Die bedrängte Seele - Peter Conzen - E-Book

Die bedrängte Seele E-Book

Peter Conzen

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Beschreibung

Dieses Buch behandelt das breite Spektrum von Identitätsproblemen und berücksichtigt dabei auch die Krisen des Lebenszyklus, Probleme von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter. "Das Buch von Conzen nimmt uns mit auf eine große Reise der Identitätsentwicklung. Der Autor zeigt uns hier neue Chancen auf. Identität als emanzipatorisches Anliegen steht im Zentrum, und in seiner Einbettung der Identität in den politisch-gesellschaftlichen Rahmen erweist sich Conzen im besten Sinne als Schüler Eriksons. Ein wichtiges, ein sehr lesenswertes Buch!" (Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke) "Ein zeitgemäßes Buch, das die Frage nach unserem sozialen Selbst in den Brennpunkt rückt. Es spannt den Bogen von unserer Befindlichkeit in einer sich rasch wandelnden Alltagswelt zu aktuellen Fragen der Psychotherapie. Die Lektüre ist ein Gewinn für alle, die über die brennenden Zeitfragen nachdenken, und eine Hilfe, um sich in der Welt von heute zurechtzufinden." (Prof. Dr. Michael Ermann)

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Peter Conzen

Die bedrängte Seele

Identitätsprobleme in Zeiten der Verunsicherung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-017147-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031584-6

epub:    ISBN 978-3-17-031585-3

mobi:    ISBN 978-3-17-031586-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Inhalt

 

 

 

Vorwort

1 Einführung – Krise des postmodernen Selbst?

2 Das menschliche Identitätsgefühl – Wesen, Entwicklung, Krisen

2.1 Identität – soziales Stereotyp, fließendes Gefühl, Selbstbild

2.2 Das Identitätsgefühl und der unbewusste Identitätsprozess

2.3 Identitätsentwicklung – eine lebenslange Aufgabe

2.4 Identitätsprobleme und Identitätsstörungen – ein unübersichtliches Feld

2.5 Identitätsverunsicherungen

2.6 Identitätskrisen

2.7 Zustände der Identitätsverwirrung

2.8 Identitätskrisen von Großgruppen und die totalitäre Versuchung

3 Identitätsprobleme und Psychopathologie

3.1 Schizoide und depressive Lebenseinstellungen – Unausgewogenheit von persönlicher und sozialer Identität

3.2 Zwanghafte und hysterische Lebenseinstellungen – Unausgewogenheit von Konstanz und Wandel

3.3 Das Borderline-Syndrom – Identitätsstörung par excellence

3.4 Narzisstische Störungen – Krankheit der Postmoderne?

3.5 Die endogene Depression – Selbstverdammung des Ich

3.6 Schizophrene Erkrankungen – Auflösung des Identitätsprozesses

4 Hauptfacetten menschlicher Identität und ihre Krisen

4.1 Der Körper – Anker, Medium, Konfliktfeld der Identität

4.2 Partnerschaft und Familie – Hauptstütze, Hauptentfremdung des Identitätsgefühls

4.3 Geschlechtsidentität und Sexualität – nach wie vor ein unsicheres Feld

4.4 Arbeit und Beruf – Ort der Selbstverwirklichung, Ort der Entfremdung

4.5 Hobbys, Interessen, Freundschaften – Entspannung versus Identitäts-Stress?

4.6 Werte, Ideale, Religion –noch eine Stütze der Identität?

5 Bedrängende Identitätsfragen und Identitätsprobleme der Gegenwart

5.1 Stigmatisierung und Rassismus – die beschädigte Identität

5.2 Migranten, Flüchtlinge, Asylsuchende – die entwurzelte Seele

5.3 Traumatisierte Menschen – Entsetzen in der Kernidentität

5.4 Die Nachwirkungen historischer Traumata am Beispiel des Nationalsozialismus – die überforderte Identität

5.5 Das Menschheitsübel Fanatismus – eine unheimliche Identitätsverhärtung

6 Die Phasen und Krisen des Lebenszyklus

6.1 Das Säuglingsalter und die Krise von Bindungsfähigkeit und Urvertrauen

6.2 Die frühe Kindheit und Konflikte um Autonomie und Scham

6.3 Der ödipale Konflikt inmitten des Spielalters – heute noch ein Stolperstein?

6.4 Die Grundschulzeit und Konflikte um Leistungsfähigkeit und Kompetenz

6.5 Das Jugendalter – Identitätskristallisationen versus verunsicherter Zukunftsbezug

6.6 Das junge und mittlere Erwachsenenalter – die »gestresste Generation«

6.7 Das Alter – neue Chancen, unveränderte Krisen

Literatur

Stichwortverzeichnis

Personenverzeichnis

 

Vorwort

 

 

 

Heutzutage eine Schwäche, gar ein Identitätsproblem einzuräumen, ist in den meisten Kontexten nicht mehr unbedingt ratsam, punktet man doch eher mit dem forciert selbstsicheren Auftreten, dem coolen Design und der geschönten Bilanz. Im Schnelllebigen, Überbordenden postmoderner Welten eine subjektive Verankerung, ein kohärentes Selbst zu finden, gestaltet sich zunehmend schwieriger. Von den »Superstars« der Casting-Shows bis zum Unechten mancher Polit-Inszenierungen – die besonnene, reflektierte Identität droht sich in Posen, Auftritten, gespielten Gefühlsäußerungen aufzulösen. Gleichzeitig wächst die Zahl einsamer, überforderter, desorientierter Menschen, denen es immer schwerer fällt, Ordnung und Zusammenhang in ihrem Leben zu finden, die sich dem allgegenwärtigen Druck zu Beschleunigung, Konkurrenz und Selbstoptimierung nicht mehr gewachsen fühlen. Vom Ungesteuert-Impulsiven der ADHS-Kinder und den Burn-out-Syndromen bereits bei Jugendlichen über die hasserfüllten Verstrickungen hoch strittiger Paare bis zu den Opfern schwerer Traumatisierung – in ganz unterschiedlicher Weise sehen sich Berater, Psychotherapeuten und Seelsorger heute mit Phänomenen der bedrängten Seele konfrontiert.

