Fenier - Heike Wempen-Dany - E-Book

Fenier E-Book

Heike Wempen-Dany

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Ein Dachbodenfund im Dauborner Forsthaus veranlasst die BKA-Beamtin Svenja Fischer, sich auf eine Reise in die Vergangenheit zu begeben. In Belfast trifft sie nicht nur auf einen alten Bekannten, sondern stößt auch auf eine der tragischen Geschichten Unschuldiger innerhalb des Nordirland-Konfliktes. Wie ist ihr Freund Paul darin verstrickt? Und was hat das beschauliche Dorf im Goldenen Grund mit der IRA zu tun?

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Seitenzahl: 171

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Fenier

Ein Dauborn-Belfast-Krimi

Heike Wempen-Dany

Über die Autorin

Heike Wempen-Dany (*1976) wohnt mit Mann und vier Katzen in einem kleinen Dorf nahe Limburg. Als studierte Geisteswissenschaftlerin ließ sie Geschichte und Politik nie ganz los, auch wenn sie beruflich andere Pfade ein schlug. Geschichte und Geschichten habe es verdient entdeckt und erzählt zu werden. Bisher erschienen: Die beiden Kammern und Läuferopfer, beide im Coortext-Verlag, Altheim.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2024 -Verlag, Altheim

Buchcover: Germancreative

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Rebellenvögel waren wir.

Gemeinsam flogen wir.

Rebellenvögel waren wir.

Gemeinsam kämpften wir.

Auch gegeneinander.

(Unbekannt)

Für meinen Schatz – Danke für Alles!

Kapitel 1

(Belfast, Februar 1974)

Der Schmerz in seinem Kopf glich einem explodierten Kürbis. Stöhnend versuchte sich Peter Krause aufzurichten. Der Boden, auf dem er lag, fühlte sich kalt an. Beton.

Er lag auf der Seite. Die Hände waren hinter seinem Rücken zusammengebunden, ebenso wie seine Beine. Die Augenbinde ließ ihn nichts als Dunkelheit erkennen.

Er zog die Beine an und versuchte, sich mit Schwung auf den Rücken zu rollen. Von dort aus probierte er sich ins Sitzen zu bringen. Diese körperliche Anstrengung verstärkte seine Kopfschmerzen. Er schaffte es nicht. Er atmete schwer.

Peter schloss die Augen. Er versuchte, sich zu konzentrieren. Seinen Puls zu kontrollieren. Die Atmung zu verlangsamen. Sein Kreislauf drehte völlig durch.

Nach einigen kraftraubenden Versuchen gelang es ihm endlich, sich hinzusetzen. Er atmete tief durch. Die Luft war muffig. Es roch feucht und kalt. Nach etwas Metallischem.

Obwohl er nichts sehen konnte, spürte er, dass der Raum, in dem er sich befand, eine sehr hohe Deckenhöhe haben musste.

In der Ferne meinte er Schiffssirenen hören zu können. Sollte er sich in einem der stillgelegten Werftgebäude am Belfaster Fähranleger nach Birkenhead befinden?

Er konnte sich nur schwammig an die letzten Stunden erinnern.

Wie jeden Morgen in den letzten 10 Jahren hatte Peter Krause mit seiner Familie gefrühstückt. Obwohl sie schon lange in Nordirland wohnten, weigerten sie sich immer nach Landesbrauch mit Porridge, Speck, Würstchen und allerlei anderem fettigen Zeug zu frühstücken.

Seine Frau Elena hatte die beiden Kinder Tom und Karla für die Schule fertiggemacht.

Wie jeden Morgen holte ihn sein Fahrer John ab, um ihn in die Firma zu fahren. Der Tag im Grundig Werk war normal verlaufen. Nichts Außergewöhnliches. John hatte ihn abends nach Hause gefahren. Ab da hatte Peter nur vage Bilder der Erinnerung.

