Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wie hat die Bibel in der Weltliteratur gewirkt? Karin Schöpflin informiert über Inhalt, Form und Botschaft biblischer Schriften und zeigt an ausgewählten literarischen Werken, wie Dichter und Schriftsteller Erzählmuster, Themen, Gestalten und Motive aus dem Alten und Neuen Testament rezipierten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 586
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Karin Schöpflin
Die Bibel in der Weltliteratur
Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
Mohr Siebeck · Tübingen
Die Entstehungsgeschichte dieses Bandes reicht weit zurück in meine eigenen Studientage: Dass biblische Bezüge bei der Lektüre literarischer Werke viel zu wenig bedacht wurden, empfand ich seinerzeit als Mangel bei meinen literaturwissenschaftlichen Studien. Dies Phänomen besteht nach wie vor, vermutlich noch verschärft, da die Vertrautheit mit der Bibel noch weniger selbstverständlich ist als in früheren Generationen. Durch meine theologischen Studien gewann der Plan zu einem Buch, das Literaturwissenschaftlern einschlägiges Wissen vermitteln helfen sollte, weiter an Profil: Aus theologischer Perspektive liegt der Akzent auf einer Rezeptionsgeschichte der Bibel.
Während meiner Tätigkeit in der akademischen Lehre habe ich die interdisziplinäre Verbindung zwischen Bibel und Literatur in unterschiedlichen Veranstaltungen erprobt. Die Gestalt dieses Bandes basiert auf einer Vorlesung, die ich in den vergangenen Jahren mehrmals in unterschiedlicher Form in Göttingen als interdisziplinäre Veranstaltung sowohl für Philologen als auch für Theologen sowie für interessierte Hörer aller Fakultäten gehalten habe – die Studierenden der Bachelorstudiengänge erwerben darin „Schlüsselqualifikationen“. Aus den in den Vorlesungen vorgestelllten literarischen Werken musste für dieses Buch eine Auswahl getroffen werden; behandelt werden daher fast ausschließlich „Klassiker“, die vor der Wende zum 20. Jahrhundert erschienen.
Mein Dank gilt dem Verlag Mohr Siebeck für die Aufnahme dieses Buches in die Reihe der UTB-Bände. Besonders herzlich danke ich Herrn Dr. Henning Ziebritzki, der sich für dieses Projekt begeistern ließ und seinen Entstehungsprozess mit großem Interesse und mancher wertvollen Anregung begleitete.
Ein weiterer Dank gilt den Mitarbeiterinnen des Verlages Mohr Siebeck, Frau Katharina Stichling und Frau Jana Trispel, die das Manuskript sehr umsichtig und hilfreich betreuten und für den Druck vorbereiteten.
Hamburg, im Februar 2011
Karin Schöpflin
Dan
Daniel
Dtn
Deuteronomium (5. Mose)
Esr
Esra
Est
Ester
Ex
Exodus (2. Mose)
Ez
Ezechiel/Hesekiel
Gen
Genesis (1. Mose)
Hi
Hiob
Hld
Hoheslied
Hos
Hosea
Jdt
Judit
Jer
Jeremia
Jes
Jesaja
Jos
Josua
Lev
Levitikus (3. Mose)
Mal
Maleachi
Mi
Micha
Nah
Nahum
Neh
Nehemia
Num
Numeri (4. Mose)
Pred
Prediger Salomo
Ps
Psalmen
Ri
Richter
Sach
Sacharja
Sir
Jesus Sirach
Spr
Sprüche
Tob
Tobit
1/2 Chr
1./2. Chronikbuch
1/2 Kön
1./2. Königebuch
1/2 Sam
1./2. Samuelbuch
2 Makk
2. Makkabäerbuch
Apg
Apostelgeschichte
Hebr
Hebräerbrief
Joh
Johannes
Lk
Lukas
Mt
Matthäus
Mk
Markus
Off
Offenbarung des Johannes
Röm
Römerbrief
1Kor
1. Korintherbrief
BibelDer Begriff „Bibel“ leitet sich ab vom Griechischen ta biblia „Bücher“. Diese Pluralform ist zutreffend, weil die Bibel streng genommen nicht ein einzelnes Buch ist, sondern eine ganze Sammlung von einzelnen Schriften. Diese Sammlung ist zudem zweiteilig: Aus christlicher Perspektive wird der umfangreichere erste Teil als „Altes Testament“ bezeichnet, der zweite als „Neues Testament“[1]. Zusammen bilden sie die verbindliche Glaubensurkunde, den Kanon, der christlichen Kirche. Die „Heilige Schrift“ war und ist Grundlage kirchlicher Lehre und Praxis und christlicher Lebensführung. Da der europäische Raum Jahrhunderte lang unangefochten vom Christentum geprägt wurde, stellt die Bibel damit unbestritten ein bedeutsames Kulturgut des Abendlandes dar.
ÜbersetzungenDie Bibel der frühen Christen war Griechisch: sie lasen das Alte Testament in der „klassischen“ griechischen Übersetzung, der „Septuaginta“; die neutestamentlichen Schriften waren von vornherein auf Griechisch verfasst worden. Um 400 n.Chr. übersetzte Hieronymus die christliche Bibel ins Lateinische. Diese Übersetzung wurde nur noch geringfügig überarbeitet und als „Vulgata“ zum maßgeblichen Bibeltext im christlichen Abendland. Vom Zeitalter der Reformation an wurde die Bibel verstärkt[2] in die modernen Volkssprachen übersetzt[3] und dadurch allmählich breiteren Bevölkerungsschichten als Lektüre zugänglich. Diese Bibelübersetzungen beeinflussten zudem die Volkssprachen – im Deutschen die Lutherbibel, die 1534 komplett vorlag.
|4|RezeptionenVon Anfang an wurden Bibeltexte einerseits in kirchlicher Verkündigung und Lehre ausgelegt, andererseits waren sie frühzeitig in vielfältiger Weise Quelle künstlerischer Inspiration. Ihr hoher Stellenwert für Malerei – angefangen mit Illustrationen in kostbaren Bibelhandschriften – und bildende Kunst ist offensichtlich. Doch ist biblisches Gut für Dichtung und Literatur nicht minder bedeutsam. Die Texte von Hymnen und Chorälen beispielsweise schöpften aus der Bibel ebenso wie frühe Dramatisierungen biblischer Stoffe (z.B. Passionsspiele). Diese Werke waren noch an kirchlichen Gebrauch gebunden. Doch lösten sich dichterische Verarbeitungen biblischen Materials zunehmend vom Raum der Kirche. Die biblischen Schriften in ihrer Vielfalt boten und bieten sich für unterschiedliche schriftstellerische Verwendungen an: Nach- und Neuerzählungen biblischer Geschichten in epischen Formen, Bühnenbearbeitungen und Dramatisierungen, lyrische Gedichte – Adaptationen unterschiedlichster Art lassen die biblische Vorlage häufig genau erkennen. Sie bieten den Reiz, in Erfahrung zu bringen, wie deren Verfasser ihre biblische Quelle ausgelegt und wo sie neue, eigene Akzente gesetzt haben. Daneben stehen jedoch auch Werke, die biblische Handlungs- oder Personenkonstellationen, Bilder oder Sprachformen aufnehmen und aktualisierend verarbeiten. Hinzu treten Zitate einzelner Bibelworte, die nicht immer als solche gekennzeichnet sein müssen, oder Anspielungen, die nur einer Leserschaft erkennbar werden, die sich in der Bibel auskennt. Selbst wenn Bibelkenntnisse zum Verstehen solcher Literatur nicht unabdingbar sind, wird das Verständnis zweifellos vertieft und Feinheiten werden sichtbar, die dem Werk eine zusätzliche Dimension verleihen. Damit ein Lesepublikum biblische Bezüge erkennt, bedarf es eines in seinem Wortlaut markanten und bekannten Bibeltextes, also einer Übersetzung, die hohe Akzeptanz in einer Sprachgemeinschaft besitzt und Allgemeingut geworden ist. Für den deutschen Sprachraum dürfte dies immer noch die Übersetzung Martin Luthers, selbst in ihrer indessen mehrfach revidierten Form für sich beanspruchen können.