Bedrängend erscheint aber auch die derzeitige Weltlage. Während der Arbeit an diesem Manuskript suchte ungeahnter Terror Teile der arabischen Welt heim, wurden Kriegsszenarien in Europa wieder Realität, brachten verzweifelt nach Europa drängende Flüchtlingsströme die Idee einer abendländischen Solidar- und Wertegemeinschaft ins Wanken. Nicht allein ökonomische Notlagen, auch aus kühlem Machtkalkül hochgeputschte Identitätsfragen um Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, Eigenes und Fremdes, Rechtgläubigkeit und Unglaube, um vermeintlich »offene Rechnungen« historischer Traumata machen einmal mehr manche der ethnischen und religiösen Konflikte so extrem irrational und hoffnungslos unbeeinflussbar.

Dieses Buch will ein wenig Ordnung in das weit verzweigte und unübersichtliche Gebiet der Identitätsprobleme und Identitätsstörungen bringen. Zum einen sollen die oft undifferenziert und schlagwortartig gebrauchten Begriffe »Identitätskrise« und »Identitätsverwirrung« deutlicher von Zuständen der »Identitätsverunsicherung« abgrenzt werden. Zum anderen sollen die individuellen und psychosozialen Ursachen für Phänomene der »Identitätsverengung« und »Identitätsverhärtung« herausgearbeitet werden, die – in privaten wie in gesellschaftlichen Krisen – leicht in Dogmatismus, Fundamentalismus und Gewalt umzuschlagen drohen. Jede Beschäftigung mit dem Identitätsproblem wirft uralte Menschheitsfragen auf, und gewiss ist bei einem so schwierigen und komplexen Thema eine interdisziplinäre Sichtweise unabdingbar. Dennoch soll vor allem die Psychoanalyse ein Stückweit Wegbegleiter sein, hat sie doch stets das grundsätzlich Konflikthafte der conditio humana betont und aufgezeigt, wie stark bei der Wahrnehmung, Deutung und Verarbeitung von Lebenskrisen unbewusste und irrationale Prozesse mitschwingen.

Die Beschäftigung mit dem Identitätsproblem ist Resultat einer langen wissenschaftlichen Auseinandersetzung und mag darüber hinaus manch Vielfältiges der eigenen Lebensgeschichte und Persönlichkeit widerspiegeln. Ich danke meinen Freunden, Kollegen und Wegbegleitern für viele fruchtbare Denkanstöße, ebenso meinen Klienten, die in ihren Fragen, Sorgen und Nöten besonders lebensnah an Grundthemen dieser Veröffentlichung rührten. Besonderer Dank gilt darüber hinaus meinem wissenschaftlichen Vorbild Erik Homburger Erikson, einem der großen Pioniere moderner Identitätspsychologie, dessen richtungweisende Beiträge nach wie vor nicht über- oder umgangen werden können. Danken möchte ich schließlich meiner Frau für viele Stunden aufmerksamen und kritischen Korrekturlesens, ebenso dem Kohlhammer-Verlag, namentlich Herrn Dr. Ruprecht Poensgen, Frau Celestina Filbrandt und Frau Stefanie Reutter für die stets faire und konstruktive Zusammenarbeit.

Bonn, im Herbst 2016

Peter Conzen

 

1          Einführung – Krise des postmodernen Selbst?

 

 

 

Wir leben derzeit in einer Ära ungeahnter gesellschaftlicher Umbrüche. Will man den großen Zeitinterpretationen folgen, so hat die Postmoderne die Moderne abgelöst. Angeblich haben wir Abschied genommen von den »großen Erzählungen«, den überkommenen Weisen der Welterklärung, den religiösen Verheißungen und politischen Ideologien. Traditionelle Lebensmuster haben ihre Verbindlichkeit verloren, alles ist relativ geworden, selbst die persönliche Identität entpuppt sich in den Augen mancher Neurowissenschaftler als etwas Illusorisches. Wie weit Thesen vom »Ende der Geschichte«, vom »Scheitern der Aufklärung« oder »Tod des Subjekts« das Leben des Durchschnittsmenschen tangieren, mag dahingestellt sein. Angesichts des verzweifelten Ringens psychotischer und traumatisierter Menschen um den Zusammenhalt ihres Selbst müssen wir uns fragen, ob unsere Subjektivität wirklich bloße Fiktion ist, ob wir gut daran tun, das ohnehin fragile und gefährdete Ich zusätzlich kleinzureden.

Das Leben ist voller Konflikte, Schicksalsschläge und Enttäuschungen, und die Erkenntnis, dass vor allem die Krise, die, wie Nietzsche martialisch formulierte, »Zucht des Leidens«, den Menschen besonders unverfälscht mit sich selber konfrontiert, ist uralt. Krisen können uns stärken und reifen lassen, uns ebenso beeinträchtigen, lähmen, in schwere Fehlentwicklungen stürzen. Freilich sind nicht alle Lebenskrisen sofort Identitätskrisen. Es ist die Frage, ab wann Verletzungen des Selbstgefühls in eine Identitätsverunsicherung oder gar Identitätskrise übergehen, ob die Identitätsverwirrung noch Bestandteil des normalen Seelenlebens ist oder eher ein psychotischer Ausnahmezustand. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen Identitätsproblemen und seelischen Erkrankungen? Und unterscheiden sich Krisen des so genannten »postmodernen Menschen« grundsätzlich von Problemlagen früherer Generationen? Ruft etwa das Beenden einer Liebesbeziehung per SMS oder die »emotionale Kündigung« in der neoliberalen Chefetage andere Formen der Verunsicherung und des Schmerzes hervor als in vergangenen Zeiten?

