Erik H. Erikson - Peter Conzen - E-Book

Erik H. Erikson E-Book

Peter Conzen

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Beschreibung

Erik H. Erikson gilt nach wie vor als einer der bedeutendsten Psychoanalytiker nach 1945. Dieses Buch liefert einen kritisch-informativen Überblick über sein umfangreiches Werk. Nach einem biographischen Abriss werden die wichtigsten theoretischen und klinischen Beiträge Eriksons in gut verständlicher Form erläutert und übersichtlich zusammengefasst: die Identitätspsychologie, die sozialpsychologischen Überlegungen, das Acht-Phasen-Modell des menschlichen Lebenszyklus, die Neuformulierung der psychoanalytischen Triebtheorie, die tiefenpsychologischen, ethisch-religiösen und klinischen Beiträge bis hin zu seinen biographischen Studien über Martin Luther und Mahatma Gandhi. Das Buch dient somit auch als wertvolle Hilfe bei der Lektüre und dem Studium der Originaltexte von Erikson.

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Der Autor

Dr. Peter Conzen, Studium der Psychologie mit dem Abschluss Diplom-Psychologe. Stipendiat der bischöflichen Studienförderung des Cusanuswerkes. Promotion über Leben und Werk des Psychoanalytikers Erik Homburger Erikson. Ausbildungen in psychoanalytisch-systemischer Familientherapie und in psychoanalytisch-systemischer Kurztherapie. Seit 1985 Mitarbeiter in der Beratungsstelle für Eltern, Jugendliche und Kinder des Caritasverbandes für die Stadt Bonn e. V., seit 2005 Leiter der Stelle. 1999 Approbation zum psychologischen Psychotherapeuten. Von 2003 bis 2009 Lehrbeauftragter der Universität Bonn. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Werk Erik H. Eriksons, zur psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, zur Identitätsforschung, zu Themen von Extremismus, Fanatismus und Totalitarismus. Hauptwerke: »Erik H. Erikson. Leben und Werk«, Stuttgart 1996 (Kohlhammer); »Fanatismus. Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens, Stuttgart 2005 (Kohlhammer); »Die bedrängte Seele. Identitätsprobleme in Zeiten der Verunsicherung«, Stuttgart 2017 (Kohlhammer).

Peter Conzen

Erik H. Erikson

Grundpositionen seines Werkes

2. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN: 978-3-17-038690-7

E-Book-Formate:

pdf:        978-3-17-038691-4

epub:     978-3-17-038692-1

mobi:     978-3-17-038693-8

Inhalt

 

 

Vorwort zur zweiten Auflage

Einleitung

1   Leben und Werk Erik H. Eriksons

1.1   Kindheit, Jugend, psychoanalytische Ausbildung

1.2   Der Aufstieg in den Vereinigten Staaten

1.3   Eriksons Identität als Psychoanalytiker

2   Eriksons Identitätspsychologie

2.1   Die Vielschichtigkeit des Identitätsbegriffs

2.2   Eriksons Identitätsbegriff – der Ich-psychologische Aspekt

2.3   Eriksons Identitätsbegriff – soziokulturelle, ethisch-religiöse und unbewusste Aspekte

2.4   Eriksons Identitätsbegriff – der genetische Aspekt

2.5   Identitätskrise des Identitätsbegriffs?

3   Eriksons sozialpsychologische Beiträge

3.1   Die Gesellschaft ist keine »Außenwelt«

3.2   Wechselseitige Regulation und das Prinzip der Generativität

3.3   Die Pseudo-Arten des Menschseins

3.4   Soziale Ritualisierung

3.5   Totalitarismus

3.6   Verwässert Erikson Freuds Kulturkritik?

4   Die acht Stufen des menschlichen Lebenszyklus

4.1   Die Säuglingszeit: »Urvertrauen vs. Urmisstrauen«

4.2   Das Kleinkindalter: »Autonomie vs. Scham und Zweifel«

4.3   Das Kindergartenalter: »Initiative vs. Schuldgefühl«

4.4   Die Grundschulzeit: »Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl«

4.5   Die Adoleszenz: »Identität vs. Identitätsdiffusion«

4.6   Das junge Erwachsenenalter: »Intimität und Distanzierung vs. Isolierung«

4.7   Die mittleren Lebensjahre: »Generativität vs. Stagnation«

4.8   Das hohe Erwachsenenalter: »Integrität vs. Verzweiflung und Ekel«

4.9   Eriksons Beitrag zur Entwicklungspsychologie

5   Die Neuformulierung der Triebtheorie

5.1   Modi und Modalitäten

5.2   Die kulturelle Prägung der kindlichen Modi

5.3   Weibliche und männliche Geschlechtsidentität

5.4   Erziehung in zwei nordamerikanischen Indianerstämmen

6   Erikson und die Lehre vom Unbewussten

6.1   Die negative Identität in Mensch und Gruppe

6.2   Eriksons Traumlehre

6.3   Das Spiel als Botschaft des kindlichen Unbewussten

7   Die ethischen und religiösen Beiträge Eriksons

7.1   Das Drei-Phasen-Modell der Gewissensentwicklung

7.2   Ideologien und das Bedürfnis nach Sinn

7.3   Erikson zum Verhältnis von Psychoanalyse und Religion

8   Erikson als Kliniker

8.1   Eriksons ganzheitliches Krankheitsverständnis

8.2   Neurosen und gestörte Organmodi

8.3   Zustände der Identitätsverwirrung und Psychosen

8.4   Die Identitätsverwirrung des Jugendlichen

9   Der junge Mann Luther

9.1   Erikson als Psychohistoriker – die Auseinandersetzung mit Luther

9.2   Luthers Kindheit und Jugend

9.3   Das Moratorium im Kloster und die Entstehung einer neuen Theologie

9.4   Der Weg in die Reformation

9.5   Kann Erikson den historischen Luther erfassen?

10 Gandhis Wahrheit

10.1 Auf den Spuren des Mahatma

10.2 Gandhis Kindheit in der Großfamilie

10.3 Jugend und Studium in England

10.4 Gandhi als Rechtsbeistand in Südafrika

10.5 Das »Ereignis« von Ahmedabad

10.6 Eriksons Nähe zu Gandhis Wahrheit

Nachwort

Literatur

Personen- und Sachregister

Vorwort zur zweiten Auflage

 

 

 

Es hat mich sehr gefreut, dass das vorliegende Buch – verkürzte Fassung meiner bereits 1996 im Kohlhammer-Verlag erschienenen Veröffentlichung über Leben und Werk Erik Homburger Eriksons – nunmehr eine zweite Auflage erfährt. Nach wie vor gilt Erikson als einer der bedeutendsten Vertreter der Psychoanalyse nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen ungemein anregendes und vielfältiges Werk mich schon seit meinen Studienjahren fasziniert hat. Seine wegweisenden Beiträge und Pionierleistungen auf dem Gebiet der Identitätstheorie, der Entwicklungspsychologie, der psychohistorischen Forschung oder psychoanalytischen Krankheitslehre beeinflussten weit über die Psychologie hinaus die Humanwissenschaften. Und Eriksons Mischung aus tiefenpsychologischer Betrachtung, gesellschaftskritischem Engagement und ethischer Besinnung prägte in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Denken einer ganzen Ära.