Wissenschaftliche BibelkritikNicht zuletzt ist die Bibel auch Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung und Auslegung. Auch dies gilt von frühester Zeit an; man denke nur an philologische Arbeiten und Kommentierungen der Kirchenväter. Von der Alten Kirche an bis in das Zeitalter der Vernunft verstand man die Bibel generell als Gottes Wort, als göttliche Offenbarung; die menschlichen Verfasser galten |5|als göttlich inspiriert, während sie Gottes Wort in menschliche Sprache kleideten und zugänglich machten. Unter dieser Maßgabe las man die Bibel – aus moderner Perspektive gesprochen – unkritisch. Es bildeten sich noch in biblischer Zeit Traditionen, die einzelne Bücher aus der Bibel bekannten Persönlichkeiten zuschrieben; z.B. galt Mose als Autor der Torah, David als Dichter des Psalters oder der Lieblingsjünger Jesu als der Evangelist Johannes. Hinzu trat die Neigung, offensichtlich vorhandene Widersprüche – beispielsweise beim Vergleich von Inhalt und Gottesbezeichnungen der beiden Schöpfungserzählungen in Genesis 1 und 2 – zu harmonisieren. Abgesehen von einigen wenigen älteren Ausnahmen[4] entwickelte sich eine kritische Wahrnehmung biblischen Schrifttums in der Aufklärung. Nun las man die Bibel wie andere antike Literaturwerke als rein menschliches Produkt, entdeckte in den vorfindlichen Widersprüchen Spuren einer komplexen Entstehungsgeschichte der Texte, die nicht aus einer Feder stammen, sondern teils in Jahrhunderte langen Prozessen allmählich die heutige Gestalt erreichten. Kritische Bibelwissenschaft ist seit dem späten 18. Jahrhundert darauf bedacht, die Schriften des Alten wie des Neuen Testamentes historisch zu verstehen, also ihre theologischen Aussagen in ihren sich wandelnden Entstehungskontexten zu begreifen und ihr allmähliches Werden ausgehend von möglichen mündlichen Vorstufen über frühe schriftliche Fassungen und deren redaktionelle Bearbeitungen bis zur Endgestalt nachzuzeichnen. Diese historisch-kritischen Zugänge waren und sind nicht unumstritten. In diesem Band kann die wissenschaftliche Analyse der Bibel weitgehend, wenn auch nicht völlig, ausgeblendet werden, denn für die Aufnahme und Verarbeitung biblischen Materials durch Dichter und Schriftsteller spielt sie nur eine relativ geringe Rolle. Bis zur Aufklärung und darüber hinaus haben Dichter die Bibel ganzheitlich, „kanonisch“, gelesen, ohne den vorliegenden Text – seit der Reformation in aller Regel eine in ihrer Muttersprache verfügbare Übersetzung – zu hinterfragen.
Literarische BibelkritikAllerdings erfuhr die Bibel seit jeher literarische Aufnahme nicht nur durch bekennende, praktizierende Christen, sondern auch kritische Lektüre, die kirchlicher Auslegung widersprach. Neben die Bibel traten zudem etwa klassisch-antike Traditionen als zweite Inspirationsquelle, und nicht selten gingen beide eine Synthese ein. Man wird mit biblischen Einflüssen und Bezügen |6|in der Literatur rechnen müssen, auch bei Autoren, die man auf Anhieb nicht unbedingt mit dem Christentum in Verbindung bringen und in deren Werk man biblische Bezüge nicht unbedingt vermuten würde. Goethes Äußerung „Wenn ich in ein Gefängnis geworfen würde und nur ein Buch mitnehmen dürfte, wählte ich die Bibel.“, mag ebenso überraschen wie Brechts Auskunft anlässlich einer Zeitungsumfrage im Jahr 1928, auf die Frage, welches, literarisch gesehen, sein stärkster Eindruck sei: „Sie werden lachen – die Bibel.“[5] Die Bibel ist bis in die Gegenwart hinein Anregung und Folie geblieben, selbst für überzeugte Nicht-Christen und „Atheisten“.
Nach mehrjähriger Beschäftigung mit dem Stoff erschien der erste Teil der Tragödie 1808 im Druck. Sie weist vielfältige biblische Bezüge auf, von denen markante Beispiele herausgegriffen werden.
Die Himmelsszenen des HiobbuchesNach dem allgemeiner gehaltenen, das dramatische Medium reflektierenden Prolog auf dem Theater führt der Prolog im Himmel in die Tragödie selbst ein. Goethe (1749–1832) greift darin deutlich auf das Buch Hiob zurück, das in den beiden Eingangskapiteln zwei Himmelsszenen (1,6–12; 2,1–6) enthält, deren zweite die erste wiederholt und zugleich weiterführend geringfügig variiert. In diesen biblischen Szenen findet ein himmlischer Thronrat statt: Es versammeln sich die Gottessöhne vor dem HERRN, unter ihnen auch der „Satan“. Gott tritt in einen Dialog mit ihm, erkundigt sich nach seinem Knecht Hiob, den er charakterisiert als „fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse.“ Der Satan unterstellt, dass Hiob nur solange gottesfürchtig bleibt, wie er Gottes Segensgaben genießt: seinen Reichtum an Vieh, Dienerschaft und Kindern. Gott gestattet Satan daraufhin, Hiob Besitz und Familie zu nehmen unter der Bedingung, dass er Hiobs Leben nicht antastet.[6]
Erzengel loben die SchöpfungIn seinem Prolog folgt Goethe der Tradition, die die Gottessöhne als Engelwesen interpretiert: Goethe lässt die himmlischen Heerscharen und die drei Erzengel Raphael, Gabriel und Michael auftreten. Letztere kommen in der Bibel vor[7], doch entwickelte sich die Vorstellung von Engelwesen vor allem außerhalb der kanonischen|8|biblischen Schriften. Jeder Erzengel besingt Elemente des Kosmos, den Wechsel von Tag und Nacht, Meer und Land, Sturm und Gewitter (V. 243–266). Gemeinsam beten die drei Gott lobend an (V. 267–270). Die einleitenden Worte der Engel berühren sich sowohl mit der ersten Schöpfungserzählung in Genesis 1 als auch mit hymnischer Psalmensprache.
Dialog zwischen Mephistopheles und GottIm Anschluss daran entspinnt sich ein Dialog zwischen Mephistopheles und Gott, den nicht Gott wie in Hiob 1,7, sondern Mephistopheles eröffnet (V. 271). Mephistopheles entspricht der Satansgestalt, die analog zu den Engeln eine eigene, außerbiblische Entwicklung durchgemacht hat. Anders als die Engel versteht Mephistopheles sich nicht auf erhabene Lobpreisungen, seine Interessen sind weltlicherer Natur:
Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen,
Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.
Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,
Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. (279–282)[8]
Er beklagt die Lebensbedingungen der Menschen und wirft Gott vor, dass er dem Menschen die Vernunft geschenkt hat (283–292), hat also an der Schöpfung grundsätzlich nur etwas auszusetzen (296–298)[9]. Wenn er den Menschen als „kleinen Gott der Welt“ (V. 281) bezeichnet, spielt er damit an auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen und den göttlichen Auftrag an ihn, über die übrigen Geschöpfe zu herrschen (Gen 1,26). Gott spricht Mephistopheles auf Faust, seinen „Knecht“ (V. 299, vgl. Hi 1,8) an, den Mephistopheles daraufhin charakterisiert (V. 300–307), was Gott im Hiob-Prolog selbst tut (Hi 1,8): Mephistopheles beschreibt Faust als einen unbefriedigt Zerrissenen, der nach den Sternen greift und göttliche Erkenntnis erstrebt, andererseits aber den Freuden der irdischen Welt zugetan ist. Gott setzt Hoffnung in Doktor Faust, obwohl er ihm offenkundig nicht so geradlinig dient wie Hiob:
|9|Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient,
So wird’ ich ihn bald in die Klarheit führen.
Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt,
Daß Blüt’ und Frucht die künft’gen Jahre zieren.[[10]] (308–311)
Die WetteDaraufhin wettet Mephistopheles, dass es ihm gelingen werde, „Ihn meine Straße sacht zu führen!“ (V. 314). Gott gesteht es ihm zu, jedenfalls solange Faust sein irdisches Leben führt (V. 315–316). Der HERR rechnet durchaus mit einem Ausgang zu seinen Gunsten; doch auch Mephistopheles ist zuversichtlich, dass sein Vorhaben gelingt (V. 330–331). Für den Fall eines Erfolges wünscht er sich:
Wenn ich zu meinem Zweck gelange,
Erlaubt Ihr mir Triumph aus voller Brust.
Staub soll er fressen, und mit Lust,
Wie meine Muhme, die berühmte Schlange. (332–334)
Wenn er Faust auf seine Seite gezogen und von Gott abgebracht hat, soll es jenem gehen wie der Schlange, die Gott verfluchte, dass sie Staub fressen sollte (Gen 3,14b), nachdem sie die Frau im Garten Eden zum Ungehorsam gegen Gott beredet hatte. Indem Goethe Mephistopheles hier einen Bezug zur Sündenfallgeschichte der Bibel herstellen lässt, ordnet er diese Gestalt einmal mehr den Gott widrigen Mächten zu und deutet die existentielle Tragweite der Wette an, bei der es darum geht, ob Faust den Sündenfall gewissermaßen wiederholt oder nicht. Mit der anschließenden Gottesrede füllt Goethe eine viel diskutierte Leerstelle aus:
Gottes Verhältnis zum BösenIch habe deinesgleichen nie gehaßt.
Von allen Geistern, die verneinen,
Ist mir der Schalk am wenigsten zur Last.
Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen,
Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen. (337–343)
Gott lässt das Wirken teuflischer Mächte bewusst zu, um den Menschen herauszufordern und ihn nicht in Trägheit verfallen zu lassen. Damit ist bei Goethe klar, dass die Mächte, die das Böse, das Gott Entgegen-Gesetzte („Geister, die verneinen“), verkörpern, Teil der von Gott gesetzten Weltordnung sind. Gott scheint |10|Mephistopheles sogar mit einer gewissen Wertschätzung zu betrachten, da er ihn „Schalk“ nennt und so Intelligenz, Scharfsinn und Witz[11] seines Gegenspielers hervorhebt. Dem entspricht Mephistopheles’ allein gesprochene, ironische Schlussbemerkung, in der er sich zudem explizit als „Teufel“ bezeichnet:
Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern[[12]],
Und hüte mich, mit ihm zu brechen.