Schritte unterbrachen seine Gedanken. Sie hallten nach. Wie ein Echo. Es mussten mehrere Personen sein, die sich ihm zu nähern schienen.

Sollte er jetzt die Gelegenheit bekommen zu erfahren, was und vor allen Dingen wer ihn in diese missliche Lage gebracht hatte? Täuschte ihn seine Wahrnehmung? Oder hatte er in einem seiner Entführer Brian Keen erkannt?

Peter hob den Kopf, als ob er seine Kidnapper begrüßen wollte.

„Hallo, wer ist denn da? Hallo, hören Sie, wir können doch über alles reden? Hallo, so antworten Sie doch.“

„Brian sind Sie das? Kommen Sie, ich wollte Sie nicht verärgern. Es tut mir leid, dass ich versucht habe, die Augenbinde zu verschieben. Das war dumm und unbedacht von mir. Und, dass ich weglaufen wollte. Ich werde mich ab sofort ganz unauffällig verhalten. Wir können doch über alles sprechen.“

Er hörte das leise Pfeifen eines schweren sich seinem Kopf nähernden Gegenstandes. Sekunden später kippte er nach vorne über. An seinem Hinterkopf klaffte ein großes, blutiges Loch. Zwei in schwarz gekleidete Männer beugten sich über die Leiche des deutschen Unternehmers.

Kapitel 2

(Irgendein Hotel in Wiesbaden, Juni 2005)

Markus Fischer zündete sich keuchend eine Zigarette an. Mit einem Lächeln im Gesicht lehnte er sich zurück. Sex war doch die beste Art, dem stressigen Alltag zu begegnen.

„Zündest du mir auch eine an“, bat ihn eine Stimme tief versunken aus Bettlaken, Kopfkissen und einzelnen Kleidungsstücken.

Markus Fischer reichte die Zigarette dorthin, wo er die Stimme vermutete. Eine Hand fuhr aus dem Textilberg empor und griff danach. Sekunden später tauchte ein dunkelbrauner Lockenkopf auf.

„Puh, was ein Ritt, Herr Kollege. Nicht schlecht.“

Der Lockenkopf richtete sich aus den Bettlaken auf und schlängelte sich auf Markus Fischer zu.

„Man könnte meinen, dass du eine längere Durststrecke hinter dir hast. Lässt dich deine Frau nicht mehr ran?“, versuchte sie ihn keck zu necken.

„Sei nicht so frech, sonst muss ich dir den Hintern versohlen. Ich bin halt ein Mann mit vielseitigen Bedürfnissen. Und ich habe mir schon immer genommen, was ich wollte.“

Mit diesen Worten nahm er seiner Bettgefährtin die Zigarette aus der Hand und zog daran.

„Ich stehe auf Männer, die sich nehmen, was sie wollen“, hauchte sie.

„Lust auf eine zweite Runde?“

Ihre Lippen suchten die seinen. Ihre Finger strichen über seinen Oberkörper und wanderten langsam unter die Bettdecke.

Markus zog scharf die Luft ein. Polizeianwärterin Anja Klein wusste, dass sie erfolgreich ihr Ziel gefunden hatte.

„Du scheinst dir auch das zu nehmen, was du willst.“

„Ich bin frei wie ein Vogel und ich will auf nichts verzichten im Leben und jetzt quatsch nicht so viel.“

Mit diesen Worten krabbelte sie unter die Bettdecke. Leidenschaft vereinigte ihre Körper erneut.

***

Anja Klein schwang sich aus dem Bett.

„Ich gehe duschen. Kommst du mit?“

„Du bist echt eine Raupe Nimmersatt“, schmunzelte der Leiter der Abteilung Zentraler Informations- und Fahndungsdienst.

