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Die Bauernkriege gelten als "Revolution des kleinen Mannes". In verschiedenen Regionen des Deutschen Reichs erhoben sich Bauern und Städter gegen die Ausbeutung durch die privilegierten Stände. Doch die Aufstände scheiterten rasch und wurden blutig niedergeschlagen. Tirol bildete indes eine Ausnahme: Im Fürstbistum Brixen übernahmen die Aufrührer tatsächlich die Macht und verlangten, Adel und Klerus dauerhaft von der Regierung auszuschließen. Ralf Höller zeichnet das ereignisreiche Leben von Michael Gaismaier nach, dem Kopf dieser erfolgreichen Erhebung. Er scharte die Tiroler erfolgreich hinter sich und forderte die Großmacht Habsburg mitten in den Bergen militärisch heraus. Doch vor allem politisch war er seinen Mitstreitern nördlich der Alpen voraus: Mit der "Landesordnung" legte er 1526 einen ersten Entwurf für eine Republik Tirol vor und verfolgte damit einen ungeheuerlichen politischen Umbruch.
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Seitenzahl: 365
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Cover
Titelei
Vorwort
Prolog: Ein Kopf will nicht rollen
1 Welt aus den Fugen
2 Bauern im Niedergang: Der Fall der Paßlers
3 Bauern im Aufwind: Der Erfolg der Gaismairs
4 Das unruhige Frühjahr 1525
5 Vormarsch in Tirol, Rückschläge im Reich
6 »Es war ein klain ding das kloster zu plundern«
7 Ein erstes abtrünniges Programm
8 Der Erzherzog als Bündnispartner?
9 Eine Zeit des Wartens
10 Der Innsbrucker Landtag
11 Tauziehen um Brixen
12 Landesherr versus Feldhauptmann
13 Verhaftung und Flucht
14 Die drei Bünde
15 Gaismairs Landesordnung
16 Die dicken Mauern von Glurns
17 Der Aufstand im Salzburger Land
18 Sturm auf Radstadt
19 Kein neues Kapitel in Venedig
20 Ein Revolutionär, aber keine Revolution
Epilog: Was wurde aus Paßler und Gaismair?
Literatur
Ortsregister
Personenregister
Abbildungsverzeichnis
Der Autor
Ralf Höller wurde 1960 in Engelskirchen geboren und studierte Anglistik, Geschichte und Pädagogik in Bonn und Edinburgh. Er arbeitete für mehrere Nichtregierungsorganisationen und ist heute freier Autor. In seinen Büchern, Beiträgen für Literaturzeitschriften, Zeitungen und Onlineportalen beschäftigt er sich mit der Geschichte von Rebellen und Revolutionären und schreibt über die Räterepublik in Bayern 1918/19, die Kolonialkriege in Südamerika und Nordostafrika sowie die Revolutionen und Bürgerkriege in Mexiko, Spanien und der Ukraine.
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Umschlagabbildung: Karls V. Landsknechte zur Zeit des ersten Krieges gegen Franz I., Holzschnitt von Hans Schäufelin von 1520 aus dem Trostspiegel, Adobe Stock.1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart, Deutschland / Edition Raetia, Bozen, ItalienGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-042093-9 (Kohlhammer)ISBN 978-88-7283-931-7 (Raetia)
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In den 1520er Jahren erhoben sich in weiten Teilen des Deutschen Reichs Bauern und Städter gegen die herrschenden feudalen Stände. Am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit war es aufgrund von Bevölkerungswachstum zu einer Phase der Güterverknappung gekommen. Adel und Klerus forderten immer mehr Dienste und höhere Abgaben, sodass Landbewohner zunehmend in wirtschaftliche Not gerieten. Doch auch die Abwanderung in Städte garantierte keine politische Partizipation, denn das Bürgerrecht und der Zugang zu Zünften waren meist nur den jeweils ortsansässigen Eliten vorbehalten.
Für die teils bewaffneten Konflikte wurde der Begriff »Bauernkrieg« geprägt. Dieser Begriff spiegelt jedoch weder die soziale Differenzierung der Aufständischen noch ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Lebensraum wider. Um der Komplexität der Konflikte Rechnung zu tragen, prägte der Historiker Peter Blickle das Etikett der »Revolution des gemeinen Mannes.« Ein zentrales Ereignis gab es jedoch nicht. Die Aufstände fanden zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Regionen statt: im Frühjahr und Sommer 1525 von der heutigen Schweiz bis zum Elsass, in Baden und Württemberg, in Oberschwaben und am Oberrhein bis nach Hessen, Franken und Thüringen, mit ersten Vorläufern bereits 1524 und einer Fortsetzung 1526 südlich der Alpen von Vorarlberg über Tirol bis ins Salzburger Land, mit Ausläufern nach Kärnten und in die Steiermark.
Die Revolten mündeten in keine Revolution. In erster Linie ging es den Aufrührern um Verbesserung ihrer persönlichen Lebensumstände, weniger Abhängigkeit und mehr Rechte, die Reduzierung der Anzahl ihrer Dienste und die Verringerung der Menge ihrer Abgaben. Die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes wurde während der Erhebungen nicht angetastet. Diese richteten sich gegen die weltliche Macht der Kirche, stellten aber weder das System ständischer Repräsentation noch die Herrschaft der Territorialherren in Frage.
Eine Ausnahme bildete Tirol: Dort begann der Aufstand später als nördlich der Alpen und zog sich dann über Jahre hin. Ihr Anführer dachte durchaus revolutionär: Michael Gaismair wollte die Monarchie durch eine Republik ersetzen. Ihm ging es nicht mehr allein um Verteilungskämpfe, sondern um eine gesellschaftliche Umwälzung. Seine selbst entworfene Landesordnung, die eine Gemeinschaft von Gleichen anstrebte, kann als Vorgriff auf moderne Verfassungen betrachtet werden. Zwar scheiterten Gaismair und die »Bauernkriege«, doch müssen sie als wichtige Etappe auf dem langen Weg zu Freiheit und Demokratie verstanden werden.
Der Prozess war für den 9. Mai 1525 angesetzt, einen Dienstag. Die Verhandlung konnte in aller Stille stattfinden. Kein Markttag stand in Brixen an und auch kein Hochamt. Besucher von außerhalb waren nicht zu erwarten, und in der Stadt selbst würden die meisten der knapp 1.700 Einwohner ihrer Arbeit nachgehen.
Am Abend zuvor waren der Richter und die Geschworenen eingetroffen. Vier kamen aus Brixen, die übrigen von weiter weg: aus Sand in Taufers, Klausen, Feldthurns, Vahrn, Sterzing und Bozen, manche eine Tagesreise entfernt. Noch beschwerlicher war der Weg für den Bannrichter. Severus Prugger musste sich von der Michelsburg bei Sankt Lorenzenzunächst ins Pustertal und dann die Rienz entlang nach Brixen hinabbegeben. Es war eine ungewöhnliche Berufung. Eigentlich wäre der Brixner Stadtrichter zuständig gewesen. Ruprecht Rindsmaul ließ sich jedoch entschuldigen. Er sei »mit krankheit so vast beschwert gewesen«, richtete er aus, dass er »solich malefizrecht aigner person nit ersetzen und volfüren mügen«.1 Dabei war ein Stadtrichter wie Rindsmaul, gleich dem Bannrichter, durchaus befugt, solche Prozesse an Leib und Leben zu führen und, falls die Geschworenen auf schuldig plädierten, auch die Todesstrafe zu verhängen. Lag Rindsmaul wirklich darnieder? Oder schützte er seine Krankheit nur vor?
