglichte eine kritische Reflexion politischer Normen und Praktiken und förderte so die Rechenschaftspflicht der Institutionen, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Umgestaltung der sozialen Beziehungen. Emanzipatorische Bewegungen für das Wahlrecht, die Abschaffung der Sklaverei und die Einführung umfassender bürgerlicher Freiheiten lassen sich alle auf die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zurückführen, von denen sich auch heutige soziale und politische Bewegungen noch inspirieren lassen. Kants Antwort auf die historische Frage »Was ist Aufklärung?« bringt die Zuversicht der Moderne zum Ausdruck und ist deshalb mehr als eine bloße Periodisierung; sie zielt nicht nur auf einen historischen Moment, sondern auf die intellektuelle Ausrichtung des europäischen Denkens.51 Kant argumentiert, dass die Vernunft die Menschheit emanzipiere, indem sie den Menschen aus der nicht-autonomen Subjektivität befreie und zu Freiheit und Gleichheit befähige.

Die Aufklärung unterzog religiöse und politische Autoritäten einer begründeten Kritik und verstand sich zugleich als eine Bewegung, die für materiellen, epistemischen, ethischen und wissenschaftlichen Fortschritt eintrat. Jeder Versuch, soziale und politische Strukturen zu verändern, birgt jedoch auch die Gefahr, das Gegenteil von dem zu bewirken, was beabsichtigt war. Wissenschaftler:innen der Postkolonialen Studien wie auch der Holocaust Studien haben zu bedenken gegeben, dass das Versprechen der Aufklärung, sich durch die Ausübung der Vernunft von der Herrschaft zu befreien, paradoxerweise zu einer Herrschaft der Vernunft geführt hat. Der historische Siegeszug von Vernunft und Wissenschaft und das Streben nach Gleichheit und Fortschritt brachten auch Terror, Völkermord, Sklaverei, Ausbeutung, Totalitarismus und Unterdrückung mit sich. Der Kolonialismus und der Holocaust zeugen davon, dass den fortschrittlichen Zielen der Aufklärung auch deren Gegenteil innewohnt. Dabei war die Aufklärung kein provinzielles europäisches Phänomen, sondern beanspruchte universelle Gültigkeit für ihre emanzipatorischen Ideen und setzte diesen globalen Anspruch im Kolonialismus auch durch.

Der Anspruch auf normative Überlegenheit äußerte sich darin, dass außereuropäische kritische Praktiken und Ansätze disqualifiziert und abgewertet wurden. Paradoxerweise ging der Triumph der Vernunft, der von der aufstrebenden Bourgeoisie getragen wurde, mit der Entrechtung von Frauen und nicht-westlichen Subjekten sowie der Abwertung der Natur einher, die jetzt als das »Andere« der Vernunft galten, als unberechenbare und ungezähmte Kräfte, die es zu kontrollieren, zu beherrschen und zu unterwerfen galt. Postkoloniale Wissenschaftler:innen haben gezeigt, wie die ambitionierten Ideale der Aufklärung dabei in Wahrheit den partikularen Interessen einer bestimmten privilegierten Klasse dienten, so dass die angeblich universellen Normen tatsächlich mit Vorurteilen über Geschlecht, Klasse, »Rasse« und Sexualität durchsetzt waren. Postkolonialen Wissenschaftler:innen geht es nicht darum, die Aufklärung für die in ihrem Namen begangenen Verbrechen vor Gericht zu stellen. Das darf aber nicht heißen, ihren Rassismus, Sexismus und Antisemitismus (James/Knappik 2022) zu entschuldigen und sie als Wiege der modernen Demokratie und der liberalen Institutionen zu feiern. Das Ziel muss vielmehr sein, den Zusammenhang zwischen den Ideen von Vernunft und Autonomie und der Gewalt, die sie hervorriefen, nachzuzeichnen.

Der Glaube an das emanzipatorische Fortschrittsversprechen der Aufklärung wurde von Anfang an von einem Misstrauen gegenüber der Vernunft begleitet. Der Siegeszug, aber eben auch die Mängel der Diskurse über Vernunft und Wissenschaft sowie Recht und Gesetz waren von Edmund Burke bis G. W. F. Hegel und von Karl Marx bis Friedrich Nietzsche Gegenstand von Streit und Polemik. Einer der frühesten Vorwürfe gegen die Aufklärung geht darauf zurück, dass sie mit der Französischen Revolution und dem aus ihr resultierenden Terror in Verbindung gebracht wurde, der schließlich im Autoritarismus der napoleonischen Ära mündete.

Das Fortschrittsversprechen der Aufklärung erzeugte zugleich das Stereotyp einer »vor-aufklärerischen« und »nicht-aufgeklärten« Welt, die von Dogmatismus und Tyrannei geplagt sei (Cascardi 1999: 25-26, siehe auch Allen 2019). Als Triumph der Vernunft über den Aberglauben und als Bewegung hin zu menschlicher Freiheit und Gleichheit formulierte die Aufklärung den Anspruch, religiöse und politische Autoritäten einer vernunftbasierten Kritik zu unterziehen. Gleichzeitig stärkte sie aber auch die Werte und Normen einer hegemonialen Klasse, die neue Formen der sozialen Herrschaft und Unterdrückung einleitete. Der Aufstieg eines bestimmten Paradigmas von Vernunft und Wissenschaft sorgte dafür, dass andere Epistemologien und Kosmologien nicht mehr intelligibel waren. Die imperialistischen Ambitionen der Aufklärung kamen am deutlichsten durch die Betonung universeller52 Prinzipien zum Ausdruck, nach denen angeblich alle