„Das haben Sie sehr gut erkannt, Mister BKA.“

„Geh ohne mich. Ich will noch schnell meine E-Mails checken.“

„Wenn du meinst. Nach dem Vergnügen kommt ja schnell die Arbeit bei dir.“

„Ich bin nicht umsonst in dieser Position“, zwinkerte er ihr zu. „Und wer sagt denn, dass wir das hier nicht irgendwann wiederholen können?“

„Sicher, wenn du deine Frau abhängen kannst.“ Mit diesen Worten verschwand sie ins Bad.

„Meine Frau, meine Frau ...“, wiederholte Markus leise. Mit Svenja war er jetzt zwanzig Jahre verheiratet. Er konnte sich noch sehr genau an ihre erste Begegnung erinnern. An das Gefühl, diese blonde engelsgleiche Person in seinen Bann locken zu wollen. Sie zierte sich erst noch, doch dann hatte die Falle zugeschnappt. Sie war seinem Charme erlegen. Eigentlich ein guter Zeitpunkt, um sie wieder fallen zu lassen. Doch ... Seine Vorgesetzten hatten längst von seinem unstetigen Privatleben Wind bekommen. Sie hatten es nicht ausgesprochen. Doch es fiel mehrfach das Wort „Karrierekiller“. Und das konnte Markus nicht zulassen. Also spielte er das Spiel weiter und spann sein Netz immer mehr um Svenja. Manchmal konnte er es nicht fassen, wie verliebt sie in ihn war.

Doch nicht jeder ließ sich so leicht von ihm beeindrucken. Da gab es ihre Freundin, diese Tanja. Eine Friseurin. Keine Ahnung, was Svenja an der fand. Dieses Luder nahm ihn eines Abends mal zur Seite und drohte ihm sogar.

„Lass deine Finger von Svenja. Geh, bevor du ihr das Herz brichst.“

„Ich liebe sie. Sie ist meine große Liebe.“

„Wem willst du etwas vormachen? Svenja bestimmt. Mir? Auf keinen Fall. Du bist ein Blender. Ein Betrüger. Ein schlechter Mensch. Und das werde ich Svenja auch noch beibringen.“

„Und du meinst, sie wird dir glauben? Das glaube ich nicht. Sie wird denken, dass du eifersüchtig bist. Du mit deinem kleinteiligen Leben. Hier in der Provinz. Mit deinem popeligen Laden. Weißt du überhaupt, welches Leben ich ihr biete? Eine Karriere, Reichtum, die Welt. Ich glaube, ich weiß, wie das ausgeht. Viel Spaß!“

Tanja Wüst hatte ihn wutentbrannt stehen gelassen. Svenja hatte ihn dennoch geheiratet. Und wie von ihm prophezeit war die Freundschaft zwischen den beiden Frauen zerbrochen.

Auch die Wochen und Monate nach der Hochzeit verliefen zu Markus Wohl. Svenja verhalf ihm nicht nur zu seiner persönlichen Reputation seines Rufes. Sie erwies sich auch im Beruf als sehr hilfreich. Eben genauso, wie sie es tat, als die beiden sich zum ersten Mal trafen. Braves, naives kleines Frauchen.

***

Anja trällerte eine kleine Melodie unter der Dusche. Markus griff nach seinem Handy und öffnete sein Postfach. Er musste noch das Protokoll des letzten Meetings lesen und freigeben. Alles zu seiner Zeit. Er würde sich erst eine Zigarette gönnen, schließlich hatte er das Hotelzimmer für zwei Stunden gebucht. Klein und verschwiegen. Mit Anja schien er jemanden gefunden zu haben, die wie er das Spiel beherrschte. Er war gespannt, wie lange sein Interesse an ihr anhielt. Sie würde keine Probleme machen. Der kleine freie Vogel.

Zufrieden brummte er vor sich hin und ließ sich auf Anjas melodischen Duschgesang ein.

Plötzlich hörte er laute Stimmen auf dem Gang. Ein Ehestreit? Die Stimmen kamen immer näher. Dann ein Poltern an der Tür. Die wollten doch jetzt nicht handgreiflich werden.