Auch der neu angesetzte Termin platzte. Diesmal war der Bannrichter unabkömmlich. Prugger meldete sich plötzlich krank. Ein Ersatztermin musste her. Als dieser endlich feststand und neben den Geschworenen auch Prugger wohlbehalten in Brixen eingetroffen war, fehlte der Kläger: Sebastian Sprenz wäre von sämtlichen Prozessteilnehmern der schillerndste gewesen. Seit vier Jahren regierte er das Hochstift Brixen, neben Trient eines von zwei Fürstbistümern, die vom habsburgischen Tirol umschlossen waren, aber von Fürstbischöfen regiert wurden. Die Fürstbischöfe waren geistliche und weltliche Herrscher zugleich und besaßen Stimmrecht auf deutschen Reichstagen.
Sprenz residierte in der Brixner Hofburg. Obwohl sein Dienstsitz keine hundert Meter vom Gerichtssaal entfernt lag, zog der Fürstbischof es vor, den Prozess aus der Ferne zu verfolgen. Er quartierte sich in Tirols Hauptstadt Innsbruck ein und beauftragte einen Schreiber, ihm Bericht zu erstatten. Die gesamte Causa zog sich bereits über mehr als zwei Jahre hin. So lange hatte es gedauert, den von Sprenz verfolgten Übeltäter dingfest zu machen, zur Anklage zu bringen und seinem Prozess zuzuführen.
Der Name des Beschuldigten war Peter Paßler. Er stammte aus Antholz unweit von Bruneck, dem Hauptort des Pustertals, das sich östlich an Brixen anschließt und Teil des Fürstbistums war. Im Antholzertal hatte die Familie Paßler das Fischereirecht an zwei Seen und einem Bach inne, gepachtet vom Bischof. Ein langjähriger Streit um die Auslegung dieses Rechts eskalierte. Schließlich wurde den Paßlers das Fangrecht entzogen. Trotz Verbots fischten sie munter weiter. Vor allem Peter, einer der Söhne, tat sich hervor, indem er den von Sprenz eingesetzten Nachfolger am Fischen hinderte. Nicht nur das: Im weiteren Verlauf geriet Peter Paßler mit bischöflichen Beamten und Brunecker Behörden aneinander und beging eine Reihe von Straftaten, die ihn zum meistgesuchten Gesetzesbrecher im gesamten Hochstift machten. Am Ende wurde er gefasst und vor Gericht gestellt. Paßlers Chancen standen schlecht, da seine Taten als Kapitalverbrechen eingestuft wurden und bei Schuldfeststellung entsprechend drastisch geahndet werden konnten.
Abb. 1:Ansicht von Brixen, aus Georg Braun/Franz Hogenberg, Civitates orbis terrarum, Liber 4, Köln 1594, S. 45a.
Wir wissen von dem Rechtsstreit durch Michael Gaismair, dem von Sprenz beauftragten Schreiber. Obwohl erst seit kurzem in der fürstbischöflichen Kanzlei angestellt, schien er das Vertrauen seines Dienstherrn zu genießen. Penibel notierte Gaismair alles, was an jenem Morgen rund um die Hofburg vor sich ging. Beim Prozess selbst war er nicht zugelassen. Gaismair saß an seinem Pult und wartete. Sobald die Geschworenen abgestimmt hatten und der Richterspruch gefällt war, würde ihm das Ergebnis mitgeteilt werden. Wie das Urteil ausfallen würde, war ihm jedoch seit langem klar.
Die Verhandlung währte nur kurz. Noch vor Mittag sah Gaismair von seinem Arbeitsplatz im ersten Stock des Ostflügels, wie sich die Tür des gegenüberliegenden Gerichtsgebäudes öffnete. Heraus trat der Bannrichter. Mit einigen Gerichtsdienern im Gefolge überquerte Prugger den Platz vor der Hofburg und meldete drinnen Vollzug: »ain urtl sei beslossen« und der Verurteilte »hinaus zu eröfnung des urtls zu bringen«.2 Gaismair wusste Bescheid.
Er wusste auch, dass Sprenz penible Instruktionen hinterlassen hatte. Sie betrafen vor allem die Zeit unmittelbar nach Fällung des Urteils, falls »der Pesler [Paßler] soll gerichtet werden«, wovon Sprenz wohl ausging. Um die anschließende sofortige Vollstreckung zu sichern, sollten ausreichend Schergen zur Verfügung stehen, »in ainer guten anzall mit gewerter handt ine zu dem gericht beleitten und das gericht vor gewalt verwaren«.3 Vor welcher Gewalt wollte man sich schützen? Fürchtete Sprenz etwa, ein Todesurteil würde im Volk nicht akzeptiert werden? War dies auch der Grund, der hinter der problematischen Suche nach einem Richter steckte? Aber wer wäre willens und in der Lage gewesen, die Vollstreckung eines Urteils zu verhindern, das ein hoheitliches Gericht gefällt hatte?
Die Hinrichtungsstätte befand sich unmittelbar östlich der Hofburg, im Schatten des Brixner Doms. Das Gelände hatte nur zwei Zugänge. Einer führte mitten durch die Stadt, der andere durch das westliche Kreuztor. Der übrige Teil der Hofburg war durch Mauern und Gräben gesichert und von außen nicht zugänglich.4 Schaulustige würde es an diesem Dienstag kaum geben, so Sprenz' Kalkül, und falls sich doch Müßiggänger aus der Stadt aufmachten, um dem Spektakel beizuwohnen, waren sie leicht zu kontrollieren.
Es sollte anders kommen, wie aus Gaismairs Bericht zu entnehmen ist. Nachdem der an Händen und Füßen gefesselte Paßler zum Richtblock geführt wurde, »ist ain grosse anzal frawen von der stat und anderen orten mit sambt des Päslers weib und procurator zu uns komen und für den Päsler ine des lebens zu begnaden umb gotes willen gepeten«.5 Sprenz hatte nicht erwartet, dass bei der Hinrichtung neben Paßlers Gattin und seinem Rechtsbeistand Baltasar Lanzinger6 weitere Personen zugegen sein würden. Was hatte die Frauen dazu gebracht, in so großer Zahl zu erscheinen und Paßlers Begnadigung zu fordern?
Aussicht auf Erfolg bestand keine. Paßlers Bewacher verwiesen auf ihren Mangel an Kompetenz; sie hätten keine Befugnis für eine Begnadigung. Doch es gebe eine tröstliche Botschaft des Bischofs: Für den Fall eines Todesurteils hatte Sprenz in seinen Instruktionen festgelegt, der Verurteilte dürfe nicht verbrannt, sondern solle »mit ainem miltern tod«7 bestraft werden. Der mildere Tod bestand in der Enthauptung mit anschließender Vierteilung.
Nicht nur diese im Vorhinein festgelegten Vollstreckungsbedingungen werfen Fragen auf. Warum wollte Sprenz jegliches Spektakel vermeiden? Was hielt ihn davon ab, Paßler verbrennen zu lassen? Wie konnten trotz Überwachung und Kontrolle so viele Frauen, auch von außerhalb der Stadt, zur Hofburg gelangen? Warum wollten sie sich für Paßler einsetzen?
Es gab weitere Ungereimtheiten. Der Schreiber Gaismair beteuert in seinem Protokoll, der Henker, die Schergen und er selbst seien »kaines argen von niemant besorgt« gewesen. Doch schon im nächsten Satz heißt es, während des Geplänkels mit den Frauen sei »ain großer hauff pauern E.F.G. [Euer Fürstlicher Gnaden] underthanen und ander von den pergen und orten ganz aufruerig mit zognen weren und straichen eingefallen«, um »den gefangnen Päsler mit Gewalt« zu befreien.8 Der scheinbar spontane Auftritt der Frauen war offenbar eine Finte, um vom eigentlichen Handstreich abzulenken: der Befreiung Paßlers. Sprenz muss einen derartigen Plan zumindest geargwöhnt haben. Warum sonst hatte er so viel Bewachungs- und Vollstreckungspersonal angefordert?