Es ist gar hübsch von einem großen Herrn,
So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen. (352–353)
Goethes Umgestaltung des Hiob-PrologesGoethes Prolog im Himmel hat in älteren Verarbeitungen des Faust-Stoffes keine Entsprechung. Wie die Himmelsszenen im Hiob-Buch, die Goethe als Vorbild gedient haben, bietet der Prolog dem Publikum Einblick in die Hintergründe des Geschehens, das auf der Bühne zu sehen sein wird, und zwar buchstäblich auf höchster Ebene: Eine Wette zwischen Teufel und Gott bildet den Grund dafür, dass Mephistopheles Doktor Faust in Versuchung führt. Gute, göttliche Mächte und böse, teuflische stehen im Wettstreit um Faust, wobei Mephistopheles als göttlicher Widerpart aktiver sein wird. Im Anschluss an gängige Traditionen sind die biblischen Göttersöhne als Engel dargestellt und der Ankläger als Teufelsgestalt. Wer mit Hiob vertraut ist, könnte angesichts des Prologes im Himmel zunächst erwarten, dass Gott analog zur biblischen Vorlage den Sieg davontragen werde. Doch gibt es gerade im Vergleich zu Hiob Indizien, die diese Erwartung relativieren: Während in der Bibel Gott das Gespräch bestimmt, indem er es eröffnet und Hiob überaus positiv charakterisiert, ist bei Goethe Mephistopheles der eindeutig führende Dialogpartner: Er beginnt die Unterredung, ist weitaus beredter als Gott, übernimmt die Schilderung von Fausts Charakter und hat auch das letzte Wort. Überdies deutet die Beschreibung Fausts auf einen zwiespältigen Charakter, der durchaus anfällig für Versuchungen erscheint. Die Anspielungen auf die Sündenfallgeschichte (Gen 3), die Goethe in den nach dem Hiob-Buch gestalteten Dialog eingeflochten hat, tun ein Übriges, um das folgende Geschehen vorwegnehmend zu beleuchten. Durch die vorgeschalteten biblischen Bezüge gibt Goethe dem Faust-Drama somit eine theologische Tiefendimension, die sich nur voll erschließt, wenn man mit Hiob und Gen 3 vertraut ist.
Zwei knappe Ausschnitte aus der Tragödie sollen illustrieren, wie Goethe biblisches Material an Stellen einbringt, die nicht wie der Prolog im Himmel insgesamt nach biblischem Vorbild gestaltet sind.
Menschliches Erkenntnisstreben bleibt vergeblichZunächst ein Ausschnitt aus der ersten Szene, „Nacht“, die Faust einführt (V. 354ff.). Faust hat in allen vier Fakultäten studiert, den Doktorgrad erworben und Studenten unterrichtet, und doch sieht er, „daß wir nichts wissen können!“ (V. 364). Diese Verzweiflung an der Unfähigkeit des Menschen zu erkennen, „was die Welt / Im Innersten zusammenhält“ (V. 382–383), teilt Faust, der sich als „gescheiter als alle die Laffen, / Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen“ (V. 366–367) ansieht, mit dem Prediger Salomo, der nach Weisheit strebte, weiser war als alle und doch erkannte, „dass […] dies ein Haschen nach Wind ist. Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen, und wer viel lernt, der muss viel leiden.“ (Pred 1,17–18)[13]. Weil die Wissenschaften ihn nicht weitergebracht haben, will Faust es mit der Magie versuchen (V. 377ff.), mit Geisterbeschwörung, die ihm die ihm gesetzten Grenzen überwinden helfen und die Weltordnung erschließen soll. Die Versenkung in ein magisches Buch schenkt ihm die Ahnung einer Entschränkung und lässt ihn ausrufen: „Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!“ (V. 439).
Der Mensch will sein wie GottSein zu wollen wie Gott stellt eine Versuchung für den Menschen dar, die ihn zu Fall bringt, was die Sündenfallerzählung beispielhaft zeigt (vgl. Gen 3,5). Faust erscheint ein Erdgeist (V. 481), dessen genaue Natur und Identität jedoch geheimnisvoll bleiben, der Fausts Gottebenbildlichkeit verächtlich relativiert (511–517). Nachdem Wagner ihn unterbrochen hat, greift Faust wieder allein den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen, der aus Gen 1,26–27 stammt, erneut auf (614–622). Als Ebenbild Gottes fühlt sich Faust wie (ein) Gott und nicht mehr wie ein „Erdensohn“, wie Adam, den Gott aus Erde schuf (Gen 2,7). Er fühlt sich aufgrund der Gottebenbildlichkeit einem Cheruben überlegen, einem göttlichen Wesen, das jedoch Gott untergeordnet ist[14]. Das verächtliche Wort des beschworenen|12|Geistes hat ihn jedoch buchstäblich wieder auf den Boden zurückgeholt, so dass er konstatiert:
Den Göttern gleich’ ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;
Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt,
Den, wie er sich im Staube nährend lebt,
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt. (652–655)
Er fühlt sich nun wie die niedrigste Kreatur, die im Staub lebt und unversehens umkommt. Der Staub als ihr Lebenselement und ihr leicht eintretender Tod betonen ihre Vergänglichkeit. Zugleich mag der „Wurm“ auch die Schlange assoziieren, die nach dem Sündenfall des Menschen verflucht wurde, auf dem Bauch zu kriechen und Erde zu fressen und von den Nachkommen des Menschen zertreten zu werden (Gen 3,14–15). Diese Assoziation deutet darauf hin, dass auch Faust sich wie verflucht empfindet.
Bezüge zur Anthropologie der biblischen SchöpfungserzählungenDie genannten biblischen Bezüge und Anspielungen in dieser Eingangsszene der Tragödie verweisen auf Texte, die sich mit der Erschaffung des Menschen und seinem Sündenfall befassen und die Frage nach der Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfung und gegenüber Gott implizieren. Es besteht eine Spannung zwischen der Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Gen 1 sowie der durch die Verbotsübertretung erlangten gottgleichen Erkenntnis des Menschen nach Gen 2–3 und seiner Kreatürlichkeit, die seine Vergänglichkeit und Begrenztheit seiner Erkenntnismöglichkeiten einschließt. Eben diese Spannung macht Faust zu schaffen, weil er sich mit dieser Grundbefindlichkeit des Menschen nicht abfinden kann. Die biblischen Anspielungen passen zudem zur Figur des Faust, der ja auch als studierter Theologe eingeführt wird.
|13|Goethe hat eben diese genannten Verweise auf biblisches Gut bewusst gewählt; sie machen insofern die Eigenart seiner Bearbeitung des Faust-Stoffes aus. Das lehrt ein Vergleich mit der Eingangsszene von Christopher Marlowes The Tragical History of Doctor Faustus (zwischen 1587 und 1593): Dort geht Faust in seinem Studierzimmer die Fakultäten durch und zitiert jeweils kurze Sätze aus Werken, die für Philosophie, Medizin und Jurisprudenz bedeutsam sind. Für die Theologie holt er zum Abschluss die Bibel des Hieronymus, d.h. die Vulgata hervor und zitiert daraus zwei neutestamentliche Stellen (Römer 6,23 und 1Joh 1,8)[15], die den Tod als der Sünde Sold und die unbestreitbare Sündhaftigkeit des Menschen konstatieren. Durch die unterschiedlichen biblischen Verweise setzen Marlowe und Goethe je eigene Akzente in der Deutung des Titelhelden.
KonzeptDies Buch möchte nicht die Reihe der bereits vorhandenen klassischen Bibelkunden um ein weiteres Exemplar vermehren. Dennoch soll es Wissen über die Bibel vermitteln, allerdings mit einer Zuspitzung auf die Elemente, die in der literarischen Rezeptionsgeschichte der Bibel relevant geworden sind. Geboten wird also ein Überblick über die biblischen Schriften des Alten und Neuen Testaments, die schwerpunktmäßig in bedeutsamen Werken der „schönen Literatur“[16] aufgegriffen wurden. An ausgewählten Werken der Weltliteratur wird exemplarisch Einblick in die Wirkungsgeschichte der Bibel gegeben. Angestrebt wird damit eine interdisziplinäre Zusammenschau von Bibel und Literatur. Literaturwissenschaftlich Interessierten sollen Grundinformationen über die Bibel geboten werden, die ungebrochene Relevanz der Bibel für die Literatur soll demonstriert und dazu angeregt werden, biblische Bezüge und Spuren auch in hier nicht behandelten Werken wahrzunehmen und zu entdecken. Auf der anderen Seite soll theologisch und bibelwissenschaftlich Interessierten die reiche Rezeptionsgeschichte der Bibel in der Literatur exemplarisch illustriert werden, die manchen Bibeltext rückblickend in ein neues Licht rückt. Damit der Zusammenhang zwischen biblischer Vorlage und deren literarischer Rezeption leicht nachvollziehbar wird, folgen auf die Vorstellung biblischer Einheiten (Biblisch) jeweils unmittelbar Abschnitte zu literarischen Werken (Literarisch), deren Verfasser das einschlägige biblische Material nutzten. So sind die einzelnen Abschnitte je für sich lesbar.
VorentscheidungenEin Projekt wie dieses erfordert weitere Vorentscheidungen, die teils naturgemäß mehr oder minder subjektiven Charakter besitzen. Notwendig ist eine Entscheidung über den zugrunde gelegten biblischen Kanon. Ausgegangen wird hier in Umfang und Anordnung von dem altkirchlichen christlichen Kanon, also der griechischen Tradition, so dass die so genannten deuterokanonischen |15|bzw. apokryphen Schriften[17] einbezogen sind. Wegen ihrer Verbreitung, Wirkung und ihrer eigenen literarischen Qualität wird die Lutherübersetzung zitiert. Alle literarischen Werke werden in deutschen Übersetzungen geboten, um Einheitlichkeit und allgemeine Verständlichkeit der Darbietung zu gewährleisten.