Wenn auch der gesellschaftliche Wandel Eriksons Konzept einer stufenförmigen Identitätsentwicklung mittlerweile in Frage gestellt hat – nach wie vor sind viele seiner Beiträge und Denkanstöße für das Selbstverständnis und soziale Miteinander moderner Menschen unverzichtbar. Gerade in der psychotherapeutischen Arbeit mit tiefsten Ängsten und Sehnsüchten des Individuums zeigen sich seine Lebensthemen, die menschlichen Kernkonflikte um Vertrauen und Misstrauen, Autonomie und Scham, das Ringen um kohärente Identität und liebende Intimität, in ungebrochener Aktualität. Und Eriksons entschiedenes Eintreten gegen Gewaltherrschaft, Rassismus und Krieg ist ein Appell an Vernunft und Mitmenschlichkeit, wie er – gerade im Zerrissenen und Bedrängenden des derzeitigen Weltgeschehens – nicht ungehört verhallen darf.

Ich danke dem Kohlhammer-Verlag, namentlich Herrn Dr. Ruprecht Poensgen, Frau Annika Grupp und Frau Stefanie Reutter, für das mir entgegengebrachte Vertrauen und die stets freundliche Unterstützung bei der Überarbeitung des Manuskripts.

Bonn, im Mai 2020Peter Conzen

Einleitung

 

 

 

Mit Erik Homburger Erikson starb im Mai 1994 einer der letzten alten Grandseigneure der Psychoanalyse. Sein Aufstieg vom sensiblen Wandervogel zum weltbekannten Wissenschaftler, Schriftsteller und Psychotherapeuten steht für eine der ungewöhnlichsten Karrieren in der modernen Psychologie. Ohne je ein Hochschulstudium absolviert zu haben, wurde Erikson zum Professor einer amerikanischen Elite-Universität, zum mehrfachen Ehrendoktor und Pulitzer-Preisträger. Seine Bücher erreichten eine weltweite Leserschaft. Begriffe wie »Lebenszyklus«, »Urvertrauen« oder »Identitätskrise« fanden Aufnahme in den allgemeinen Wortschatz.

Worin gründet Eriksons enorme Popularität, was macht die Lektüre seiner Schriften auch heute noch so überaus bereichernd? Erikson war in erster Linie Kliniker, der während seiner psychoanalytischen Laufbahn mit den verschiedensten Patienten arbeitete: mit Kindern, labilen Jugendlichen, apathischen Opfern des Rassismus, traumatisierten Flüchtlingen und Kriegsheimkehrern. Alle seine Beiträge basieren auf klinischen Erfahrungen, die er in Traumberichten oder Spielbeobachtungen so meisterhaft wie kaum ein anderer zu vermitteln verstand. Aber Erikson war alles andere als ein orthodoxer Psychoanalytiker, der den Tag über hinter der Couch sitzt und abends daraus seine Theorien spinnt. Von ihm ging etwas Unvoreingenommenes, Unkonventionelles aus, eine Grundhaltung der Offenheit und Neugier. Über Monate lebte Erikson mit Indianern zusammen und betrieb völkerkundliche Studien. Er bereiste den indischen Subkontinent auf den Spuren Mahatma Gandhis oder vertiefte sich in das Studium mittelalterlicher Quellen, um die religiöse Krise des jungen Martin Luther nachzuempfinden. Er wurde zum Gesprächspartner der aufbegehrenden jungen Generation in den 1960er-Jahren und trug als Vortragsreisender in aller Welt zu einer Verbreitung psychoanalytischen Gedankengutes in anderen Fachbereichen bei.

Die Originalität von Erikson Werk besteht vor allem darin, dass er in immer stärkerem Ausmaß die Psychoanalyse mit anderen Disziplinen zu verbinden suchte, angefangen von der Pädagogik und der Kulturanthropologie über die Soziologie und die Geschichte bis hin zu den Literaturwissenschaften und der Theologie. Im grundlegenden Bemühen, unterschiedliche Sichtweisen und Standpunkte zu versöhnen, ist Erikson gewiss nicht mit jenen »Systembauern« der Psychoanalyse wie Heinz Hartmann oder David Rapaport vergleichbar. »Ich bin«, so räumt er selber ein, »von der Kunst her zur Psychologie gelangt, was den Umstand erklären, wenn auch nicht rechtfertigen mag, dass der Leser zeitweise finden wird, ich malte Zusammenhänge und Hintergründe, wo er lieber Hinweise auf Fakten und Begriffe sähe. Ich musste aus einer konstitutionellen Notwendigkeit eine Tugend machen, indem ich das, was ich zu sagen habe, auf repräsentative Schilderungen gründe, statt auf theoretische Argumente« (1982a, S. 12–13). Das, was Eriksons Schriften so überaus eingängig macht, die brillante Art des Erzählens, kann sich für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung bisweilen als schwierig erweisen. Erikson greift vieles auf, aber es bleibt mitunter bei Andeutungen und Impressionen, und immer wieder gehen Themen ineinander über. Oft muss man sich Sinn und Bedeutungsgehalt seiner Aussagen aus den verschiedensten Veröffentlichungen zusammensuchen und stößt bei näherem Hinsehen auf Lücken und Widersprüchlichkeiten.

Dieses Buch will – nach einem kurzen Abriss von Eriksons Lebensweg – die Fülle seiner theoretischen und klinischen Beiträge in zehn Kapiteln ordnen, um den Leser mit den Grundpositionen seines Werkes vertraut zu machen und das Studium der Originaltexte zu erleichtern. Vieles musste weggelassen werden, manches kann aus Gründen des Umfangs nur so knapp wiedergegeben werden, dass viel von Eriksons scharfer Beobachtungsgabe, den glänzenden Formulierungen und dem treffenden Humor verloren geht.

1          Leben und Werk Erik H. Eriksons

 

 

 

1.1       Kindheit, Jugend, psychoanalytische Ausbildung

Man hat Erikson als den »Pionier der Identitätskrise« bezeichnet, und es war nicht allein wissenschaftliches Interesse, sondern auch eine starke Affinität zu seiner eigenen Lebensgeschichte ausschlaggebend für die Beschäftigung mit diesem Thema. Es könne durchaus sein, gesteht Erikson, »dass ich dieser Krise einen Namen geben und sie in alle anderen Menschen hineinsehen musste, um selbst mit ihr fertigzuwerden« (1982b, S. 25). Obwohl er in behüteten Verhältnissen aufwuchs und es ihm in seiner Kindheit scheinbar an nichts mangelte, war Eriksons Leben von früh auf von Erfahrungen der Randständigkeit geprägt. Seine spätadoleszente Unausgeglichenheit bewegte sich nach eigenen Worten zeitweilig »an der Grenze zwischen Neurose und Jugendpsychose« (ebd., S. 25). Erst die eher zufällige Begegnung mit dem Wiener Kreis um Sigmund Freud, das Erlernen der Psychoanalyse, die ihm »Beruf und Berufung« wurde (1978b, S. 99), brachte größere Stabilität in sein Leben. Eriksons Aufstieg in den USA nach seiner Emigration im Jahr 1934 war kometenhaft. Er wurde zum ersten Kinderanalytiker in den Vereinigten Staaten, zum Dozent an unterschiedlichen amerikanischen Universitäten, zum psychoanalytischen Schriftsteller. Bücher wie »Kindheit und Gesellschaft«, »Der junge Mann Luther«, »Jugend und Krise« oder »Gandhis Wahrheit« wurden in den folgenden Jahrzehnten in viele Sprachen übersetzt und erlangten weltweite Beachtung.