Einmal in die Stadt eingedrungen, gab es für die aufrührerischen Bauern – wieder muss die Frage lauten: Wer ließ sie herein? – kein Halten mehr. Kleinlaut räumt Gaismair ein: »und wie wol wir zu der gegenwer weren genaigt, so sind si dermassen gefast [bewaffnet] gewesen, das wir nicht hetten ausrichten mügen und nur zu grosser emperung und ergerem hetten ursach geben. Also haben wirs miessen geschehen lassen«.9 Paßler, dem bereits das letzte Stündlein geschlagen hatte, war plötzlich wieder frei, dem Henker entrissen, entkommen aus der bestens bewachten Brixner Hofburg, dem Dienstsitz des mächtigen Fürstbischofs.
Gaismairs Rechtfertigungsversuch klingt merkwürdig lahm. Wusste er mehr? Wie kam es, dass trotz aller Warnungen und Vorsichtsmaßnahmen die Angreifer in der Übermacht waren? Warum hatten die Bewacher am Ende alles »miessen geschehen lassen«? Lag es daran, dass Paßlers Freunde, die Bauern aus den umliegenden Orten, heimlich Unterstützung in Brixen erfuhren? Ähnlich den Bauern schienen auch manche Bürger, wie sich bald herausstellte, mit der Herrschaft im Hochstift und in der Stadt Brixen überkreuz.
Mit Paßlers Rettung war der Tag noch nicht zu Ende. Die Befreier, einmal in Schwung, nutzten weiter das Überraschungsmoment. Statt Brixen auf direktem Weg zu verlassen und sich in den umliegenden Bergen zu zerstreuen, nahmen sie Paßler in ihre Mitte, durchquerten die komplette untere Stadthälfte von West nach Ost, passierten erst den Eisack, dann die Rienz, die beide in Brixen zusammenfließen, und suchten sich einen Lagerplatz am stadtabgewandten Ufer. Die ganze Aktion wirkte gut organisiert. Nach überstürzter Flucht sah sie nicht aus.10
Nicht einmal der befreite Delinquent bereitete Schwierigkeiten. Paßler, immer noch in Eisen gelegt, drosselte erheblich das Fluchttempo. Eine Verfolgung oder zumindest eine Sicherung der Spuren wäre möglich gewesen. Beides fand nicht statt, auch weil niemand daran interessiert war. Dies legt die zweite Hälfte von Gaismairs Bericht nahe. Sichtlich bemüht hebt der Schreiber im Protokoll die Sorgfalt aller Beteiligten bei der Prozessvorbereitung und ihr Pflichtbewusstsein während der Abwicklung hervor. Zwischen den Zeilen ist der Eindruck ein ganz anderer. Nachdem Paßler entkommen war, sahen Richter und Geschworene nur ein Ziel vor Augen: möglichst rasch aus Brixen zu verschwinden, nicht ohne sich zuvor rasch noch die Erstattung der Spesen und sicheres Geleit nach Hause garantieren zu lassen. In der Stadt fühlten sich die fürstbischöflichen Beamten nicht mehr sicher; einige fürchteten sogar um ihr Leben.
War also der Handstreich an der Hofburg nicht so unvorhergesehen, wie es Gaismairs Rapport vermuten lässt? Erst eine kurze Nachschrift zum Protokoll gibt Aufschluss. In ihr weist Gaismair seinen Dienstherrn darauf hin, dass es bereits in den vergangenen Tagen wiederholt zu Gesetzesübertretungen in der Umgebung der Stadt gekommen war. Streunende Bauern, begleitet von nichtsnutzigen Städtern, hatten gewildert und mehrere Fischweiher geplündert, die zum reichen Kloster Neustift vor den Toren Brixens gehörten – die so genannten Laugen in Natz – vielleicht, um sich einen Vorrat anzulegen?11 Warum hatte Gaismair dies nicht an früherer Stelle seiner Schilderung erwähnt?
Gaismairs Bericht endet mit der »underthanig bit«, Sprenz solle sich aus Innsbruck »eilend herein verfügen«12, zurück nach Brixen. Sprenz tat gut daran, dem Vorschlag nicht zu folgen. Zu aggressiv war die Stimmung. Die Kunde von Paßlers Befreiung machte bald die Runde. Per Anschlag und Mundpropaganda wurde sie in die umliegenden Dörfer getragen. Auch dies erwähnt Gaismair in seiner Nachschrift, verbunden mit dem Hinweis, dass sich am nächsten Morgen um zehn die renitenten Bauern, unterstützt von aufmüpfigen Städtern, zu einer ›Gemein‹ verabredet hätten. Ihre Waffen und Harnische, die sie als Wehrpflichtige daheim aufzubewahren pflegten, würden sie auf die Versammlung mitbringen.
Unterdessen waren Paßler endlich die Ketten abgeschlagen worden. In der Berichterstattung über die nächsten Tage taucht sein Name nicht mehr auf.13 Vermutlich wurde der Flüchtige versteckt, nachdem er die Nacht bei dem Bauern Hans Kaser im benachbarten Sankt Leonhard verbracht hatte,14 auf einem Berg, von dem er auf Brixen herabschauen konnte. Kaser hatte möglicherweise auch den Plan geschmiedet, Paßler zu befreien.15
Was sich nach einer Räuberpistole anhören mag, war der Beginn einer Reihe von Erhebungen im Hochstift Brixen und in der Grafschaft Tirol, später auch im Fürstbistum Trient und im Fürsterzbistum Salzburg. Städter schlossen sich den Bauern an, vorübergehend auch die Knappen in den Bergbauregionen. In den süd-, mittel- und südwestdeutschen Territorien war es bereits zu Beginn des Frühjahrs zum Aufruhr gegen die feudalen Stände gekommen. Alle diese Auseinandersetzungen hatten stark regionalen Charakter, fanden nicht zeitgleich statt und wurden von sozial divergierenden Schichten getragen; der in der Geschichtsschreibung etablierte Begriff ›Bauernkrieg‹ greift zur Beschreibung des komplexen Sachverhalts zu kurz. Während es den Bauern nördlich der Alpen in erster Linie um die Beseitigung ihrer beschwerlichen Lebensumstände ging, entwickelte der Konflikt in Tirol eine sehr viel größere politische Dimension, mit nachhaltiger Wirkung. Gipfel war der sechswöchige Tiroler Landtag im Juni und Juli 1525, an dem 200 Bauerndelegierte und zahlreiche auswärtige Beobachter teilnahmen.
Bereits eine Woche nach Paßlers misslungener Hinrichtung wurden die politischen Verhältnisse im Hochstift Brixen und bald auch in der umgebenden Grafschaft Tirol kräftig durcheinandergewirbelt. Verlierer waren Adel und Klerus. Bislang hatten sich die beiden feudalen Stände mal in mehr, mal in weniger großem Einvernehmen mit dem Tiroler Landesherrn die Macht geteilt. Ein Stück davon vermochten ihnen die Bürger und Bauern auf vergangenen Landtagen bereits abspenstig machen. Jetzt aber sollte der Adel zum großen Teil, der Klerus sogar komplett von der Herrschaft ausgeschlossen werden.
