Die beiden Kammern - Heike Wempen-Dany - E-Book

Die beiden Kammern E-Book

Heike Wempen-Dany

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein Fremder mietet sich in einem Bergdorf ein. Etwas Rätselhaftes umgibt ihn. Aber auch andere spielen nicht mit offenen Karten. Eine alte Geschichte droht ans Tageslicht zu gelangen. Menschen versuchen, sich mit allen Mitteln zu schützen. In dem italienischen Taxifahrer Guilio findet der Fremde einen verlässlichen Partner. Gemeinsam entschlüsseln sie das Rätsel. Das Geheimnis ist eng mit der leidvollen Geschichte Tirols verbunden. Es erzählt, von Leid, Stolz, Verzweiflung, Liebe und Verrat. Manche Wunden heilen nie.

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Seitenzahl: 249

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Die beiden Kammern

Über die Autorin

Heike Wempen-Dany (*1976) wohnt mit Mann und vier Katzen in einem kleinen Dorf nahe Limburg. Als studierte Geisteswissenschaftlerin ließ sie Geschichte und Politik nie ganz los, auch wenn sie beruflich andere Pfade ein schlug. Geschichte und Geschichten habe es verdient entdeckt und erzählt zu werden.

Die beiden

Kammern

Krimi

Heike Wempen-Dany

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2022 -Verlag, Altheim

Buchcover: Germencreative

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

„Sehr wenige von uns sind das, was wir

scheinen.“

Agatha Christie (The Man in the mist)

Für all diejenigen, die immer bedingungslos zu mir stehen.

Inhaltsverzeichnis

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Nachwort

Eins

(zu Beginn der Achtziger)

Im Radio spielte Richard Sanderson’s Reality.

Dreams are my reality

The only kind of real fantasy

Illusions are a common thing

I try to live in dreams

It seems as if it´s meant to be

ang David Schöller mit, während er seinem jüngsten Opfer gerade in chirurgischer Präzession tiefe Schnittwunden an beiden Oberschenkel beifügte. Der gutaussehende Elitesoldat mochte die Ballade. Es war weniger die Melodie als eher der Text, der sein Herz höherschlagen ließ.

Richard Sanderson schien aus Davids Leben zu erzählen. Doch schlug sein Herz wirklich höher? Nein, das tat es nicht. David Schöller waren Gefühle, schon seit er denken konnte, fremd.

Auf einem Metalltisch lag ein junger Obdach-loser und schrie sich die Lunge aus dem Leib. Sein nackter Körper zeugte von einem Leben voller Entbehrungen. Seine Haut war übersät von krustigen Stellen, das Gesicht ungewaschen, die Haare verfilzt.

Zwei dicke Ledergurte ihn fixierten ihn auf dem kalten Metall. Der ein über den Oberkörper. Der Zweite verlief unterhalb der Knie. David summte weiter und betrachtete dabei sein neuestes Projekt. Der armen Teufel vor sich blutete aus mehreren Schnittwunden. Kleine Rinnsale liefen langsam an seinem Körper herunter.

Im Laufe der Jahre hatte er eine These aufgestellt. Diese musste er immer und immer wieder überprüfen. Die Probanden dazu fand David bislang bei Obdachlosen und Junkies. Bisher konnte er keine Ergebnisse nachweisen. Doch er war sich sicher, dass er weiterhin geduldig sein musste. Blut war mehr als nur eine eisenhaltige Flüssigkeit. Blut musste auch ein Transportweg für menschliche Gefühle sein. David war überzeugt, dass bei besonders dunklem Blut auch die meisten Gefühle aus einem Körper traten.

Wenn er richtig lag, was würde bei ihm selbst heraustreten? Nur Blut?

***

„Du bist ein zähes Bürschchen, mein Freund. Viele vor dir sind bei den ersten fünf Schnitten ohnmächtig geworden. Du hältst nach fünfunddreißig Schnitten immer noch tapfer durch.“

„Lass mich gehen“, stöhnte der junge Mann.

„Und du wirst niemanden etwas verraten, versprochen. Wie oft ich das nicht schon gehört habe. Wir beide haben eine Aufgabe und die bringen wir gemeinsam zu Ende.“

***

Galt das weibliche Geschlecht nicht als besonders gefühlsbetont? Sollte er bei seinen nächsten Probanden nach einer Frau Ausschau halten? Eine Veränderung in seinem Studienaufbau konnte vielleicht nicht schaden.

Richard Sanderson wiederholte den Refrain. David beendete seine Überlegungen und konzentriert sich auf sein nur noch wimmerndes Opfer.

Schade, die Fließgeschwindigkeit des Blutes ließ zusehends nach. Fünfunddreißig Schnitte waren vielleicht doch viel. Das wird nichts mehr. Zeit, um Schluss zu machen.

David griff hinter sich nach einem Jagdmesser und schnitt dem Obdachlosen die Kehle durch.

***

Friedrich Hänssler saß wie immer in den letzten Wochen im Halbdunkel an seinem Schreibtisch in der Kaserne.