Wenn ich im Folgenden solchen Fragen nachgehe, ist es nicht meine Absicht, Vorschläge zu noch ausgefeilteren Diagnose-Schemata oder noch effizienteren Coaching-Programmen zu unterbreiten. Keineswegs möchte ich – pathologisierend und defizitorientiert – für ein selbstmitleidiges Versinken in der Krise plädieren. Die Resilienzforschung, die positive Psychologie, die ressourcenorientierte Psychoanalyse haben eindrucksvoll herausgestellt, wie robust die Psyche vielfach selbst schwere Belastungssituationen und traumatische Erfahrungen zu verarbeiten vermag. Auch sollten wir Vorsicht walten lassen gegenüber allzu düsteren Zeitdiagnosen, die heutiges Leben als einzige Heimsuchung eines kalten, inhumanen Marktradikalismus beschwören. Nach wie vor leben westliche Menschen in einem historisch unvergleichlichen Klima des Wohlstandes und der Sicherheit, dies münzt sich aber vielfach, wie Martin Dornes sagt, »nicht in ein subjektives Sicherheitsgefühl um« (2010, S. 1021). Zugenommen hat eindeutig der Trend, die eigene Befindlichkeit, das eigene Unwohlsein vermehrt zu hinterfragen. Was früher im Alltagsleben als Verstimmung, Gefühlslabilität, Reizbarkeit eher vage empfunden und abgetan wurde, wird heute sehr viel häufiger in psychologischen Begrifflichkeiten reflektiert, eher Beratern und Therapeuten vorgetragen, dort diagnostiziert und in entsprechenden Settings bearbeitet. Insofern ist unter anderem die Identitätskrise zu einem Begriff geworden für etwas, was viele in ihrem Leben nachempfinden können, steht die Arbeit an den Unvollkommenheiten, Gegensätzlichkeiten und Brüchen im eigenen Selbst immer häufiger unter dem »Therapieziel Identität« (Seiffge-Krenke 2012).

Kaum ein wissenschaftliches Konzept hat freilich in den letzten Jahrzehnten eine derart inflationäre Bedeutungsaufladung erfahren wie der Identitätsbegriff. Psychologen, Sozialwissenschaftler, Psychoanalytiker und Psychiater streiten sich mittlerweile ebenso über die Deutungshoheit wie Anthropologen, Historiker, Theologen und Literaten. Identität gilt als »Selbstbild«, »Selbstkonzept«, »Selbstgefühl«, als »Rollenmuster« oder »Rollenbalance«, als psychische, ethische oder religiöse »Stärke« ebenso wie als nationales oder ethnisches »Kollektivbewusstsein«. Immer mehr Autoren sehen Identität nicht mehr unbedingt als emanzipatorisches Anliegen, sondern eher als illusorischen Anpassungsbegriff, als hohle Floskel, raten gar zum Verzicht auf das Konzept. Derweil wird in der Ratgeber- und Coaching-Landschaft Identität »gestärkt«, »trainiert« und »optimiert«, wobei die Grenze zwischen ernsthafter Selbstreflexion und stromlinienförmiger Anpassung an Mechanismen des Marktes oft schwer auszumachen ist.

Was macht die ungebrochene Popularität des Identitätsbegriffs aus, nicht nur in der wissenschaftlichen Diskussion, sondern auch im alltäglichen Sprachgebrauch? Vielleicht spiegelt das Dringliche, mit dem Individuen und Kollektive heutzutage um ihre Selbstvergewisserung kämpfen – die Diskussionen um »nationale Identitäten«, »Leitkulturen«, »corporate identities« –, ein Stück Verunsicherung wider, die Sehnsucht nach Eindeutigkeit in einer immer unüberschaubareren Welt. Vielleicht kann Identität aber auch am ehesten jenen theoretischen Brückenschlag zwischen psychologischer und soziologischer Betrachtung vollziehen, der Verklammerung zwischen »dem subjektiven »Innen« und dem gesellschaftlichen »Außen« (Keupp u. a. 1999, S. 28), ist das Identitätsgefühl doch das eigentümliche Doppelempfinden, einmalig-unverwechselbares Individuum und zugleich Gemeinschaftswesen zu sein. Das eigene Selbst immer wieder in den verschiedensten gesellschaftlichen Sektoren zu verankern, in Privatleben, Beruf und sozialem Engagement Stellung und Status, Rückhalt und Anerkennung zu finden, erfordert indessen eine permanente, oft ausgesprochen schwierige und konflikthafte »Identitätsarbeit«. Zu allen Zeiten war der Zustand bruchloser Harmonie zwischen Mensch und Gesellschaft eine Utopie, und angesichts der Schrecken und Exzesse der Geschichte mutet manches Problem heutiger »Selbstfindungs-Seminare« nahezu idyllisch an. Freilich wäre das durchschnittliche Individuum vergangener Epochen kaum auf den Gedanken gekommen, seine Leiden oder Zweifel als »Identitätskrise« zu deklarieren. Bis weit in die Neuzeit lebte das Gros der Menschen in den festen Banden unhinterfragter ständischer und religiöser Ordnungen, galten Schicksalsschläge, Unheil oder Krankheit abergläubisch als Einfluss von Dämonen, als Prüfung oder Strafe Gottes. Das Wort »Identitätskrise« entspringt modernem Welterleben. Hier schwingen die Umbrüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit, Gefühle von Verlust, Wurzellosigkeit und Entfremdung – aufgegriffen, analysiert und interpretiert aus unvoreingenommener wissenschaftlicher Perspektive.