Wie weit Eriksons Ruhm und moralische Autorität seiner inneren Verfassung entsprachen, ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Neuere Veröffentlichungen, vor allem die Biographie des amerikanischen Historikers Lawrence Friedman (1999) und die Erinnerungen Sue Erikson Blolands (2007) an ihren Vater, zeichnen das Bild eines von geheimen Ängsten, Konflikten und Selbstzweifeln belasteten Menschen. Dass Erikson, wie inzwischen ans Licht gekommen, sein behindertes Kind in ein Heim gab und daraus ein Familiengeheimnis machte, verwundert bei einem Psychoanalytiker, der den Appell zu Fürsorglichkeit und Verantwortung in den Mittelpunkt seines Werkes stellte. Hier deutet sich ein Stück menschlicher Zwiespältigkeit an, das Erikson selber sicherlich am wenigsten geleugnet hätte. Vor allem zeigt sich die Macht des Wiederholungszwanges, scheint Erikson doch unbewältigte Themen aus seiner eigenen Biographie an Frau und Kinder weitergegeben zu haben.

Erikson wurde am 15. Juni 1902 in der Nähe von Frankfurt a. M. geboren. Seine Mutter, Karla Abrahamsen, stammte aus Kopenhagen und war in einer gut situierten jüdischen Familie aufgewachsen. Nachdem sie kurz nach der Hochzeit von ihrem Mann, dem Börsenmakler Valdemar Salomonsen verlassen worden war, ging sie, mit Erik schwanger, nach Deutschland. Durch die Recherchen Friedmans wissen wir mittlerweile, dass Salomonsen nicht Eriksons Vater war, er offenbar aus einer Affäre hervorgegangen ist. Das Rätsel um den leiblichen Vater konnte bis auf den heutigen Tag nicht gelöst werden und belastete Erikson bis ins hohe Alter offenbar schwer. Karla Abrahamsen heiratete schließlich im Jahr 1905 den Karlsruher Kinderarzt Dr. Theodor Homburger, und das großbürgerliche Haus des Stiefvaters Am Schlossplatz 9 wurde Eriksons prägendes Kindheitsmilieu. Erik erwies sich als ein musisch begabtes Kind, erlernte das Klavierspielen und zeichnete von früh auf mit großer Leidenschaft. Die modisch-elegante, an Kunst, Philosophie und Literatur interessierte Mutter und der gebildete, feinfühlige, strenggläubige Stiefvater führten ein an die bürgerlichen Konventionen der damaligen Zeit angepasstes Leben, vermittelten ihrem Sohn aber, ebenso wie den nach ihm geborenen zwei Stiefschwestern, ein liberales Klima geistiger Offenheit. Dennoch verschwiegen sie dem jungen Erik seine wahre Herkunft, so dass das Familiengeheimnis bei ihm vage Gefühle von Fremdheit, Befangensein, Anderssein zurückließ. Schon früh scheint er in seinen Tagträumen an einem Familienroman gestrickt zu haben, von einem dänischen Aristokraten abzustammen, als Sohn besserer Eltern zu Höherem berufen zu sein (vgl. Erikson, 1973, S. 808; Erikson Bloland, 2007, S. 45ff.)

In Karlsruhe besuchte Erikson zunächst die Volksschule und von 1912 bis 1920 das Bismarckgymnasium, »seine letzte wirklich durchgehaltene Auseinandersetzung mit formaler Bildung« (Coles, 1974, S. 29). Empfindsam, scheu, hielt er eher Abstand gegenüber den Klassenkameraden, konnte sich nicht gut gegen Angriffe wehren. Inmitten hochgeputschter nationaler Gefühle wurde Erik mitunter als »der Däne« abgetan oder Judenjunge verschrien, während er in der Synagoge des Stiefvaters, blond und blauäugig, als »Goy« galt. Allen Versuchen Theodor Homburgers, ihn in der Tradition des jüdischen Glaubens zu unterweisen, begegnete der junge Erik mit passivem Widerstand. Das liberale Judentum schlug in ihm keine bleibenden Wurzeln. Noch weniger behagten ihm die Tugenden des wilhelminischen Zeitalters, Disziplin, soldatische Zucht, Pauken und Auswendiglernen. Verträumt, sich oftmals in innere Welten zurückziehend, sehnte Erik sich nach etwas »ganz Anderem« jenseits der bürgerlichen Konventionen seiner Umgebung. Der Naturheilkundler und »Wasserdoktor« Edwin Blos, Vater seines Jugendfreundes Peter Blos, der sich damals wie Gandhi kleidete, beeindruckte ihn in seiner mutigen Exzentrizität. Quasi in Opposition zur Weltanschauung seines Stiefvaters fühlte Erik sich als Heranwachsender zu den christlichen Evangelien hingezogen. Und schon damals imponierte ihm die Person eines der größten Widerspruchsgeister der Geschichte: Martin Luther.

Nach dem Abitur widersetzte sich Erik dem Wunsch Theodor Homburgers, Medizin zu studieren, um dann die kinderärztliche Praxis zu übernehmen. Es folgten sieben krisenhafte Jahre der Unentschlossenheit und des oft ziellosen Sich-Treiben-Lassens. Immer wieder unternahm Erikson in dieser Zeit Versuche, eine formale künstlerische Ausbildung zu absolvieren, die er nach kurzer Zeit abbrach, um auf Wanderschaft zu gehen. All die Stimmungsschwankungen und Arbeitsstörungen, die er später bei seinen jugendlichen Patienten behandelte, durchlebte er als Spätadoleszenter selber. Erst die Bitte Peter Blos’, ihn in Österreich beim Aufbau einer kleinen Privatschule für die Kinder amerikanischer Psychoanalyse-Anhänger zu unterstützen, brachte seinem Leben die entscheidende Richtungsänderung. Die Arbeit als Pädagoge in Wien von 1927 bis 1932 war die erste von vielen Tätigkeiten, für die Erikson nicht die richtigen Zeugnisse mitbrachte. Der junge Mann, der unkonventionell und antiautoritär unterrichtete, und die Schar der Wiener Psychoanalytiker, von denen manche ähnlich improvisierten Lebensläufen gefolgt waren – sie passten irgendwie zueinander. Anna Freud hatte gerade ihr später berühmtes kinderanalytisches Seminar eingerichtet und interessierte sich für das Experiment mit der Privatschule. Erikson wurde zum Kandidaten für die psychoanalytische Ausbildung vorgeschlagen und absolvierte von da an bei Anna Freud täglich eine Stunde Lehranalyse in Sigmund Freuds berühmter Privatpraxis, Berggasse 19. Der Gründervater der Psychoanalyse hatte sich damals aus der Wiener Gesellschaft weitgehend zurückgezogen und lehrte auch nicht mehr. Erikson begegnete ihm bisweilen im Wartezimmer zu Anna Freuds Praxis oder auf gemeinsamen Spaziergängen. Er vermied es jedoch, Freud anzusprechen, nicht nur aus Scheu, sondern auch, weil das Sprechen dem alten Mann aufgrund des fortgeschrittenen Kieferkarzinoms Schmerzen bereitete.