Die Bibel wird in ihrer Gesamtheit betrachtet, also nicht nur in einem Ausschnitt, nicht nur eine biblische Gestalt (z.B. Hiob), ein Stoff oder dergleichen. Präsentiert wird eine Auswahl aus Werken der Weltliteratur, die – mit zwei Ausnahmen – vor 1945 entstanden. Alternativ wäre eine Beschränkung auf einen Sprachraum, eine Epoche (Barock, 20. Jh.) oder auf einen Schriftsteller (Shakespeare und die Bibel) denkbar. Gerade in der Sprachen, Zeit und biblische Materialien übergreifenden Präsentation scheint jedoch ein Reiz zu liegen, da damit ansatzweise eine literarische Kulturgeschichte in den Blick kommt.
Die Marginalia bieten inhaltliche Stichworte und erleichtern so die Orientierung. Das Sachregister ermöglicht es, Querverbindungen innerhalb des biblischen Schrifttums – dabei spielen die Bezüge zwischen Alten und Neuem Testament eine besondere Rolle – sowie zwischen biblischem Material und rezipierenden literarischen Werken aufzufinden.
Hebräischer KanonGrob betrachtet haben christliche und jüdische Glaubensgemeinschaften das „Alte Testament“[18] gemeinsam und sehen es als Glaubensurkunde an. Genau genommen muss man hier jedoch differenzieren: 39 Einzelschriften, die ursprünglich in hebräischer Sprache verfasst waren, wurden im Verlauf des 2. Jahrhunderts n.Chr. zu für jüdischen Glauben und religiöse Praxis verbindlichen Schriften erklärt, d.h. kanonisiert. Diese „Hebräische Bibel“ war nach dem Zeugnis der Vorrede (1,1) des Buches Jesus Sirach bereits im 2. Jahrhundert v.Chr. in drei Teile gegliedert. Sie erhielt später nach den Anfangsbuchstaben dieser drei Teile – Torah („Weisung“), Nebi’im („Propheten“), Ketubim („Schriften“) – die Bezeichnung „Tanak“.
Die Torah oder der Pentateuch[19] umfassen die Bücher Genesis („Entstehung“[20]), Exodus („Auszug“), Leviticus („Priesterliches“ [sc. Gesetz]), Numeri („Zahlen“) und Deuteronomium („zweites Gesetz“) (Luther: 1.–5. Mose).
Die Propheten sind in der Hebräischen Bibel unterteilt in
Vordere Propheten: Josua, Richter, die beiden Samuelbücher und die beiden Königebücher; und
Hintere Propheten: Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi.
Als „Schriften“ werden im Tanak zusammengestellt: Psalmen, Sprüche, Hiob, Hoheslied Salomos, Rut, Klagelieder, Prediger Salomo, Ester, Daniel, Esra, Nehemia, Chronikbücher.
Griechischer KanonDiese hebräischen Schriften waren bereits in vorchristlicher Zeit für den Gebrauch in Griechisch sprechenden jüdischen Gemeinden in Ägypten (Alexandria) ins Griechische übersetzt worden. Da der Legende[21] nach 70 bzw. 72 Gelehrte diese Übersetzung besorgt hatten, erhielt sie den Namen „Septuaginta“ (LXX). Dieser griechische Kanon umfasst über den Tanak hinaus noch weitere|20|sieben Schriften und einige Stücke, die als Deuterokanonische Literatur bzw. Apokryphen bezeichnet werden[22].
Es handelt sich um die Bücher Judit, Weisheit Salomos, Tobit, Jesus Sirach, Baruch, 1. und 2. Makkabäerbuch sowie zusätzliche Stücke zu Ester, Daniel (insbesondere die Geschichte von Susanna) und das Gebet Manasses.
War man lange der Ansicht, dass diese Teile ursprünglich in griechischer Sprache verfasst wurden, weiß man heute, dass von der Weisheit Salomos abgesehen auch diese Texte in hebräischen Fassungen existierten und vielleicht Übersetzungen aus dem Hebräischen sind. Die ältere Annahme spielt insofern noch eine Rolle, als sie sich auf den Stellenwert auswirkt, der diesen Schriften in den verschiedenen christlichen Konfessionen zugemessen wird. Da Luther sich dem humanistischen Prinzip des „zurück zu den Quellen“ entsprechend entschied, seiner Bibelübersetzung den Text des Alten und Neuen Testamentes in der jeweiligen Originalsprache zugrunde zu legen, übersetzte er das Neue Testament aus dem Griechischen und das Alte Testament aus dem Hebräischen, so dass Letzteres vom Umfang her mit dem jüdischen Kanon identisch war. Zwar übersetzte Luther auch die zusätzlich in der Septuaginta (und Vulgata) vorhandenen Bücher aus dem Griechischen, doch stellte er sie als gesonderten Block zwischen Altes und Neues Testament. Er schätzte diese Bücher zwar als „gut und nützlich zu lesen, aber nicht gleichen Ranges“ wie die Hebräisch vorliegenden Schriften, die hebraica veritas.
Anordnung in christlicher TraditionDie Anordnung der Schriften folgt in der christlichen Tradition einem grundsätzlich anderen Prinzip als in der jüdischen. An die fünf Bücher der Torah schließen sich die weiteren erzählenden Bücher an, die so angeordnet sind, dass die Geschichte Israels in chronologischer Abfolge dargestellt erscheint; es werden somit Bücher, die im hebräischen Kanon zu den Ketubim zählen, hier eingestellt. Abgesehen von den Klageliedern, die die Tradition dem Propheten Jeremia als Verfasser zuschrieb, und Daniel, der ebenfalls unter die prophetischen Bücher gerechnet wird, nehmen die fünf verbleibenden Bücher der Ketubim die mittlere Stelle im christlichen Kanon ein. An die Schlussposition rücken die prophetischen Schriften, denn sie enthalten einige Texte, die für die Zukunft einen Heilskönig, den „Messias“ |21|verheißen. Diese Verheißungen verstand man vom christlichen Standpunkt aus als Prophezeiungen, die Jesus Christus ankündigen. So leiten die prophetischen Schriften des Alten Testamentes in der christlichen Bibel über zum Neuen Testament.
Damit ergibt sich für das christliche Alte Testament folgende Anordnung[23]:
Pentateuch: Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium,
Geschichtsbücher: Josua, Richter, Rut, 1. und 2. Samuelbuch, 1. und 2. Königebuch, 1. und 2. Chronikbuch, Esra, Nehemia, [Tobit, Judit], Ester, [1. und 2. Makkabäerbuch]
Lehrbücher und Psalmen: Hiob, Psalmen, Sprüche Salomos, Prediger Salomo, Hoheslied Salomos, [Weisheit Salomos, Jesus Sirach]
Prophetenbücher: Jesaja, Jeremia, Klagelieder Jeremias, [Baruch], Ezechiel, Daniel, Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi.
In dieser Reihenfolge werden die Schriften auch hier behandelt.
GesamtaufbauDas erste Buch der Bibel befasst sich mit dem Thema „Entstehung“ (grch. genesis), nämlich der der Welt und des Menschen (Gen 1–11) sowie des Gottesvolkes Israel, dessen Ursprung als die Geschichte der ersten drei Generationen der Stammväter – der so genannten Erzväter Abraham, Isaak und Jakob – geschildert wird (Gen 12–36). Als eigenständiger Komplex schließt sich die Josefsnovelle (Gen 37–50) an, die einerseits über die in ihr agierenden Hauptpersonen mit den Erzvätergeschichten zusammen hängt, andererseits aber die Brücke zum Exodusbuch (2. Mose) schlägt, indem sich der Schauplatz vom Gelobten Land nach Ägypten verlagert, wo das Geschehen des Exodusbuches beginnt.
Aufbau und InhaltDie biblische Urgeschichte setzt sich literarisch aus Erzählungen und genealogischen Listen (Stammbäumen) zusammen. Kritische Bibelwissenschaft führt die Gesamtkomposition auf mehrere Schriftsteller und Bearbeiter zurück. Dass Gen 1–11 nicht aus der Feder eines einzelnen Verfassers stammen kann, leuchtet unmittelbar ein, wenn man die beiden Schöpfungserzählungen nacheinander liest. Denn sie stellen – trotz einiger grundsätzlicher Gemeinsamkeiten – die Erschaffung der Welt und des Menschen so unterschiedlich dar, dass gewisse Widersprüche nicht zu leugnen sind.
Inhaltlich geht es um den Ursprung der Welt und des Menschen sowie um anthropologische Grundfragen nach der Stellung des Menschen in der Welt und gegenüber Gott, um seine Verantwortung und Schuld; hinzu kommt der Aspekt der Schöpfungsordnung sowie deren Gefährdung; schließlich werden die Anfänge der Kultur und der Geschichte bedacht. Wegen der Grundsätzlichkeit der angeschnittenen Fragen hat die Urgeschichte bis in die Gegenwart hinein besonders stark in der Literatur gewirkt.