Dann flog die Tür auf. Eine junge zierliche Frau mit blonden Haaren stand mit hochrotem Kopf im Zimmer und schrie ihn an. Ein Hotelangestellter folgte ihr sofort und versuchte, sie aus dem Zimmer zu drängen. Vergebens. Svenja Fischer war gut trainiert im Kontaktsport. Wieviel Beherrschung benötigte sie, um ihn nicht direkt auf die Bretter zu schicken? Es war wohl der Fokus auf ihn. Ihren Mann. Ihren untreuen Ehemann Markus.

Hatte er sie doch unterschätzt, seine kleine naive Ehefrau?

Kapitel 3

(Belfast, April 1972)

Hast du darauf geachtet, dass dich niemand verfolgt hat?“

„Meinst du, du hast es mit einem Anfänger zu tun?“

„Die Royal Ulster Constabulary (RUC) hat letzte Woche die Bar in der May Street Hops genommen. Das sind zwei Straßenzüge von hier. Wir können nicht vorsichtig genug sein.“

„Die Bullen werden immer unruhiger. Gut so. Der Plan scheint aufzugehen.“

„Ja, jetzt mischen sogar noch die Engländer mit.“

Die RUC, die Organisation der nordirischen Polizei, war in letzter Zeit immer brutaler gegen Demonstranten vorgegangen. Sie trieben sie nicht mehr nur mit Schlagstöcken auseinander, sondern schossen auch auf sie. Der damalige Premierminister James Chichester-Clark wusste sich nicht mehr zu helfen und hatte die britische Armee zu Hilfe gerufen. Danach hatte er sich aus dem Staub gemacht und war zurückgetreten. Das Chaos war geblieben. Die Unruhen endlich zu beenden war seine Hoffnung, die unerfüllt blieb.

***

„Deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt nicht nachlassen. Denk an die Falls. Das muss uns ewig im Gedächtnis bleiben.“

„Meinst du, die riegeln nochmal ein ganzes Stadtviertel ab, durchsuchen alles und verhängen eine Ausgangssperre?“

„Wer weiß, was denen noch einfällt, um uns weiter zu schikanieren.“

Brian Keen trat hinter dem Tresen hervor. Der pockennarbige, schwarz gelockte Mann hätte locker Angehöriger eines lateinamerikanischen Drogenkartells sein können. Niemand hätte ihn den führenden Mitgliedern der IRA zugeordnet. Neben seinem paramilitärischen Einsatz betrieb er im bürgerlichen Leben dieses Pub – Keen´s Cellar.

Die Holztäfelungen sahen bei Tageslicht betrachtet schon heruntergekommen aus. Sie gaben einen stetigen Geruch von Nikotin ab, der sich im Laufe der Jahrzehnte in das Holz eingefressen hatte. 

Kapitel 4

(Belfast, November 1842)

Brian Keen betrieb das Keen´s Cellar in der dritten Generation. Peter Keen, sein Großvater, hatte aus dem Nichts dieses Kleinod geschaffen. Ursprünglich lebten sie in der Grafschaft Antrim im Norden des Landes. Als die Familie die Pacht für ihr eigenes Land nicht mehr aufbringen konnte, zog sie nach Belfast.

Die sechs Kinder und die wenigen Habseligkeiten luden sie auf einen kleinen Handkarren. Über Umwege kamen sie endlich in der großen Stadt an.

Ein zugiger Taubenschlag war der erste Unterschlupf für die achtköpfige Familie. Kaum etwas blieb trocken, wenn es regnete.

Mary Keen ertrug stoisch die armselige Situation ihrer Familie. Peter konzentrierte sich darauf, die sieben Mäuler zu stopfen.

„Du siehst müde aus“, schaute Peter seine Frau besorgt an.