Neben der Ausbildung in der Kinderanalyse und einem parallel dazu absolvierten Montessori-Studium führte Erikson auch erste, vom Lehranalytiker kontrollierte Therapien Erwachsener durch und arbeitete sich am Wiener Institut gründlich in das Theoriegebäude der Psychoanalyse ein. Seine Lehrer waren jene später international renommierten Persönlichkeiten wie Heinz Hartmann, Paul Federn, Ernst Kris, Helene Deutsch, August Aichhorn oder Edward Bibring. Die Seminare fanden in der Regel abends statt. Die Gruppe der Teilnehmer – Ärzte, Lehrer, Erzieher, Literaten – war meist so klein, dass man sich bequem in den Wohnungen der Dozenten treffen konnte. Erikson bezeichnete diesen Kreis als eine Art psychiatrische »freie Universität« und empfand in dieser Forschungsgemeinschaft ein hohes Maß an Loyalität und gegenseitiger Achtung. Später mutmaßte er, dass es »irgendwie eine positive Stiefsohnes-Identität war, die mich wie selbstverständlich annehmen ließ, ich würde dort akzeptiert, wo ich nicht ganz dazugehörte. Aus dem gleichen Grund aber musste ich auch meine Nichtzugehörigkeit kultivieren und zu dem Künstler in mir Kontakt halten; meine Identität als Psychoanalytiker sollte sich daher erst viel später festigen, als ich mit Hilfe meiner amerikanischen Frau ein schreibender Psychoanalytiker wurde – wenngleich wiederum in einer Sprache, die nicht meine eigene war« (1982b, S. 28f.).

Die Wiener Zeit war nicht frei von Krisen. Je weiter die Lehranalyse fortschritt, desto mehr zeigte sich Eriksons tief verwurzelte Angst, festgelegt und in seinem persönlichen Freiraum beschnitten zu werden. Als er Anna Freud wieder einmal auseinandersetzte, dass er bei einem so intellektuellen Unternehmen wie der Psychoanalyse kein Betätigungsfeld für seine künstlerischen Neigungen sähe, soll sie mit leiser Stimme gesagt haben: »Sie könnten den Menschen helfen, sehen zu lernen« (1982b, S. 29). Dieses einfache Gebot wirkte auf Erikson wie eine Art Offenbarungserlebnis. Er war fortan nicht an einer strengen theoretischen Verankerung der Lehre vom Unbewussten auf naturwissenschaftlichem Fundament interessiert. Vielmehr fühlte er sich von jenen verborgenen künstlerischen, idiographischen und ethischen Seiten der Psychoanalyse angesprochen, die Freud aus Gründen wissenschaftlicher Redlichkeit eher zu unterdrücken versucht hatte. Die Heirat mit der aus Kanada stammenden Joan Serson im Jahre 1929 bedeutete einen weiteren Schritt seiner persönlichen Identitätsfindung. Erikson hatte die attraktive und gebildete Frau, die sich in Europa aufhielt, um für ihre Promotion die Geschichte des modernen Tanzes zu recherchieren, auf einem Faschingsball kennengelernt. Während all der späteren Jahre blieb die ebenso liebenswürdige wie manchmal energische Joan die komplementäre Ergänzung zu seiner Persönlichkeit, eine Art schöpferischer Resonanzboden und kritischer Inspirator vieler seiner Schriften.

1.2       Der Aufstieg in den Vereinigten Staaten

1934 emigrierte Erikson mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten und nannte sich ab seiner Einbürgerung 1939 Erik Homburger Erikson. Er eröffnete eine kinderanalytische Praxis in Boston und fand als einer der letzten Nicht-Mediziner Aufnahme in die Amerikanische Psychoanalytische Gesellschaft. Amerikanische Universitäten empfingen damals Psychoanalytiker aus Europa mit offenen Armen. Die medizinische Fakultät der Harvard Universität ernannte Erikson zum Mitglied, ab 1936 erhielt er einen Lehrauftrag am Institute of Human Relations der Yale Universität und wurde wenig später zum Assistenzprofessor an der Yale Medical School berufen. Die Freiheit zu verschiedensten Forschungsprojekten, der undogmatische Gedankenaustausch mit Ärzten, Soziologen und Anthropologen beeinflusste Eriksons Denken stark. Sein wissenschaftlicher Weg, die psychoanalytische Lehre vom Unbewussten und die Triebtheorie mit dem Einfluss von Gesellschaft und Geschichte auf die Persönlichkeitsentwicklung zu verbinden, deutete sich hier bereits an. Freilich verstand sich Erikson in erster Linie als Kliniker. Ähnlich wie sein Stiefvater behandelte er Kinder aus wohlhabenden Bostoner Familien, kümmerte sich daneben aber auch um problematische Jugendliche aus sozialen Brennpunkten.

Eriksons Jahre in Kalifornien von 1939 bis 1950 waren die wohl schöpferischsten seines Lebens, in denen er endgültig aus dem Schatten Freuds heraustrat und einen eigenständigen Ansatz in der Psychoanalyse formulierte. Seine vielfältigen neuen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Ich- und Identitätspsychologie, der psychoanalytischen Sozialpsychologie, Entwicklungstheorie und Psychosenforschung fasste Erikson 1950 in seinem Hauptwerk »Kindheit und Gesellschaft« zusammen. Dieses ungemein vielfältige und anregende Buch wurde ein Welterfolg und machte ihn mit einem Schlag zu einem der populärsten Vertreter der nachfreudianischen Psychoanalyse. Nach außen führte Erikson mit seiner Frau und seinen Kindern Kai, Jon und Sue ein harmonisches Familienleben, war aber nicht so kritiklos an das amerikanische Establishment angepasst, wie man es ihm später mitunter unterstellte. Sein entschiedenes Eintreten für die akademische Freiheit in den Zeiten antikommunistischer Hexenjagd, sein Rücktritt von der Professur an der Berkeley-Universität 1950 in der Debatte um den Treueeid, zeugten von Mut und Zivilcourage. Belastet wurden diese Jahre von einem Ereignis, das sich nur schwer in Eriksons Biographie einordnen lässt. Als das vierte Kind Niels 1944 behindert zur Welt kam, entschied Erikson nach Rücksprache mit einigen Experten, den Säugling sofort nach der Geburt in ein Heim zu geben. Ob dies nach damaliger Sachlage das Beste für das Kind war, ob Erikson, wie es bei Erikson Bloland (2007) anklingt, seine weitere Karriere nicht zu sehr belasten wollte, ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Niels lebte noch 21 Jahre, ohne dass die Familie Kontakt zu ihm aufnahm. In ihrer Autobiographie »Im Schatten des Ruhms« führt Eriksons Tochter Sue aus, wie sehr ihre persönliche Entwicklung durch das Familiengeheimnis belastet wurde, welche Ängste und Selbstzweifel sie bei ihren Eltern hinter dem Streben nach Erfolg und Anerkennung stets gespürt habe.