Gott erschafft die Welt durch das Wort▪ Gen 1,1–2,4a – Die erste Schöpfungserzählung. Zu Beginn konstatiert der Erzähler überschriftartig zusammenfassend: „Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.“(1,1) und bezeichnet so die eine Gottheit, die unhinterfragt da ist, als Schöpfer der Welt. Der Urzustand (1,2) ist ungeordnetes Chaos (hebr. tohû wābohû, „wüst und leer“) und lebensfeindlich („Finsternis“). Daraus macht der Schöpfergott[24] im Folgenden eine geordnete Welt und ermöglicht Leben. Er tut dies durch sein Wort: „Und Gott sprach“[25], „und es geschah so“[26]. Diese beiden festen Formulierungen durchziehen die Erzählung. Zwar wird an einigen Stellen auch von einem Handeln Gottes gesprochen – er scheidet Licht und Finsternis, macht die Himmelsfeste und die Gestirne –, doch scheint dies dem Schaffen als Sprechakt nachgeordnet.
Formelhafte SpracheWeitere feste Formeln prägen die Erzählung: Nachdem Gott es hat Licht werden lassen und Licht und Finsternis als Tag und Nacht voneinander getrennt sind, ist eine Zeitmessung möglich: „Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag“ (1,5b). Eine entsprechende Formulierung beschließt jeden weiteren der sechs Schöpfungstage, an denen acht Schöpfungswerke entstehen: Licht, Himmelsfeste (vertikale Ordnung des Raums), Festland und Meer (horizontale Ordnung des Raums) sowie Pflanzen in einer Vielfalt von Arten als Kleid der Erde am dritten Tag, Gestirne (und mit ihnen Jahreszyklus und kalendarische Zeitrechnung), Fische und Vögel als Bewohner von Meer und Himmel, schließlich Landtiere und Menschen am sechsten Tag. Der abschließenden Tageszählung geht jeweils als feste Wendung die so genannte „Billigungsformel“ voraus: „und Gott sah, dass es gut war“. Gott benennt die ersten Schöpfungswerke (Tag, Nacht, Himmel, Erde, Meer), was nach altorientalischem Verständnis einen Herrschaftsakt darstellt, da nur einem Ranghöheren die |24|Namengebung gegenüber einem Untergebenen zusteht. Pflanzen, Fische, Vögel und Landtiere vom Insekt bis zum Säugetier werden in einer Vielfalt von Arten geschaffen („ein jedes nach seiner Art“), ohne im Einzelnen benannt zu werden.
Erschaffung des MenschenDen Abschluss und Höhepunkt der Schöpfungswerke bildet die Erschaffung des Menschen. Gott fordert sich eigens selbst dazu auf: „Lasst uns Menschen machen“ (1,26)[27]; er will den Menschen zu seinem Ebenbild erschaffen. Diese viel diskutierte Gottebenbildlichkeit des Menschen dürfte sich nach derzeitigem Forschungsstand eben darauf beziehen, dass Gott den Menschen zum Herrscher an seiner Statt einsetzt, so dass der Mensch in königlicher Stellung als Stellvertreter Gottes die übrigen Lebewesen beherrscht. Dies impliziert ein bevorzugtes Verhältnis des Menschen zu Gott und eine besondere Verantwortung. Wie den Fischen und Vögeln am fünften Tag (1,22) spricht Gott auch den Menschen, die er zeitgleich als männlich und weiblich geschaffen hat (1,27), SegenSegen zu. Was das bedeutet, führt jeweils die direkte Rede Gottes an Tiere und Menschen aus: „Seid fruchtbar und mehret euch“ (1,22.28). Gottes Segen fördert also Leben. Schließlich sieht Gott für Mensch und Tier eine vegetarische Ernährungsweise vor (1,29–30). Damit ist sein Schöpfungswerk vollendet: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ (1,31).
Ruhen am siebten TagEinen zweiten Höhepunkt erhält die Erzählung durch den Schlussabschnitt über den siebten Tag als Ruhetag: Gott ruhte (hebr. šābat) „am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken“ (2,2–3). Der siebte Tag der Woche ist gesegnet, und das heißt, die mit ihm verbundene Arbeitsruhe ist lebensförderlich für den Menschen, der wie Gott an diesem Tag innehält. Zugleich ist dieser Tag geheiligt, für Gott ausgesondert und ihm vorbehalten, woraus sich die Bestimmung des Tages für gottesdienstliche Begehungen herleitet. Wenngleich der Sabbat hier nicht explizit genannt wird, klingt er in dem Verbum „ruhen“ (hebr. šābat) an, so dass der wöchentliche jüdische Ruhetag in der Weltschöpfung bereits angelegt erscheint.
|25|Gen 1 trifft die grundsätzliche theologische Aussage, dass der eine und einzige Gott alles geschaffen hat. Die Bestandteile der Schöpfung sind keine Gottheiten, und auch innerhalb der Schöpfung gibt es keine Götter. Diese Schöpfung ist wohl geordnet und daher sehr gut. Ein wie auch immer geartetes Potential zum Negativen wird nicht erwähnt. Der inhaltlich dargestellten Ordnung entspricht die Gestaltung der Erzählung, die streng durch das Sieben-Tage-Schema gegliedert und die wiederholten sprachlichen Wendungen charakterisiert ist[28].
▪ Gen 2,4b–3,24 – Die zweite Schöpfungserzählung. Die einleitende Bemerkung, „Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte“ (2,4b), verknüpft die priesterliche Erzählung von der Weltschöpfung mit dem Folgenden. In dieser Geschichte tritt zu dem allgemeinen Begriff „Gott“ / „Gottheit“ der Name des Gottes Israels hinzu: Jhwh (Jahweh, von Luther stets wiedergegeben mit „[der] HERR“[29]).
Erschaffung des Menschen / MannesDer in dieser Erzählung zu Beginn vorausgesetzte Zustand wird negativ beschrieben: Es gab noch keine Pflanzen, Gott hatte es noch nicht regnen lassen, und es gab auch noch keinen Menschen, der das Land hätte bebauen können (2,5). Diese Einleitung lässt bereits erkennen, dass der Erzähler in landwirtschaftlichen Kategorien denkt. Aber es gibt Erdboden (hebr. ’adāmāh), den Nebel befeuchtet (2,6). Aus diesem Material formt Gott den Menschen (hebr. ’adām), genauer den menschlichen Körper, und bläst ihm Atem ein: „Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“ (2,7). Damit ist deutlich, dass der Ursprung des Lebens in Gott liegt; es bedarf seines Eingreifens, um bloße Materie zu beleben.
Die Bäume im GartenFür den Menschen pflanzt Gott als Lebensraum einen Garten in Eden an, in dem es auch fruchttragende Bäume gibt. Als |26|Besonderheit werden schon hier der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und Böse erwähnt (2,9b), die im nächsten Kapitel bedeutsam werden. In dem Garten entspringt ein Strom, der für reichlich Bewässerung sorgt und sich in vier Arme teilt, die den gesamten damals bekannten Orient durchfließen (2,10–14). Gott setzt den Menschen in den Garten Eden und beauftragt ihn, diesen zu bebauen und zu bewahren (2,15). Gott überträgt ihm die Verantwortung für den Garten. Doch ist diese Betätigung als Gärtner keine körperlich schwere Arbeit. Gott redet den Menschen an (2,16–17) und erlaubt ihm, die Früchte aller Bäume im Garten zu essen mit Ausnahme des Baumes der Erkenntnis: „denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.“ (2,17b).
Erschaffung der FrauGott selbst stellt einen Mangel innerhalb seiner Schöpfung fest: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (2,18a). Deshalb will Gott ihm ein Gegenüber schaffen und macht aus Erde Vögel und (Säuge)Tiere. Der Mensch gibt diesen Geschöpfen Namen, ein Akt, der seine Herrschaft über die Tiere ausdrückt (vgl. 1,28b). Weil keines der Tiere als gleichwertiges Gegenüber zum Menschen passt (2,18–20), versetzt Gott den Menschen in einen narkotischen Schlaf, entnimmt ihm eine Rippe und formt daraus eine Frau. Der Mann stellt selbst fest, wie nahe ihm das neue Geschöpf steht: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch;“ (2,23a). Die enge Beziehung zwischen beiden drückt sich zudem im Hebräischen in den Wörtern „Mann“ (’îš) und dem davon hergeleiteten „Frau“ (’îššāh) auch sprachlich aus (2,23b)[30]. Kommentierend stellt 2,24 fest, dass die Verbindung zwischen Mann und Frau stärker ist als die Bindung an die Eltern; denn Mann und Frau „werden sein ein Fleisch“, eine Anspielung auf die sexuelle Vereinigung und gemeinsame Nachkommenschaft. Schließlich stellt der Schlussvers des Kapitels (2,25) fest, dass dieses erste Menschenpaar trotz seiner Nacktheit keine Scham empfindet. Dies Motiv bereitet das nächste Kapitel vor, in dem sich das menschliche Schamgefühl aufgrund des so genannten „Sündenfalls“ einstellen wird.
Versuchung und SündenfallGen 3 setzt neu ein, indem es die Schlange einführt. Diese ist allen anderen Tieren, die Gott schuf, an List überlegen, doch ist auch sie ein Geschöpf Gottes wie jene. Daran, dass die Schlange sprechen kann, zeigt sich einer der mythologischen Züge der Erzählung. |27|Im Gespräch mit der Frau versteht es die Schlange meisterhaft, deren Interesse für die verbotenen Früchte zu wecken. Durch ihre erste Frage („Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“, 3,1) bewegt sie die Frau zunächst dazu, Gottes Verbot im Blick auf die Früchte des Baumes[31] mitten im Garten und seine Strafandrohung zu wiederholen (3,3). Die Schlange erklärt die Strafandrohung zur leeren Drohung und unterstellt Gott Selbstsucht: „Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ (3,5). Zu sein wie Gott, das ist eine Verlockung; was gut und böse bedeutet, vermag die Frau zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu ermessen. Sie pflückt eine Frucht[32], isst und gibt auch ihrem Mann davon zu essen. Noch im selben Augenblick scheint sich die Wirkung einzustellen: „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“ (3,7). Als Folge des Verzehrs der verbotenen Frucht erkennen die beiden, dass sie nackt sind, d.h. sie sehen sich als bloße Geschöpfe so, wie Gott sie sieht. Sie verlieren ihre Unbedarftheit und beinahe kindliche Unbeschwertheit.