Gaismair kehrte nach den Geschehnissen jenes 9. Mai gar nicht erst in seine Hofburgkanzlei zurück. Stattdessen begab er sich zur Millander Au, einer ausgedehnten Wiese am Eisack, dem größeren der beiden Brixner Flüsse, auf der Paßlers Befreier ihre Versammlung abhielten. Bereits zwei Tage später gab es Neuigkeiten über Gaismair zu vermelden. Sie stammten von ihm selbst und waren einem an Sprenz adressierten Schreiben zu entnehmen. Der Fürstbischof staunte nicht schlecht, als er Gaismairs Zeilen las. Die Aufrührer im Hochstift und in der umgebenden Grafschaft, hieß es, hätten beschlossen, sich zu organisieren, ihre Beschwerden gegen die Herrschaft im Hochstift Brixen wie in der Grafschaft Tirol zu sammeln, zu Papier zu bringen und für Abhilfe zu sorgen. Auch einen Anführer hätten die Unzufriedenen bereits gewählt. Sein Name: Michael Gaismair.
1Hartmann Ammann, Peter Passler, Der Bauernrebell aus Antholz, in: Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 6 (1909), S. 52–60, 141–158, hier: S. 149. Ammann hatte in einer Lade im Archiv der Brixner Hofburg einen Zufallsfund gemacht und vielfältiges Quellenmaterial über Paßler gefunden; dessen Absagen gegen den Fürstbischof und gegen die Stadt Bruneck waren darin nicht enthalten und blieben unauffindbar.
2Ebd.
3Ebd., S. 148. Paßler wird in anderen Quellen auch »Päßler« oder »Pasler« geschrieben. In der Frühen Neuzeit gab es noch keine festgelegte Rechtschreibung, sondern diese wurde willkürlich gehandhabt. Die häufigste Schreibweise ist Paßler. In dieser Version taucht der Name erstmals überhaupt in einem historischen Dokument auf.
4Barbara Denicolò/Andreas Fischnaller/Maria Kampp, Vom Episkopium zum Tschumpus. Die wechselvolle Geschichte des Hauses am Domplatz Nr. 3, Brixen 2016, S. 8, 19 f., 24, 45 f.
5Ammann, Peter Passler, S. 149 f.; Denicolò/Fischnaller u. a., Episkopium, S. 47 ff.
6Ammann, Peter Passler, S. 149.
7Franz Anton Sinnacher, Beyträge zur Geschichte der bischöflichen Kirche Säben und Brixen in Tyrol, Bd. VII: Die Kirche Brixens im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts, Brixen 1830, S. 207.
8Ammann, Peter Passler, S. 150.
9Ebd.; Denicolò/Fischnaller u. a., Episkopium, S. 48.
10Ammann, Peter Passler, S. 153 f.
11Manfred Tschaikner vermutet, der Plan zu Paßlers Befreiung sei bei einer »entscheidenden konspirativen Zusammenkunft am 6. Mai beim Laugen südlich von Natz« gefasst worden, siehe Manfred Tschaikner, Der Burgfrieden Rodeneck im Bauernkrieg, in: Der Schlern 67 (1993), S. 643–647, hier S. 643.
12Ammann, Peter Passler, S. 151.
13Ebd. Literatur über Peter Paßler: Josef Macek, Peter Pässler im Tiroler und Salzburger Bauernkrieg, in: Der Schlern 59 (1985), S. 144–169; Roman Demattia, Der Bauernkrieg im Pustertal, in: Der Schlern 70 (1996), S. 274–310; Georg Kirchmairs Denkwürdigkeiten seiner Zeit 1519–1553, hg. v. Theodor Georg von Karajan (Fontes Rerum Austriacum – Österreichische Geschichtsquellen, Bd. 1), Wien 1855 (Nachdr. New York/London 1969), S. 417–534; Albert Hollaender, Neues über den Bauernrebell Peter Paßler, in: Der Schlern 15 (1934), S. 345–352;Manfred Tschaikner, Milland im Bauernkrieg 1525, in: Hans Grießmair (Hg.), Milland. Beiträge zur Natur und Geschichte, S. 95–100; Hubert Müller, Die Lehen im Antholzer Tal, in: Der Schlern 67/3 (1993), S. 225–229; Die durch den Landtag 1525 (12. Juni–21. Juli) erledigten »Partikularbeschwerden« der Tiroler Bauern (Tiroler Landesarchiv, Handschriften Nr. 2889), hg. v. Fritz Steinegger u. Richard Schober, Innsbruck 1976; Theodor Mairhofer, Brixen und seine Umgebung in der Reformations-Periode 1520–1525, Brixen 1862; Karl Franz Zani, Neues zu den Vorgängen um Brixen-Neustift während des Bauernkrieges 1525 in amtlicher Darstellung, in: Der Schlern 56 (1982), S. 207–220; Paul von Hoffmann, Geschichte Tirols von 1523–1526. Der Tiroler Bauernaufstand, Diss. phil. Innsbruck 1948.
14Ammann, Peter Passler, S. 153; Jürgen Bücking, Michael Gaismair. Reformer – Sozialrebell – Revolutionär, Stuttgart 1978, S. 60.
15Josef Macek, Der Tiroler Bauernkrieg und Michael Gaismair, Berlin 1965, S. 134 f.; Bücking, Michael Gaismair, S. 59.
Die mitteleuropäische Welt war bereits vor dem Frühjahr 1525 aus dem Gleichgewicht geraten. Der Übergang zur Neuzeit brachte für Adel, Klerus, Bürger, Bauern und auch die Landesfürsten radikale Veränderungen. Die Bevölkerung, durch Seuchen im ausgehenden Mittelalter stark dezimiert, erreichte im Deutschen Reich erst mit Anbruch des 16. Jahrhunderts wieder den Stand von vor 1347, dem Beginn der ersten großen Pestepidemie in Europa. Seitdem nahm sie rasch zu. Der gestiegene Bedarf an Nahrungsmitteln verlangte neue Anbauflächen und eine intensivere Nutzung vorhandener Böden. In der Folge kam es zu Verteilungskämpfen.
Im 15. Jahrhundert waren die Getreidepreise langsam, aber kontinuierlich gefallen. Erst in den letzten beiden Dekaden zogen sie wieder an, um ab zirka 1600 erneut zu sinken.16 Vor allem für die Bauern weitete sich die negative Konjunktur zu einer Krise aus.17 Dagegen konnten Adel und Klerus, als grundbesitzende Klassen mit abhängigen Arbeitskräften, ihre Einnahmeverluste durch geringere Lohnzahlungen teilweise kompensieren.
Vielerorts litten Bauern unter neuen Privilegien, die beide feudale Stände für sich erwirkten. Zusätzlich zum meist akzeptierten großen Zehnt (ein Zehntel des Ernteertrags der Äcker und Weinberge zum Lebensunterhalt der Geistlichen) erhoben Klöster und Stifte den kleinen Zehnt, eine oft nach Gutdünken festgelegte Menge an Obst und Gemüse oder Jungvieh wie Kälbern, Ferkeln, Lämmern und auch Hennen.
Eine weitere Bürde für die Bauern war die Verschärfung der Frondienste. Ursprünglich waren bestimmte Tage vorgesehen, an denen Hand- und Spanndienste, etwa die Aussaat, Aufzucht oder Ernte, ebenso Wald- und Feldarbeiten, teils mit Zugtieren, für den Grundherrn verrichtet werden mussten. Sukzessive wurde die Anzahl der Tage wie der Dienste erhöht. Auch die Pachten für landlose Bauern stiegen.
Mit diesen Belastungen einher gingen Einbußen an der Allmende. Adlige und Prälaten nahmen Wiesen und Wälder, Bäche und Seen in Besitz, die bis dahin der Dorfgemeinschaft gehörten. Für die Benachteiligten wurde der Erwerb von Bau- und Brennholz immer kostspieliger. Das früher unentgeltliche Fischen in Gewässern und die Jagd auf Niederwild, ebenfalls willkommenes Zubrot (Hochwild war immer schon den Fürsten vorbehalten), fielen als Wilderei unter Strafe.