1951 kehrte Erikson in den Osten der USA zurück und war für zehn Jahre am Austen-Riggs-Center tätig, einem kleinen, forschungsfreudigen Privatkrankenhaus in Stockbridge, Massachusetts. In der therapeutischen Begegnung mit präpsychotisch gestörten jungen Patienten rückte das Jugendalter in den Blickpunkt seines Interesses, arbeitete er das Syndrom der Identitätsverwirrung näher heraus. Zwischen 1954 und 1963 verfasste Erikson eine Reihe von Aufsätzen zur Entwicklungsproblematik der Adoleszenz, die er 1968 überarbeitet in seinem zweiten Hauptwerk »Jugend und Krise« zusammenfasste. Höhepunkt der Veröffentlichungen dieses Jahrzehnts war 1958 »Der junge Mann Luther«, eine faszinierende Biographie über den Weg des Reformators aus schweren Identitätsnöten zu historischer Größe, die Erikson zu einem Mitbegründer der psychohistorischen Forschung machte.

1960, nach seiner Berufung als Professor für Entwicklungspsychologie an die Harvard-Universität in Cambridge, musste Erikson seine klinische Tätigkeit weitgehend aufgeben. Er erwies sich als ungemein packender Dozent, ein Menschenführer, der in seinen jungen Studenten ein kritisches Bewusstsein zu wecken suchte. Nicht nur in den USA, weltweit besaß Erikson eine immer größere Schar von Anhängern, wenngleich er es stets ablehnte, eine eigene »Eriksonsche« Schule der Psychoanalyse zu gründen. Thematisch beschäftigte er sich in den 1960er-Jahren vor allem mit den Lebensstadien des erwachsenen Menschen, der Problematik des Alterns und des Lebenssinns: so flossen zunehmend ethisch-religiöse und politische Themen in seine Schriften mit ein. Engagiert wandte sich Erikson gegen den Rassismus in den Südstaaten, stellte sich auf die Seite der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King und unterstützte die südafrikanischen Studenten in ihrem Kampf gegen die Apartheidpolitik. Entschieden sprach er sich gegen die schrankenlose atomare Aufrüstung aus, bezeichnete die Eskalation des Vietnam-Krieges als einen Rückfall in den Kolonialismus und trat für einen Dialog zwischen reichen und »unterentwickelten« Ländern ein. Auch die Psychoanalyse müsse ihre politische Kritikfunktion ernst nehmen. Angesichts der mörderischen Konsequenzen moderner Wissenschaft und Technik bedürfe es einer ständigen ethischen Rückbesinnung auf das eigene Tun. Ansonsten laufe auch jede Psychologie Gefahr, sich in den Dienst des Machtstrebens und der politischen Unterdrückung zu stellen. Weit über sein Fachgebiet hinaus wurde Erikson zum Mahner für Ausgleich und Versöhnung und zu einer Symbolfigur für Teile der Studentenbewegung, wenngleich er stets vor Einseitigkeiten und ideologischen Rigorismen warnte. Bei alldem war der Gedanke immer zwingender geworden, eine Biographie über das Leben des Mannes zu schreiben, der im katastrophalsten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte einen überragenden ethischen Impuls gesetzt hatte. 1969, nach jahrelanger Vorbereitung, erschien »Gandhis Wahrheit«, das Alterswerk Eriksons, die Verbindung seiner persönlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse mit seiner humanistischen Ethik, ein brillant geschriebenes Buch, für das er im folgenden Jahr mit dem Pulitzer-Preis und dem National Award ausgezeichnet wurde.

Seit seiner Emeritierung im Jahre 1970 blieb Erikson bis in die 1980er-Jahre als Vortragsreisender und wissenschaftlicher Autor tätig. Aus der Vielfalt seiner Erfahrungen, aus unterschiedlichsten geistigen Strömungen, nicht zuletzt aus der fruchtbaren Widersprüchlichkeit seiner Person war ein eindrucksvolles Lebenswerk entstanden. Gerade von den akademischen Institutionen, die er anfangs so sehr gemieden hatte, war ihm Anerkennung im Übermaß zuteil geworden. Ob es eine schleichende Depression war, wie seine Tochter vermutet, oder die Folgen der Alzheimer-Erkrankung – Eriksons Geist verabschiedete sich in seinen letzten Jahren langsam aus dieser Welt. Eine Abhandlung über seinen großen dänischen Landsmann Kierkegaard zu schreiben, blieb ihm nicht mehr vergönnt. Als Erikson am 12. Mai 1994 hochbetagt in einem Seniorenheim in Harwich starb, würdigte ihn der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton als hervorragenden Wissenschaftler und steten Anwalt der Humanität, der mit dazu beigetragen habe, das Bild des Menschen über sich selber, seine unbewussten Abhängigkeiten wie seine schöpferischen Potenzen, entscheidend zu erweitern.