Der junge Oberleutnant der Luftwaffe war als ausgebildeter Profiler und Krisenmanager vor ein paar Monaten in den tiefsten Westerwald versetzt worden.

Nur die schwache Schreibtischlampe er-hellte den Raum. Eine tiefe innere Unruhe trieb ihn an. Er spürte sein Herz bis zum Hals schlagen. In seinem Magen lag ein Stein. Unruhe machte sich im ganzen Körper breit.

Er hatte das Gefühl, dass sich sämtliche Gliedmaßen gleichzeitig versuchten zu bewegen. Friedrich versuchte unter großer Kraftanstrengung seinen Körper zur Ruhe zu ermahnen, damit sich sein Kopf konzentrieren konnte.

Der Ermittler hatte sich nochmals seine Täteranalyse vorgenommen. Nicht nur, um die Kernaussagen seines erstellten Profils durchzulesen, sondern auch um neue Erkenntnisse hinzuzufügen.

Zwischen den handschriftlichen Notizen auf seinem Schreibtisch befand sich auch die Psychopathy Checklist oder PCL, wie sie unter den Profilerprofis genannt wurde.

Die PCL war für Friedrich Nachschlagewerk und Orientierungshilfe zugleich. Kennengelernt hatte er dieses noch sehr neue Instrument zur Diagnose einer Psychopathie direkt beim Meister selbst. Per Zufall hatte er vor zwei Jahren an einem Austauschprogramm in Kanada teilgenommen. Der kanadische Gastredner Professor Robert D. Hare hatte PCL in abgespeckter Form vorgestellt. Wohl, um einen Fuß ins Militär zu bekommen. Friedrich hatte der Vortrag damals nicht los-gelassen und er und konnte bald darauf einen der seltenen Seminarplätze ergattern.

Zurück in Deutschland war er bei seinen Vorgesetzten auf offene Ohren gestoßen und man gestattete ihm nicht nur die Vertiefung seiner Kenntnisse, sondern auch ihren Einsatz im Erstellen von Profilen. Oft hatte Friedrich in seinen Auslandseinsätzen Profile von militärischen Gegnern, aber auch Verbündeten erstellt und seine Kameraden, die ein oder andere brenzlige Lage erspart. Doch jetzt war Friedrich gezwungen, in den eigenen Reihen zu ermitteln.

Friedrich wusste nicht, wie lange die Mordserie noch innerhalb der Kaserne verdeckt bleiben konnte. Seine Vorgesetzten wurden zunehmend nervöser. In der letzten Lagebesprechung war an eine professionelle Besprechung der neusten Ermittlungsergebnisse nicht zu denken gewesen. Vorwürfe waren wie spitze Pfeile durch den Raum geflogen.

„Sie tappen doch völlig im Dunkeln. Sie und Ihre Dilettanten von angeblichen Profi-lern. Was haben Sie bislang zustande gebracht? Nichts? Nicht einen einzigen Hauch einer echten Spur?“, hatte sich Friedrichs Vor-gesetzter vor der versammelten Ermittler Gruppe vom Kasernenkommandanten anhören müssen.

Der Profiler beobachtete immer öfter, wie sich oberen Befehlshaber hinter geschlossenen Konferenztüren vergruben und lautstark diskutierten.

Bislang fanden die grausamen Morde ihre Opfer unter Obdachlosen und Junkies.

Ausbilder Mommsen hatte die erste Leiche während eine Trainingseinheit seiner Spähtruppe entdeckt. Danach brachte fast jeder Trupp ein Opfer von seinem Einsatz mit.

Recherchen hatten ergeben, dass keiner der Toten vermisst gemeldet wurde. Das verschaffte ihnen Zeit, bevor sie die örtliche Polizei einbinden mussten. Alle Toten hatten sie auf dem Gelände der Bundeswehr gefunden. Hier hatten sie das Hausrecht.

Doch der Mörder änderte sein Beuteschema. Letzte Woche fanden sie den Fahrer des kleinen Tante-Emma-Ladens, der zweimal in der Woche in der Kaserne vorbeischaute. Dieser Tote änderte alles. Die Möglichkeiten der Geheimhaltung verflogen. Einer aus dem Dorf war getötet worden. Dörfer, diese eingeschworenen Gemeinschaften. Hier kannte jeder jeden, jede kleinste Veränderung sprach sich rum. Gespräche beim Einkaufen, auf dem Markt, auf dem Friedhof, unter Nachbarn reichten aus, um Neuigkeiten in Windeseile zu verbreiten.

Letzten Freitag hatten sie den armen Teufel gefunden. Durchgeschnittene Kehle, den Körper übersät mit unzähligen tiefen Schnitt-wunden. Das Opfer war während seiner Tortur fast ausgeblutet.

Das war weit davon entfernt, als Unfalltod durchzugehen. Genau diese alternative Vorgehensweise hatte Friedrichs Chef General Schmidt doch im Sinn gehabt, als er den Gerichtsmediziner fragte, ob er nicht chirurgische Anpassungen vornehmen könnte.