Schließlich verteuerten der Währungsverfall durch minderwertige Münzen mit abnehmendem Silbergehalt sowie höhere Steuern, Abgaben und Bußgelder das Leben der unteren Stände. Der Todfall, eine Art Erbschaftssteuer, wurde angehoben, ebenso die Gebühren für Rechtsprechung und Verwaltungsakte. Von Adligen geleitete Gerichte verhängten rigoros Sanktionen gegen Zuwiderhandlungen neuer Verbote und Erlasse, und die Ahndung herkömmlicher Vergehen fiel weit härter aus als bislang.
Viele der Betroffenen empfanden die neuen Maßnahmen als Willkür. Sie waren in keinem Rechtsverzeichnis aufgeführt, in keiner Landesordnung vorgesehen und von keinem Territorialherrn offiziell bestätigt worden. Die Beschwerden stauten sich an und wurden später in den Zwölf Artikeln18 der aufständischen süddeutschen Bauern oder auch in den Meraner Artikeln19 der rebellierenden Tiroler Stände niedergelegt.
»Nutznießer der Agrarkrise«, schreibt der Frühneuzeithistoriker Peter Blickle in dem von ihm mitherausgegebenen Sammelband über die Bauernaufstände, »war die Stadt.« Der Preisverfall für landwirtschaftliche Produkte kam ihren Einwohnern zugute. Die hohen Sterberaten der Pestepidemien gerade in den Städten »führten zu einer Kapitalkonzentration in den Händen der überlebenden Menschen«, und »angesichts des Arbeitskräftemangels in den Städten waren die Löhne sehr hoch.«20 Diese Entwicklung führte zu einer wesentlichen Verbesserung des Lebensstandards vieler Städter mit und ohne Bürgerrecht. Der materielle Erfolg schlug sich wiederum in gewachsenem Selbstbewusstsein nieder, besonders gegenüber Adel und Klerus, aber auch dem städtischen Patriziat. Entsprechend wuchs der Wunsch nach politischer Mitsprache.
Auch bei den feudalen Ständen führte der soziale Aufstieg des Bürgertums zu steigenden Ansprüchen. Adel und Klerus beanspruchten einen Anteil am gestiegenen Wohlstand, erhöhten bestehende Abgaben und führten neue ein. Dies alles ließen sie sich rechtlich absichern. Zu den neu eingeführten Abgaben zählte beispielsweise das Ungeld, eine Art Steuer auf Wein und Bier. Der Anteil war enorm hoch und belief sich auf ein Zehntel bis ein Fünftel des Getränkepreises. Zunächst wurde das Ungeld nur in Städten erhoben, mit der Zeit auch auf dem Land. Der Siegener Historiker Ulf Dirlmeier misst dieser Praxis entscheidende Bedeutung an urbanen Unruhen bei. Demzufolge spielten revoltierende Bürger eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen, die in der historischen Forschung unter dem missverständlichen Begriff ›Bauernkrieg‹21 zusammengefasst wurden. Für Dirlmeier »gehört die Forderung nach steuerlicher Entlastung zu den auffälligen Übereinstimmungen zwischen Bauern und Städtern.«22 Vor allem in Tirol sieht Dirlmeier, resultierend aus den Abgabenprotesten, eine »gemeinsame Frontstellung von innerstädtischer Opposition und Bauern gegen obrigkeitliche Ansprüche.«23
In Tirol spielten seit dem ausgehenden Mittelalter die Landstände eine besondere Rolle. Adel und Klerus waren die landesunmittelbaren Städte und die von Bauern dominierten Gerichtsgemeinden zur Seite gestellt. Das Zugeständnis politischer Mitsprache – von Gewaltenteilung oder umfassender Regierungskontrolle war man noch weit entfernt – geht auf die Tiroler Landfreiheiten von 1342 zurück, auch Tiroler Freiheitsbrief genannt. Der Südtiroler Historiker Karl Franz Zani stuft die Urkunde als »Magna Charta Tirols«24 ein. Die eingeräumten Privilegien betrafen jedoch in erster Linie die höheren Stände. Wirklich freie Bauern, die ebenfalls in deren Genuss kamen, gab es nur wenige.
Abb. 2:Die Firstlich Graffschaft Tirol, Kupferstich von Matthias Burgklechner, 1608.
Die Übergriffe von Angehörigen der feudalen Stände auf die Allmende schränkten den wirtschaftlichen Freiraum unabhängiger Bauern immer stärker ein. Mit ihren Beschwerden wandten sie sich an den Landesherrn, den sie in Konflikten, wenn auch nicht als Verbündeten, so doch als unparteiischen Schiedsrichter wahrnahmen. Insgesamt sieht Zani eine positive Entwicklung: »Die Beteiligung der Mitglieder der Pfarrgemeinde und etwas später als Mitglieder der Land- und Stadtgerichtsgemeinden an den Nutzungsrechten des Gemeindegutes von Wald, Weide, Wiesen (Allmende) sowie an dem Genuß von Besitz [...] förderte und entwickelte das politische Denken der Nutznießer.«25 Und dies in einem Ausmaß, ließe sich hinzufügen, das Tirol im gesamten Reich eine Sonderstellung bescherte. Die Machtpartizipation schien durchaus im Sinn des Souveräns, der sich bei sämtlichen Ständen in Form von Steuern und Krediten mit Geld versorgen konnte, diese sich aber auf den Landtagen bewilligen lassen musste.
Von der Agrarkrise war neben den Bauern der Adel am stärksten betroffen. Auch wenn sich die Grundherren an den unteren Schichten schadlos zu halten versuchten, hatte der Verfall der Getreidepreise gravierende Folgen für sie. Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Manche Feudalbesitzer setzten ihre extensive Landwirtschaft fort, mit Abgaben und Pachten, die sie durch Aneignung neuer Flächen zu vervielfachen trachteten, als Haupteinnahmequelle. Andere intensivierten ihre Anbaumethoden, um größere Erträge zu erzielen. Alle gemeinsam erhielten sie immer schlechtere Preise für ihre Produkte. Im Gegenzug zahlten sie Bauern oder Städtern weit weniger als früher für deren Dienste und Waren.
Darüber hinaus verdingten sich Adlige als Offiziere in den Landsknecht- und Söldnerarmeen, die seit Mitte des 15. Jahrhunderts die traditionellen Ritterheere verdrängt hatten. Doch auch in diesem Metier wurden Stellen knapper. Es herrschte größerer Bedarf an Mannschaften; die ursprünglich den Adligen vorbehaltenen militärischen Ränge besetzten inzwischen Berufssoldaten. Im Zivilleben war die Entwicklung ähnlich. Eine Karriere im Verwaltungsdienst stand Angehörigen des Adels grundsätzlich offen, ohne dass sich sogleich eine echte berufliche Alternative aufgetan hätte: In den sich langsam formierenden frühneuzeitlichen Staatswesen, die sich von den feudalen Strukturen und deren schwerfälliger Organisation verabschiedeten, war der Beamtenapparat noch zu wenig ausgebildet.