1.3       Eriksons Identität als Psychoanalytiker

Schon aus dieser kurzen biographischen Skizze wird deutlich, wie sehr Eriksons Lebensschicksal mit der Psychoanalyse verschmolzen ist. Entscheidend war, dass die Lehre vom Unbewussten ihn, den Grenzgänger und Nonkonformisten, nicht festlegte, ihm Raum gab für die Entfaltung seiner vielfältigen Interessen und Begabungen – eine Art ideale »soziale Nische«, in der er zu beruflicher Identität finden konnte, ohne unzufrieden und unschöpferisch zu werden. Stets verstand Erikson sich als Schüler Freuds, der sich auf die Schultern des Meisters stellt und dessen geniale Denkanstöße, dessen Lust an Freiheit und Improvisation des Forschens fortführt. Aber ist sein interdisziplinärer Ansatz wirklich eine legitime Weiterentwicklung Freud’scher Ideen? Oder bleibt er ein habitueller Stiefsohn, der sich nie ganz mit der Psychoanalyse identifizieren konnte, ein begabter Künstler und Schriftsteller, der vieles aufgreift, im Grunde aber für kein Fachgebiet die notwendige Disziplin mitbringt? Nicht selten wurde Erikson, der den Begriff »Identität« in die Psychoanalyse eingeführt hat, vorgehalten, er mache seinen eigenen wissenschaftlichen Standpunkt zu wenig deutlich. Sogar die eigene Lehranalytikerin Anna Freud soll ihn als »Renegaten« bezeichnet haben, der das Werk ihres Vaters mit amerikanischen Soziologismen verwässert habe (vgl. Erikson-Boland, 2007, S. 135). Dass Erikson die Grenzen etablierter Fachbereiche stets souverän zu überspringen vermochte und sich wenig um theoretische Auseinandersetzung mit anderen psychoanalytischen Autoren kümmerte, ist sicher unbestritten. Andererseits hat er an seiner Loyalität zur Person Freuds und zur Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung nie einen Zweifel gelassen. Freuds Werk ist für ihn »der Felsen«, auf dem er aufbaut (1975a, S. 8), die »ursprüngliche ideologische Kraft und Quelle der Inspiration« (1981a, S. 237). Theoretisch liegen viele von Eriksons Beiträgen zwischen der klassischen Ich-Psychologie Anna Freuds und Heinz Hartmanns und den Autoren der späteren Ich-, Selbst- und Objektbezie-hungspsychologie wie Spitz, Mahler, Klein, Jacobson, Winnicott, Kernberg oder Kohut, deren Auffassungen er sich bisweilen annähert bzw. in manchen Grundzügen auch vorwegnimmt. Aber die Breite und Vielschichtigkeit von Eriksons Denken lässt sich nicht auf eine dieser Strömungen reduzieren. In manchem nähert er sich Gedanken Adlers, der Neofreudianer oder Autoren der Humanistischen Psychologie an. Freilich ist Erikson nie der Verlockung erlegen, Teile des analytischen Lehrgebäudes herauszugreifen und weiterzuentwickeln, dabei aber die unbequemen Einsichten Freuds über die Triebgrundlage menschlichen Verhaltens fallenzulassen.

Der Künstler und Romantiker in ihm hat Erikson vom Theoretisieren mit Energiemetaphern und »seelischen Apparaten« zurückschrecken lassen, er überlässt metapsychologische Fragestellungen denen, »die in dieser Art zu denken zu Hause sind« (1981b, S. 9). Und vielleicht war Erikson insofern »illoyal«, als er Freuds Vermächtnis einer naturwissenschaftlichen Begründung des Seelenlebens nicht nur für sich selber ablehnte, sondern insgesamt als Hemmschuh für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse sah. Die Einmaligkeit, Spontaneität und Kreativität der Lebensvorgänge, das ganzheitlich Gestaltete der menschlichen Psyche lässt sich für ihn nicht restlos in naturwissenschaftlichen Kategorien fassen, ebenso wie man das Seelenleben nicht hinreichend als Kampffeld mythisch anmutender Urtriebe betrachten kann. Zu wenig habe die frühe Psychoanalyse den Unterschied zwischen dem Belebten und Unbelebten erfasst, zwischen gesundem und pathologischem Verhalten, dem isolierten Patienten auf der Behandlungscouch und dem in vielfältigste soziale Beziehungen involvierten Menschen des Alltagslebens. Im Mittelpunkt von Eriksons Denken steht das erlebende, wollende, nach Gemeinschaftlichkeit und Sinn strebende Individuum, dessen Identität und Würde es stets herauszuheben und zu verteidigen gilt. Entschieden wendet er sich gegen den Trend moderner Wissenschaft, den Menschen zwischen Biologie, Psychologie und Soziologie aufzuspalten und mit immer komplizierteren Methoden in immer mehr Einzelteile zu zerlegen. Das, was die Psychoanalyse Es, Ich und Über-Ich genannt hat, steht nach Erikson für die drei großen, untrennbar miteinander verknüpften Organisationsprozesse menschlichen Lebens – die physiologischen Regelkreise des Organismus zur Aufrechterhaltung der körperlichen Funktionen; die psychischen Aktivitäten des Ich zur Ordnung unserer Erfahrungswelt und zur Steuerung unseres Verhaltens; schließlich die sozialen Organisationsvorgänge der Regelung menschlichen Zusammenlebens in Gruppen, Institutionen und der Gesellschaft als Ganzer. Jede gesunde Entwicklung ist Resultat des gelungenen Zusammenspiels von Psyche, Soma und Gesellschaft. Ebenso resultieren aus der unvollkommenen Abstimmung der drei Ordnungen die typisch menschlichen Konflikte, welche schöpferische Spannung einerseits, Krankheit und Neurose ebenso wie soziale Dysfunktion und Gewalt andererseits hervorrufen. Das Individuum ist weder Marionette von Triebimpulsen, noch bloßes Bündel sozialer Rollen oder ausschließlich geistbegabtes Vernunftwesen. Es sind nicht die fehlerhaften »Gene«, die »schizophrenogene Mutter« oder das »verrückte Familiensystem« allein für eine seelische Störung verantwortlich.

Eriksons ganzheitlich-organismische Betrachtungsweise hat ihn vor allzu simplifizierenden Erklärungen bewahrt und mit den Boden bereitet für eine Richtungsänderung der Psychoanalyse hin zu bewusstseinspsychologischen und systemischen Ansätzen. Freilich wirkt es widersprüchlich, wenn er an all den klassischen Grundbegriffen der Metapsychologie festhält, sich von den zugrundeliegenden naturwissenschaftlichen Modellen aber distanzieren will. Es bleibt die Frage, ob Freud Eriksons Weiterentwicklungen zugestimmt hätte oder ob Erikson bei seiner Betonung der Ich-Psychologie, der sozialen Wechselseitigkeit und der ethischen Tugenden nicht bisweilen die Abgründe und Irrationalitäten des Unbewussten zu sehr außer Acht lässt. Zumindest an manchen Stellen hätte er deutlicher seine eigenen Positionen und manche Nähe zu den verfemten Dissidenten hervorheben sollen, selbst auf die Gefahr hin, schärfere Kritik von seinen psychoanalytischen Kollegen zu erfahren. So gewinnt man mitunter den Eindruck, Erikson kultiviert seine Originalität nur bis zu dem Punkt, wo er Angst haben muss, in der psychoanalytischen Bewegung nicht mehr dazuzugehören.

2          Eriksons Identitätspsychologie

 

 

 

2.1       Die Vielschichtigkeit des Identitätsbegriffs

Neben Adlers »Minderwertigkeitskomplex« haben wohl kaum psychologische Fachbegriffe weitere Verbreitung in der Alltagssprache gefunden als »Identität« bzw. »Identitätskrise«. Erikson ist zwar nicht der Begründer der Identitätspsychologie, aber er hat wesentlich dazu beigetragen, ein modernes Bedürfnis – mehr noch: ein modernes Leiden – in wissenschaftliche Worte zu fassen. In der Tat beschleicht das, was die Existentialisten als Lebensgefühl der Entfremdung beschrieben haben, heutzutage viele Zeitgenossen. Immer häufiger haben es Psychotherapeuten und Seelsorger mit verwirrten, isolierten oder überforderten Menschen zu tun, die sich nach festen Bindungen sehnen und gleichzeitig davor zurückschrecken, die sich von immer neuen Ersatzbefriedigungen treiben lassen und dennoch keinen Sinn in ihrem Dasein finden, die sich an so viele Rollen anpassen, dass sie kaum noch wissen, wer sie überhaupt sind. Die Psychoanalyse, glaubt Erikson, hat zu einem geschichtlichen Zeitpunkt begonnen, sich mit der Identität auseinanderzusetzen, da diese in besonderer Weise problematisch geworden ist, und die Beschäftigung mit diesem Thema wird nunmehr »zu einer genauso strategischen Frage, wie es das Studium der Sexualität zu Freuds Zeiten war« (1982a, S. 278).