Dr. Schnittmeier, so munkelte man, hatte sich in eisiges Schweigen gehüllt. Besseres hätte dem General wohl nicht passieren können. Dem Doktor ging der Ruf voraus, in seinem Zuständigkeitsbereich unerbittlich, streng und auch manchmal handgreiflich zu sein. Eine Schlägerei unter Kameraden war jetzt das Letzte, was die Einheit gebrauchen konnte. Wann würde das Lauffeuer der Nachrichten in voller Fahrt sein? Wann würden die Dorfbewohner eins und eins zusammenzählen und mit einem Fackelzug vor den Toren der Kaserne stehen und lautstark nach Antworten verlangen? Diese Hippies, die hier ständig ihre Mahnwachen hielten, um gegen die hier stationierten, amerikanischen Atomsprengköpfe demonstrierten, reichten ihm. Wann würden die Geschehnisse die Dorfgrenzen verlassen und die Pressevertreter der nahegelegenen Kleinstadt auf den Plan rufen?

Friedrich sah schon eine Batterie an Funkwagen die Hauptstraße des Dorfes verstopfend sich auf die Kaserne zu rollen.

Wie sollten sie denn erklären, dass die Elite für komplizierte Ermittlungsarbeiten seit Wochen zu keinen brauchbaren Ergebnissen kam? Sie bewegten sich wie blinde Hühner von Korn zu Korn. Der Täter war ihnen immer mindestens einen Schritt voraus.

***

Nach dem letzten Briefing durch General Schmidt und seinem unsäglichen Auftritt in der Leichenhalle der Kaserne hatte sich Friedrich wieder an seinen Schreibtisch begeben. Der Ermittler hatte seinen sonst so souverän wirkenden Vorgesetzten noch gerade so da-von abhalten können, dem Assistenten des Gerichtsmediziners an die Kehle zu gehen, nur weil dieser nicht schnell genug zur Seite getreten war, als der General den Obduktionssaal betreten hatte. Eine Schrecksekunde später hatte sich General Schmidt wieder im Griff. Er entschuldigte sich bei dem eingeschüchterten jungen Mann.

Die Kopfschmerzen, die ihn seit Tagen quälten, hatten sich in seiner Stirn festgesetzt.

Auch die dritte Kopfschmerztablette in Folge hatte ihm keine Linderung verschafft. Durch seinen Kopf raste in regelmäßigen Abständen eine ganze Herde afrikanischer Elefanten, die sich an einer imaginären Wasserstelle trafen.

Friedrich versuchte, die Schmerzen zu ignorieren und wegzudrücken. Sie mussten endlich Ergebnisse liefern.

Der Profiler blickte von seinen Notizen auf. Er war sich mittlerweile sicher, dass sie nach einem Psychopathen suchen mussten. Die unzähligen Schnitte in den Körpern der Opfer konnten nicht nur Ausdruck sein, dass hier jemand am Werk war, dem es Spaß machte, seinen Opfern Schmerzen zuzufügen.

Der Profiler war auch nicht mehr davon über-zeugt, dass der Mörder seine Taten verstecken wollte.

Friedrich hatte den Eindruck, dass es nicht nur um das Töten allein ging. Hinter den Taten verbarg sich etwas Größeres.

Sie hatten herausgefunden, dass der Täter seinen Opfern zu Beginn gerne Wunden beifügte, die nicht den Zweck hatten, tödlich zu sein. Sie verursachten große Schmerzen und sie bluteten stark. Hatte er sich genügend sattgesehen an dem Leid seines Opfers, tötete er es schnell und sauber mit einem einzigen kräftigen Schnitt durch die Kehle. Sie waren davon ausgegangen, dass der Täter Spaß daran hatte, seinen Opfern Schmerzen hinzuzufügen.

Friedrich Magen brandet. Ein sehr unangenehmes Gefühl, welches ihn neben seinen Kopfschmerzen auch schon seit Tagen nicht losließ. In seinem Kopf machte sich ein schrecklicher Gedanke breit. Was, wenn der Täter bewusst eine falsche Spur legen wollte. Bislang waren sie davon ausgegangen, dass der Täter ein Zivilist sein musste. Sie vermuteten einen Mann im Alter zwischen zwanzig und fünfunddreißig Jahren, der bereits in seiner Jugend Tiere gequält hatte. Ein Einzelgänger, mit einer Kindheit in einer zerrütteten Familie, unfähig seinen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Friedrich saß erneut grübelnd über dem Profil.

Sowohl Soziopathen als auch Psychopathen leiden unter einer Persönlichkeitsstörung. Ihr Handeln ist geprägt durch Impulsivität und Manipulation. Ihre Mitmenschen sind ihnen dabei völlig egal.

Soziopathen reagieren sehr impulsiv und aggressiv auf Reize. Dabei sind ihnen mögliche Konsequenzen völlig egal. Ihr Gewaltpotenzial ist sehr hoch. Ihre Fähigkeit, Empathie zu empfinden, dagegen sehr niedrig. Viele haben bereits in ihrer Kindheit und Jugend ihre Gewaltausbrüche ausgelebt. Sei es in Form von Vandalismus an Tieren oder auch schon an Menschen. Gesetze und soziale Strukturen werden von ihnen nicht anerkannt.