Vielleicht war es kein Zufall, dass der geniale Autodidakt, der Halbjude, Stiefsohn und Emigrant Erik H. Erikson die Ausdrücke »Identitätskrise« und »Identitätsverwirrung« weltweit popularisierte. Von den Entfremdungszuständen jugendlicher Patienten und traumatisierter Kriegsveteranen, den entwerteten Selbstbildern farbiger Minderheiten der USA über das krisenhafte Ringen historischer Führer wie Martin Luther oder Mahatma Gandhi bis in die totalitäre Radikalisierung Nazi-Deutschlands – kein Verständnis auch heutiger Identitätsschwierigkeiten kann an Eriksons grundlegenden Erkenntnissen vorbeigehen. Schon früh sah er die Gefahr der Vermassung der Psyche in der Moderne voraus, keineswegs war er Vertreter einer revisionistischen, Freuds revolutionäre Kulturkritik verwässernden »Anpassungspsychologie«. Dennoch – Eriksons berühmtes Acht-Phasenmodell des »Lebenszyklus«, wonach der Mensch Schritt für Schritt vorgegebene Entwicklungsaufgaben bewältigt, am Ende des Jugendalters eine relativ feste, »unverrückbare« Identität findet und sich dann im Erwachsenenleben an die nächste Generation weitergibt, hat mittlerweile etwas Nostalgisches. Unter den Stichworten »Individualisierung«, »Globalisierung«, »Ökonomisierung« und »Virtualisierung« haben sich – gerade in den letzten zwanzig Jahren – immer rasantere soziale, wirtschaftliche, wissenschaftliche und technologische Umwälzungen vollzogen, deren Folgen für die Psyche des Einzelnen, überhaupt für das gesellschaftliche und globale Gefüge derzeit noch unabsehbar sind.

Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus dominiert das kapitalistische Wirtschaftssystem, unterliegt alle Produktion einem weltweiten Wettbewerb. Dies bringt gesteigerten Wohlstand, ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung auch in Schwellenländer mit sich. Andererseits werden Ökonomisierung, Profitmaximierung und Effizienz zum Selbstzweck, untergraben zunehmend hemmungsloser grundlegende ethische und ökologische Werte, droht der immer rücksichtslosere Konkurrenzkampf Menschen und Gemeinschaften auseinanderzureißen. Die Eigengesetzlichkeit des Marktes provoziert die enorme Beschleunigung nahezu aller Lebensvorgänge. Um die Nase vorn zu haben, nicht unterzugehen, bedarf es in der »Nonstop-Gesellschaft« auch noch so kleinster Zeitvorsprünge (Rosa 2005, 2009). Vorgänge noch mehr beschleunigen oder gleichzeitig erledigen, Pausen minimieren, auf mehreren Kanälen nebeneinander im »Multi-Tasking-Modus« präsent sein – nicht nur im Arbeitsleben, zunehmend auch in den privaten Beziehungen erweist sich »die umkämpfte Zeit« (King 2009) als rares Gut. Verstärkt wird das im Prinzip hektische Welterleben durch eine nie gekannte Flut von Reizen aus Medien, Werbung, Internet, Handys oder Smartphones, eine sich eigentümlich in und neben der sozialen Wirklichkeit etablierende virtuelle Welt. Stets auf allen Kanälen erreichbar, hat sich das Sozialverhalten und Welterleben vor allem junger Menschen radikal verändert, wird universaler und autistischer zugleich. Nie zuvor war der Mensch so umfassend informiert und vernetzt, nie zuvor gab es so wenig Anleitung, um mit alldem verantwortlich umzugehen. Vor allem das Internet eröffnet neue Möglichkeiten des Wissenserwerbs, der Selbstdarstellung und Kritik. Gleichzeitig wird es zum Organ der Manipulation, der bösen Fama und digitalen Inquisition, Menetekel für eine Kultur totaler medialer Gleichschaltung und Überwachung.

Der Übergang von nationalstaatlichen Industriegesellschaften in die globale Netzwerkgesellschaft (Castells 2004a) bringt veränderte Machtkonstellationen, neue Formen von Gewinnern und Verlierern hervor. Der digitalisierte Kapitalismus wird zunehmend undurchschaubarer, das Insider-Wissen um die Zusammenhänge des Netzes immer entscheidender. Weltumspannende Konzerne, Mediengruppen manipulieren gezielt die öffentliche Meinung, mächtige Interessengruppen und Lobbyisten unterwandern politische Entscheidungsprozesse. Die Verflechtungen zwischen Wirtschaft, Industrie und Politik, von organisiertem Verbrechen und terroristischen Umtrieben in globalem Maßstab schaffen mancherorts ein unfassbares Klima der Korruption, erschüttern die demokratische Kultur mittlerweile in ihren Grundfesten. Die Träume der 1990er-Jahre vom Anbruch einer neuen Epoche von Wohlstand, Frieden und Demokratie haben sich zerschlagen, die Welt scheint derzeit aus den Fugen. Ökologische Bedrohungen, Finanzkrisen, das willkürliche Aufkündigen internationaler Kooperationen und Verträge, flagrante Verletzungen des Völkerrechts, der islamistische Terrorismus mit Auswüchsen nicht mehr für möglich gehaltener archaischer Gewalt, millionenfaches Flüchtlingselend – ein Klima der Verunsicherung untergräbt auch in wohlhabenden Ländern Lebensgefühle von Ausgeglichenheit und Zukunftsoptimismus.