„Mach dir keine Sorgen. Unsere Kinder halten mich halt ein bisschen auf Trab. Nichts, was ich nicht bewältigen kann.“

„Und dann hast du auch noch die Putzstelle angenommen. Das ist doch alles viel zu viel.“

„Aber das Geld, was ich dort verdiene, brauchen wir für unsere Familie und ein ordentliches Zuhause.“

„Es tut mir leid, ich würde euch gerne eine andere Bleibe bieten“, entgegnete Peter und schaute sich traurig die zahlreichen Löcher im Dach an.

Mary Keen strich ihrem Mann liebevoll über den Kopf.

„Wir werden das zusammen schon schaffen. Ich weiß, wie hart du arbeitest. Mach dir meinetwegen keine Gedanken. Schließlich habe ich sechs Kinder ausgetragen und geboren.“

Peter lächelte seine Ehefrau liebevoll an. Was würde er nur ohne sie machen? Sie hatte Recht, mit dem Vertrauen in ihren Fleiß und in Gott würden sie sich ein neues Leben aufbauen können.

Er versuchte, seinen Kindern beizubringen, dass den Fleißigen das Himmelreich gehören würde.

„Sean“, rief Peter seinen Ältesten zu sich.

„Sean, ich brauche dich gleich nochmal beim Kohle schleppen.“

Der 13-Jährige rollte mit den Augen.

„Muss das sein? Ich war den ganzen Tag in der Schule.“

„Und deshalb sollen deine Mutter und deine Geschwister in der Kälte sitzen?“

„Aber die warme Luft zieht doch eh durch die Löcher im Dach wieder raus.“

„Und da meint mein Sohn, dass wir am besten gar nicht heizen sollen?“

Sean zuckte wortlos mit den Schultern. Er wusste, dass er das Wortgefecht mit seinem Vater schon verloren hatte, als er seinen Missmut geäußert hatte.

Jetzt kam bestimmt gleich irgendein Spruch aus der Bibel.

„Lässige Hand macht arm, fleißige Hand macht reich.“, war sein Lieblingsspruch.

„Na ja, wird langsam mal Zeit, dass Gott das auch mal so sieht“, murmelte er leise vor sich hin. Hoffentlich hatte das sein Vater nicht gehört. Auf den nächsten Spruch hatte er keine Lust. Er hatte nichts mitbekommen. Glück gehabt.

Peter war felsenfest davon überzeugt, dass mit harter Arbeit das Glück wieder zurückkommen würde. Er sollte Recht behalten. Doch der Preis war hoch.

Im ersten Jahr verloren sie Ann, die kleinste der Keen Kinder am Keuchhusten.

Im Jahr darauf erfasste das Fieber die beiden kleinsten Brüder und Mutter Mary.

An einem nebligen nasskalten Morgen folgten sie den drei kargen Holzsägen zum Milltown Friedhof.

***

Peter Keen zog sich immer mehr von seiner Familie zurück. Arbeiten war sein neuer Sinn des Lebens. Sein ältester Sohn Sean versuchte, sich um die restlichen Kinder zu kümmern.

„Rob, du bist heute dran mit Sue in die Schule zu gehen. Machst du bitte ihr einen Zopf? Jeden Morgen das Gleiche. Ihr müsst das auch mal ohne mich machen. Ich muss gleich runter zu Vater.“

Rob streckte seinem Bruder zur Bestätigung seine Zunge heraus. Sue kicherte leise vor sich hin.

Sean atmete tief durch. Flöhe hüten musste um einiges einfacher sein.

***

Nach all dem Leid zahlte sich Peter Keens unermüdlicher Fleiß aus. Er hatte so viel gespart, dass er das Pub, über dem sie wohnten, pachtete.

Mit den ersten Einnahmen ließ er das Dach ihres Taubschlags neu decken und einen Holzofen einbauen. Nach unzähligen Jahren hatten sie endlich ein dichtes Dach über dem Kopf.