VerhörDie nächste Szene (3,8–13) zeigt, dass sie Gott gegenüber ein schlechtes Gewissen haben, also nun in der Tat wissen, was gut und böse ist, und daher auch erkannt haben, dass das Übertreten von Gottes Verbot etwas Schlechtes gewesen ist. Deshalb versuchen sie, sich vor Gott zu verstecken. Doch er stellt sie zur Rede. Mit einer rhetorischen Frage – „hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?“ (3,11) – gibt er dem Menschen das Stichwort, seine Missetat einzugestehen. Doch der Mann schiebt die Schuld weiter auf die „Frau, die du mir zugesellt hast“ (3,12) – macht also sogar Gott noch mitverantwortlich –; die Frau ihrerseits verweist auf die Schlange (3,13), die stumm bleibt.
|28|StrafeBei der Schlange beginnt Gott nach seinem Verhör mit der Ahndung des Vergehens (3,14–19). Er verflucht die Schlange, die fortan abgesondert von allen Tieren leben, auf dem Bauch kriechen und Erde fressen soll (3,14). Die Rede vom Auf-dem-Bauche-Kriechen erklärt die besondere Gestalt von Schlangen und ihre Fortbewegungsweise. Sie hat wirkungsgeschichtlich auch zu der Vorstellung geführt, dass die Schlange zuvor Beine und Füße gehabt habe, also wie eine Echse aussah oder wie ein Drache, weshalb sie in der bildenden Kunst öfters so dargestellt wurde. Zugleich begründet Gott die Feindschaft zwischen Schlange und Mensch (3,15): der Mensch wird Schlangen töten, und Schlangen werden dem Menschen durch ihren (giftigen) Biss schaden.
Frau und Mann verflucht Gott nicht, erlegt ihnen aber erschwerte Lebensbedingungen auf: Für die Frau werden Schwangerschaft und Geburt Mühen und Schmerzen verursachen, und sie fühlt sich zur Gemeinschaft mit dem Mann hingezogen, doch ist er es, der nach der damaligen Gesellschaftsordnung über das eheliche Zusammenleben bestimmt (3,16). Der Mann bekommt die Auswirkungen von Gottes Fluch[33] über den Ackerboden zu spüren, dem er nun seine Nahrung unter Mühen durch harte Arbeit abringen muss (3,17–18): „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.“ (3,19a). Bis zu seinem Tod muss der Mann diese Mühen erdulden. Seine Vergänglichkeit betont Gott ausdrücklich: „Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.“ (3,19b). „Da wies ihn Gott der HERR aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war.“ (3,23).
Der Abschluss des Kapitels enthält darüber hinaus Sätze, die wie Nachträge wirken: 3,20 teilt mit, dass der Mann – Adam – seine Frau „Eva“ nennt[34]. Gott erweist sich als fürsorglich, da er den Menschen Kleider aus Fell macht (3,21). Und zuletzt wird der zuvor nur in 2,9b erwähnte Baum des Lebens bedeutsam: Gott stellt fest, dass der Mensch ihm gleich geworden ist, da er nun zwischen gut und böse zu unterscheiden vermag. Damit er nicht auch unsterblich – und damit göttlich – werde, muss er vom |29|Baum des Lebens fern gehalten werden (3,23). Dieser Gedanke Gottes bildet zusätzlich zu dem Aspekt der Strafe für die Verbotsmissachtung einen Grund für die Vertreibung des Menschen aus dem Garten. Schließlich (3,24) sichert Gott den Zugang zum Garten durch Cherubim[35], die mit blitzendem Flammenschwert ausgerüstet sind.
Die Sterblichkeit des MenschenRückblickend hatte die Schlange also Recht: die Menschen sterben nicht sofort durch oder an dem Genuss der verbotenen Frucht. Aber sie haben ihren unbeschwerten, sorglosen Zustand verloren, und ihre Beziehung zu Gott hat Schaden genommen. Als Konsequenz des Ungehorsams werden sie aus dem Paradiesgarten vertrieben. Die rezeptionsgeschichtlich beherrschende Auslegung des Sündenfalls geht davon aus, dass durch die Übertretung des göttlichen Verbotes der Tod in die Welt kommt. Das hieße, der Mensch wird aufgrund seiner Sünde sterblich. Dies ist offensichtlich in der Theologie des Paulus, der Adam und Christus miteinander kontrastiert – durch Adams Sünde kam der Tod in die Welt, während Christus den Tod überwand (vgl. etwa Röm 5, 12–19). Bei unvoreingenommener Lektüre ist das jedoch nicht ganz so selbstverständlich. Die Sterblichkeit des Menschen scheint vielmehr von Anfang an angelegt, da er aus vergänglichem Material, aus Erde geformt wird. Durch den Sündenfall erlangt er jedoch Erkenntnis von gut und böse. Das Gute, das Leben, ist mit Gott verbunden, das Böse einschließlich des Todes steht ihm fern. Zur Erkenntnis, die der Mensch durch das Essen erlangt, gehört auch das Wissen um den Tod, das er zuvor nicht besaß. Zu seiner Existenz außerhalb des Gottesgartens gehört Lebensminderndes und Lebensfeindliches, so dass Leben Mühe mit sich bringt. Die Existenz des – später in die Erzählung eingefügten – Baumes des Lebens erhärtet, dass der Mensch von Anfang an sterblich war und auch die Frucht dieses Baumes genießen müsste, um unsterblich zu werden. Bemerkenswert ist, dass der Erzähler sich mit expliziten Wertungen weitgehend zurückhält und die Geschichte vor allem in Dialogen gestaltet, was Raum für Auslegung lässt.
Deutung der Schlange und weitere FragenWirkungsgeschichtlich ist neben der Frage von Sünde und Tod eine Fülle weiterer Aspekte mit dieser Erzählung verbunden: Die Schlange wurde als Verkörperung des Bösen, als Gegenspieler|30|Gottes verstanden und somit als Satan, Luzifer oder Teufel, der als Versucher auftritt. Versteht man die Schlange als Erscheinungsform Satans, drängt sich als nächstes die Frage nach dem Verhältnis des Versuchers zu Gott auf und damit nach Ursprung und Ursache des Bösen. Mit der Versuchung Evas durch die Schlange ist die Frage nach der Rolle der Frau verknüpft: Warum wendet sich die Schlange an die Frau? Ist sie zugänglicher oder anfälliger als der Mann? Tritt Eva dem Mann gegenüber ihrerseits als Versucherin auf? Setzt sie dabei erotische Reize als Verlockung ein? Welche Rolle spielt Sexualität im Paradiesgarten – wird sie praktiziert oder nicht, ändert sich durch den Sündenfall ihre Wertigkeit? Will die Art (Eva als „Adams Rippe“) und Reihenfolge der Erschaffung der Geschlechter etwas über eine Rangordnung von Mann und Frau aussagen? Wie ist es generell um die Entscheidungsfreiheit des Menschen bestellt?
Erklärende HerleitungenDeutlich ist, dass diese Erzählung bekannte Gegebenheiten als Veränderungen gegenüber einem früheren Zustand erklären will: Vor allem leitet sie harte Existenzbedingungen – Mühsal des Broterwerbs, der Geburt, des Getrennt-Seins von Gott – von menschlichem Ungehorsam her. Weitere Herleitungen betreffen Namen und Bezeichnungen, die Stellung des Menschen zum Tier, menschliches Schamgefühl und Bekleidung. Während die Schöpfung nach Gen 1 vollkommen gut ist, bezieht Gen 2–3 auch den Gegensatz von gut und böse ein. Wissenschaftlich betrachtet galt Gen 2–3 traditionell wegen der mythologischen Züge als älter als Gen 1, doch sieht man die zweite Erzählung heute durchaus auch als eine jüngere Korrektur zu Gen 1, die der tatsächlichen Erfahrungswelt Rechnung tragen möchte. Gen 2–3 rückt den Menschen stärker in den Mittelpunkt als Gen 1. Gott, der sich in Gen 1 jeder Vorstellbarkeit entzieht, ist hier buchstäblich handgreiflicher geschildert und offensichtlich in Menschengestalt gedacht[36]. Er tritt nicht nur als Schöpfer, sondern auch als Gesetzgeber und Richter auf.
Als markante Elemente bleiben aus Gen 1 der Anfangssatz mit dem „Im Anfang“[37], das Sieben-Tage-Schema und das Erschaffen durch das Wort Gottes im Gedächtnis und die hervorgehobene Position des Menschen als Ebenbild Gottes. Gen 2–3 ist hingegen durch einprägsame Szenen als Erzählung prominenter: Gott formt und belebt den Menschen, schafft die Frau aus seiner Rippe; die Schlange verführt die Frau zum Essen der verbotenen Frucht; das Paar wird aus dem Paradies vertrieben. Die beiden besonderen Bäume und die Wächtergestalten, die eine Rückkehr in den Garten verhindern, bilden markante Motive. In der Literatur – wie in der bildenden Kunst – entfaltete Gen 2–3 die stärkere Wirkung. Was die Bibel in zwei Erzählungen bietet, muss jedoch nicht säuberlich getrennt rezipiert werden.