All die makrosoziologischen Veränderungen haben weitreichende Folgen für Selbstauffassung und Lebensführung des Individuums. Das, was Beck (1986) schon früh unter dem Stichwort »Risikogesellschaft« thematisierte, ist heute für die meisten Menschen zur alltäglichen Realität geworden. Unhinterfragte Traditionen und Werte, gesicherte soziale Standorte und berufliche Laufbahnen, klare Geschlechter- und Moralverhältnisse, eindeutige Erziehungshaltungen – all das, was früher einen sicherheitsgebenden, wenn auch einengenden Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung darstellte, ist weitgehend in Frage gestellt, wird relativiert, löst sich auf. Inmitten einer Vielzahl von Chancen, überbordenden Reizen, Sinnsuggestionen, Rollen- und Konsumangeboten muss der Einzelne zunehmend eigenständig wählen, wie, mit wem, wofür er leben will, kann sich immer weniger auf gesicherte Positionen verlassen, muss bereit sein, sich an stets neue Bedingungen und Herausforderungen anzupassen. Vorstellungen einer in sich gefestigten, abgeschlossenen, gar »essentialistisch« gedachten Identität erscheinen überholt. Das Individuum ist gehalten, seine Biografie zu basteln, ohne dass hier noch fertige Strickmuster zur Verfügung gestellt werden (Keupp u. a. 1999). Nicht selten wird die Identitätssuche zu einer Art dauerhaftem Experimentieren, zu einem »nicht abschließbaren Projekt« (Bohleber 2009a, S. 205). Dies bringt ungeahnte Freiheitsgrade, neue Chancen der Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung mit sich und andererseits neue Formen von Krise, Leiden und Scheitern. Die Anforderungen und Kontexte sind so vielfältig und rasch wechselnd, das Individuum erlebt sich in so unterschiedlichen Aspekten und Schattierungen, dass es immer schwieriger wird, einen subjektiven Standpunkt aufrechtzuerhalten. Als Familienvater besorgt, im Berufsleben hart und kompromisslos, ökologisch eingestellt und gleichzeitig interkontinental unterwegs, Fremden gegenüber weltoffen und dennoch latent misstrauisch, sich im Wellness-Urlaub entspannt gebend und gleichzeitig das Dienst-Handy im Anschlag – wo ist man eigentlich noch »man selber«, authentisch, wo spielt man lediglich eine Rolle, passt sich opportunistisch an?

Vertreter des Poststrukturalismus wie Derrida, Foucault oder Lacan sehen die Einheit des Ich als Illusion. Wir existieren nicht als Subjekte, sondern als Abfolge wechselnder Selbst-Zustände, eine Anzahl von Momentaufnahmen, vergleichbar, so Baumann, einem Videoband, »leicht zu löschen und wiederverwendbar« (1997, S. 133). Büchertitel wie »Ich bin viele« (Casey 1992) oder »Du bist viele. Das 100fache Selbst« (Stone & Stone 1994), das »multiphrene Bewusstsein« (Gergen 1996), die »Dauerflexibilisierung des Selbst« (King 2011), das Individuum als »ein dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste« (Bilden 1997) – diese und andere Überschriften scheinen am adäquatesten die innere Pluralisierung der Seele, das Leben in stets neuen situativen Identitäten zu erfassen. Es gilt, elastisch auf Konstellationen und Herausforderungen zu reagieren, quasi, wie aus einer Art »Werkzeugkasten«, die »Module« von sich hervorzuziehen, die in der aktuellen Situation gerade erforderlich sind. Von hier aus ist es nicht weit bis zu Auffassungen, das Ich als bloßes Informationssystem, als Apparat oder Computer zu betrachten (Turkle 1998; Katz 2004), die scheinbar endgültige Überflüssigmachung des Subjekts durch seine eigenen Artefakte zu postulieren.

Wird das Individuum in Zeiten des Internets und weltweiten Marktes zum bloßen Rollenbündel, Daten-Aggregat oder Konsumfetischisten, droht die »Digitalisierung« des Ich? Oder sind dies alles eher Oberflächensymptome? Gibt es nach wie vor im Subjekt Ressourcen, die stark und originell genug sind, um einer total verbürokratisierten Welt zu trotzen, neue Gleichgewichte zwischen Selbstsorge und Gemeinschaftsbezug, neue ethische Positionen zu finden?

Der »flexible Mensch« (Sennett 2010), das »proteische Selbst« (Lifton 1993), die »Patchwork-Identität« (Keupp 1994, 1997a, b), die »Bastel-Existenz« (Hitzler & Honer 1994), der »modulare Mensch« (Gellner 1996), das »unternehmerische Selbst« (Bröckling 2007) – eine Fülle ebenso origineller wie widersprüchlicher Zeitdiagnosen hat in den letzten beiden Jahrzehnten die tatsächliche oder vermeintliche »Modernisierung der Seele« (Dornes 2012) in möglichst griffige Schlagworte zu fassen versucht. Eher pessimistische Stimmen sehen einen grundlegenden Verlust an »sozialem Kitt«, an Moral, Verantwortlichkeit und Gemeinschaftssinn, ein Überhandnehmen narzisstisch-hedonistischer Lebensstile, im Letzten die Gefährdung oder gar den Tod des Subjekts. Das Diktat neoliberaler Wirtschaftsideologien, der Fundamentalismus des Marktes erzeugt, so Sennett (2010), zunehmend weltweit ähnliche, rein funktionalistische Persönlichkeitstypen, die alles dem Zwang zu Profitstreben und Effizienz unterordnen. Treue, Authentizität, Zuverlässigkeit sind im Kampf um »Steigerung der Ich-Aktien« nicht mehr gefragt. Es gilt, sich chamäleonartig an wechselnde Optionen und Selbstdarstellungsmöglichkeiten anzupassen, ohne tiefere Werthaltungen und selbsttranszendierende Motive. Angesichts des Involviertseins in stets neue Visionen, Projekte und Marktchancen erweist sich »die Stärke schwacher Bindungen« (Granovetter 1982). Gewiss, es scheint Gegenbewegungen gegen die totale Aushöhlung und Verwertung des Subjekts zu geben. Der »emotionale Kapitalismus« (Illouz 2005) sucht Arbeitsbedingungen ansprechender, einfühlsamer, demokratischer zu gestalten, »Entschleunigungsoasen« und »Achtsamkeitstrainings« sollen helfen, Zeitdruck und Stress abzubauen. Letztlich, so die Kritiker, handelt es sich auch hier um Versuche, Menschen für die noch größere ökonomische Verwertbarkeit fit zu halten. Auch der mitunter verzweifelt anmutende Identitäts- und Originalitätskult unserer Zeit, all die Versuche, sich in Kleidung, Mode, Gesinnung, Geschmack eine eigene Note, einen persönlichen Stil zu geben, wird sofort von raffinierten Werbestrategien aufgegriffen und manipuliert. Da, wo das Individuum sich scheinbar ein Stück Rückzugsmöglichkeit erkämpft hat, wird es von kühlen Marktstrategien sofort wieder eingeholt.