Doch das Glück sollte ihrer Familie nicht lange hold bleiben. Peter Keen starb leise. Hinter der Theke. Die Tageseinnahmen zählend. Einsam. An einem Herzinfarkt.

Sean setzte sein Werk fort. Mit Groll in der Seele.

War es Gottes Prüfung für seine Familie, oder hatte jemand anderes die Schuld an all diesen Schicksalsschlägen?

Für Sean Keen war der Schuldige schnell ausgemacht. Wie konnte es eine Regierung zulassen, dass eine Familie von ihrem Grund und Boden vertrieben wurde?

Wie konnten die Oberen es billigen, dass die eigenen Bürger von Armut dahingerafft wurden?

Wie konnte es ein Gott zulassen, dass sein gottesfürchtigster Diener seine Kinder vernachlässigte und dann auf dem verklebten Dielen seines Pubs an einem Herzinfarkt starb? 

Kapitel 5

(Belfast, November 1942)

Brian Keen wuchs mit diesem Hass auf. Sean verstand es, seinen Kindern beizubringen, dass das demütige Annehmen des Schicksals in seiner Familie keinen Platz hatte.

Den Schmerz in seiner rechten Gesäßbacke spürte er nach alle den Jahren immer noch.

***

Eines Abends betraten drei Polizisten den Pub. Laut polternd suchten sie sich einen Platz am anderen Ende des Schankraumes. Sie bestellten eine Runde nach der nächsten. Mit zunehmendem Alkoholpegel wurden sie immer lauter und pöbelten die Gäste an.

Der junge Brian half wie jedes Mal nach der Schule seinem Vater.

Er würde dessen Blick niemals vergessen, als die drei streitlustigen Beamten den Pub betraten. Katholiken und Protestanten waren in Keen`s Cellar beide gern gesehen. Bislang. Alle hatten sich an den unausgesprochenen Kodex gehalten. Der Pub war neutrales Gebiet. Egal, was die politische Lage da draußen vorgab.

Die provisional IRA, der paramilitärische Arm der IRA, war allgegenwärtig. Doch Sean interessierte sich nicht dafür. Bis zu diesem Tag.

Die drei Polizisten gaben keine Ruhe. Brian beobachtete, dass vier Männer im vorderen Bereich des Pubs miteinander zu tuscheln begannen. Sie mussten sich über die Störenfriede unterhalten, da sie immer wieder über ihre Schultern zu den dreien schauten. Immer nur so, dass es diesen nicht auffiel.

„Komm, Tom, die Gelegenheit ist günstig. Die Bullen haben allemal eine Abreibung verdient. Schau, wie die sich aufführen.“

„Okay, dann muss das aber eine schnelle Nummer sein. Drei vier Schläge auf die Nase und die Ohren und dann raus hier.“

„Ich übernehme den mit den Sommersprossen.“

„Ich den mit der dicken Knollennase im Gesicht.“

„Dann nehme ich den Dünnen.“

„Was ist mit dem Wirt?“

„Der kocht innerlich. Sei unbesorgt, der wird sich nicht einmischen.“

***

Brian spürte die Hand seines Vaters auf seiner Schulter.

„Komm, hinter die Bar und ducke dich weg. Hier wird es gleich ungemütlich.“

„Vater, willst du die nicht alle rausschmeißen, solange es noch geht?“, wollte der Junge wissen.

„Nein, lass die nur machen“, flüsterte er seinem Sohn zu. Die da hinten haben schon längst eine Abreibung verdient.

„Aber die werden uns hier alles zertrümmern.“

„Mach dir keinen Kopf.“

Kaum hatte Brian hinter der Theke Schutz gesucht, waren die vier schon auf die drei Polizisten zugestürmt.

Stühle zerschmetterten über den Rücken von zweien. Ein anderer flog mit voller Wucht auf einen der Holztische. Dieser zerbrach unter seinem Gewicht. Die halb ausgetrunkenen Ale Gläser vergossen ihren Inhalt auf den Boden und rollten dann in die Ecken des Raumes.