Konkurrenz erwuchs dem Adel auch von Klerikerseite. Der geistliche Stand trat vorwiegend über die Klöster als Grundbesitzer auf. Mit denselben Mitteln wie der Adel versuchte der Klerus, Einkünfte zu generieren und seinen Reichtum zu mehren. Der große Zehnt allein reichte für die gestiegenen Ansprüche einer machtbewussten, auf Repräsentation bedachten Kirche kaum aus. Steuerbefreiung der Klöster, Abzwackungen von der Allmende, Sonderrechte beim Holzeinschlag und in der Forstwirtschaft, neue Fischerei- und Jagdeinnahmen, Ausweitung des kleinen Zehnt, Monopole beim Weinhandel und Bierverkauf: Die Liste der Begünstigungen geistlicher Feudalherren ließe sich mühelos verlängern. Auf Seiten der Bauern und zunehmend auch der Städter wuchs der Unmut. Zahlreiche Adlige weigerten sich zudem, die ursprünglich für weltliche Herrschaften reservierten Privilegien mit aggressiv auftretenden und besitzergreifenden Prälaten zu teilen.
Nicht nur ihre weltliche Machtausübung bescherte der Kirche Konfliktpotential. Auch in Glaubensfragen stieß sie auf Widerstand. Endgültig in die Krise geriet das Papsttum durch Luthers Lehre und die Eigendynamik seiner reformatorischen Schriften, besonders jener, die Ablasshandel und Pfründenwucher anprangerten. Mit der Nutzung des Buchdrucks gelangten sie in die hintersten Winkel des Deutschen Reichs. Um das Jahr 1524 herum waren knapp 2.500 Flugschriften im Umlauf.26 Nach Auffassung des Wittenberger Reformators war der Glaube eine Angelegenheit zwischen Mensch und Gott, in die sich keine institutionelle Kirche mischen durfte. In der Realität jedoch wurden Angehörige aller gesellschaftlich unter Adel und Klerus stehenden Stände durch Verbote reglementiert und mit Drohung ewiger Verdammnis zu einem scheinbar frommen, sprich: romkonformen Lebenswandel gezwungen. Luther richtete sich vor allem gegen die Praxis der Kirche, denjenigen, die es sich leisten konnten, selbst bei Nichtbefolgung der zehn Gebote den Kauf von Ablässen zu ermöglichen. Diese galten als Eintrittskarte ins paradiesische Jenseits und garantierten der Geistlichkeit im Gegenzug handfeste materielle Gewinne im Diesseits.
Wie der Adel profitierte auch der Klerus direkt vom Niedergang des Bauerntums. Viele ursprünglich freie Bauern wurden zu Hörigen, indem sie sich, teils aus materiellerer Not, teils aus Schutzbedürfnis, unter die Herrschaft eines geistlichen oder weltlichen Grundherrn begaben, dem sie Pacht zahlten, Naturalabgaben entrichteten und Frondienste leisteten.
Nicht überall rivalisierten Adel und Klerus. Neben dem Interesse, die unteren Stände möglichst klein zu halten, einte die feudalen Stände der Kampf gegen eine Zentralisierung der Macht. Diese Politik, begonnen unter Kaiser Maximilian I., wurde von seinen Nachfolgern Karl und Ferdinand erfolgreich fortgesetzt. Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatten sich im Deutschen Reich über 300 Bistümer, Grafschaften, freie Reichsstädte und andere reichsunmittelbare Territorien getummelt, die auf den Reichstagen mittun durften. Immer wieder war es ihnen in der Vergangenheit gelungen, ihre Partikularinteressen gegen die nur dem Namen nach bestehende Zentralgewalt durchzusetzen.
Damit war nun Schluss, zumindest im Süden des Reichs. Mit den Habsburgern ging gegen Ende des 15. Jahrhunderts aus dem bis dahin »lokalen Machtbereich einer mittelmäßig begüterten Familie ein Reich von großen Dimensionen« hervor, schreibt Karl Vocelka in seiner Österreichischen Geschichte, »dessen Dynastie ein enormes Sendungsbewusstsein entwickelte.«27 Für Vocelka war der Aufstieg des Hauses Habsburg eines der Hauptmerkmale der europäischen Zeitenwende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit.
Die Habsburger mussten sich ihre neue Souveränität gegenüber Adel und Klerus teuer erkaufen. Dazu nahmen sie die Dienste eines Finanziers in Anspruch, dessen Stand, das Bürgertum, bislang politisch kaum in Erscheinung getreten war. Der Augsburger Unternehmerclan der Fugger finanzierte die Wahl Karls V. durch die Kurfürsten zum römisch-deutschen König und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation am 25. Juni 1519 in Frankfurt (die Krönung durch den Papst erfolgte erst 1530).28 Mit ihren großzügigen, bald jährlichen Geldzuwendungen sicherten sich die Augsburger die Gunst oder, je nach Lesart, die Abhängigkeit dreier hintereinander regierender österreichischer Erzherzöge und späterer Kaiser.29
Über vier Dekaden stand Jakob Fugger an der Spitze der Firma. Ursprünglich für eine geistliche Laufbahn vorgesehen, musste er nach unerwarteten Todesfällen des Vaters und zweier Brüder ohne große Vorbereitung ins Familiengeschäft einsteigen. »In seiner Person«, befindet der Wirtschaftshistoriker Wilhelm Treue, »vereinigten sich die wesentlichen Züge des deutschen bürgerlichen Unternehmertums im 16. Jahrhundert.«30 Mehr noch: Jakob Fugger repräsentierte mit seinem ökonomischen Denken und Handeln den Übergang von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Wirtschaft.
Ursprünglich waren die Fugger im Tuchhandel beheimatet. Nachdem sie eine solide Grundlage geschaffen hatten, weiteten die Fugger ihren Geschäftsbereich aus. Mit Bankgeschäften ließen sich schon damals bei entsprechendem Startkapital höhere Gewinne erwirtschaften als im Kerngeschäft. Komplizierter waren die Strukturen im nächsten Betätigungsfeld, dem Bergbau. Um vorwiegend in Niederungarn (heute zentrale und südliche Slowakei) und Tirol Silber zu schürfen, bedurfte es neben technischem Verständnis Mut für Investitionen. Deren Rentabilität stellte sich oft erst im Verlauf eines Projekts heraus.
Statt wie der größte Teil der Konkurrenz in den eingefahrenen Bahnen zu wirtschaften, probierte Jakob Fugger immer wieder Neues, wuchs an seinen Aufgaben und verkraftete auch den einen oder anderen Misserfolg. In der Persönlichkeit Fuggers reifte ein neuer Unternehmertyp heran, mit vielen Facetten. Dazu zählten Machtbewusstsein und politisches Engagement, eine rationale Wirtschaftsauffassung unter Ausnutzung sich bietender Chancen, effiziente Produktion, langfristige Investitionen und strategisches Denken. Ein weiteres Merkmal war die Prägung durch Humanismus und Renaissance. Ihre Werte veranlassten Jakob Fugger zur Gründung eines Siedlungsprojekts für Bedürftige, der Augsburger Fuggerei, die bis heute existiert.
Weit weniger sozial zeigte sich Fugger gegenüber seinen Angestellten. Als er 1522 nach dem Bankrott seines Augsburger Konkurrenten Martin Baumgartner dessen Gruben im tirolischen Schwaz übernommen hatte, verschlechterten sich dort die Arbeitsbedingungen. Die Schichten wurden verlängert und damit die Arbeitstage gestreckt, Feiertage ersatzlos gestrichen. Für abgeliefertes Metall zahlten Grubenbetreiber oft weniger als vereinbart. Fugger rechtfertigte sein Lohndumping mit der willkürlichen, mangels unabhängiger Schiedsleute nicht überprüfbaren Begründung, das Erz sei minderwertig. Als wirklich minderwertig, da in immer dürftigerer Beschaffenheit gefertigt, stellte sich das Geld heraus, mit dem die Knappen entlohnt wurden. Der langsam, aber stetig abnehmende Silbergehalt der Münzen führte zu einem schleichenden Währungsverfall.