Andererseits mehren sich Stimmen, die in den Umbrüchen der Postmoderne nicht in erster Linie Sinn- und Traditionsverlust, sondern überwiegend Chancen sehen. So hat der Kapitalismus einen Lebensstandard geschaffen, den auch die ärgsten Kritiker für sich nicht missen wollen. Von einer generellen sozialen Kälte, einem grundlegenden Verlust an Fürsorge und generativer Verantwortung kann so nicht die Rede sein. Noch nie hatten Kinder so viele Rechte, genossen so viel Aufmerksamkeit (King 2009). Es scheint, als würden wir im »Kommunitarismus« so etwas wie die Rückbesinnung auf die Gemeinschaftsfähigkeit und -bedürftigkeit des Menschen erleben (Bialas 1997). Einfallsreich entstehen Initiativen und soziale Netzwerke, werden alle Möglichkeiten der Moderne zur unbürokratischen Unterstützung und gegenseitigen Hilfeleistung genutzt. In der Tat: Gerade die Techniken, die uns in alptraumhafter Weise kontrollieren, hegen auch ungeahnte Chancen zur Solidarisierung in sich, zum Widerstand gegen Korruption und angemaßte Macht. Im Unkomplizierten der internationalen Kontaktsuche Heranwachsender zeigt sich in ganz hoffnungsvoller Weise die Vision einer solidarischen Weltgemeinschaft. Die »Patchwork-Identität«, so Heiner Keupp (1997a, b), impliziert nicht automatisch Zersplitterung und Beliebigkeit, sondern die Chance, jenseits überkommener Zwänge oder modischer Suggestionen einen eigenständigen, selbstverantwortlichen Lebensentwurf zu stricken. Die »postheroische Persönlichkeit« (Dornes 2010) ist in ihrem Urteil gemäßigter, sieht die Welt relativer, mag moralisch flexibler erscheinen, lässt sich dafür aber nicht mehr so leicht für Kriege und religiösen Hass mobilisieren. Der weltweite Informations- und Warenaustausch vermittelt uns ein Gefühl für die bereichernde Vielfalt kultureller Systeme und den Wert von Heterogenität. Und gerade durch die Internationalisierung und Hybridisierung von Identitäten wachsen, so Bhabha (2000) oder Hall (1994), die besten Chancen zu produktivem Wissensaustausch und unvoreingenommener Kooperation von Menschen unterschiedlicher Herkunft – zu Gunsten der bestmöglichen Nutzung vorhandener Ressourcen.

Andererseits weckt das Unüberschaubare, Überfordernde gegenwärtiger Lebensbedingungen auch die Sehnsucht nach der »Stärkung des Ortes« (Sennett 2010), nach »ontischer Sicherheit« (Filipp & Aymanns 2010) erleben wir, als spürbaren Widerstand gegen Beschleunigung und Globalisierung, deutliche gesellschaftliche Trends zu Rückwärtsgewandheit, Abgrenzung und Vereinfachung. Manuel Castells (2002) spricht von der »resistance identity«. Man sucht wieder Orientierung in traditionellen Werten, Autoritätsverhältnissen und Lebensformen, zieht sich auf das Überschaubare, Heimatliche, Geschlossene zurück. Dies kommt in der Rückbesinnung auf völkische und religiöse Traditionen zum Ausdruck, im wachsenden Misstrauen gegenüber großen staatlichen und überstaatlichen Verbindungen, in weltweit zu beobachtenden Autonomiebewegungen und separatistischen Bestrebungen. Daraus, so Castells, können sich »project identities« ergeben, einfallsreiche Experimente und Visionen – beispielsweise das, was Robertson (1998) »Glokalisierung« nennt, neue Lebensformen, Mentalitäten, Kunst- und Musikstile, die phantasievoll globale Einflüsse mit heimisch-regionalen Traditionen verschmelzen. Resistente Identitäten sind freilich ebenso potenzieller Nährboden für Fundamentalismus und nationale Egoismen. »Identität« ist mittlerweile auch zum Modewort völkisch-konservativer und rechtspopulistischer Bewegungen geworden, und die derzeitigen, in Rassismus und Gewalt umschlagenden Abgrenzungskämpfe gegen Fremdes und Andersartiges spülen neue Unmenschlichkeit nach oben.

Wo stehen wir heute, wie sollen wir die Befunde und Diagnosen einordnen, gerade im Umgang mit den fragenden und leidenden Menschen, die von uns Rat und Hilfe erwarten? Die enormen gesellschaftlichen Umbrüche bleiben für das Individuum nicht ohne Folgen. Aber es gibt, was das »Abfärben« der modernen Welt auf die Psyche des Einzelnen angeht, erhebliche soziale, regionale, schichtspezifische und bildungsmäßige Unterschiede. Die heutige Gesellschaft ist nicht monolithisch, es gibt die verschiedensten Gruppierungen, Subkulturen und Identitätsentwürfe – Akademiker-Familien, Sozialhilfeempfänger, Migranten, Menschen aus ländlichen und großstädtischen Milieus, Individuen unterschiedlicher Bildung, Herkunft und Konfession. Eigentlich begegnen wir in der Vielfalt heutiger Lebensentwürfe einer bunten Mischung – Weltoffenheit und Bodenständigkeit, Kühle und Romantik, Technik-Fetischismus und soziale Verbundenheit, Fortschrittsorientiertheit und konservatives Verhaftetsein, kritiklose Anpassung und überraschender Nonkonformismus. Gerade im Unkonventionellen mancher Jugendlicher zeigt sich aufs Neue jenes »Stückchen Selbständigkeit und Originalität«, das es nach Freud (1921, S. 120) gegen die Zwänge des Kollektivs zu verteidigen gilt. So sehr unpersönliche Mächte Autonomie und Integrität bedrohen – man muss erhebliche Zweifel anmelden an einem »postmodernen Selbst«, das, quasi substanzlos, ohne inneren Kern, in momentanen Posen und Rollen aufgeht (Straub 2000). Eine Persönlichkeit völlig ohne Kohärenz, ohne ein Minimum an Werten und sozialem Halt, wäre nicht lebensfähig. Gerade in tiefen Momenten der Psychotherapie spüren wir bei Patienten oft besonders drängende Sehnsüchte nach Echtheit und Selbstsein. So gehetzt und chaotisch manch patchworkartige Lebensentwürfe auf uns wirken – irgendwann stoßen wir auf verschüttete Bedürfnisse nach Zuverlässigkeit, Vertrauen, Autonomie, Liebe und Fürsorge. Und so originell wie bisweilen selbstgefährdend Jugendliche ihr Ich in den virtuellen Welten des Internets vervielfältigen – eigentlich möchten sie in ihrer ureigensten Identität erkannt und anerkannt werden.