Lob des SchöpfersDer Schöpfergott und seine wohl geordnete, sehr gute Weltschöpfung sind auch andernorts in der Bibel Gegenstand hymnischer Dichtung, nämlich in einer Reihe von Psalmen[38]. Man vergleiche etwa Ps 104,2–9 mit den ersten drei Tagen in Gen 1 oder Ps 8,4–9 mit der Erschaffung des Menschen nach Gen 1,26–28. Dieses Schöpferlob wird auch in Gedichten vernehmbar, und es kann sich darüber hinaus in Dichtungen spiegeln, die die Natur in ihrer Schönheit und Erhabenheit besingen.
▪ Christian Fürchtegott Gellert – Die Ehre Gottes aus der Natur. Gellert (1715–1769), Sohn eines Predigers, der selbst Theologie und Philosophie in Leipzig studierte, dichtete 1757:
Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre,
Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort.
Ihn rühmt der Erdkreis, ihn preisen die Meere;
|32|Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort!
5Wer trägt der Himmel unzählbare Sterne?
Wer führt die Sonn aus ihrem Zelt?
Sie kömmt und leuchtet und lacht uns von ferne,
Und läuft den Weg, gleich als ein Held.
Vernimm’s, und siehe die Wunder der Werke,
10Die die Natur dir aufgestellt!
Verkündigt Weisheit und Ordnung und Stärke
Dir nicht den Herrn, den Herrn der Welt?
Kannst du der Wesen unzählbare Heere,
Den kleinsten Staub fühllos beschaun?
15Durch wen ist alles? O gib ihm die Ehre!
Mir, ruft der Herr, sollst du vertraun.
Mein ist die Kraft, mein ist Himmel und Erde;
An meinen Werken kennst du mich.
Ich bin’s und werde sein, der ich sein werde,
20Dein Gott und Vater ewiglich.
Ich bin dein Schöpfer, bin Weisheit und Güte,
Ein Gott der Ordnung und dein Heil;
Ich bin’s! Mich liebe von ganzem Gemüte,
Und nimm an meiner Gnade teil.[39]
Gellert lehnt einige der Verse an Ps 19 an[40]. Die Abfolge von Himmel, Erde, Meer und Himmelskörpern orientiert sich deutlich an den Schöpfungswerken der ersten vier Tage in Gen 1,6–19, die „Wesen“ in V. 13 verweisen mindestens auf die Tierwelt (Gen 1,20–25). Die Schöpfungswerke bezeugen den Schöpfer, seine Weisheit und seine Macht. Der Sprecher des Gedichts, den man mit dem Dichter wird identifizieren dürfen, spricht seinen Leser, den Menschen (V. 4), mit Aufforderungen und Fragen an, um ihn zum Erkennen Gottes in seiner Schöpfung und zum Gotteslob zu bewegen. Das Stichwort „Ehre“ fasst den ersten Teil (V. 1–15) ein. Mit V. 16 beginnt eine Gottesrede, die den zweiten Teil ausmacht (V. 16–24). Darin stellt Gott sich einerseits vor (V. 17–23a) – unter Verwendung der Selbstvorstellung Jahwehs Mose gegenüber (Ex 3,14) in V. 19 –, andererseits fordert er den Menschen auf, ihm Vertrauen und Liebe zu schenken (V. 16; 23b) – auch dies mit einer Anspielung auf eine biblische Aussage, nämlich Dtn 6,5.
Motiv des GartensAus Gen 2–3 findet das Motiv des Gartens literarische Verwendung. Der Garten in Eden trägt Züge, die für den in klassischer |33|antiker Dichtung geläufigen Topos eines locus amoenus[41] charakteristisch sind: Wasserreichtum, üppige Vegetation, Bäume, die Früchte tragen und vermutlich auch Schatten spenden. Dieser Garten Eden ist ein irdisches ParadiesParadies und verkörpert als solches einen besseren Zustand am Anfang der Menschheitsgeschichte, der verloren ist, ein Ideal, nach dem man sich zurücksehnt. Das Motiv vom Paradiesgarten Eden kann erweitert werden, etwa um das Motiv des Tierfriedens, das sich biblisch in Jes 11,6–8 findet.
Der Garten als Ort des Rückzugs aus der Welt▪ Andrew Marvell – Der Garten. Ein Beispiel für die literarische Nutzung des Gartenmotivs bietet Andrew Marvells Gedicht Der Garten[42]. Marvell (1621–1678) zählt zu den „metaphysical poets“, deren Dichtung religiöse und weltliche Themen behandelt und sich durch geistreich zugespitzte Sprache voller Bilder, Anspielungen und Mehrdeutigkeiten auszeichnet. In den neun, aus jeweils acht paarweise gereimten Versen bestehenden Strophen seines Gedichts entwirft Marvell das Bild eines paradiesischen Gartens, den das lyrische Ich als Refugium genießt. Der Garten weist alle Züge eines locus amoenus auf, die nach und nach erkennbar werden: üppiges Grün, Schatten spendende Bäume, reichlich Früchte tragende Obstbäume, Blumen und Gras, ein Brunnen und schließlich – als besonderes zuletzt genanntes Element – eine als Blumenbeet gestaltete Sonnenuhr, in der Bienen fleißig summen. Der Garten bildet eine Gegenwelt zum gesellschaftlichen Leben außerhalb: Draußen strengt man sich an, um Auszeichnungen zu erlangen: Palm-, Eichen- oder Lorbeerzweige, mit denen Menschen für militärische oder politische Verdienste geehrt oder als Dichter bekränzt werden. Solch strebsamem Mühen steht die Erholung im Garten gegenüber (1–8). Dort findet das Ich Stille und Unschuld vor sowie köstliche Einsamkeit (9–16). Die Schönheit des Gartens, sein Grün, empfindet es als den weiblichen Reizen – in der Liebeslyrik mit den Farben Weiß und Rot assoziiert – einer oft grausamen Geliebten überlegen (17–24). Auf Gen 2–3 beziehen sich V. 33–40, wo dem Sprecher die üppig wachsenden Äpfel und Trauben geradezu in den Mund wachsen, Nektarfrüchte |34|und Pfirsiche sich seinen Händen anbieten und er über Melonen strauchelt, so dass er in Blumen verfangen ins Gras fällt[43].
Umdeutung des SündenfallsDieser durch Früchte verursachte, buchstäbliche Fall ist anders als der Sündenfall harmlos. Neben den Sinnen wird auch der Geist in diesem Garten beglückt, indem er schließlich eine geradezu mystische Einigung mit dem Garten eingeht (41–48)[44]. Die Seele lässt den Körper hinter sich und wird wie ein Vogel, der sich in den Zweigen wiegt (49–56). Hat das lyrische Ich in sieben Strophen sein Erleben im Garten beschrieben, fügt es in der achten Strophe einen zusammenfassenden Kommentar ein:
So selig war der Garten-Stand,
Eh Adam die Gehilfin fand –
Nach solchem himmlisch reinen Ort,
Tat da noch andere Hilfe not?
Doch Sterblichen wars nicht gegeben,
Dort einsam wandelnd hinzuleben –
Zwei Paradiese müßtens sein,
Wär man im Paradies allein.[45] (57–64)
und der ZweisamkeitDas Geschilderte entspricht dem glücklichen Zustand des Menschen, als er noch allein im Paradiesgarten lebte. Einer anderen passenden Hilfe (vgl. Gen 2,18) als des Gartens selbst hätte es nicht bedurft; doch war es dem Menschen nicht vergönnt, ein Einzelgänger darin zu bleiben. Den Zustand des Menschen vor der Erschaffung der Frau bezeichnet Marvell als doppeltes Paradies in einem doppelten Sinne: ein zweifaches Paradies bedeutet|35|eine Steigerung gegenüber einem einfachen; da die Frau aus der Rippe des Mannes entstehen wird, ist sie implizit als Teil des Mannes doch auch schon inbegriffen, so dass so gesehen zwei auf einmal das Paradies erleben.
Marvell spielt auf subtile Weise mit dem Gartenmotiv. Es schillert zwischen einem realistischen Barockgarten, der am deutlichsten in der Sonnenuhr der Schlussstrophe greifbar wird, und einem Ideal, das dem Menschen Sorglosigkeit, Selbstbesinnung und Selbstverwirklichung ermöglicht. Marvell schildert den Rückzug aus der Gesellschaft, die in ehrgeizigem Wettstreit und Liebesaffären zweifelhafte Erfüllung sucht, und die Rückkehr in einen glücklichen Zustand vor dem Sündenfall. Dabei nimmt der Dichter auch die biblische Tradition auf und ironisiert sie teilweise.