Die restlichen Gäste bildeten schnell einen Halbkreis um die Prügelnden.

Brian versuchte, über den Thekenrand hinaus einen Blick auf das Geschehene zu erhaschen. Sein Vater drückte ihm schnell den Kopf wieder unter die Theke.

Der Tumult dauerte ein paar Minuten, bevor die vier IRA-Männer von den Polizisten abließen und auf die Straße flohen. Auch die anderen Gäste machten sich schnell auf den Weg nach Hause. Zurück blieben die verprügelten Polizisten inmitten von zerschlagenem Mobiliar und Biergläsern.

Weitere Minuten später stürmte eine Einsatzmannschaft der RUC das Pub. Jemand musste sie verständigt haben.

Sie sahen nach ihren Verletzten, versorgten sie notdürftig und versuchten Sean zu einer ersten Aussage zu bewegen. Schnell wollten sie wissen, ob Männer der IRA an dem Tumult beteiligt waren.

***

„Officer, wie oft soll ich es denn noch wiederholen? Ich habe nichts gesehen. Das ging alles viel zu schnell.“

„Nun kommen Sie, Sean. Sie wissen, dass Sie uns die Wahrheit sagen müssen, oder wollen Sie, dass wir Sie und ihren Jungen auf unsere Liste setzen? Sie sind doch kein IRA-Sympathisant, oder doch, Sean?“

„Officer, machen Sie doch, was Sie wollen. Sie machen mir keine Angst. Ich kann Ihnen nichts sagen, was ich nicht gesehen habe.“

Brian hielt die Luft an. War die Polizei nicht eine Autorität, die man achten sollte? Musste sein Vater nicht all das sagen, was er wusste? Doch dieser schwieg. Der Officer gab entnervt auf.

Die RUC behielt Sean und das Keen´s Cellar im Blick. Keiner der Polizisten betrat jedoch die Bar. Doch auch die IRA rückte Sean und das Pub in das Zentrum ihres Interesses. Seine Verschwiegenheit machte ihn und sein Etablissement interessant und bald war sein Hinterzimmer ein beliebter Ort für die Zusammentreffen von einzelnen IRA-Zellen. 

Kapitel 6

(Belfast Juni 1972)

Brian Keen ließ die Vergangenheit ziehen.

Sein Gesprächspartner war mittlerweile an die Bar herangetreten und hatte sich auf einen der Barhocker gesetzt. Mit seinen Fußspitzen erreichte er gerade so die „Sprossen“ seiner Sitzgelegenheit.

„Wir müssen die Menschen noch mehr gegen die Polizei und gegen die britische Armee aufwiegeln.“

„Du hast schon Recht. Je mehr Menschen wir auf unsere Seite ziehen, desto schneller haben wir diese Besetzer aus unserem Land.“

„Dann lass uns den nächsten Coup planen. Das Eisen muss geschmiedet werden, solange es heiß ist. Ich habe da auch schon eine Idee.

„Lass hören.“

„Nicht hier. Schließ ab und lass uns nach hinten gehen. Ich will nicht, dass irgendjemand von draußen sieht, dass hier noch Licht brennt.“

„Ich habe auch noch Neuigkeiten für uns.“

Dick Keith sprang vom Barhocker herunter und brachte diesen dabei beinahe zum Kippen. Er schlenderte zur Tür und drehte den Messingschlüssel zweimal um.

„Nun trödle da nicht rum und komm schon. Wir haben noch viel zu besprechen und ich muss morgen noch mit dem Getränkelieferanten sprechen. Der Laden muss ja weiterlaufen. Bis zur Revolution muss ich von was leben.“

Dick beschleunigte seinen Schritt und folgte Brian in das hintere Büro.

***

„Wir haben eine verschlüsselte Nachricht aus Darna erhalten, schoss es aus Tom heraus.