Es geht heute nicht um die Leugnung von Identität, sondern um ein zeitgenössisches Konzept, um einen Subjektbegriff, wo Pluralität und Einheit gleichermaßen Berücksichtigung finden. Gefragt ist die Vorstellung eines Ichs, das in der Lage ist, mit Offenheit und Vielfalt zu leben, das in einem Ensemble von Selbsten die Führung übernimmt, ohne sich an vorgefertigte Schablonen und autoritäre Zwänge von einst anzupassen. Innere Kohärenz ist nach wie vor für jeden Menschen etwas absolut Notwendiges und erster Garant seelischer Gesundheit. Damit ist nicht eine geschlossene pseudoharmonische Sicht der Welt gemeint. Kohärenz kann auch eine offene Struktur haben. Entscheidend bleibt, »dass die individuell hergestellte Verknüpfung für das Subjekt selbst eine authentische Gestalt hat« (Keupp u. a. 1999, S. 57).

Zu solch innerer Souveränität zu gelangen ist eine anspruchsvolle, nicht im Alleingang zu bewältigende Aufgabe, erfordert ein hohes Maß an Ich-Stärke und Ambiguitätstoleranz. Mehr denn je bedarf es für den Einzelnen grundlegender sozialer Stützung, Anerkennung und Einbindung, müssen elementare materielle, ökonomische und bildungsmäßige Voraussetzungen gegeben sein. Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Diskriminierung und Rassismus – viele Identitätsprobleme rühren überwiegend aus realen gesellschaftlichen Ungleichheiten und Konflikten her und dürfen nicht fälschlich dem Individuum als quasi schuldhaftes Versagen angelastet werden. Es gilt, die Ressourcen und kreativen Potenziale des Ich anzusprechen, sich nicht entmutigen zu lassen, ohne den zunehmenden Trend zu Vermassung, Kommerzialisierung und oberflächlicher Ich-Sucht zu verharmlosen, geschweige denn die enormen Risiken, das Bedrohliche der derzeitigen Weltlage zu verleugnen. Das »Empowerment«, die Stärkung individueller Kritik- und Widerstandsfähigkeit, muss mehr denn je zur zentralen Aufgabe von Pädagogik, Kulturarbeit und Bildungspolitik werden.

Zunehmend geht es in Beratung und Therapie um Unterstützung des Selbst, Anleitung in konkreten Fragen der Partnerschaft, Erziehung und beruflichen Orientierung. Auch die Psychoanalyse hat seit der »intersubjektiven Wende« vielfach Abschied genommen von autoritären Haltungen der Abstinenz und kryptischen Deutung, ist mehr bemüht um Zustimmung, Containing, eine stützende Begleitung des Patienten im Hier und Jetzt. Vor allem die jüngeren relationalen Ansätze wollen weniger kindliche Defizite und Konflikte bearbeiten, sondern zuerst entwicklungsfördernde Aspekte bewusst machen, über »Neuanfänge nachdenken«, helfen, von »den Geistern der Vergangenheit zu hilfreichen Vorfahren« zu gelangen (Emde 2011, S. 782). Bei alldem muss die Psychoanalyse an ihrer grundlegend aufklärerischen Funktion der Verteidigung des Individuums festhalten – nicht zuletzt gegen das potenziell Überfordernde und Krankmachende postmoderner Flexibilitätsanforderungen. Es kann nicht um »die schnelle Lösung« gehen, das rasche Symptombeseitigen und erneute Fitmachen für den Wettbewerb. Auch bei den zunehmend »gehetzten Patienten« bedarf es nach wie vor Zeit, um zu einem tieferen Verständnis ihres Leidens zu gelangen, die inneren Ambivalenzen und Wahrnehmungstäuschungen durchzuarbeiten, all die Gefahren der Regression und des vereinfachenden Denkens bewusst zu machen.

In allem ehrlichen Bemühen um Identitätsstärkung geht es letztlich um die Weiterführung abendländischer Ideen von Freiheit, Mündigkeit und Selbstbestimmung, um demokratische Werte, die es unbedingt zu verteidigen gilt, ohne sie von heute auf morgen anderen Kulturen aufzwingen zu wollen. Dazu gilt es, Wesen und Ursache von Identitätsproblemen konsequent weiter zu erforschen, Einfluss auf das öffentliche Bewusstsein, auf politische Entscheidungen zu nehmen, rechtzeitig kritischen Situationen vorzugreifen, bevor Konflikte zwischen Menschen und Gruppen sich in verhängnisvoller Weise zu Glaubenskämpfen aller Art verhärten.