Was aber hat es mit dem Wort »Identität« auf sich, das uns in der Alltagssprache so selbstverständlich von den Lippen kommt? Auf den ersten Blick scheint der Bedeutungsgehalt klar: Identität ist das Gefühl, »man selbst zu sein«, das Wissen, »wer man ist«. Aber sobald man sich mit dem Begriff ein wenig genauer auseinandersetzt, ergeben sich viele Schwierigkeiten: Ist Identität gleichbedeutend mit Ausdrücken wie »Persönlichkeit«, »Ich«, »Selbstgefühl« oder »Charakter«? Handelt es sich um den Status, das »Ansehen« eines Menschen in der Öffentlichkeit, geht es um etwas, was man nach außen stets neu »präsentiert«? Oder bezeichnet Identität den Wesenskern, das »Eigentliche« einer Persönlichkeit hinter ihren sozialen Auftritten und Rollen? Wann konturiert sich ein festeres Identitätsgefühl, im ersten Erleben des Getrenntseins von der Mutter, in den Ablösungsprozessen des Jugendalters oder erst in der Abgeklärtheit der mittleren Jahre? Und wann endet menschliche Identität, in der Psychose, in der Demenz oder im Tod? All diese Fragen hat Erikson in bewundernswerter Sorgfalt aufgegriffen. Ob von »Ich-Identität«, »psychosozialer Identität«, »Gruppenidentität« oder »existentieller Identität« die Rede ist – weit über sein Werk verstreut finden sich 17 Umschreibungsversuche und Definitionen eines Phänomens, das, gerade weil es seinem Wesen nach »ebenso unergründlich als allgegenwärtig ist« (Erikson, 1981a, S. 7), in der unkritischen Diskussion oft zum Schlagwort herabsank. Wenn im Folgenden einige Grundaspekte des Eriksonschen Identitätsbegriffs herausgearbeitet werden, dann soll eine Idee, die grundsätzlich etwas Ganzheitliches bildet, nicht in isolierte Fragmente zerlegt werden.

Identität in der ursprünglich streng metaphysischen Wortbedeutung kann es im steten Fluss menschlichen Seelenleben natürlich niemals geben. Dennoch zeigt sich in allem Wachsen und Sich-Entwickeln ein Zug zum Beharrenden, verändern sich manche Persönlichkeitseigenschaften gar nicht oder nur so langsam, dass man sich selbst und andere als im Wechsel der Zeit gleich bleibende Wesen erkennen und wiedererkennen kann. Erikson nennt die nach außen sichtbare, unverwechselbare Gestalt eines Individuums, die Summe seiner charakteristischen Merkmale, »persönliche Identität«. Es geht ihm dabei nicht um die Erstellung testpsychologischer Eigenschaftsprofile oder psychiatrischer Diagnose-Schemata. Eher ist die persönliche Identität ein Anmutungserlebnis, das Bild eines Menschen, der etwas Einheitliches in Erscheinung und Wesen ausstrahlt, seine Interessen, Begabungen und sozialen Rollen in einem typischen Habitus vereinigt hat, der »er selber« ist und gleichzeitig fest in der Tradition seiner Gemeinschaft verwurzelt.

Meist spricht Erikson jedoch von Ich-Identität im Sinne eines subjektiven Empfindens. Es ist die »Ich-bin-Ich-Erfahrung«, das Gefühl, dass ich eine zusammenhängende, abgegrenzte Persönlichkeit bin, im Besitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte, aktiv und entscheidungsfähig. Obwohl es sich quasi um den archimedischen Punkt unseres Seelenlebens handelt, unabdingbare Voraussetzung aller Reflexionsfähigkeit und geistiger Gesundheit, ist das Identitätsgefühl doch schwer zu charakterisieren. Es schwingt in all unserem Denken, Fühlen und Handeln selbstverständlich mit, wird manchmal in den verschiedensten Erfahrungen, Stimmungen oder Gefühlsnuancen deutlicher bewusst, um dann wieder zu verschwinden. Im unbestimmtesten Sinn, so Erikson, bedeutet Identität »natürlich viel von dem, was von einer Vielzahl von Bearbeitern das Selbst genannt wurde, sei es in der Form eines Selbst-Konzepts, eines Selbst-Systems oder in der der fluktuierenden Selbsterfahrung, die Schilder, Federn und andere beschreiben« (1981a, S. 216f.). Andererseits haben wir nicht ständig unser Persönlichkeitsprofil als kognitive Repräsentanz vor Augen, kreisen um uns selber wie der existentialistische Dramenheld. Nur in Momenten, wo wir intensiver über uns nachdenken, uns nach außen präsentieren müssen, uns besonders herausgehoben oder kritisiert fühlen, wird uns unser Selbst in seinen vielen Facetten und Widersprüchlichkeiten deutlicher bewusst. Eriksons Identitätsbegriff schwankt zwischen einem Prozess, der gelebt und erlebt wird, und einem Bild, das wir immer wieder aus diesem Prozess herausgreifen, um uns über uns selbst zu vergewissern. Im Gegensatz zu allzu starren Selbstbild-Konzepten der Akademischen Psychologie möchte er »lieber ›von einem Gefühl der Identität‹ als von einer Charakterstruktur oder einem ›Grundcharakter‹ sprechen« (1981b, S. 188).

Drei Grundkonstituenten sind es, die in Eriksons Umschreibungen des Identitätsgefühls immer wieder auftauchen: Gleichheit, Kontinuität und soziale Wechselseitigkeit. So bezeichnet er in seiner wohl bekanntesten Definition Identität als das »angesammelte Vertrauen darauf, dass der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrechtzuerhalten« (1981b, S. 107). Egal, ob ich traurig oder fröhlich bin, angestrengt arbeite oder döse, mich vor einer Prüfung als Versager fühle und hinterher als Experte – in all meinem Denken, Fühlen und Handeln bin ich der einheitliche, gleichbleibende Erlebnisträger. Obwohl ich in meinem Leben stets neue Eigenschaften annehme und nicht mit der Person zu vergleichen bin, die ich vor 10 oder 20 Jahren war, erfahre ich mich in all meinen Erinnerungen und Zukunftsbezügen als kontinuierliches Wesen. Auch wenn ich mich in jedem Augenblick als abgegrenztes, einmaliges Individuum empfinde, fühle ich mich gleichzeitig stets einer materiellen und sozialen Umgebung zugehörig, könnte man ohne Informationen von außen sich selbst nicht kennenlernen, ohne aktives Wirken in der Welt seine Identität nicht spüren.