Psychopathen leiden im Grunde genommen an der gleichen dissozialen Persönlichkeitsstörung wie Soziopathen.

Psychopathen sind zudem chronische Lügner. Sie sind Meister der Manipulation. Reue oder ein Unrechtsbewusstsein fehlt ihnen.

Der entscheidende Faktor ist allerdings, dass Psychopathen nicht in der Lage sind, Gefühle zu empfinden.

Friedrich erinnerte sich immer wieder gerne an das Beispiel eines potenziellen Psychopathen, der in einer Studie gefragt wurde, was für ihn Trauer sei.

„Trauer ist mir bekannt“, hatte dieser damals dem Studienleiter geantwortet. „Ich kann das immer wieder bei anderen Menschen beobachten. Sie haben oft schwarze Ränder unter den Augen, die Augäpfel sind gerötet. Ihre Mundwinkel sind nach unten gezogen. Oft ist die Stimme sehr leise, wenn man mit ihnen spricht“, fasste er seine Beobachtungen zusammen.

„Aber, was ist mit Ihnen, haben Sie jemals Trauer empfunden?“, wollte der Interviewer wissen.

„Ich glaube schon.“

„Wann und was war der Anlass?“

„Ich habe letzte Woche meinen Bus verpasst.“

Psychopathen, so rief sich Friedrich ins Gedächtnis, sind absolute Experten im Beobachten und Imitieren von menschlichen Gefühlen und Gefühlsregungen. Sie zu enttarnen, ist schwierig.

Die meisten von ihnen sind angesehene Mitglieder der Gesellschaft, sie sind beliebt und werden bewundert.

„Und das genau ist der Punkt“, sprach Friedrich mit sich selbst. „Wir suchen jemanden, der unter unserem Radar fliegt. Wir suchen jemanden, der seine Aggressionen weitgehend im Griff hat. Vielleicht ist er in seiner Kindheit noch nicht einmal auffällig gewesen?

Wir dürfen nicht bei den Außenseitern schauen, sondern müssen unser Denken umkehren. Ich muss mein Denken umkehren“.

„Wir suchen einen Freund als Täter“, flüsterte er in die Dunkelheit seines Büros.

***

David Schöller war sein bester Freund. Sie hatten sich in der Grundausbildung kennengelernt. Friedrich suchte damals nicht nur sich selbst, sondern auch eine Gemeinschaft, eine Zugehörigkeit. Er verband mit der Bundeswehr Werte wie Gemeinschaft, Struktur und Ordnung und vor allen Dingen Kameradschaft.

Friedrich fand in David einen Freund, einen großen Bruder. Nach der Grundausbildung trennten sich zwar die beruflichen Wege, der Kontakt riss aber nie ab. Auch aus der Ferne waren die beiden Freunde immer in Kontakt und tauschten sich über die Höhen und Tiefen in ihrem Leben aus.

Wenn ihre beruflichen Wege sie zusammenführten, trafen sie sich auf ein Feierabendbier. Sie philosophierten gemeinsam über ihre Hoffnungen und Träume.

Aus dem pockengesichtigen David war im Laufe der Zeit ein hochgewachsener, muskel-bepackter, immer freundlich lächelnder Mann geworden. Es lag viel Sanftes in seinem Wesen. Dennoch hatte er es in verschiedenen Eliteeinheiten zu viel Anerkennung gebracht. Brenzlige Situationen bewältigte er mit kühlem Kopf. David war der geborene Führer. Die jungen Offiziersanwärter hingen ihm in der Ausbildung an den Lippen. Die Kameraden hätten sich für ihn bedingungslos in ein Minenfeld begeben.

Auch Friedrich liebte es knifflig. Er interessierte sich für Menschen. Doch es war ihm lieber, wenn er sie und ihr Verhalten aus der Ferne zu erleben konnte. Ihr Handeln zu verstehen und zu analysieren, daran fand der Profiler seine Passion. Friedrichs Talent war es, schon früh zu erkennen, wie Menschen handeln und warum sie das taten.

Friedrich hatte sich die Gelegenheit geboten in einem Austausch mit den Amerikanern in Quantico beim FBI zum Profiler ausbilden zu lassen. Damit hatte sich der Ermittler das Handwerkszeug angeeignet, sein Talent karrieretechnisch einbringen zu können. Im Laufe seiner Karriere hatte er in vielen unterschiedlichen Ländern dieser Welt dazu beigetragen, Krisensituationen erfolgreich zu lösen, in die die Bundeswehr verschieden intensiv involviert war.

David und Friedrich, zwei, die nicht unter-schiedlicher sein konnten.

***

Schlussendlich hatte David sich selbst verraten. Eine dumme Bemerkung, die er beim Billardspielen mit Friedrich fallen ließ, hatte den Profiler zu ihm geführt.

„Na, hast du dann doch endlich deinen Job gemacht?“, grinste David Friedrich höhnisch an, als die Militärpolizei ihn festnahm.