Dieses Buch will die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts entstandenen Begriffe »Identitätskrise« und »Identitätsverwirrung« auf die Lebenssituation heutiger Menschen übertragen. Von den folgenden fünf Kapiteln behandelt das erste Aufbau, Wesen, Entwicklung und Krisen menschlichen Identitätsgefühls. Das zweite Kapitel diskutiert Identitätsprobleme in den wichtigsten psychopathologischen Zustandsbildern. Der dritte Abschnitt behandelt Kernbereiche, »Säulen« menschlicher Identität, Fragen und Probleme um Körper, Sexualität und Geschlechtsrolle, um Partnerschaft, Familie, Beruf und Freizeit, um Werte, Ideale und Religion. Das vierte Kapitel greift drängende Identitätsfragen der Gegenwart auf, die bedrückenden Selbstwertkonflikte von stigmatisierten und traumatisierten Menschen, von Flüchtlingen und Asylsuchenden, ebenso die Gefahren eines weltweit zunehmenden militanten Fundamentalismus. Die Entwicklung und Veränderung des Identitätserlebens in den Phasen des Lebenszyklus, Chancen und Risiken von Kindheit, Jugend, Erwachsenenleben und Alter in einer stark veränderten Welt, ist Gegenstand des abschließenden Kapitels.

 

2          Das menschliche Identitätsgefühl – Wesen, Entwicklung, Krisen

 

 

2.1       Identität – soziales Stereotyp, fließendes Gefühl, Selbstbild

 

Was hat es genauer mit dem Wort »Identität« auf sich, das uns in der Alltagssprache so leicht von den Lippen kommt? Auf den ersten Blick erscheint der Bedeutungsgehalt klar. Identität ist das Gefühl, »man selbst« zu sein, das Wissen, »wer man ist«. Aber bei näherer Beschäftigung mit dem Konzept werden viele Fragen aufgeworfen. Steht Identität eher für ein innerpsychisches Erleben – handelt es sich um mein »Ich«, mein »Selbstgefühl«, das »Narrativ« meiner Lebensgeschichte? Oder ist Identität etwas, was man nach außen »präsentiert«, ein typischer Habitus, ein »Rollenmuster«, gar nur ein momentaner Auftritt, eine »Pose«? Ab wann – wenn überhaupt – kann man von einem gefestigten Identitätsgefühl sprechen, im ersten Empfinden des Getrenntseins von der Mutter, in der Adoleszenz oder erst in der Reife des Erwachsenenlebens? Wann endet menschliche Identität, in der Psychose, in der Demenz, im Tod? Und was genau ist eine »Identitätskrise«, eine erschwerte Entwicklungskrise, eine Lebenssackgasse, das Nichtverwindenkönnen eines Schicksalsschlages oder einer narzisstischen Kränkung?

Von den Pionieren James, Cooley und Mead über Erikson, de Levita, Goffman, Krappmann, Haußer und Filipp bis hin zu Welsch, Mollenhauer, Derrida, Turkle oder Bhabha – all diese Fragen beschäftigen die soziologischen, interaktionistischen, psychologischen, psychoanalytischen oder psychiatrischen Ansätze moderner Identitätsforschung, lassen das Konzept so ungemein packend und interessant, aber auch so schillernd und vielschichtig werden. Strenge Identität in der ursprünglich metaphysischen Wortbedeutung kann es im steten Fluss menschlichen Seelenlebens niemals geben. Dennoch zeigt sich in allem Wachsen und Sich-Entwickeln ein Zug zum Beharrenden, verändern sich manche Persönlichkeitseigenschaften gar nicht oder nur so langsam, dass man sich selbst und andere als im Wandel der Zeit gleich bleibende Wesen erkennen und wiedererkennen kann. Identität lässt sich von außen wahrnehmen, zuschreiben, definieren – als typisches Merkmalsprofil anderer Menschen. Identität ist aber auch ein höchst subjektives Erleben, wenn wir uns spüren, in vielfältigen Gedanken und Empfindungen um uns selber kreisen, Antwort auf die Frage suchen, wer wir sind und wie wir in den Augen anderer erscheinen.

Unablässig vollzieht sich in menschlichem Kommunizieren und Kooperieren ein Wechselspiel zwischen Fremd- und Selbstzuschreibung. Stets nehme ich die Informationen, Reaktionen und Urteile anderer in meinen seelischen Binnenraum auf, reflektiere darüber, erweitere und verändere gegebenenfalls dadurch mein Selbstbild, stets beeinflusse ich andererseits durch mein Verhalten und meine Rückmeldungen die Selbstauffassung anderer. Menschliche Identitätsbildung ist ein grundlegend dialogisches Geschehen, ein ständiger Austausch- und Konstruktionsprozess an der Schnittstelle zwischen innerpsychischem Erleben und äußerer sozialer Wirklichkeit. Wir sind keine autarken Individuen oder geschlossene »psychische Apparate«. Alles im Menschen, bis hin zu den intimsten Gedanken und Gefühlen, ist sozial geprägt. Schon der Name, Kernelement unserer Identität, ist uns einst von anderen verliehen worden. Jegliches Reden, Verhandeln oder wissenschaftliche Nachdenken über Identität hat von daher eine Innen- und eine Außenperspektive, und die theoretische und angewandte Identitätsforschung umfasst ein breites Feld. Es macht einen Unterschied, ob ich als Unternehmensberater ein geeignetes »Mitarbeiterprofil« entwerfe oder mich als Psychotherapeut in die Ängste eines psychotischen Patienten vor dem Ich-Verlust hineinversetze.

Von außen betrachtet, ist die Identität eher ein Anmutungserlebnis, das Aussehen eines Menschen, seine Mimik und Gestik, die Art, sich zu kleiden, seine Sprechweise und Temperamentsäußerungen, Eigenschaften, die sich zu einer typischen unverwechselbaren »Gestalt« zusammenfügen. Zu allen Zeiten haben Dichter und Literaten das Vielschichtige und Hintergründige von Persönlichkeiten subtiler und treffender zu charakterisieren verstanden als die grob anmutenden Raster moderner Fragebögen und Persönlichkeitsinventare.