Permanent unterliegt das Identitätsgefühl, je nach inneren Gestimmtheiten und äußerem sozialen Involviertsein, Schwankungen, muss andauernd gegen unbewusste Impulse wie gegen äußere Gefahren und Abwertungen verteidigt werden. Obwohl zentrale Bereiche unseres Selbsterlebens gleich bleiben, unterliegt auch die Identität Veränderungen, müssen wir unsere Selbstauffassung angesichts des wechselnden persönlichen und historischen Schicksals immer wieder erweitern, unsere Persönlichkeit stets aufs Neue in der sozialen Umwelt verankern. Dieser Prozess beginnt nach Erikson »irgendwo in der ersten echten ›Begegnung‹ von Mutter und Säugling als zweier Personen, die einander berühren und erkennen können, und er ›endet‹ nicht, bis die Kraft eines Menschen zur wechselseitigen Bestätigung schwindet« (1981a, S. 19).

Meist ist ein gesundes Identitätsgefühl für Erikson ein vorbewusster Zustand, der sich stimulierend auf Verhalten und Erleben auswirkt, das Empfinden, »Herr seines Körpers zu sein, zu wissen, dass man ›auf dem rechten Weg ist‹ und eine innere Gewissheit, der Anerkennung derer, auf die es ankommt, sicher sein zu dürfen« (1981b, S. 147), Umschreibungen, die in manchem dem ähneln, was Kohut (1973) als den »gesunden Narzissmus« bezeichnet hat. Ganz bewusste Identitätserfahrungen überfallen den Einzelnen als erschütternde Empfindungen von Aufgewühltheit, Absurdität und Zerrissenheit in Grenzerfahrungen des Daseins ebenso wie in Ausnahmesituationen des Glücks und der Harmonie. Man denke an Momente tiefer Verliebtheit oder intensiver Solidarität, an Gefühle inneren Friedens in meditativen Stimmungen oder beim Angerührtwerden durch ein Naturerlebnis, an Erlebnisse des Fasziniertseins durch eine künstlerische Darbietung oder eine charismatische Persönlichkeit, Augenblicke, in denen wir ganz innig und entspannt unser Selbst als existentielles Phänomen spüren und uns gleichzeitig harmonisch in der Welt aufgehoben fühlen. Erikson spricht in Anlehnung an William James von einem Empfinden, »sich am tiefsten und intensivsten aktiv und lebendig« zu fühlen, einer inneren Stimme, die mir sagt: »Dies ist mein wirkliches Ich«, ein Erlebnis, das einhergeht mit einer Art »tiefer enthusiastischer Wonne« (1981a, S. 15f.).

2.2       Eriksons Identitätsbegriff – der Ich-psychologische Aspekt

Erikson nennt die Identität meist eine Ich-Identität, ist das Gefühl persönlicher Gleichheit und Kontinuität doch überwiegend eine Leistung der unbewussten Ich-Funktionen und wird von und in den bewussten Anteilen des Ich wahrgenommen. Freud und die klassischen Ich-Psychologen wie Hartmann, Kris, Loewenstein, Anna Freud oder Nunberg hatten das Ich als eine überwiegend unbewusste Instanz beschrieben, ein Modellbegriff für den hoch komplizierten neurologisch-psychologischen Organisationsvorgang der Psyche, Voraussetzung aller Reflexivität und bewusster Entscheidungsfähigkeit. So stimmt die »synthetische Funktion« des Ich die tausendfachen Funktionen und Reize innerhalb des Nervensystems zu einem zusammenhängenden Erleben, Denken und Handeln ab, speichert Erfahrungen als ein Netzwerk von Assoziationen im Gedächtnis, steuert die motorischen Verhaltensabläufe, sucht unablässig Kompromisse herzustellen zwischen Triebwünschen des Es, Gewissensforderungen des Über-Ich und momentanen Bedingungen der Realität. Ein »abwehrender Prozess« ermöglicht unsere Konzentrationsfähigkeit, filtert und selegiert die Unzahl der von innen und außen auf uns einströmenden Reize, kontrolliert das Unbewusste, wacht darüber, dass wir nicht von ungesteuerten sexuellen Impulsen, Wutaffekten oder Ängsten überschwemmt werden. Ein unbewusster »Anpassungsvorgang« schließlich steuert unser Verhalten in der Außenwelt, lässt uns intuitiv Gestik und Mimik der Mitmenschen verstehen, sorgt, dass wir uns automatisch an Konventionen anpassen, lässt uns blitzschnell vor Gefahren, beispielsweise im Straßenverkehr, ausweichen.

Unbemerkt steuern die Ich-Funktionen Tag und Nacht einen Großteil unseres Verhaltens und Erlebens, suchen Ängste, Konflikte und Enttäuschungen abzubauen, neue Erfahrungen zu verarbeiten und dabei möglichst nichts Widersprüchliches, Belastendes in der Psyche bestehen zu lassen. Solange das Ich gut funktioniert – den, wie Erikson sagt, »Agens-Zustand« der Psyche aufrechtzuerhalten vermag –, fühlen wir uns wohl, harmonisch, aktiv und entschlossen. Identität wird bei Erikson nicht nur »gewusst«, sondern auch als Erfahrung von Kraft und Souveränität gespürt, schafft »bei jedem Schritt in Kindheit und Jugend durch die greifbare Tatsache sozialer Gesundheit ein zunehmendes Gefühl der Ichstärke« (1982a, S. 240) und ist »das einzige Bollwerk gegen die Anarchie der Triebe wie gegen die Autokratie des Gewissens« (1981b, S. 112).

Immer wenn wir etwas noch nicht können, versagen oder beschämt werden, trifft uns dies empfindlich. Der Mensch kann es, glaubt Erikson, nicht ertragen, wenn die Souveränität seines Ich über längere Zeit in Frage gestellt wird. Er interpretiert die Realität um, bricht Kontakte ab, flüchtet sich in narzisstische Illusionen, sucht mitunter durch exzessive Aktivitäten oder Drogenkonsum sein Selbstgefühl künstlich zu heben. Jede stärkere Identitätskrise geht mit einer Lähmung von Autonomie und Initiative einher. Erikson spricht vom »Patiens-Zustand« des Ich: Man fühlt sich ängstlich, zerrissen, kraftlos oder ausgeliefert. Das gesunde Ich überwindet solche Krisen und stellt mit der Zeit Selbstvertrauen und Kompetenz wieder her durch aktives Experimentieren und Gespräche ebenso wie durch unbewusste Regenerationsmechanismen des Träumens, Phantasierens oder Spielens. Im Gelähmtsein durch Depression und neurotische Konflikte kann der Patiens-Zustand dauerhaft Herrschaft über einen Menschen gewinnen und sich in der Psychose bis in den Zustand völliger katatoner Regungslosigkeit steigern.

Während Freud das Ich noch als »armes Ding« bezeichnete, von den »drei Zwingherren« Es, Über-Ich und Realität unterjocht (1923, S. 286), klingt Eriksons Identitätsbegriff oft wie ein psychoanalytischer Ausdruck für Gesundheit und Autonomie des Ich, ein Ich, das sich nicht von un