Der vielfache Mörder hatte sich in einem der ausgedienten Flugzeughangars ein Refugium eingerichtet. Im Zentrum stand ein Metalltisch, auf den er seine Opfer fixieren konnte. Im hinteren Teil befand sich eine alte Schiefertafel, die über und über mit Formeln beschriftet war. Rechts neben dem großen Metallisch stand ein kleiner, rollbarer Beistelltisch, den man sonst in OPs oder Obduktionssälen fand.

Hierauf reihte sich ein Skalpell an das nächste.

Das freundliche Gesicht war zu einer abscheulichen Fratze verzogen. David Schöller zeigte nunmehr sein wahres Gesicht. Ein Gesicht voller Abscheu und Selbstgerechtigkeit.

David Schöller hatte sich letztendlich doch dazu entschieden, dass eine Frau in seine Versuchsreihe aufzunehmen.

Es war fast zu einfach gewesen Brigitte Schmidt am Abend zu vor aufzulauern. Er betäubte sie mit Chloroform und schaffte sie in sein Refugium. Nachdem David sie bis auf die Unterwäsche entkleidet hatte, schnallte er sich auf dem Metalltisch fest.

Brigitte Schmidt sollte sich ausschlafen.

Gut erholt konnten sie dann am nächsten Morgen gemeinsam das Projekt beginnen.

David wollte gerade zum ersten Schnitt ansetzen, als Friedrich mit Kameraden aus der Sondereinsatztruppe und der Militärpolizei den Hangar stürmten.

Ohne Gegenwehr ließ er sich abführen, aufrecht im Gang mit einem Grinsen im Gesicht.

Keiner in seiner Umgebung ahnte, welchen inneren Kampf Friedrich mit sich ausgefochten hatte.

Friedrich hatte nicht nur seinen besten Freund verloren.

***

Die Spuren seines nächtlichen Kampfes konnte Friedrich zweifelsohne an seinem völlig zerwühlten Bett erkennen. Die Bettdecke hing halb auf dem Boden. Kopfkissen und Kopfkissenbezug fand er getrennt voneinander am Fußende des Bettes. Das Bettlaken hatte er wohl im Traum aus den Ecken der Matratze gepflückt, zusammengeknüllt und sich an den zusammengeknäulten Wäschehaufen geschmiegt.

Friedrich war in Embryohaltung mit an den Körper angezogenen Beinen aufgewacht. Das Bettlaken, welches er umklammerte, fühlte sich feucht an. Er musste in der Nacht heftig geschwitzt haben. Auch sein Pyjama fühlte sich nicht mehr frisch auf seiner Haut an. Die Kopfschmerzen, die er im Traum gefühlt hatte, hatten den Übergang vom Unterbewusstsein ins Hier und Jetzt geschafft. Die Herde der afrikanischen Elefanten versammelte sich wieder hinter seiner Stirn.

Friedrich versuchte, die Augen langsam zu öffnen, wohlwissend, dass Helligkeit den Zustand seines Kopfes nicht verbessern würde.

Doch er zwang sich dazu. Hatte er doch Erfahrung im Umgang mit diesen Albträumen.

Seit Davids Verhaftung suchten sie ihn regelmäßig heim. Er sah sich immer wieder an seinem Schreibtisch, immer wieder in der Situation, als ihm klar wurde, dass ihn sein bester Freund schamlos hintergangen hatte und sich in eines der gefürchteten Monster verwandelt hatte.

Friedrich trieb nicht nur die Enttäuschung um eine verlorene Freundschaft um, sondern auch tiefen, magenzerreißende Selbstzweifel. Er hatte nicht nur Zweifel an sich selbst, sondern er fühlte sich selbst als Verräter. Die Kaserne und die Kameraden waren ihm ein Zuhause geworden. Ein Ort, eine Gemeinschaft und auch ein Urvertrauen, welches er nie in seiner eigenen Familie gespürt und erlebt hatte. Diese Gemeinschaft und deren Menschen hatte er nicht beschützen können.

Friedrich hatte kurz nach der Verhaftung von David Schöller bei seinem Vorgesetzten unbezahlten Urlaub beantragt. General Schmidt hatte ihm die seelischen Schmerzen angesehen und ihm Hilfe angeboten.

„Setzen Sie sich doch mit unseren Psychologen in Verbindung. Sie kennen die Kameraden. Was Sie jetzt brauchen, ist jemand, mit dem Sie reden können. Machen Sie den Scheiß nicht mit sich selbst aus. Sie tragen keine Schuld an dieser ganzen Misere.“

Friedrich hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Er wusste viel zu viel über die Methoden der Psychologen. Er wollte nicht sein Inneres nach außen kehren.

„Mensch, Junge“ schlug Schmidt in einem väterlichen Ton an und blickte Friedrich tief in die Augen. „Weglaufen ist keine Lösung. Wie oft haben Sie selbst diesen Satz ausgesprochen. Wir alle sind für Sie da. Jeder von uns wurde betrogen. Da kommen wir gemeinsam durch. Ich verdanke Ihnen das Leben meiner Frau Brigitte. Dafür kann ich Ihnen nicht genug danken. Brigitte und ich werden für immer in Ihrer Schuld stehen.“

Friedrich hatte sich wortlos mit einem Händedruck von dem General verabschiedet, seinen kakifarbenen Seesack über die Schultern geworfen und hatte die Kaserne verlassen. Jedem anderen in seiner Situation hätte er das Gleiche gesagt: „Nicht allein bleiben, sprich darüber, wir sind alle für dich da.“

Doch er musste raus, musste weg, musste allein sein. Bis ihn sein väterlicher Freund Alfred anrief.