Inhalt▪ John Milton – Das verlorene Paradies. Das Epos von John Milton (1608–1674) erschien 1674 im Todesjahr des Dichters in seiner endgültigen Fassung in zwölf Büchern[46]. In knapp 10.000 Blankversen schildert die Dichtung die Erschaffung des Menschen und den Sündenfall nach Gen 2–3, stellt diese jedoch durch Rück- und Vorgriffe in einen weiten Kontext. Der Erschaffung des Menschen geht nicht nur die Weltschöpfung voraus[47], sondern vor allem die Auseinandersetzung zwischen Gott, der als Vater – Schöpfer und Weltenlenker – und Sohn – Richter und Erlöser – auftritt, nebst seinen himmlischen Heerscharen einerseits und Satan und den mit ihm abgefallenen Engeln als Gottes Gegenspielern andererseits. Auf außerirdischer Ebene vollzieht sich ein Kampf zwischen Gott und Teufel, Gut und Böse. Darin ist die Erschaffung der Welt und des Menschen durch Gott ebenso |36|begründet wie der Einbruch des Bösen in die Welt, der zur Versuchung des Menschen, dem Ungehorsam und der Vertreibung aus dem Paradies führt. In Ankündigungen und Prophezeiungen bezieht Milton außerdem immer wieder begleitend den Ausblick auf Leiden und Sterben Christi[48] ein sowie auf das Jüngste Gericht und das Ende der Zeiten.
Vorbilder MiltonsDichterische Form und Sprache sind den Homerischen Epen, die Milton auswendig kannte, und vor allem Vergils Aeneis verpflichtet. Zu den aufgegriffenen epischen Konventionen gehören etwa die Musenanrufe an Schaltstellen der Dichtung[49], das Nebeneinander von göttlichen und menschlichen Handlungsebenen, die miteinander in Kontakt treten, Schlachtenbeschreibungen, die Technik der erzählenden Rückblenden und epische Vergleiche. Christlich-biblische Inhalte werden somit in eine ursprünglich „heidnische“ klassisch-antike Form gegossen. Da Milton auch englische und italienische Literatur studiert hatte, nutzte er auch Dantes Epos La divina commedia als Vorbild; außerdem begegnen Bezugnahmen und Anspielungen auf Spensers und Shakespeares Werk, am häufigsten jedoch auf die Bibel. Milton spannt einen Bogen von Adam und Eva und ihrem Sündenfall hin zur Überwindung von Sünde und Tod durch Jesus Christus[50] und präsentiert so die ganze Heilsgeschichte.
Entwicklung der SatansgestaltAbgesehen von den Schriften des Alten und Neuen Testamentes bezieht Milton zu theologisch akzeptiertem, christlichem Gemeingut avancierte Traditionen ein. Dazu gehört vornehmlich die gegenüber den Ansätzen im Alten Testament[51] stark ausgemalte Vorstellung von Satan als Verkörperung des Bösen und durchaus selbständigem Widersacher Gottes, bestrebt den himmlischen Heilsplan zu durchkreuzen. Diese Entwicklung vollzieht sich im Judentum in außerkanonischer Literatur, vor allem|37|den so genannten zwischentestamentlichen Schriften[52]. Die Vorstellungen ergeben zwar kein ganz einheitliches Bild, doch wird Satan schließlich zum Fürsten der dämonischen Mächte[53], dessen unmittelbaren Gegenspieler der Erzengel Michael mit einem Heer von Engeln bildet. Außerdem entsteht rein spekulativ die Auffassung, dass Gott ganz am Anfang, also bevor Gen 1 einsetzt, Engelwesen geschaffen hat. Der Schönste dieser Engel („Luzifer“, eigentlich „der Lichtträger“) begehrte gegen Gott auf und zettelte gemeinsam mit weiteren Engeln einen Aufstand an. Deshalb wurde er samt seinem Gefolge aus dem Himmel gestürzt in die Hölle, deren Fürst er seitdem ist. Auf diese Weise suchte man den Ursprung des Bösen zu erklären. Die Satansgestalt wurde auch mit den Geschehnissen in Gen 3 in Verbindung gebracht, also mit der Schlange identifiziert[54].
Satans NiederlageAus den zahlreichen biblischen Bezügen und Anspielungen in Miltons Epos sei hier die Darstellung des Vollzugs des Sündenfalls im 9. Buch herausgegriffen. Die Bücher 1–8 erzählen die Vorgeschichte dazu. Zu Beginn des 1. Buches erwachen Satan und sein Gefolge aus ihrer Betäubung nach dem Sturz aus dem Himmel auf einem feurigen Pfuhl in ihrem düsteren Gefängnis[55]. Satan und Beelzebub, beide gefallene Cheruben, erinnern sich an ihren Fall aus dem Reich des Lichts, nachdem sie die Schlacht gegen Gott verloren hatten. Doch Satan gibt sich nicht geschlagen:
Stets Böses tun uns einzige Lust wird sein.
Denn Böses ist der Widerpart von dem,
Was er will, unser Feind. Wenn Gutes er
Aus unserm Bösen zu erzeugen sucht,
Dann müssen wir vereiteln seinen Zweck
Und Gutes selbst dem Bösen dienstbar machen: (1,160–165)
Ratsversammlung in der HölleSatan spricht zum Heer der bösen Engel von seinem geplanten Angriff auf eine neue Welt und ein neues Geschlecht, von dem er gerüchteweise gehört hat. Im Höllenpalast halten die gefallenen |38|Engel eine Ratsversammlung ab und beauftragen Satan, die neu geschaffene Welt zu erkunden, um dort den Kampf gegen Gott fortzusetzen[56]. Satan durchquert die Hölle, an deren Tor die Personifizierungen von Sünde und Tod wachen, Satans Tochter und sein mit dieser gezeugter Sohn. Sie lassen Satan passieren, der nun durch das Reich von Nacht und Chaos weiterreist (2. Buch). Vom Himmel aus betrachtet Gott das Menschenpaar im Paradies und beobachtet Satans Reise. Im Gespräch mit seinem Sohn prophezeit Gott, dass Satan den Menschen, der über Willensfreiheit verfüge, verführen werde (3,95–99). Der göttliche HeilsplanGott-Vater stellt seine Gnade in Aussicht. Der Sohn Gottes bietet sich selbst als Sühnopfer an, und Gott setzt den Sohn zum Weltenrichter ein. Unterdessen erreicht Satan die Welt und passiert unerkannt den Engel Uriel, den Wächter des Sonnenkreises (3. Buch). Der Erzähler schildert nun Satans Gemütszustand[57], seine innere Zerrissenheit (4, 32–113). Weil Gott den Menschen an die Stelle der gestürzten Engel gesetzt hat (4,105–107), nimmt Satan sich schließlich vor: „Sei, Böses, du mein Gut!“ (4,110). Weil Satan dabei wütend gestikuliert, erkennt Uriel nun den Eindringling. Satan dringt ins Paradies einSatan betritt das Paradies[58] und setzt sich in Gestalt eines Raben auf den Baum des Lebens. Von dort erblickt er das Menschenpaar „das Abbild ihres Schöpfers“ (4,292), dessen Schönheit und Würde er bewundert, ja, die er gern haben könnte (4,358–365). In einen Löwen verwandelt, schleicht er sich nahe an die Menschen heran, belauscht sie und erfährt dadurch von dem Verbot Gottes hinsichtlich des Baumes der Erkenntnis[59]. Angesichts der Liebe der beiden zueinander empfindet Satan |39|Neid. Während Satan weiter durch den Garten schweift, verrichten Adam und Eva ihr Nachtgebet, bevor sie in ihrer Laube die eheliche Liebe genießen. Von Uriel alarmiert sucht Gabriel mit seinen Engeln nach dem Eindringling und findet Satan in Gestalt einer Kröte, die der schlafenden Eva ins Ohr flüstert. Im Verhör durch Gabriel zeigt Satan sich trotzig und entflieht schließlich (4. Buch).
Am nächsten Morgen erzählt Eva Adam ihren Traum: eine Stimme, die sie für Adams hielt, lockte sie zum verbotenen Baum. Dort erblickte sie einen Engel, der von den Früchten aß und auch sie dazu veranlasste. Sie aß und erhob sich mit dem Engel in die Wolken. Adam versucht, Eva mit einer Traumtheorie zu beruhigen, bevor sie ihr Morgengebet verrichten. Gott sendet Raphael zu Adam, damit er ihn zum Gehorsam gegen Gott ermahne. Raphael erzählt Adam von Satans SturzRaphael erzählt Adam, wie es seinerzeit zum Engelssturz kam: Gott stellte in der himmlischen Versammlung der Engel seinen Sohn vor. Satan „[d]er Ersten einer, wenn der Erste nicht“ (5,660), war neidisch auf den Sohn Gottes, brachte ein Drittel der Engel auf seine Seite und stachelte sie zur Rebellion gegen Gott an. Gott und der Sohn bemerkten die Absicht, waren aber sicher, dass sie die Abtrünnigen unterwerfen und dadurch umso mehr verherrlicht sein würden (5. Buch). Nach dreitägigem Kampf unterlag Satan den von Michael und Gabriel geführten himmlischen Heerscharen und wurde mit den Seinen in die Hölle hinab gestoßen, während der Gottessohn triumphierte (6. Buch).
und von der Erschaffung der WeltAuf Bitten Adams erzählt Raphael auch von der Erschaffung der Welt. Gott wollte damit den Verlust ausgleichen, der durch den Engelssturz entstanden war, und beauftragte den Sohn mit der Erschaffung der Welt („Sprich, und es geschieht;“, 7,164)[60]. Dies Schöpfungsgeschehen beschreibt Milton in Anlehnung an Gen 1 (7,190–634) mit gelegentlichen kleinen Anleihen aus Gen 2[61]. Nachdem Raphael ihm noch die Bewegungen der Himmelskörper erklärt hat, warnt er Adam, nach Dingen zu trachten, die ihm zu hoch sind (8,167–178). Adams ErinnerungenAdam schildert dem Erzengel seine Erinnerungen an seine ersten Lebenstage (8,250ff.). Darin |40|