Statt in Geld erfolgte die Vergütung häufig auch in Naturalien. Das Brot, Hauptnahrungsmittel in den Schürforten, war von erbärmlicher Qualität. Wegen des massenhaften Zuzugs von Bergarbeitern gab es kaum preiswerte Unterkünfte. Schlafgelegenheiten wurden den Knappen zu Wucherpreisen überlassen, die Mieten fraßen einen beträchtlichen Teil des Lohns auf. Selbst in die Freizeitgestaltung der Bergarbeiter wurde eingegriffen: Versammlungen durften, wenn überhaupt, nur unter freiem Himmel durchgeführt werden. Solche Bedingungen, verstärkt durch die in Mitteleuropa abnehmende Förderung von Metallen, sorgten in Montanregionen wie Tirol für sozialen Sprengstoff.31
Ähnlich sinnbildlich wie Jakob Fugger für neuzeitliches Unternehmertum entsprach Erzherzog Ferdinand dem Prototypen des neuzeitlichen Herrschers, trotz denkbar schlechter Voraussetzungen bei seiner Machtübernahme. Ferdinand entstammte der spanischen Linie des Hauses Habsburg. Nachdem sein älterer Bruder Karl den spanischen Thron bestieg und zudem römischer König, de facto deutscher Herrscher wurde, blieben Ferdinand die österreichischen Erbländer.
Der Teilungsvertrag, auf dem Wormser Reichstag am 21. April 1521 geschlossen, garantierte Ferdinand die Erzherzogwürde. Sein Herrschaftsbereich erstreckte sich von Niederösterreich einschließlich der Steiermark, Kärntens und der von Wien aus regierten Krain über die Grafschaft Tirol und die westlich davon gelegenen Gebiete in Vorderösterreich mit der gemeinsamen Hauptstadt Innsbruck. Mit den Hochstiften Passau, Salzburg, Brixen und Trient – letztere beiden umschlossen von Tiroler Gebiet, aber nicht zum Hoheitsbereich der Grafschaft gehörig – lagen vier reichsunmittelbare Fürstbistümer, die von einem geistlichen Territorialherrn regiert wurden, innerhalb der Grenzen des Erzherzogtums Österreichs.32
Ferdinands Vorgänger und Großvater Maximilian hatte Tirol in ein modernes Staatswesen umgewandelt. Dabei war er so konsequent vorgegangen, dass Niccolò Machiavelli die für seine programmatische Streitschrift Il Principe notwendigen praktischen Studien am Innsbrucker Hof betrieben hatte.33 Wie schon Maximilian residierte Ferdinand zu Beginn seiner Herrschaft die meiste Zeit in Tirol. Der Gefürsteten Grafschaft verhalf dies zu gesteigerter politischer Bedeutung. Aus dem provinziellen Innsbruck war bereits unter Maximilian eine repräsentative Metropole geworden. Prachtbauten wie die Hofburg als neue Residenz, die zum mächtigen Zeughaus umgewidmete Andechser Burg oder die mit einem goldenen Dach versehene Neuburg verschlangen große Summen – Geld, das Maximilian nicht besaß und anderswo leihen musste.
Neben all dem Prunk, der instandgehalten zu werden verlangte, erbte Ferdinand auch die angehäuften Schulden. Von den Tiroler Ständen hatte sich Maximilian die Budgets für das komplette anstehende Jahrzehnt geborgt und zum Zeitpunkt seines Ablebens 1519 bereits restlos verbraucht. Maximilians Außenstände bei den Fuggern musste Ferdinand ebenfalls übernehmen. Für wichtige Posten wie die Intensivierung des Bergbaus oder die Landesverteidigung blieb daher wenig übrig.
Als der 1503 geborene Ferdinand im Alter von 18 Jahren Erzherzog von Österreich wurde, konnte er kein Wort Deutsch. Aus Spanien brachte er seinen engsten Berater mit. Gabriel Salamanca half Ferdinand aus mancher finanziellen Klemme. Bald stand der Monarch mit über 100.000 Gulden bei Salamanca in der Kreide34. Ferdinand setzte sein Universalgenie als Kanzler am Innsbrucker Hof ein, betraute ihn mit dem Rechnungswesen und legte die Generierung neuer Einkünfte zwecks Schuldentilgung in seine Hände. Im gleichen Maß, wie die Steuerlast stieg, sank die Beliebtheit ihres Eintreibers. Ohnehin wurde Salamanca als Ausländer beargwöhnt. Eine vermutete jüdische Abstammung verschärfte das Misstrauen. Zwar stellte sie sich als Mär heraus, blieb aber in den mit antijudaistischen Stereotypen behafteten Köpfen hängen.
Rasch schienen Ferdinand die Probleme über den Kopf zu wachsen. Doch gelang ihm ähnlich wie dem Firmenchef Fugger in Augsburg der Sprung ins kalte Wasser: Je verzwickter die politische Lage, je größer die Zahl seiner Gegner und je aussichtsärmer die anstehenden politischen Kämpfe, desto souveräner wusste der junge Herrscher damit umzugehen.
Unter einem schlechten Stern standen auch die ersten Dienstjahre eines anderen mächtigen Akteurs in jenem Tiroler Machtspiel, das sich zu einem Lehrstück für den mitteleuropäischen Zeitenwandel auswachsen sollte. Sebastian Sprenz35, zugewanderter Spross einer wohlhabenden Weberfamilie aus dem fränkischen Dinkelsbühl, gelangte durch eine Intrige in sein geistliches Amt. Im März 1521 starb der Fürstbischof von Brixen, Christoph von Schroffenstein. Schon vor dessen Tod hatten sich Adel und Klerus auf einen einheimischen Kandidaten als Nachfolger geeinigt. Durchkreuzt wurde der Plan vom Landeshauptmann an der Etsch, Leonhard von Völs36, als höchster Beamter Ferdinands Stellvertreter in Tirol sowie dessen Heereschef.
Völs sah den Fürstbischof als Konkurrenten. Als kirchlicher Würdenträger unterstand dieser allein dem Papst, als weltlicher Herr war er auf den Reichstagen gleichberechtigt mit sämtlichen Fürsten, unabhängig davon, ob diese einem kleinflächigem Territorium von vergleichsweise zwergenhafter Dimension vorstanden oder ein riesiges Gebiet wie das Erzherzogtum Österreich regierten. Daheim indes fehlte dem hineingeschmeckten Sprenz der lokale Rückhalt, was sich bald als Nachteil gegenüber Völs herausstellen sollte. Der Machtinstinkt des Landeshauptmanns erwies sich als stärker, zumal Völs als Leiter der Exekutive bewaffnete Einsatzkräfte befehligte. Dem Fürstbischof stand keine schlagkräftige Streitkraft zur Verfügung. Bald begann Völs gegen Sprenz zu intrigieren.
Abb. 3:Leonard von Völs, Ausschnitt aus einem Altarbild aus der Burgkapelle von Schloss Prösels von Meister der Habsburger, 1507/1508.
Die Rechnung ging auf. Nicht nur Adel und gehobenes Bürgertum begegneten Sprenz mit Misstrauen. Auch mit dem gemeinen Volk wurde der neue Bischof nicht warm. Während in Brixen und Umgebung eine Seuche grassierte, wich Sprenz aus Angst vor Ansteckung nach Bruneck aus. Seine Inaugurationsmesse in Brixen am ersten Januarsonntag 1522 hielt er fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Nur einige wenige Honoratioren waren zugegen.37 Weiter unbeliebt machte sich Sprenz durch Jagd-, Fischerei- und Holzschlagverbote. Mit seinem Vorgehen gegen evangelische Prediger im Hochstift trieb er zweifelnde Gläubige unfreiwillig in die Arme der neuen Lehre. Einer der Konvertiten war Völs. Ob aus Opposition gegen Rom oder doch eher aus Abneigung zum Fürstbischof: Seit kurzem hing der Landeshauptmann den Ideen der Reformation an.