Zwei

Die beiden Kammern über dem ehemaligen Stall waren früher Teil einer alten Scheune gewesen. Damals beheimatete sie Heuballen und allerlei Werkzeug für die schwere Feldarbeit.

Die Scheune lag etwas abseits des eigentlichen Bauernhauses. Manchmal war dies ein Vorteil, wenn es darum ging, einen einsameren Rückzugsort genießen zu können. Im Winter hatte der ein oder andere Bauer die entlegene Scheune allerdings schon öfter verflucht. Der Weg durch die bitterkalte Landschaft vom Haupthaus hin zur Scheune und dann wieder zurück zu den Stallungen war zu dieser Jahreszeit alles andere als ein Zuckerschlecken.

Doch das war lange her. Dennoch schienen sich besonders die Wände dieser Räume oder vielmehr der alten Scheune ein historisches Gedächtnis bewahrt zu haben. Dieses öffnete sich jedem Gast, der der ganzen Intensität seiner inneren Gefühlswelt vertrauten wollte. Viele Feriengäste kamen an diesem Ort, um sich eine Auszeit von ihrem Alltag zu gönnen. Zeit, um Neues auszuprobieren, wie das Ski fahren lernen, die Nähe zu Natur aufzufrischen oder aber auch das Einlassen auf neue Kulturen und fremde Geschichten.

Friedrich Hänssler schaute sich in seiner neuen Behausung um. Für eine Woche hatte er sich hier in diesem kleinen Bergdorf ein-gemietet. Er wollte aus tiefstem Herzen heraus, seine Vergangenheit hinter sich lassen. Dies wäre womöglich der richtige Ort dazu. Wenn er nicht seinem väterlichen Freund ein Versprechen gegeben hätte.

***

Die Tage in den Südtiroler Bergen waren kurz. Kein Wunder für diese Zeit im Jahr, dachte sich Friedrich. Mit Mitte November lag der Großteil des Jahres 1981 bereits hinter ihnen. Dämmerung kletterte früh die Täler entlang. Schnee lag in der Luft.

Diese beiden Kammern zu bekommen, war zu dieser Jahreszeit keine Selbstverständlichkeit. Die Saison war vorbei. Die meisten Wirte hatten ihre Fremdenzimmer längst eingemottet. Diese warteten auf die Erweckung aus ihrem Dornröschenschlaf im nächsten Frühjahr. Weiter unten im Tal nahm der ein oder andere Gastwirt noch die anstehenden Tage rund um Weihnachten mit ins Geschäft. Ein paar Touristen gab es immer. Doch hier oben bereiten sich die Menschen auf die dunklen, kalten und erbarmungslosen Wintertage vor, die so gar nichts Romantisches an sich hatten, wenn man hier dauerhaft lebte. Die Täler in der Nachbarschaft verfügten im Gegensatz zu dieser Gegend hier über moderne Skipisten. Sie konnten so die Touristen bis ins nächste Frühjahr in den einzelnen Dörfern halten.

So stand er da in seiner Unterkunft, mitten in den Bergen. Friedrich Hänssler sah sich um. Ein Bett mit Blümchenmusterdecke. Der röhrende Hirsch als Bild darüber durfte nicht fehlen. Die Glühbirne flackerte. Wahrscheinlich würde sie beim nächsten Einschalten für immer verlöschen. Der Heizkörper gluckste und knackte. Noch war es kalt. Eisige Luft füllte Friedrichs Lungen.

Mit jedem Blick intensivierten und schärften sich seine Sinne. Er tauchte tiefer in seine Umgebung ein. Die Welt da draußen blendete er aus. Sein Unterbewusstsein zog ihn immer tiefer in diese auf zwei Zimmer begrenzte Welt. Die Wände schienen sich zu bewegen. Ob sie ihn erdrücken wollten?

Fast war es so, als ob aus der Ferne eine Stimme zu hören glaubte. Eher ein Flüstern und Wispern. Klare Worte konnte er nicht verstehen. Wenn er sich konzentrierte, nahm er Kuhglocken und Vogelgezwitscher wahr. Dazu der Wind in klappernden Fensterläden.

Friedrich schloss seine Augen. Weitere Eindrücke drängten sich ihm auf. Er roch frisches Heu und altes modriges Holz. Das wiederum mischte sich mit dem Geruch von getrockneten Kräutern, feuchter Erde und – Friedrich stutzte etwas – Alkohol. Doch da war noch ein anderes Aroma - etwas Metallisches. Heugabeln? Sensen? Der Geruch zog ihn magisch in seinen Bann. Ohne zu wissen warum, wollte er ihn ergründen.

Gleichzeitig beschlich ihn das Gefühl, die Tore zu etwas Dunklem und Bedrohlichem aufgestoßen zu haben. Der Geruch nach Metall hatte seinen Ursprung nicht in den diversen Arbeitsgeräten.

Friedrich Hänssler roch Blut.

Schlagartig wurde ihm klar, die Geschichte, die diese Kammern zu berichten hatte, war keine Gute.

Friedrich schaute sich noch einmal um. Die beiden Kammern wirkten frisch renoviert. Es gab nichts, was auch nur annähernd nach Blut riechen konnte. Friedrich schüttelte den Kopf und wunderte sich um seine eigenen Wahrnehmungen. Muss wohl der Stress der letzten Wochen sein.

Er runzelte die Stirn, der Geruch war verfolgen, das dunkle Gefühl blieb.

Drei

(einige Wochen zuvor)

Friedrich Hänssler stand am Fenster seiner Drei-Zimmer-Wohnung und schaute sich aus dem ersten Stock heraus das bunte mittägliche Treiben vor seiner Haustür an.

Der Landstreicher hatte sich wieder in den Eingangsbereich des Pelzgeschäfts gesetzt. Wahrscheinlich hoffte er darauf, vom schlechten Gewissen einiger Käuferinnen zu profitieren, die soeben ein sündhaft teures Stück erworben hatten. Mit nur einer Mark bekamen sie von ihm die Absolution, doch ein guter Mensch zu sein. Friedrich fragte sich immer wieder, wie sich dieser teure Laden am äußersten Ende der Fußgängerzone halten konnte. Er vermutete, dass diese Art des Luxus eine besonders treue Sorte von Stammkundschaft benötigte.

Soeben torkelte ein Nachbar die Straße entlang und hielt sich an jeder Straßenlaterne fest. Er hatte Mühe, sich der anwachsenden Steigung der Straße entgegenzuwerfen und einen Schritt vor den anderen zu setzen, ohne das Gleichgewicht gänzlich zu verlieren. Ob er eben erst vom Saufen nach Hause kam oder bereits am frühen Morgen damit angefangen hatte?

Auf dem kleinen Marktplatz unterhalb des Limburger Doms hatte sich wieder eine Gruppe von bizarr anzuschauenden Jugendlichen versammelt. Von Friedrichs Aussichtspunkt am Fenster hatte er einen guten Blick auf diese kleine Gruppe Menschen. Ihre Haare waren zu wilden Spitzen in die Höhe aufgetürmt. Sie nannten es einen Irokesenschnitt, der an wilde Indianer erinnerte und ihn gleichzeitig auf groteske Art und Weise an Karl Mays Winnetou und Old Shatterhand erinnerte. Nur dass sie nicht wie die guten Indianer aussahen, sondern wie Laute ausstoßende Wilde, vor denen sich die braven Siedler in den Filmen zu Tode gefürchtet hätten. Ihre Gesichter waren verziert mit sogenannten Piercings. Ohrlöchern, die aber vorrangig in Nasen, Oberlippen und Augenbrauen gestochen wurden. In den Löchern befanden sich keine schönen Ohrringe, sondern Sicherheitsnadeln. „Wilde!“, dachte sich Friedrich.

Auch sonst trug ihr weiteres Erscheinungsbild nicht unbedingt mehr zu positiven Sympathiebekundungen bei. Die meisten von ihnen trugen schwarze Springerstiefel und abgewetzte Lederjacken.

I am a antichrist

And I am an anarchrist

Kreischte ihm der Leadsänger der Sex Pistols aus einem Kassettenrekorder entgegen.

Punks nannten die jungen Leute sich und widersprachen in allem dem, was Friedrich wichtig war und wie er erzogen wurde.

Individuelle Freiheit versus Bundeswehr-Drill, so konnte man diese beiden Welten auf ein Minimum zusammenfassen.

Er hatte vor zwei Jahren dieses kleine Juwel in der Innenstadt gefunden. Fußläufig konnte er alle wichtigen Geschäfte erreichen. Die Bushaltestelle, die ihn zum nahegelegenen Bahnhof brachte, war keine zwanzig Meter von seiner Haustür entfernt. Friedrich Hänssler war nicht auf ein Auto angewiesen. Die alltäglichen Probleme der Parkplatzsuche kannte er nicht. Befreit davon konnte er sich erlauben, mitten in der Stadt zu wohnen und das Leben zu beobachten. Er hatte sich nach seiner letzten Versetzung in den Westerwald dazu entschieden, sich in Limburg eine kleine Wohnung zu suchen. Sein Zimmer in der Kaserne nutzte er nur wochentags.

Friedrich stand gerne am Fenster. Warum konnte er nicht genau erklären. Manchmal fühlte es sich an, als ob er einem Theaterstück beiwohnte, als stiller Beobachter und ohne zwingende Notwendigkeit eingreifen zu müssen.

Er hatte sich die Wohnung bewusst ausgesucht, um am Puls des Lebens teilhaben zu können. Als Beobachter hinter den großen, fast bodenlangen Fenstern. Er genoss diese Passivität, die Anonymität und die vermeintliche Stille.

Das Lebendige der Außenwelt hielt er getrennt von seiner Wohnung.