Etwa um dieselbe Zeit entspann sich jener Streit, der den Konflikt in Tirol und im Fürstbistum auslösen sollte, unter Führung der Bauern und mit maßgeblicher Beteiligung von Bürgern, Bergarbeitern und armen Stadt- und Dorfbewohnern, die in keinem Stand repräsentiert waren. Als Fürstbischof Sprenz einer Familie langjährig gewährte Fangrechte entzog, wurden aus Fischern Gesetzesbrecher. Peter Paßler, der renitenteste Spross, landete nach langem Rechtsstreit, epischer Flucht und diversen Straftaten vor dem Richtblock in Brixen – und entkam. Seine Befreiung wurde zum Fanal.
Am selben Tag betrat Michael Gaismair die Bühne, zunächst der Brixner, dann der Tiroler, schließlich auch der salzburgischen, Schweizer und venezianischen Geschichte. Bis dahin war der Sohn eines Sterzinger Bergbauern so gut wie nie öffentlich in Erscheinung getreten. Schon gar nicht hatte er eine Machtposition innegehabt. Doch besaß er die idealen Voraussetzungen zum sozialen Aufstieg.
In einer mit Anbruch der Neuzeit dynamischer und transparenter gewordenen Gesellschaft war es Gaismair gelungen, sämtliche Stände zu durchlaufen. Der Sohn eines Sterzinger Bergbauern hatte standesgemäß in eine Familie recht wohlhabender Landwirte aus Feldthurns unweit Brixen eingeheiratet, war nach absolvierter Schule als Grubenschreiber der Baumgartnerschen, später Fuggerschen Bergwerke in Schwaz tätig, diente als Offizier im Heer Leonhards von Völs und wirkte zuletzt in der Schreibstube der fürstbischöflichen Brixner Hofburg.
»Auf sich selbst gestellt haben die Bauern noch nie eine Revolution zustande gebracht«, urteilt der US-Historiker und Soziologe Barrington Moore. »Die Bauern brauchen Führer aus anderen Klassen.«38 In Michael Gaismair wurden sie fündig. Nur einen Tag nach der misslungenen Hinrichtung Peter Paßlers fand sich Gaismair als einer von zunächst vier Abgeordneten in einem Ausschuss wieder. Rebellierende Brixner Städter, die sich den aufständischen Bauern aus dem Hochstift angeschlossen hatten, wählten ihn dort hinein, damit er künftig ihre Interessen vertrat. Dasselbe wollten auch die Bauern für ihre Belange. Nur wenige Tage darauf kürten sie, wieder unterstützt durch die Städter, den Bauernsohn, früheren Bergwerksangestellten, ehemaligen Hauptmann und bis vor kurzem fürstbischöflichen Kanzleischreiber zu ihrem alleinigen Anführer.
16Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, 3. Aufl. Hamburg/Berlin 1978; Walter Achilles, Landwirtschaft in der Frühen Neuzeit, München 1991, S. 3. Achilles und Abel nehmen den Roggenpreis als Grundlage, da der Roggenanbau am weitesten verbreitet war.
17Horst Buszello/Peter Blickle/Rudolf Endres (Hgg.), Der deutsche Bauernkrieg, Paderborn 1984; Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg, München 1933; Friedrich Engels, Der deutsche Bauernkrieg, 11. Aufl. Berlin 1974; Wilhelm Zimmermann, Großer Deutscher Bauernkrieg, Stuttgart 1891.
18Die Zwölf Artikel sind hier nachzulesen: https://stadtarchiv.memmingen.de/quellen/vor-1552/zwoelf-artikel-und-bundesordnung-1525.html [30.01.2024].
19Walter Honold, Die Meraner Artikel. Eine Untersuchung der politischen Ideen der Tiroler Bauernerhebung des Jahres 1525, Diss. phil. Tübingen 1936.
20Peter Blickle, Das Reich zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Buszello/Blickle u. a., Bauernkrieg, S. 38–57, hier S. 51.
21Es handelt sich nicht um ein zentrales Ereignis, sondern eine Vielzahl regionaler Auseinandersetzungen, an denen neben den Bauern auch Bürger aus den Städten und je nach Region auch Bergarbeiter beteiligt waren.
22Ulf Dirlmeier, Stadt und Bürgertum. Zur Steuerpolitik und zum Stadt-Land Verhältnis, in: Buszello/Blickle u. a., Bauernkrieg, S. 254–280, hier S. 258S.
23Ebd., S. 280.
24Karl Franz Zani, Die Tiroler Landfreiheiten im Bauernkrieg von 1525, in: Der Schlern 67 (1993), S. 507–519, hier: S. 507.
25Ebd., S. 519.
26Hans-Joachim Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Volker Press/Dieter Stievermann (Hgg.), Martin Luther. Probleme seiner Zeit, Stuttgart 1986, S. 244–281, hier S. 249-250.
27Karl Vocelka, Österreichische Geschichte, 3. Aufl. München 2010, S. 21.
28Mark Häberlein, Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650), Stuttgart 2006, S. 65. Dort werden »die Zahlung von Wahlgeldern an die Kurfürsten [...] auf den enormen Betrag von 851 918 Gulden« beziffert. Die Fugger streckten Karl diese Summe vor. Mit 175.000 Gulden stand Maximilian am Ende seines Lebens bei den Augsburgern in der Kreide.
29Häberlein, Fugger, S. 40–41, 65–66. Die Erzherzöge Maximilian, Karl und Ferdinand regierten von 1490 bis 1564 als Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.
30Wilhelm Treue, Wirtschaft, Gesellschaft und Technik vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 12), Stuttgart 1970, S. 65.
31Adolf Laube, Der Aufstand der Schwazer Bergarbeiter 1525 und ihre Haltung im Tiroler Bauernkrieg, in: Fridolin Dörrer (Hg.), Die Bauernkriege und Michael Gaismair. Protokoll des internationalen Symposions vom 15.–19. November 1976 in Innsbruck-Vill, Innsbruck 1982, S. 171–184.
32Franz-Heinz Hye, Der Bischof von Brixen und sein geistiges Reichsfürstentum, in: Der Schlern 75 (2001), S. 449–470.
33Anette Baumann/Gerhart Schlingloff, Der Kaiser und das Reich, in: Michael Georg Schmidt-von Rhein (Hg.), Kaiser Maximillian I. Bewahrer und Reformer, Wetzlar 2002, S. 251–271, hier S. 261.
34Gerhard Rill, Fürst und Hof in Österreich. Von den habsburgischen Teilungsverträgen bis zur Schlacht von Mohács (1521/22 bis 1526), Bd. 2: Gabriel Salamanca; Zentralverwaltung und Finanzen, Wien 1993, S. 405.
35Zu Sebastian Sprenz siehe auch: Rudolf Springholz, Fürstbischof Sebastian Sprenz. Vom Webersohn zum Fürstenthron. Dinkelsbühl 2022; Josef Gelmi, Die Brixner Bischöfe in der Geschichte Tirols, Bozen 1984, S. 116–120.
36Flavian Orgler, Leonhard Colonna von Völs. Landeshauptmann an der Etsch und Burggraf von Tirol, Bozen 1859; Josef Nössing, Leonhard d. Ä. von Völs (1458/59–1530), in: Ders. (Bearb.), Völs am Schlern 888–1988. Ein Gemeindebuch, Völs 1988, S. 261–264.
37Sinnacher, Beyträge, S. 187; siehe auch Bücking, Michael Gaismair, S. 29, 31.
38Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie. Die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, Frankfurt a. M. 1969, S. 549.
Peter Paßlers