Und es gab diese Tage, an denen er sich genau nach solchen profanen Problemen sehnte. Saufen bis zur Besinnungslosigkeit zum Beispiel oder mitten am Tag mit einer Dose Bier und lila gefärbten Haaren auf dem Marktplatz den lieben Gott einen guten Mann sein lassend zu sitzen. Sein eigenes Leben kam ihm dann geregelt und normal vor.

In seinem Beruf hatte er oft mit menschlichen Abgründen zu tun. Da verlangte seine Seele regelmäßig Bilder von Wärme, bunten und lebensfrohen Farben und Lachen. Das pure Leben.

Friedrich Hänssler riss sich vom Fenster los und starrte den kakifarbenen Seemannssack an, der im Flurtürrahmen lag. Dieser Sack zeugte von seinen zahlreichen Einsätzen im In- und Ausland als Profiler und Krisenmanager.

Was er nicht alles schon erlebt hatte. Wenn Säcke eine Empfindung besitzen würden... Schicksalsschläge, Freude, Leid. Wie oft lag dies eng beieinander. Aber er könnte auch Friedrichs dunkelste Stunde bezeugen. Und schon wieder konnte Friedrich nicht verhindern, dass seine Gedanken um seinen letzten und persönlichsten Fall kreisten. Die Bilder der mit Stichwunden übersäten Opfer würde er noch eine ganze Weile mit sich herumtragen. Doch schlimmer als diese Bilder würde ihn sein Versagen auch weiterhin heimsuchen.

Sein Blick blieb im Inneren seiner Wohnung haften.

Einen Preis für Innendekoration hätte er nicht bekommen. Dafür hatte er kein Händchen und auch keine Zeit. Seine Wohnung enthielt alles, was er benötigte. Ein alter Fernsehsessel, den er von seinem alten Herrn geerbt hatte. Die einzige Erinnerung an seinen Vater, die er bewusst in seinem Leben ließ. Ein Umzugskarton diente noch nach zwei Jahren als Couchtischersatz. Der Fernseher hatte seine besten Tage schon hinter sich. Friedrich Hänssler war das völlig egal. Er schaltete nur selten die Flimmerkiste an. Was dort tagtäglich in den Nachrichten zu sehen war, hatte er vielfach in seiner Brutalität bereits selbst erlebt.

Gestern hatte er per Zufall einen Film gesehen, in dem ein Motorradfahrer bei seiner eigenen Todesfahrt gefilmt wurde. Der Film sollte als Abschreckung dienen. Das Verkehrsamt hatte die Todesfahrt mit Schauspielern und Stuntmen nachgezeichnet, um auf die steigende Anzahl der Unfalltoten besonders unter den Motorradfahrern aufmerksam zu machen.

Seit einigen Jahren hatten sich die Zulassungen für Motorräder rasant vermehrt. Die Nachrichten waren voll von Berichten über schwere Unfälle. Die Achtzigerjahre werden in der Geschichte als Jahre des zunehmenden Individualverkehrs eingehen, so eine Studie, die Friedrich per Zufall bei der Suche nach aktuellen wissenschaftlichen Täter-Opfer-Studien in die Hände gefallen war. Friedrich seufzte. Er konnte diesem Geschwindigkeitsrausch und seinen Gefahren, dem sich einige freiwillig aussetzten, nichts abgewinnen. Gab es nicht genug Idioten und Monster auf dieser Welt, die mit Vergnügen anderen nach dem Leben trachteten? Musste man sich denn für ein kurzes Vergnügen selbst in diese große Gefahr bringen? Manchmal würde er gerne das Fenster, vor dem er gerade stand, weit aufreißen und in die Welt da draußen herausschreien, mit welchen Monstern er es in seinem Alltag immer wieder zu tun hatte. Doch er würde sicherlich nur viel Unmut wegen des Lärms und Verständnislosigkeit ernten.

Gerade liefen die Vorbereitungen, dass die seit vier Jahren geltende Anschnallpflicht bei Nichtbeachtung mit Geldstrafen belegt würde.

Sein Schlafzimmer bestand aus einem et-was abgenutzten IKEA Bett. Das schwedische Möbelgeschäft hatte in den Siebzigerjahren damit begonnen auch in Deutschland seine geschäftlichen Fühler auszustrecken. Friedrich konnte auch diesem Hype um günstige Möbel, die man in kleinen Paketen selbst nach Hause transportieren musste, um sie dann selbst aufzubauen, nichts abgewinnen. Dennoch befand sich dieses Bett nun in seinem Besitz. Seine Vermieter hatten ihm bei seinem Einzug vor ein paar Jahren angeboten, das alte Bett ihrer studierenden Tochter zu übernehmen. Da Friedrich durch seine vielen Reisen und ständigen wechselnden Wohnorte nicht wirklich viele Möbel angesammelt hatte, hatte er gerne das Angebot angenommen. Die Schrauben musste er immer dann von Zeit zu Zeit nachziehen, wenn der Lattenrost durchzubrechen drohte. Das passierte vorzugsweise mitten in der Nacht. Bereits zweimal fand er sich schmerzverzerrt auf dem Boden wieder.